Emma Goldman
Das moderne Theater
fruchtbarer Boden für radikales Denken
Solange Unzufriedenheit und Missmut in einer begrenzten gesellschaftlichen Klasse nur wenig spürbar sind, kann es reaktionären Kräften oft gelingen, solche Erscheinungen zu unterdrücken. Wenn aber die Verbitterung wächst, bewusst Ausdrucksformen sucht und nahezu universell wird, dann beeinflusst sie unweigerlich alle Facetten menschlichen Tuns und Handelns und sucht ihren individuellen und gesellschaftlichen Ausdruck in der schrittweisen Umwertung existierender Leitbilder.
Eine angemessene Würdigung der enormen Verbreitung moderner, bewusster Formen sozialer Unzufriedenheit ist nicht durch rein propagandistische Literatur zu erreichen. Wir müssen uns vielmehr mit weiterführenden Formen des menschlichen Ausdrucks beschäftigen, die sich in der Kunst, der Literatur und vor allem im modernen Theater manifestieren – der kräftigsten und weitreichendsten Stimme unserer tiefsten Unzufriedenheit.
Was für ein bedeutender Beitrag, um die bewusste Unzufriedenheit aufzuwecken, sind doch die Kampagnen eines Millet! Die Charaktere seiner Landbevölkerung – wie treffend hier unsere gesellschaftlichen Missstände angeprangert werden; Missstände, die den Mann mit der Hacke (Man With the Hoe)[1] zu hoffnungsloser Schinderei verdammen, während ihm die Freigebigkeit der Natur verschlossen bleibt.
Die Vision eines Meunier zeigt die wachsende Solidarität und die Herausforderung des Broterwerbs bei den Minenarbeitern, die ihren verstümmelten Bruder in Sicherheit bringen. So portraitiert dieses Genie kraftvoll die Beziehung zwischen dem brodelnden Unmut derer, die wie Sklaven unter der Erde schuften, und der spirituellen Revolte, die künstlerischen Ausdruck sucht.
Nicht weniger wichtig ist die Rolle des rebellischen Erwachens in der modernen Literatur: Turgenew, Dostojewski, Tolstoi, Andrejew, Gorki, Whitman, Emerson und die vielen anderen, die den Geist dessen, was sich universell zusammenbraut, und die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung verkörpern.
Und noch viel weiter reicht das moderne Theater. Es bildet den Nährboden radikalen Denkens und verbreitet neue Werte.
Es mag übertrieben scheinen, dem modernen Theater eine solche Bedeutung zuzusprechen. Untersucht man aber die Entwicklungsprozesse moderner Ideen in den meisten Ländern, so zeigt sich, dass dem Theater die Enthüllung großer gesellschaftlicher Wahrheiten zuzuschreiben ist – Wahrheiten, die, in anderer Form präsentiert, gemeinhin ignoriert würden, wobei es hier ohne Zweifel auch Ausnahmen gibt, denken wir beispielsweise an Russland und Frankreich.
In Russland wurden die Menschen durch schrecklichen politischen Druck zum Nachdenken und zu sozialer Sympathie gezwungen, weil der Kontrast zwischen dem intellektuellen Leben der Menschen und dem despotischen Regime, das versucht, dieses Leben zu zerstören, so enorm ist. Zwar spiegeln die meisterhaften Bühnenwerke von Tolstoi, Tschechow, Gorki und Andrejew das Leben und den Kampf, die Hoffnungen und Wünsche der russischen Bevölkerung deutlich wider, sie haben aber das radikale Denken nicht in dem Maße beeinflusst, wie es das Theater in anderen Ländern vermocht hat.
Der enorme Einfluss von Die Macht der Finsternis oder Nachtasyl ist dennoch nicht zu leugnen. Tolstoi, der überzeugte, wahre Christ, ist trotz allem der größte Feind des organisierten Christentums. Mit Meisterhand portraitiert er die zerstörerische Wirkung der Macht der Finsternis, des Aberglaubens der christlichen Kirche, auf den menschlichen Geist.
Welches andere Medium wäre in der Lage, derart mitreißend die Verantwortung der Kirche für Verbrechen aufzuzeigen, die von ihren irregeleiteten Opfern begangen werden; welches andere Medium könnte folglich die Entrüstung des menschlichen Gewissens wecken?
Ähnlich direkt und packend ist die Anklage in Gorkis Nachtasyl. Die Ausgestoßenen der Gesellschaft, die zu einem Leben in Armut und Verbrechen gezwungen wurden, klammern sich trotz allem verzweifelt an den letzten Funken Hoffnung. Gescheiterte Existenzen sind sie, von einer grausamen, unsozialen Umwelt vernichtet und zerstört.
Frankreich ist wiederum mit seinem ausdauernden Freiheitskampf tatsächlich die Wiege des radikalen Denkens; daher war auch hier das Theater nicht nötig, um solcherlei Gedanken zu wecken. Dennoch haben die Werke von Brieux – wie Die rote Robe, das die schreckliche Korruption im Justizwesen thematisiert – und Mirbeaus Geschäft ist Geschäft – in dem der destruktive Einfluss von Wohlstand auf die menschliche Seele dargestellt wird – ohne Zweifel mehr Menschen erreicht als die meisten Artikel und Bücher, die in Frankreich über die gesellschaftliche Frage geschrieben wurden.
In Ländern wie Deutschland oder England, in Skandinavien und selbst in den USA – wenn auch in geringerem Maße – ist das Theater das Mittel, um wirklich Geschichte zu schreiben und radikales Denken in Kreise zu bringen, die sonst unerreichbar blieben.
Nehmen wir zum Beispiel Deutschland. Fast 25 Jahre lang haben die rechtschaffensten Männer des Denkens und der Ideen an ihrem Lebenswerk gearbeitet, um unter den Unterdrückten und Geknechteten die Wahrheit über die menschliche Gemeinschaft und Gerechtigkeit zu verbreiten. Der Sozialismus, jene gewaltige revolutionäre Welle, war für die Opfer eines gnadenlosen und unmenschlichen Systems wie das Wasser für die ausgetrockneten Lippen des Wüstenwanderers. Aber ach, die kultivierten Leute blieben völlig gleichgültig; für sie war diese revolutionäre Strömung nichts als das Gemurmel der Unzufriedenen, der gefährlichen, ungebildeten Unruhestifterinnen, die eigentlich hinter Gitter gehörten.
Selbstzufrieden, wie die ›kultivierten‹ Menschen für gewöhnlich sind, konnten sie nicht verstehen, warum man sich den Kopf darüber zerbrechen sollte, dass Tausende Menschen hungern, obwohl sie mit ihrer Arbeit zum Wohlstand auf der Welt beitragen. Umgeben von Schönheit und Luxus konnten sie nicht glauben, dass neben ihnen Menschen schlimmer als Tiere lebten, schutzlos und zerlumpt, ohne Hoffnungen und Träume.
Diese Lage zeigte sich insbesondere nach dem deutsch-französischen Krieg. Deutschland war bis obenhin von Stolz über seinen Sieg erfüllt und die sentimentale, patriotische Literatur erlebte ihre Blütezeit und vergiftete die Köpfe der Jugend des Landes mit der Pracht von Eroberung und Blutvergießen.
Das intellektuelle Deutschland sah sich gezwungen, in der Literatur anderer Länder Zuflucht zu suchen, in den Werken von Ibsen, Zola, Dalldet, Maupassant und besonders in den Meisterwerken von Dostojewski, Tolstoi und Turgenew. Da es aber keinem Land über längere Zeit möglich ist, ein Kulturniveau aufrechtzuerhalten, in dem Literatur und Theater keine Verbindung zum eigenen Boden haben, begann sich in Deutschland nach und nach eine Dramatik zu entwickeln, die sich mit dem Leben und den Kämpfen der eigenen Bevölkerung auseinandersetzte.
Arno Holz, einer der jüngsten Dramatiker jener Zeit, erschütterte mit seiner Familie Selicke die Sorglosigkeit und Bequemlichkeit der SpießbürgerInnen. In dem Stück geht es um den Abschaum der Gesellschaft, die Männer und Frauen von der Straße, die allein von dem leben, was sie aus Abfalltonnen sammeln. Was für ein schreckliches Thema, nicht wahr? Aber gibt es eine andere Möglichkeit, die harten Schalen des Denkens und der Seelen jener Menschen zu durchbrechen, die sich nie um etwas sorgen müssen und daher in dem Glauben leben, dass alles auf der Welt gut ist?
Selbstverständlich rief das Stück große Entrüstung hervor. Die Wahrheit ist bitter, und die Menschen in der Fifth Avenue[2] von Berlin wollten nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden.
Nicht, dass Die Familie Selicke etwas repräsentierte, das nicht schon seit Jahren beschrieben worden war, wenn auch ohne vergleichbares Resultat. Aber der Dramatiker Holz, ein Meister seines Fachs, und die kraftvolle Umsetzung des Stücks eröffneten ihm Zugang zu großen Kreisen der Bevölkerung und zwangen die Menschen zum Nachdenken über die schrecklichen Ungerechtigkeiten, die sie umgaben.
Sudermanns Die Ehre und Heimat beschäftigen sich mit weiteren wichtigen Themen. Ich erwähnte bereits den sentimentalen Patriotismus, der die Köpfe der Durchschnittsdeutschen so derart verdrehte, dass sie einer pervertierten Ehrvorstellung anhingen. Duelle standen an der Tagesordnung und kosteten unzählige Menschenleben. Zahlreiche führende Schriftsteller sprachen sich gegen diese Modeerscheinung aus. Aber nichts war in Bezug auf diese Nationalkrankheit so aufschlussreich und erleuchtend wie das Schauspiel Die Ehre.
Dabei geht es in dem Stück nicht allein ums Duellieren, sondern vielmehr um die wahre Bedeutung von Ehre, wobei der Beweis erbracht wird, dass es sich nicht um ein festes, angeborenes Gefühl handelt, sondern etwas, das sich mit allen Menschen und jeder Epoche verändert und insbesondere vom ökonomischen und gesellschaftlichen Stand des Menschen im Leben abhängt. Aus diesem Stück lernen wir, dass der Mann im eleganten Stadthaus Ehre zwangsläufig anders definieren wird als seine Opfer.
Die Familie Heinecke kommt während der Abwesenheit ihres Sohnes Robert in den Genuss der Wohltätigkeit des Millionärs Mühlingk, der ihr gestattet, eine verfallene Hütte auf seinem Land zu beziehen. Robert macht derweil als Mühlingks Vertreter in Indien ein Vermögen für seinen Arbeitgeber. Bei seiner Rückkehr findet er heraus, dass seine Schwester vom jungen Mühlingk verführt wurde. Dessen Vater bietet gnädigerweise an, die Angelegenheit mit einem Scheck über 40.000 Mark zu bereinigen. Robert lehnt diese Beleidigung der Familienehre entrüstet und empört ab und verliert wegen seiner Unverschämtheit umgehend seine Stelle. Schließlich sagt Robert dem philanthropischen Millionär offen seine Meinung ins Gesicht:
»Wir arbeiten für Euch ... wir geben unsern Schweiß und unser Herzblut für Euch hin ... Derweilen verführt Ihr unsere Schwestern und unsere Töchter und bezahlt uns ihre Schande mit dem Gelde, das wir Euch verdient haben ... Das nennt Ihr Wohltaten erweisen!.«
Einen beiläufigen Seitenblick auf das Konzept von Ehre gibt Graf Trast, die Hauptperson in Die Ehre, ein Mann, der mit den Gebräuchen der verschiedensten Länder eng vertraut ist und erzählt, dass er auf einer seiner vielen Reisen einem wilden Stamm begegnete, dessen Ehre er tödlich verletzte, indem er seine Gastfreundschaft ablehnte, die ihm den Charme der Gemahlin des Häuptlings offerierte.
Heimat behandelt den Konflikt zwischen den Generationen. Es ist nach wie vor ein bedeutendes Werk der dramatischen Literatur.
Magda, die Tochter von Oberstleutnant Schwartze, hat eine unverzeihliche Sünde begangen: Sie hat den Freier, den ihr Vater für sie ausgesucht hat, abgelehnt. Weil sie es gewagt hat, den elterlichen Anweisungen nicht Folge zu leisten, wird sie aus dem Haus gejagt. Magda, ein lebhaftes Mädchen voller Freiheitsdrang, zieht in die Welt und kehrt zwölf Jahr später als gefeierte Sängerin in ihre Heimatstadt zurück. Sie stimmt einem Besuch bei ihren Eltern zu, allerdings unter der Bedingung, dass diese die Privatsphäre ihrer Vergangenheit respektieren. Ihr grausamer Vater beginnt jedoch sogleich, sie auszufragen, und besteht auf seinen »Rechten als Vater«. Magda ist zunächst empört, gibt aber dann Stück für Stück seiner Beharrlichkeit nach und enthüllt ihr tragisches Leben. Er erfährt, dass der respektable Regierungsrat von Keller zu Studienzeiten Magdas Liebhaber war, während sie um ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Unabhängigkeit rang. Ergebnis dieser flüchtigen Romanze war ein Kind, das von seinem Vater verlassen wurde, noch bevor es das Licht der Welt erblickte. Magdas streng militärisch geprägter Vater fordert Regierungsrat von Keller auf, als Konsequenz die Liebesbeziehung zu legalisieren. Angesichts von Magdas gesellschaftlicher Stellung und ihrer beruflichen Erfolge willigt Keller ein, aber nur unter der Bedingung, dass sie der Bühne entsagt und das Kind einer Einrichtung übergibt. Der Konflikt zwischen Alt und Neu gipfelt in den empörten Worten Magdas, in denen sich die bewusste Unabhängigkeit des Denkens und Handels dieser Frau widerspiegelt: »Ins Gesicht will ich’s ihnen sagen, was ich denke von dir und euch und eurer ganzen bürgerlichen Gesittung ... Warum soll ich schlechter sein als ihr, daß ich mein Dasein unter euch nur durch eine Lüge fristen kann? Warum soll dieser Goldplunder auf meinem Leibe und der Glanz, der meinen Namen umgibt, meine Schande noch vergrößern? Hab ich nicht dran gearbeitet früh und spät zehn Jahre lang? Hab ich dieses Kleid nicht gewebt mit dem Schlaf meiner Nächte? Hab ich meine Existenz nicht aufgebaut Ton um Ton wie tausend andre meines Schlages Nadelstich um Nadelstich? Warum soll ich vor irgendwem erröten? Ich bin ich – und durch mich selbst geworden, was ich bin.«
Das grundlegende Thema von Heimat – der Konflikt zwischen den Generationen – war nicht neu. Es war schon zuvor von einem Meister verarbeitet worden, nämlich in Väter und Söhne, in dem das Erwachen eines Zeitalters portraitiert wird. Aber obgleich Heimat – mit der Beschreibung des Erwachens eines Geschlechts – Turgenews Werk künstlerisch weit unterlegen ist, leistete es vor allem wegen seiner dramatischen Ausdruckskraft einen revolutionären Beitrag.
Der Dramatiker, der nicht nur Radikalismus verbreitet, sondern die nachdenklichen Deutschen geradezu revolutioniert hat, ist Gerhart Hauptmann. Sein erstes Stück, Vor Sonnenaufgang, das von sämtlichen führenden Theatern Deutschlands abgelehnt, schließlich aber im unabhängigen Lessing-Theater aufgeführt wurde, schlug wie ein Blitz ein und erhellte den gesamten gesellschaftlichen Horizont. Es geht darin um das Leben eines Großbauern, der als ignorant, dumm und brutal dargestellt wird, und die von ihm wirtschaftlich Abhängigen, die vom gleichen mentalen Kaliber sind. Der Einfluss von Wohlstand, sowohl auf die Opfer, die ihn geschaffen haben, als auch auf den Besitzer, wird in den lebhaftesten Farben dargestellt: Er führt zu Alkoholismus, Idiotie und Verfall. Das eklatanteste Merkmal an Vor Sonnenaufgang, das Hauptmann jede Menge Beschimpfungen eingebracht hat, war jedoch die Problematik der rücksichtslosen Kindererziehung durch ungeeignete Eltern.
Als das Stück zum zweiten Mal aufgeführt wurde, kam es fast zu einer Panik im Zuschauersaal, als ein führender Berliner Chirurg eine Geburtszange über seinem Kopf schwang und mit lauter Stimme rief: »Der Anstand und die Moral Deutschlands stehen auf dem Spiel, wenn die Angelegenheit der Geburt von Kindern offen auf der Bühne thematisiert wird.« Der Chirurg ist mittlerweile vergessen, aber Hauptmann steht gigantisch vor der Welt: Als Die Weber erstmals aufgeführt wurde, brach im Land der Dichter und Denker ein Höllenlärm los. »Was«, schrien die Moralistinnen, »Arbeiterinnen, schmutzige, dreckige Sklavinnen, auf der Bühne! Die Armut mit all ihren Schrecken und in ihrer ganzen Hässlichkeit wird als Unterhaltung zum Dessert serviert? Das ist zu viel!«
Es war tatsächlich zu viel für die fette und schmierige Bourgeoisie, mit dem Horror der Existenz eines Webers von Angesicht zu Angesicht konfrontiert zu werden. Es war zu viel aufgrund der Wahrheit und der Realität, die wie Donner in den tauben Ohren der selbstzufriedenen Gesellschaft grollten: J’accuse![3]
Natürlich war schon vor Erscheinen dieses Theaterstücks bekannt, dass Kapital nicht fett werden kann, wenn es keine Arbeitskraft verschlingt, und dass es für die Anhäufung von Wohlstand keinen anderen Weg gibt als die Armut, den Hunger und das Frieren anderer; aber solche Dinge bleiben besser im Dunkeln, damit sich die Opfer ihrer Situation nicht bewusst werden. Es ist jedoch der Zweck des modernen Theaters, das Bewusstsein der Unterdrückten zu wecken; und das war tatsächlich das Ziel von Gerhart Hauptmann, als er der Welt die Bedingungen der Weber in Schlesien offenbarte. Menschen, die 18 Stunden täglich arbeiten, aber noch nicht einmal genug zum Essen und Heizen verdienen; Menschen, die in zerfallenen, scheußlichen, halb mit Schnee bedeckten Hütten hausen und nichts haben, das sie vor der Kälte schützt; an Skorbut erkrankte Kinder, die Hunger und Kälte leiden; schwangere Frauen im Endstadium der Schwindsucht. Opfer einer wohltätigen christlichen Zeit, ohne Leben, ohne Hoffnung, ohne Wärme. Oh ja, das war zu viel!
Hauptmanns vielseitige Theaterarbeit befasst sich mit allen Schichten des gesellschaftlichen Lebens. Er stellt nicht nur die zermürbende Wirkung der wirtschaftlichen Bedingungen dar sondern behandelt auch den Kampf des Individuums um seine mentale und spirituelle Befreiung von der Sklaverei der Konvention und Tradition. So gelingt es Heinrich, dem Glockengießer im Drama Die Versunkene Glocke nicht, die Höhen der Freiheit zu erreichen, weil er, wie es Rautendelein formulierte, zu lange im Tal gelebt hatte. Auf ähnliche Weise bleiben Dr. Vockerat und Anna Maar[4] einsame Seelen, weil auch sie nicht die Kraft haben, hochgehaltenen Traditionen zu trotzen. Jedoch ist es gerade ihr Versagen, das den rebellischen Geist aufwecken und dazu anstiften muss, sich gegen eine Welt zu stellen, die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation stets verhindert.
Max Halbes Jugend und Wedekinds Frühlings Erwachen sind Stücke, die radikales Denken in eine völlig andere Richtung verbreitet haben. Sie handeln vom Kind und der beschränkten Ignoranz und dem engen Puritanismus, mit denen dem Erwachen der Natur begegnet wird. Insbesondere gilt das für Frühlings Erwachen. Heranwachsende Mädchen und Jungen werden am Altar der falschen Erziehung und unserer krankmachenden Moral geopfert, die den Jugendlichen die Aufklärung über derart essentielle Fragen bezüglich Gesundheit und Wohlergehen der Gesellschaft vorenthält – Fragen über den Ursprung des Lebens und wie es funktioniert. Es wird gezeigt, wie eine Mutter – eine wirklich gute Mutter noch dazu – ihre 14-jährige Tochter in sexuellen Fragen in absoluter Unwissenheit hält, und als das Mädchen schließlich seiner eigenen Unwissenheit zum Opfer fällt, muss diese Mutter zusehen, wie ihre Tochter an einer falschen Medizin stirbt. Auf ihrem Grabstein steht, dass sie der Anämie zum Opfer fiel, und die Moral ist befriedigt.
Das Verhängnis unserer puritanischen Heuchelei in dieser Angelegenheit wird von Wedekind insbesondere unter dem Aspekt beleuchtet, dass unsere vielversprechendsten Kinder der Unwissenheit in sexuellen Fragen und dem schieren Unverständnis ihrer Lehrerinnen gegenüber ihrem Erwachsenwerden zum Opfer fallen.
Wendla, die für ihr Alter ungewöhnlich weit entwickelt und aufgeweckt ist, fleht ihre Mutter an, ihr das Rätsel des Lebens zu erklären:
»Hab ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem halben Jahre verheiratet, und ich selber bin zum dritten Male Tante geworden und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht … Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag’s mir, geliebtes Mütterchen. Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir Antwort – wie geht es zu? – wie kommt das alles? – Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.«
Wäre die Mutter nicht selbst Opfer falscher Moralvorstellungen gewesen, hätte eine liebevolle und einfühlsame Erklärung die Tochter vielleicht retten können. Aber die konventionelle Mutter versucht, ihre ›moralische‹ Scham und ihre Verlegenheit hinter dieser ausweichenden Antwort zu verstecken:
»Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann lieben – mit dem man verheiratet ist ... Man muss ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst – Jetzt weißt du’s.«
Wie viel Wendla tatsächlich ›wusste‹, bemerkte die Mutter zu spät. Das schwangere Mädchen glaubt, dass es Bleichsucht hat. Und als ihre Mutter verzweifelt aufschreit: »Du hast nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen!«, entgegnet die gequälte Wendla in verwirrter Verzweiflung: »Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht verheiratet ...! O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!«
Mit der gleichen Stupidität wird der Junge Moritz in den Suizid getrieben, weil er seine Prüfungen an der Schule nicht besteht, und Melchior, der junge Vater von Wendlas ungeborenem Kind, wird in eine Besserungsanstalt geschickt, da er aufgrund seiner frühen sexuellen Regungen von seinen Lehrerinnen und Eltern als degeneriert angesehen wird.
Über Jahre hinweg hatten bedachte Männer und Frauen in Deutschland bereits die zwingende Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung gefordert. Mutterschutz, eine Veröffentlichung, die sich speziell der offenen und intelligenten Auseinandersetzung mit der Sexualproblematik widmet, sorgt seit geraumer Zeit für Aufregung. Aber es blieb Wedekinds dramatischem Genie überlassen, das radikale Denken in einer Weise zu beeinflussen, dass das Thema der sexuellen Physiologie an vielen Schulen eingeführt werden musste.
Wie in Deutschland brachte auch in Skandinavien das Theater mehr Fortschritt als jedes andere Medium. Lange vor Ibsen wetterte dort bereits der große Autor Bjørnson gegen die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in jenen Ländern. Seine Stimme ging jedoch im Lärm der Zeit unter und war nicht weit zu hören. Anders die Stimme von Ibsen. Seine Werke Brand, Nora oder Ein Puppenheim, Die Stützen der Gesellschaft, Gespenster und Ein Volksfeind haben in hohem Maße dazu beigetragen, alte Anschauungen zu untergraben und durch eine moderne, wirklichkeitsgetreue Sicht auf das Leben zu ersetzen. Man muss nur Brand lesen, um das moderne Konzept von, sagen wir, Religion zu verstehen – Religion als zu erreichendem Ideal auf der Welt; Religion als Prinzip menschlicher Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit.
Ibsen, der jegliche gesellschaftliche Farce verabscheute, hat den Menschen den Schleier der Heuchelei vom Gesicht gerissen. Sein größter Angriff aber ist der auf die vier Grundsäulen, die das zarte Netz der Gesellschaft halten, als da wären: erstens die Lüge, auf der unsere Gesellschaft von heute basiert; zweitens die Nutzlosigkeit des Opfers, wie es unsere Moralkodizes predigen; drittens die Bedeutungslosigkeit materieller Denkweisen, denen die meisten Menschen verfallen sind; und viertens der tödliche Einfluss des Provinzialismus. Diese vier Themen kehren als Leitmotive in den meisten von Ibsens Stücken wieder, insbesondere jedoch in Die Stützen der Gesellschaft, Nora oder Ein Puppenheim, Gespenster und Ein Volksfeind.
Die Stützen der Gesellschaft! Was für eine gewaltige Anklage gegen die Struktur der Gesellschaft, die sich auf morsche, verfallene Säulen stützt – Säulen, die schön verziert sind und nach außen hin intakt wirken, dabei aber ihren wahren Zustand verbergen. Und was sind diese Stützen?
Konsul Bernick befindet sich am Zenit seiner gesellschaftlichen und finanziellen Karriere. Er ist der Wohltäter seiner Stadt und die wichtigste Stütze der Gemeinschaft. Diese Position hat er jedoch durch zahlreiche Lügen, Täuschungen und Betrug erreicht. Er hat seinen Busenfreund Johann seines guten Namens beraubt und Lona Hessel, die Frau, die er liebte, betrogen, indem er ihre Stiefschwester wegen ihres Geldes heiratete. Er hat sich unter dem Deckmantel des ›Wohls der Gemeinde‹ durch zwielichtige Transaktionen bereichert und bringt am Ende sogar menschliches Leben in Gefahr, als er die Indian Girl, ein nicht seetaugliches Schiff, für die Seefahrt vorbereitet.
Als aber Lona zurückkehrt, bemerkt er die Leere und Niedertracht seines engen Lebens. Er versucht, sein erwachendes Gewissen mit der Hoffnung zu besänftigen, dass er für seinen Sohn, die neue Generation, ein besseres Leben vorbereitet hat. Aber auch diese letzte Hoffnung zerbricht bald, als ihm klar wird, dass eine Wahrheit nicht auf Lügen errichtet werden kann. In dem Moment, als sich die ganze Stadt anschickt, den großen Wohltäter der Gemeinschaft mit einem Bankett zu feiern, gesteht er, nun geistig zu seiner vollen Größe erwachsen, den versammelten Menschen der Stadt:
»Ich habe keinen Anspruch auf diese Huldigung ...Ich bin dieser Huldigung nicht würdig – ... Doch zuerst müssen meine Mitbürger mich von Grund auf kennenlernen. Dann mag ein jeder sich selbst prüfen, – und halten wir daran fest, daß wir mit dem heutigen Abend eine neue Zeit beginnen. Die alte Zeit mit ihrer Schminke und Hohlheit, mit ihrer Tugendheuchelei und ihren jämmerlichen Rücksichten soll vor uns dastehen als ein Museum – zugänglich denen, die sich belehren wollen.«
Mit Puppenheim ebnete Ibsen den Weg für die Emanzipation der Frau. Nora erwacht aus ihrer Puppenrolle, als sie die Ungerechtigkeit bemerkt, die sie durch ihren Vater und ihren Ehemann Helmer Torvald erfährt.
»Als ich zu Hause war bei Papa, teilte er mir alle seine Ansichten mit, und so hatte ich dieselben Ansichten. War ich aber einmal anderer Meinung, dann verheimlichte ich das; denn es wäre ihm nicht recht gewesen. Er nannte mich sein Puppenkind, und spielte mit mir, wie ich mit meinen Puppen spielte. Dann kam ich zu Dir ins Haus – [...]. Du richtetest alles nach Deinem Geschmack ein, und so bekam ich denselben Geschmack wie Du; aber ich tat nur so[...]. Wenn ich jetzt zurückblicke, so ist mir, als hätte ich hier wie ein Bettler gelebt, – nur von der Hand in den Mund. Ich lebte davon, daß ich Dir Kunststücke vormachte, Torvald. Aber Du wolltest es ja so haben. Du und Papa, Ihr habt Euch schwer an mir versündigt.«
Helmer beruft sich vergeblich auf die alten, spießbürgerlichen Argumente von den Aufgaben einer Ehefrau und den gesellschaftlichen Verpflichtungen. Nora ist ihrem Puppenkleid entwachsen und hat nun die Größe einer selbstbewussten Frau erreicht. Sie ist entschlossen, für sich selbst zu denken und zu urteilen. Ihr ist klar geworden, dass sie zuallererst ein Mensch und damit sich selbst verpflichtet ist. Selbst die Aussicht auf die Ächtung durch die Gesellschaft kann sie nicht schrecken. Sie ist skeptisch geworden gegenüber der Gerechtigkeit des Gesetzes und der Weisheit der Verfassung. Ihre rebellische Seele erhebt sich im Protest gegen das Existierende. Um es mit ihren eigenen Worten zu formulieren: »Ich muß dahinter kommen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich.«
In ihrem kindlichen Glauben hatte sie sich ein großes Wunder von ihrem Ehemann erhofft. Aber es war nicht die enttäuschte Hoffnung, die ihr die Augen für die Falschheit der Ehe öffnete. Es war vielmehr die selbstgefällige Zufriedenheit Helmers mit einer sicheren Lüge – einer Lüge, die verborgen bleiben und seinen gesellschaftlichen Stand nicht gefährden sollte.
Als Nora die Tür ihres goldenen Käfigs hinter sich schloss und die Welt einer neuen, erneuerten Persönlichkeit betrat, öffnete sie das Tor zu Freiheit und Wahrheit für ihr eigenes Geschlecht und alle, die ihr folgen würden.
Gespenster schlug wie eine Bombe ein und erschütterte, mehr als alle anderen Stücke, das gesellschaftliche Gerüst bis in sein Fundament.
In Puppenheim wurde die Vereinigung zwischen Nora und Helmer wenigstens durch die Vorstellung des Ehemannes von Integrität und seinem starren Festhalten an unserer gesellschaftlichen Moral gerechtfertigt. Tatsächlich war Helmer aus konventioneller Sicht der ideale Ehemann und ein hingebungsvoller Vater. Anders in Gespenster. Nachdem Frau Alving den Hauptmann Alving geheiratet hatte, bemerkte sie, dass er körperlich wie geistig ein Wrack war und das Leben mit ihm bloße Erniedrigung bedeuten würde und zudem lebensbedrohlich für die mögliche Nachkommenschaft war. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an Pastor Manders, ihren Jugendfreund, der als wahrer Retter der Seelen für den Himmel irdischen Bedürfnissen gegenüber gleichgültig sein musste. Er schickte sie zurück in die Schande und Erniedrigung – zu ihren ehelichen und häuslichen Pflichten. Für ihn bedeutete Freude einzig und allein die unheilige Manifestierung eines rebellischen Geistes, und »die Gattin ist nicht zum Richter über ihren Gatten gesetzt. Es wäre Ihre Schuldigkeit gewesen, mit demüthigem Sinn das Kreuz zu tragen, welches ein höherer Wille Ihnen auferlegt hatte.«
Frau Alving trug das Kreuz 26 lange Jahre. Nicht um einer höheren Macht willen, sondern für ihren kleinen Sohn Oswald, den sie vor der giftigen Umgebung des Zuhauses ihres Mannes bewahren wollte.
Es war ebenfalls für den geliebten Sohn, dass sie in abergläubischer Ehrfürcht vor ›Pflicht und Schuldigkeit‹ die Lüge von der Güte des Vaters aufrecht erhielt. Leider wurde ihr zu spät klar, dass das Opfer, das sie ihr Leben lang gebracht hatte, umsonst gewesen war und ihr Sohn Oswald die Sünden seines Vaters übernahm, ja dass er unwiderruflich verdammt war. Und sie erkannte auch, dass »wir alle Gespenster [sind]. Es ist nicht allein da, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns umgeht. Es sind allerhand alte, todte Ansichten und aller mögliche alte Glaube und dergleichen. Es lebt nicht in uns; aber es steckt in uns und wir können es nicht los werden. [...] Und dann sind wir alle mit einander ja so gottsjämmerlich lichtscheu. [...]als Sie mich in das hinein zwängten, was Sie Pflicht und Schuldigkeit nannten; als Sie das als recht und wahr lobpriesen, wogegen meine ganze Seele sich als etwas Widerliches empörte. Da war es, daß ich Ihre Lehren an meinem eigenen Saum prüfen wollte. Nur einen einzigen, kleinen Stich gedachte ich aufzuziehen; aber als ich den gelöst hatte, riß das Ganze auf. — Und da sah ich, daß alles nur Maschinennäherei sei!«
Wie konnte eine derartige Gesellschaft die schäumenden Tiefen begreifen, aus denen das großartige Meisterstück Henrik Ibsens bestand? Sie konnte sie nicht verstehen und bedachte deshalb ihren größten Wohltäter mit Schimpf und Schande. Dass sich Ibsen nicht entmutigen ließ, bewies er, indem er mit Ein Volksfeind antwortete.
Mit diesem großartigen Stück vollführt Ibsen die letzten Beerdigungsriten für ein zerfallendes und sterbendes Gesellschaftssystem. Aus seiner Asche erhebt sich das erneuerte Individuum, der kühne und mutige Rebell. Dr. Stockmann, ein Idealist, voll sozialer Sympathie und Solidarität, wird in seiner Geburtsstadt zum Badearzt berufen. Bald entdeckt er, dass das Bad auf einem Sumpf errichtet wurde und die zahlreich anreisenden Patienten hier vergiftet werden, anstatt die erhoffte Heilung zu finden.
Als ehrlicher Mensch mit starken Überzeugungen betrachtet es der Arzt als seine Pflicht, seine Entdeckung bekannt zu machen. Aber bald muss er erfahren, dass Dividenden und Profite nichts mit Gesundheit oder Prinzipien zu tun haben. Selbst die ReformerInnen der Stadt, die durch den Volksboten repräsentiert werden und stets bereit sind, von ihrer Verpflichtung gegenüber den Menschen zu schwafeln, entziehen dem »rücksichtslosen« Idealisten ihre Unterstützung, als ihnen klar wird, dass die Entdeckung des Arztes die Stadt in ein schlechtes Licht rücken könnte, was wiederum ihren Geldbeuteln schaden würde.
Doktor Stockmann jedoch vertraut weiter auf seine MitbürgerInnen. Sie werden auf ihn hören. Aber auch hier steht er bald alleine da. Er kann noch nicht einmal einen Ort finden, um die ganze Wahrheit zu verkünden. Und als ihm das endlich gelingt, wird er als Volksfeind beleidigt und verspottet. Zunächst ist der Arzt zuversichtlich, dass die Bewohnerinnen der Stadt gegen das Böse antreten werden, doch bald schon befindet er sich auf einsamem Posten. Wenn seine Entdeckung bekannt gemacht würde, bedeutete das für die Stadt finanzielle Einbußen, und diese Überlegung bringt die BeamtInnen, die guten BürgerInnen und die Seelenreformerlnnen dazu, die Stimme der Wahrheit zu ersticken. Sie stehen ihm in einer geballten Mehrheit gegenüber, skrupellos genug, den Wohlstand der Stadt auf einem Schlammboden von Lüge und Betrug zu errichten. Er wird beschuldigt, die Gemeinschaft ruinieren zu wollen. Ihm »ist nichts daran gelegen, wenn eine lügenhafte Gesellschaft zugrunde geht! [...]Wie Raubwild müssen sie ausgerottet werden, alle, die in der Lüge leben! Ihr verpestet am Ende das ganze Land; Ihr bringt es dahin, daß das ganze Land den Untergang verdient.«
Doktor Stockmann ist kein praktizierender Politiker. Ein freier Mann, so glaubt er, muss sich nicht wie ein Krimineller verhalten. »Er darf sich nicht so benehmen, daß er sich selbst ins Gesicht spucken müßte!« Nur Feiglinge lassen zu, dass sich die ›Rücksichtnahme‹ auf das angestrebte allgemeine Wohlergehen oder eine Partei über Wahrheit und Ideale hinwegsetzt, »die Parteiprogramme [drehen] allen jungen, lebensfähigen Wahrheiten den Hals um[...] – [...] Zweckmäßigkeitsrücksichten [stellen] Moral und Rechtschaffenheit auf den Kopf, so daß das Leben hier schließlich rein zur Qual wird.«
Diese Stücke Ibsens – Die Stützen der Gesellschaft, Nora oder Ein Puppenheim, Gespenster und Ein Volksfeind – sind eine dynamische Kraft, die nach und nach die Gespenster von dem gesellschaftlichen Friedhof vertreibt, der Zivilisation genannt wird. Nein, mehr noch: Ibsens destruktive Effekte sind gleichzeitig äußerst konstruktiv, da er nicht einfach nur die bestehenden Säulen untergräbt; vielmehr legt er entschlossen das Fundament für eine gesündere, ideale Zukunft, die auf der Souveränität des Individuums in einer günstigen sozialen Umwelt beruht.
England ist mit seinen großen Pionieren des radikalen Denkens, den intellektuellen Pilgern wie Godwin, Robert Owen, Darwin, Spencer, William Morris und vielen anderen, mit seinen wunderbaren Freiheitsverkündern – Shelley, Byron, Keats – ein weiteres Beispiel für den Einfluss der Theaterkunst. Innerhalb verhältnismäßig weniger Jahre haben die Stücke von Shaw, Pinero, Galsworthy und Rann Kennedy jenen das radikale Denken vor Augen geführt, die sogar blind gegenüber den bemerkenswerten Dichtern Großbritanniens waren. So wurde ein Publikum, das beim Lesen eines Aufsatzes von Robert Owen über die Armut gleichgültig blieb oder Bernard Shaws sozialistische Traktate ignorierte, von Major Barbara zum Nachdenken angeregt, einem Stück, in dem Armut als größtes Verbrechen der christlichen Zivilisation beschrieben wird. »Armut macht die Menschen schwach, versklavt sie, nimmt ihnen die Kraft. Armut schafft Krankheit, Verbrechen, Prostitution. Kurzum, Armut ist verantwortlich für alles Böse und Schlechte auf der Welt.« Armut bedingt auch Abhängigkeit, Wohlfahrtsorganisationen und Institutionen, die genau von dem profitieren, was sie abschaffen wollen. Die Heilsarmee beispielsweise, wie in Major Barbara gezeigt wird, kämpft gegen Alkoholismus; gleichzeitig ist einer ihrer größten Gönner Badger, ein Whiskeybrauer, der jährlich tausende Pfund zur Abschaffung der Quelle seines eigenen Wohlstandes beiträgt. Bernard Shaw schließt daraus, dass die einzigen wahren Wohltäter der Gesellschaft Männer wie Barbaras Vater Undershaft sind, ein Kanonenfabrikant, der davon überzeugt ist, dass Kanonenpulver stärker ist als Worte.
Die Armut, sagt Undershaft, ist »das schlimmste aller Verbrechen. Alle anderen Verbrechen sind daneben Tugenden, alle andere Schmach ist im Vergleich dazu Galanterie. Armut vernichtet ganze Städte, sie verbreitet furchtbare Pesilenz, tötet die Seelen aller, die sich ihrer Sicht-, Hör- oder Riechweite nähern. Was Sie Verbrechen nennen, ist nichts: hier ein Mord, dort ein Diebstahl, hier ein Schlag und dort ein Fluch, was macht das schon! Das sind nur Zufälle und Krankheiten des Lebens. Es gibt keine fünfzig wahre Berufsverbrecher in London. Aber es gibt Millionen Armer, Elender, schmutziger Leute, die schlecht ernährt und schlecht gekleidet sind. Sie vergiften uns moralisch und psychisch, sie töten das Glück der Gesellschaft, sie zwingen uns, unsere eigenen Freiheiten abzuschaffen und unnatürliche Grausamkeiten zu organisieren aus Angst, daß sie sich gegen uns erheben und uns in ihren Abgrund ziehen könnten. [...] Armut und Sklaverei haben sich Jahrhunderte gegen eure Predigten und Leitartikel behauptet, sie werden sich nicht gegen meine Maschinengewehre behaupten. Predigt nicht darüber, debattiert nicht darüber. Schafft sie ab. [...] Es ist der letzte Prüfstein, der einzige Hebel, der stark genug ist, ein soziales System zu stürzen [...] Wählen! Pah! Wenn man wählt, ändert man nur die Namen im Kabinett. Wenn man schießt, reißt man eine Regierung nieder, leitet eine neue Epoche ein, hebt alte Befehle auf und gibt neue.«
Kein Wunder, dass sich die Leute wenig um die sozialistischen Traktate Shaws scherten. Allem im Theater konnte er solche eindringlichen, historischen Wahrheiten verbreiten. Und deshalb ist Shaw allein durch das Theater ein revolutionärer Beitrag zur Verbreitung des radikalen Denkens gelungen.
Nach Hauptmanns Die Weber ist Galsworthys Strife das wichtigste Arbeiterinnendrama.
Bei Strife geht es um einen Streik mit zwei dominanten Gegenspielern: Anthony, Direktor der Firma, streng, kompromisslos, nicht zum kleinsten Zugeständnis bereit, obwohl die Männer seit Monaten durchhalten und schon fast verhungern; und David Roberts, ein kompromissloser Revolutionär, der sich voll und ganz der Arbeiterlnnenklasse und der Sache der Freiheit verschrieben hat. Zwischen ihnen stehen die Streikenden, müde und erschöpft von diesem schrecklichen Kampf und zermürbt angesichts der Armut und des Mangels, die in ihren Familien herrschen.
Am besten ist Galsworty in Strife das Porträt des Mobs in seinem Wankelmut und seiner Rückgratlosigkeit gelungen. In einem Moment jubeln sie dem alten Thomas zu, der von der Macht Gottes und der Religion spricht und vor der Rebellion warnt; im nächsten Augenblick sind sie von einem Wanderredner mitgerissen, der die Sache der Gewerkschaft predigt – der Gewerkschaft, die jederzeit für Kompromiss steht und sich stets dann von den ArbeiterInnen abwendet, wenn diese für unabhängige Forderungen zu streiken wagen; und dann wieder strahlen sie mit der Ernsthaftigkeit, dem Geist und der Intensität von David Roberts – all diese Menschen sind bereit, in die Richtung zu gehen, in die der Wind sie trägt. Es ist der Fluch der Arbeiterlnnenklasse, dass sie stets wie Schafe dem folgt, der sie zum Schlachter führt.
Beständigkeit ist das größte Verbrechen unseres kommerziellen Zeitalters. So stark ein Geist oder so wichtig ein Mann auch sein mag – wenn er sich nicht benutzen lässt und seine Prinzipien nicht verkaufen will, wird er entsorgt. So geschah es mit Anthony, dem Direktor des Unternehmens, und mit David Roberts. Zwar repräsentierten sie entgegengesetzte Pole – Pole, die sich feindlich gegenüberstanden, zwischen denen ein riesiger, nicht zu überbrückender Abgrund klaffte. Dennoch teilten sie ein gleiches Schicksal. Anthony verkörpert den Konservatismus, die alten Ideen, die eisernen Methoden:
»Seit 32 Jahren leite ich dieses Unternehmen. Ich habe viermal gegen die Männer gekämpft. Nicht einmal bin ich besiegt worden. Es heißt, die Zeiten haben sich geändert. Sollte das der Fall sein, so habe ich mich nicht mit ihnen geändert. Es heißt, Herren und Menschen sind gleich. Kann nicht sein. Es kann nur einen Herren im Haus geben. Es heißt, Kapital und Arbeit haben die gleichen Interessen. Kann nicht sein. Ihre Interessen liegen weiter voneinander entfernt als Nord- und Südpol. Es gibt nur einen Weg für den Umgang mit den Männern: mit eiserner Hand. Herren sind Herren. Menschen sind Menschen.«
Uns mag dieses Anhängen an alten, reaktionären Ideen nicht gefallen; aber es steckt etwas Bewundernswertes im Mut und in der Beständigkeit dieses Mannes und er ist auch nicht einmal halb so gefährlich für die Interessen der Unterdrückten wie unsere sentimentalen und weichen ReformerInnen, die mit neun Fingern stehlen und mit dem zehnten eine Bibliothek eröffnen; die wie Russel Sage erst Menschen schinden und dann Millionen von Dollar für die Sozialforschung ausgeben; die wunderbare junge Pflänzchen zu verblassten alten Frauen machen und ihnen dann ein paar armselige Dollar in die Hand drücken oder ein Home for Working Girls gründen. Anthony ist ein würdiger Gegner; und um gegen einen solchen Gegner anzutreten, muss man lernen, ihm im offenen Kampf zu begegnen.
David Roberts teilt alle mentalen und moralischen Eigenschaften seines Gegners, die in seiner Person mit dem Geist der Revolte und dem tiefen Verständnis moderner Ideen gekoppelt sind. Auch er ist beständig und möchte nicht weniger für seine Klasse als den ganzen Sieg.
»Wir kämpfen nicht für diesen einen kleinen Moment, nicht für unsere eigenen kleinen Körper und deren Wärme: Es ist für alle, die nach uns kommen, für alle Zeiten. Oh, Männer, im Namen ihrer Liebe werft nicht noch einen Stein nach ihren Köpfen, helft nicht, den Himmel zu verdunkeln. Wenn wir dieses weißgesichtige Monster, das seit Anbeginn der Welt mit blutigen Lippen das Leben aus uns, unseren Frauen und Kindern gesaugt hat, nicht erschüttern können, wenn wir nicht die Herzen von Männern in uns tragen, um gegen es anzutreten, Brust gegen Brust und Auge gegen Auge, und es zurückzwingen, bis es um Gnade winselt, dann wird es weiter das Leben aus uns saugen und wir werden für immer bleiben, wo wir sind, und schlimmer als Hunde leben.«
Es lässt sich nicht vermeiden, dass Kompromisse und halbherziges Interesse die Überhand gewinnen und diese beiden Riesen zurücklassen. Es ist unvermeidlich bis zu dem Moment, wenn die Massen die Größe eines David Roberts erreicht haben. Wird das je geschehen? Der Dramatiker ist kein Prophet, aber die moralische Lektion ist deutlich. Man muss sich schlicht darüber klar werden, dass die ArbeiterInnen zu Methoden greifen müssen, die ihnen bisher unbekannt waren; dass sie alle Elemente aus ihrer Mitte entfernen müssen, die stets zur Versöhnung mit dem Unversöhnlichen bereit sind, sprich Kapital und Arbeit. Sie werden lernen müssen, dass Charaktere wie David Roberts die treibenden Kräfte sind, die die Welt revolutioniert und damit den Weg für die Emanzipation aus den Klauen jenes »weißgesichtigen Monsters mit blutigen Lippen« heraus geebnet haben, in Richtung eines helleren Horizonts, eines freieren Lebens und einer wahrhaftigeren Anerkennung menschlicher Werte.
Kein Thema ähnlicher gesellschaftlicher Relevanz ist in den letzten Jahren so intensiv diskutiert worden wie die Frage von Gefängnis und Bestrafung.
Kaum eine konsequente Zeitschrift hat nicht ihre Kolumnen der Debatte dieses grundlegenden Themas gewidmet. Eine Reihe von Veröffentlichungen begabter Autorinnen in den USA und anderswo haben diese Fragestellung unter historischen, psychologischen und gesellschaftlichen Standpunkten diskutiert. Sie alle stimmen darin überein, dass die heutigen Strafanstalten und unsere Art des Umgangs mit Verbrechen in jeder Hinsicht unangemessen und nutzlos sind. Man sollte erwarten, dass aus dieser geballten literarischen Anklage der Verbrechen der Gesellschaft an den Gefangenen etwas Radikales entstehen sollte. Mit Ausnahme einiger kleinerer und vergleichsweise unbedeutender Reformen in einigen unserer Gefängnisse ist allerdings absolut nichts erreicht worden. Endlich aber wurde diese gravierende gesellschaftliche Ungerechtigkeit mit Galsworthys Werk Justice auf die Bühne gebracht.
Das Stück beginnt im Büro von James How und Söhne, Anwälte. Der Chef der Kanzlei, Robert Cokeson, entdeckt, dass ein Scheck, den er über neun Pfund ausgestellt hatte, auf 90 Pfund gefälscht wurde. Indem er alle anderen Möglichkeiten ausschließt, fällt der Verdacht auf William Falder, den Bürogehilfen. Dieser ist in eine verheiratete Frau verliebt, die missbrauchte und misshandelte Ehefrau eines brutalen Alkoholikers. Unter dem Druck seines Vorgesetzten gibt Falder, ein ernsthafter, aber nicht unfreundlicher Mann, den Betrug zu und führt als Entschuldigung die verzweifelte Lage seiner Liebsten Ruth Honeywill an, mit der er die Flucht geplant hat, um sie vor der unerträglichen Brutalität ihres Mannes zu retten. Ungeachtet der inständigen Bitten des jungen Walter, der modernen Ideen gegenüber aufgeschlossen ist, übergibt sein Vater, ein moral- und gesetzestreuer Bürger, Falder der Polizei.
Der zweite Akt spielt im Gerichtssaal, wo gerade das Verfahren stattfindet. Die Szene ähnelt in ihrer dramatischen Kraft und psychologischen Wahrheit der großen Gerichtsszene in Auferstehung. Der junge Falder, ein nervöser und ziemlich schwächlicher junger Mann von 23 Jahren, steht vor Gericht. Ruth, seine verheiratete Liebste, vergeht voller Liebe und Ergebenheit vor Sorge um die Rettung des Jugendlichen, dessen Zuneigung zu ihr seine derzeitige Zwangslage herbeigeführt hat. Der junge Mann wird von Anwalt Frome verteidigt, dessen Ansprache an die Geschworenen ein Meisterwerk tiefgründiger Sozialphilosophie ist, gekrönt mit den Ranken von menschlichem Verständnis und Sympathie. Er versucht nicht, die Tatsache zu bestreiten, dass Falder den Scheck verändert hat, und obwohl er zur Verteidigung seines Mandanten auf vorübergehende Geistesverwirrung plädiert, gründet sich dieses Plädoyer auf ein soziales Bewusstsein, das so tiefgreifend und allumfassend ist wie die Wurzeln unserer gesellschaftlichen Missstände – »der Hintergrund des Lebens, dieses pulsierenden Lebens, das immer zugrunde liegt, wenn ein Verbrechen begangen wird.« Er stellt Falder so dar, dass dieser vor der Entscheidung stand, zuzuschauen, wie seine Geliebte von ihrem brutalen Ehemann, von dem eine Scheidung nicht möglich war, umgebracht wurde, oder das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Die Verteidigung plädiert dafür, diesen schwachen jungen Mann nicht zu einem Kriminellen zu machen, indem er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, denn »die Justiz ist eine Maschine, die, wenn sie einmal in Gang gebracht wird, von allein weiterrollt... Soll dieser junge Mann unter dieser Maschine zerquetscht werden für eine Tat, die schlimmstenfalls aus einer Schwäche heraus geschehen ist? Soll er Mitglied der unglücklichen Besatzung werden müssen, die jene finsteren, unglückseligen Schiffe bevölkert, die Gefängnisse genannt werden? ... Ich dränge Sie, meine Herren, diesen jungen Mann nicht zu ruinieren. Als Ergebnis jener vier Minuten erwartet ihn nun der totale, unwiderrufliche Rum ... In dem Moment, als die Entscheidung zur Anzeige dieses jungen fiel, begannen die Räder des Streitwagens der Justiz, ihn zu überrollen.«
Aber der Streitwagen der Justiz rollt gnadenlos weiter, denn – wie der erfahrene Richter sagt – »das Gesetz ist, was es ist – ein majestätisches Gebäude, das uns allen Schutz gewährt und in dem jeder Stein auf dem anderen ruht.«
Falder wird zu drei Jahren Gefängnisstrafe verurteilt.
Im Gefängnis fällt der junge, unerfahrene Häftling bald dem schrecklichen »System« zum Opfer. Die Behörden räumen ein, dass sich der junge Falder geistig und körperlich »in schlechter Verfassung« befindet, aber da ist nichts zu machen: Viele andere sind in einer vergleichbaren Situation und die »Unterbringung ist unangemessen«.
Die dritte Szene des dritten Aktes ergreift das Herz mit der Kraft der Stille. Die ganze Szene ist eine Pantomime, die in Falders Zelle stattfindet.
»In der Abenddämmerung sieht man Falder, wie er reglos in Strümpfen dasteht, den Kopf zur Tür geneigt, horchend. Er geht ein wenig näher zur Tür, wobei seine Schritte durch die bestrumpften Füße nicht zu hören sind. An der Tür bleibt er stehen. Er bemüht sich immer mehr, etwas zu hören, irgendein kleines Geräusch. Plötzlich zuckt er zusammen – als hätte er etwas gehört – und bleibt völlig reglos stehen. Dann geht er mit einem schweren Seufzer zu seiner Arbeit, bleibt stehen und sieht sie mit gebeugtem Kopf an; er macht einen Stich oder zwei und wirkt dabei wie ein Mann, der so verloren in der Traurigkeit ist, dass mit jedem Stich ein wenig Leben erwacht. Dann wendet er sich abrupt um und beginnt, seine Zelle zu durchschreiten und den Kopf zu bewegen, wie ein Tier, das in seinem Käfig hin- und herläuft. Wieder bleibt er an der Tür stehen, legt seine Handflächen dagegen, die Finger gespreizt, und lehnt die Stirn gegen das Eisen. Bald dreht er sich um und geht langsam zurück zum Fenster, wobei er seinen Kopf hält, als fürchte er, dieser würde bald bersten. Unter dem Fenster bleibt er stehen. Da er aber nicht hinausblicken kann, schaut er nicht weiter, hebt stattdessen den Deckel einer seiner Dosen an und schaut hinein, als suche er einen Gefährten für sein eigenes Gesicht. Inzwischen ist es fast dunkel geworden. Plötzlich fallt ihm der Deckel mit einem Scheppern aus der Hand – das einzige Geräusch, das die Stille unterbricht – und er steht da und starrt aufmerksam an die Wand, wo der Stoff des Hemdes ziemlich weiß in der Dunkelheit leuchtet – er scheint darin jemanden oder etwas zu sehen. Man hört ein Pochen und Klicken; das Licht in der Zelle ist hinter einem Glasschutz angemacht worden. Die Zelle ist nun hell erleuchtet. Man sieht Falder nach Atem ringen.
Ein Geräusch aus weiter Ferne, wie ein verborgenes, dumpfes Schlagen auf dickes Metall, wird plötzlich hörbar. Falder sinkt in die Knie, kann diesen plötzlichen Lärm nicht ertragen. Aber das Geräusch schwillt an, als würde ein riesiger Karren auf die Zelle zurollen. Nach und nach scheint ihn das Geräusch zu hypnotisieren. Schritt für Schritt nähert er sich der Tür. Das schlagende Geräusch, das von Zelle zu Zelle geht, kommt immer näher; man sieht, wie sich Falders Hände bewegen, als ob sein Geist bereits das Schlagen übernommen hätte, und das Geräusch schwillt an, bis es aus der Zelle selbst zu kommen scheint. Plötzlich hebt er seine geballten Fäuste. Verzweifelt wirft er sich keuchend gegen die Tür und hämmert dagegen.«
Schließlich wird Faider aus dem Gefängnis entlassen, als gebrochener Freigänger, mit dem Häftlingszeichen über der Braue und dem Eisen des Elends in seiner Seele. Dank Ruths Flehen ist die Anwaltskanzlei James How und Söhne bereit, Falder wieder einzustellen, unter der Bedingung, dass er Ruth aufgibt. Da erfährt Falder die schreckliche Neuigkeit, dass die Frau, die er liebt, vom gnadenlosen Teufel der Notwendigkeit gezwungen wurde, sich zu verkaufen. Sie »versuchte, Hemden zu nähen ... billige Dinge. … Nie verdiente ich mehr als zehn Schilling pro Woche, ich musste meine eigene Baumwolle kaufen und den ganzen Tag arbeiten. Fast nie kam ich vor zwölf Uhr ins Bett... Und dann ... kam mein Chef. Seither kommt er immer.« In diesem schrecklichen, psychologisch aufgeladenen Moment kommt die Polizei, um Falder erneut festzunehmen, weil er sich nicht als Freigänger gemeldet hat. Völlig überwältigt von der Unerbittlichkeit seiner Umwelt sucht und findet der junge Mann Frieden, der größer ist als die menschliche Gerechtigkeit, indem er sich in den Tod stürzt, als ihn die Polizisten zurück ins Gefängnis bringen.
Es erscheint unmöglich, die Wirkung dieses Stücks abzuschätzen. Vielleicht lässt sie sich anhand der ungewöhnlichen Tatsache erahnen, dass sich der Innenminister von Großbritannien infolge dieses Stücks zu einer ausgedehnten Gefängnisreform veranlasst sah. Das ist ein wirklich ermutigendes Zeichen für den Einfluss des modernen Theaters. Es bleibt zu hoffen, dass die donnernde Anklage Galsworthys nicht ohne vergleichbare Folgen für die öffentliche Meinung und die Gefängnisbedingungen in den USA bleibt. Jedenfalls ist sicher, dass es keinem anderen modernen Stück gelungen ist, auf so direkte und unmittelbare Weise das soziale Gewissen wachzurütteln.
Ein weiteres modernes Theaterstück, The Servant in the House, beschäftigt sich mit einem zentralen Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens. Der Held in Kennedys Meisterwerk ist Robert, ein ungehobelter, schmutziger Alkoholiker, der von der ehrbaren Gesellschaft ausgestoßen wurde. Robert, der als Abwasserkanalarbeiter tätig ist, ist der wahre Held dieses Stücks; nein, sein wahrer und einziger Erlöser. Er ist es, der sich freiwillig dazu bereiterklärt, in die gefährlichen Abwasserkanäle hinabzusteigen, damit seine Kameraden »Licht und Luft ham‘ können.« Und hat er nicht schon immer sein Leben geopfert, damit andere Licht und Luft haben können?
Der Gedanke, dass Arbeit die Rettung des gesellschaftlichen Wohlergehens bedeutet, ist schon in jeder Sprache und in jedem Landstrich von allen Dächern verkündet worden. Aber die einfachen Worte Roberts drücken die Bedeutung von Arbeit und ihre Mission viel kraftvoller aus.
In den USA steckt das Theater noch in den Kinderschuhen. Die meisten Versuche in dieser Richtung, das Leben auf der Bühne zu reflektieren, sind kläglich gescheitert. Aber es gibt hoffnungsvolle Anzeichen in der Einstellung des intelligenten Publikums gegenüber modernen Stücken, selbst wenn sie aus anderen Ländern kommen.
Das einzig wahre Theaterstück, das die USA bisher hervorgebracht haben, ist Eugene Walters The Easiest Way.
Darin soll eine »besondere Phase« des Lebens in New York repräsentiert werden. Wäre das schon alles, wäre das Stück nicht so bedeutend. Was es aber so wichtig macht und ihm seinen Wert gibt, liegt tiefer, und zwar einerseits in der grundlegenden Strömung unserer Gesellschaftsstruktur, die uns alle, selbst die stärkeren Charaktere wie Laura, dazu treibt, den leichteren Weg zu wählen – einen Weg, der für die Integrität, Wahrheit und Gerechtigkeit zerstörerisch ist. Zweitens ist da der grausame, sinnlose Fatalismus, der durch Lauras Geschlecht bedingt wird. Diese beiden Merkmale drücken dem Stück ihren universellen Stempel auf und machen es zu einer der stärksten Anklagen des Theaters gegen die Gesellschaft.
Die kriminelle Verschwendung menschlicher Energie unter den herrschenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen bringen Laura, wie jedes durchschnittliche Mädchen, dazu, irgendeinen Mann zu heiraten, um ein ›Zuhause‹ zu haben; genauso, wie sie Männer dazu bringen, für einen Hungerlohn die schlimmsten Demütigungen zu erleiden.
Dann ist da noch jene andere ehrbare Einrichtung, der Fatalismus von Lauras Geschlecht. Die Unvermeidlichkeit dieser Kraft wird in den folgenden Worten zusammengefasst: »Weißt du denn nicht, dass wir im Leben dieser Männer nicht mehr zählen als gezähmte Tiere? Es ist ein Spiel, und wenn wir nicht gut spielen, verlieren wir.« Der Frau bleibt im Kampf mit dem Leben nur eine Waffe, eine Handelsware – Sex. Das allein ist ihr Trumpf im Spiel des Lebens.
Dieser blinde Fatalismus hat aus der Frau einen Parasiten, ein inaktives Objekt gemacht. Warum erwarten wir dann Beharrlichkeit oder Energie von Laura? Der einfachste Weg für sie ist der Weg, der schon seit Urzeiten für sie vorgezeichnet wurde. Sie kann keinen anderen gehen.
Eine Reihe anderer Stücke könnte als charakteristisch für die wachsende Bedeutung des Theaters als Nährboden für radikales Denken aufgeführt werden. Es sollen noch The Third Degree von Charles Klein, The Fourth Estate von Medill Patterson und A Man’s World von Ida Crouch Erwähnung finden – allesamt deuten sie daraufhin, dass das Theater in den USA auf dem richtigen Weg ist und sich zu einer Kunst entwickelt, die den Menschen die schrecklichen Krankheiten unserer Gesellschaft enthüllt.
Die Alten wussten es bereits: Alle Wege führen nach Rom. Wenn man diesen Satz auf die Tendenzen unserer Zeit anwendet, kann aufrichtig gesagt werden, dass alle Wege zu einer großartigen gesellschaftlichen Erneuerung führen. Das wirtschaftliche Erwachen der ArbeiterInnen und ihr Erkennen der Notwendigkeit gemeinsamen Handelns; die Tendenzen der modernen Bildung, insbesondere ihre Anwendung auf die freie Entwicklung des Kindes; der Geist der wachsenden Unruhe, der sich in der Kunst und Literatur ausdrückt und dort gepflegt wird, all das ebnet den Weg. Insbesondere das moderne Theater, das einmal durch die DramatikerInnen und zum anderen durch die SchauspielerInnen wirkt und sowohl Herz als auch Verstand anspricht, ist die stärkste Kraft für die Entwicklung gesellschaftlicher Unzufriedenheit. Es nährt die riesige Welle der Unruhen, die immer mehr über den Damm der Ignoranz, des Vorurteils und des Aberglaubens schwappen.
[1] Gemälde 1863, Öl auf Leinwand, 80 x 99 cm
[2] Die Fifth Avenue in Manhattan, New York, war bereits Ende des 19. Jh. die teuerste Wohn- und Geschäftslage der Stadt.
[3] Ich klage an!
[4] in: Einsame Menschen (1891)