#title Anarchismus #subtitle wofür er wirklich steht #author Emma Goldman #SORTauthors Goldman, Emma; #SORTtopics Anarchismus, Staat, Kritik #date 1911 #lang de #pubdate 2017-12-25T16:28:51 #notes Aus: Goldman – Anarchismus und andere Essays. 1. Auflage, Dezember 2013. Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte«. hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. ISBN 978-3-89771-920-0. UNRAST-Verlag, Münster. S.37–54 (Mother Earth Publication | 2 nd Ed. 1911) ANARCHISMUS Stets verunglimpft, verflucht, nie gelassen, Du grässlicher Schrecken unsrer Zeit. »Das Ende aller Ordnung«, schreien die Massen, »Bist du, und Krieg und Mord in Ewigkeit.« Oh, lass sie schreien. Jenen, die nimmer Die Wahrheit hinter einem Wort gesucht, Bleibt Bedeutung verborgen für immer. Mögen sie bleiben als Blinde verflucht. Du aber, Wort, so klar, so stark, so rein, Sagst alles, was zum Ziel ich mir gemacht. Ich gebe dich der Zukunft! Sie sei dein, Wenn jeder endlich zu sich selbst erwacht. Wird Sonne scheinen? Wird es ein Gewittertag? Ich weiß es nicht – das überlasse ich der Erde! Ich bin ein Anarchist! Weswegen ich nicht herrschen mag, Und dass beherrscht ich auch nicht werde! John Henry Mackay Die Geschichte vom Werden und der Entwicklung der Menschheit ist gleichzeitig die Geschichte eines schrecklichen Kampfes gegen jede neue Idee, die einen helleren Morgen ankündigte. Indem es sich stets hartnäckig an Traditionen klammerte, hat das Alte nie gezögert, zu den widerlichsten und grausamsten Methoden zu greifen, um das Aufkommen des Neuen, in welcher Form oder Zeit es sich auch manifestierte, zu verhindern. Man muss nicht einmal bis in die ferne Vergangenheit schauen, um das Ausmaß des Widerstandes, der Schwierigkeiten und Hindernisse zu erfassen, die jeglichen fortschrittlichen Ideen in den Weg gestellt wurden. Folter, Daumenschrauben und Knute begleiten uns noch immer; ebenso die Gefängnistracht und der Zorn der Gesellschaft, die gemeinsam gegen den Geist ankämpfen, der zielstrebig voranschreitet. Auch der Anarchismus kann nicht darauf hoffen, dem Schicksal anderer innovativer Ideen zu entkommen. Als revolutionärste und kompromissloseste Neuerung von allen muss er förmlich mit der Kombination aus Ignoranz und Gift zusammenprallen, von der die Welt, die er neu zu erschaffen hofft, beherrscht ist. Um sich auch nur annähernd mit all dem auseinanderzusetzen, was gegen den Anarchismus gesagt und getan wurde, müsste ein ganzer Band geschrieben werden. Deshalb beschränke ich mich an dieser Stelle auf nur zwei der am häufigsten dagegen hervorgebrachten Einwände. Dabei werde ich versuchen, die wahre Bedeutung des Anarchismus zu erklären. Der Widerstand gegen ihn zeichnet sich durch das eigenartige Phänomen aus, dass er die Beziehung zwischen der sogenannten Intelligenz und Ignoranz enthüllt. Das ist allerdings nicht ganz so eigenartig, wenn wir uns die Relativität aller Dinge vor Augen führen. Für die unwissende Masse spricht, dass sie nicht so tut, als verstehe oder toleriere sie etwas. Sie agiert, wie stets, rein impulsiv, ihre Gründe sind wie die eines Kindes. »Warum?« »Darum!« Dennoch muss der Widerstand der Ungebildeten gegen den Anarchismus ebenso in Betracht gezogen werden wie der des gebildeten Menschen. Welche Einwände sind das? Zunächst ist der Anarchismus undurchführbar, wenn auch eine wunderbare Idee. Dazu kommt, dass er für Gewalt und Zerstörung steht und damit als schrecklich und gefährlich abzulehnen ist. Weder der gebildete Mensch noch die ungebildete Masse begründen ihr Urteil auf der Kenntnis der Materie, sondern sie verlassen sich auf das, was sie vom Hörensagen oder aus falschen Interpretationen kennen. Laut Oscar Wilde ist ein praktischer Plan entweder einer, der schon umgesetzt wurde, oder einer, der unter den herrschenden Bedingungen durchführbar ist; aber es sind genau diese herrschenden Bedingungen, die abzulehnen sind, und jeder Plan, der diese Bedingungen akzeptiert, ist falsch und töricht. Daher ist das wahre Kriterium für die Umsetzbarkeit einer Sache nicht, ob sie das Falsche oder Törichte intakt halten kann; entscheidend ist vielmehr, ob der Plan dynamisch genug ist, die stehenden Gewässer des Alten zu verlassen und neues Leben zu schaffen und zu erhalten. Aus diesem Blickwinkel ist Anarchismus durchaus praktikabel. Mehr als jede andere Idee trägt er dazu bei, das Falsche und Törichte zu beseitigen; mehr als jede andere Idee schafft er neues Leben und erhält es. Die Emotionen des ungebildeten Menschen werden kontinuierlich durch die markerschütterndsten Geschichten über den Anarchismus in Wallung gehalten. Nichts ist zu abscheulich, um gegen diese Philosophie und die, die sie vertreten, verwendet zu werden. Deshalb stellt sich der Anarchismus für jene, die weniger nachdenken, wie der sprichwörtliche schwarze Mann für das Kind dar – wie ein grausiges Monster, das alles verschlingen will; kurz als Zerstörung und Gewalt. Zerstörung und Gewalt! Woher soll der gewöhnliche Mensch denn auch wissen, dass das destruktivste Element der Gesellschaft die Unwissenheit ist; dass ihre Zerstörungskraft genau das ist, wogegen der Anarchismus kämpft? Auch ist er sich nicht der Tatsache bewusst, dass Anarchismus, dessen eigentliche Wurzeln Teil natürlicher Kräfte sind, sehr wohl zerstört, jedoch keine gesunde Materie, sondern parasitäre Auswüchse, die sich von der Lebensessenz der Gesellschaft ernähren. Der Boden muss schlichtweg vom Unkraut bereinigt werden, um schließlich gesunde Früchte hervorbringen zu können. Jemand hat gesagt, dass es weniger mentale Anstrengung kostet, etwas zu verurteilen, als darüber nachzudenken. Die weit verbreitete geistige Trägheit, die in der Gesellschaft derart vorherrscht, ist ein wahrer Beweis dafür. Anstatt irgendeiner Idee auf den Grund zu gehen, ihre Herkunft und Bedeutung zu untersuchen, werden die meisten Menschen sie von vornherein ablehnen oder sich auf eine oberflächliche oder vorurteilsbehaftete Definition von Unwichtigkeiten verlassen. Der Anarchismus verlangt dem Menschen ab, selbst zu denken, zu forschen, jeden Vorschlag zu analysieren; aber um die Aufnahmefähigkeit durchschnittlicher Leser und Leserinnen nicht überzustrapazieren, werde ich auch mit einer Definition beginnen und diese dann näher ausführen. ANARCHISMUS ist die Philosophie einer neuen Gesellschaftsordnung, die auf Freiheit basiert, welche nicht durch von Menschen gemachte Gesetze eingeschränkt ist; die Theorie, dass jede Form von Regierung auf Gewalt beruht und deshalb überflüssig, falsch und schlecht ist. Die neue Gesellschaftsordnung beruht selbstverständlich auf einer materialistischen Lebensgrundlage; aber obgleich sich alle Anarchistinnen darin einig sind, dass das schlimmste Übel heutzutage wirtschaftlicher Art ist, sehen sie die Lösung dafür in der Berücksichtigung jeder Phase des Lebens – der individuellen wie der kollektiven, der internen wie der externen Phasen. Bei gründlicher Betrachtung der Geschichte menschlicher Entwicklung zeigt sich ein verbitterter Konflikt zwischen zwei Elementen; erst jetzt beginnen wir, diese Elemente zu verstehen, und zwar nicht als einander feindlich gegenüberstehende, sondern als eng verknüpfte und tatsächlich miteinander harmonisierende Elemente, wenn sie nur in die passende Umgebung gebracht werden: Die Rede ist von individuellen und gesellschaftlichen Impulsen. Individuum und Gesellschaft haben seit Ewigkeiten einen unbarmherzigen, blutigen Kampf um die Vormachtstellung geführt, da jede Seite blind für den Wert und die Bedeutung der jeweils anderen war. Individuelle und gesellschaftliche Impulse – die einen ein äußerst potenter Faktor für individuelles Bestreben, für Wachstum, Ambition und Selbstverwirklichung; die anderen ein gleichermaßen potenter Faktor für gegenseitige Hilfe und gesellschaftliches Wohlergehen. Die Erklärung für den Sturm, der im Individuum selbst sowie zwischen ihm und seiner Umwelt tobt, liegt auf der Hand. Der einfache Mensch, der nicht in der Lage ist, sein eigenes Sein zu verstehen, fühlte sich komplett abhängig von blinden, versteckten Kräften, die stets darauf aus waren, sich über ihn lustig zu machen und ihn zu verhöhnen. Aus dieser Einstellung heraus erwuchsen die religiösen Konzepte, die den Menschen nur als ein von höheren Mächten abhängiges Staubkorn ansahen, welche wiederum allein durch komplette Selbstaufgabe beschwichtigt werden könnten. Auf dieser Idee basieren sämtliche alten Sagen, und sie bleibt Leitmotiv in den Bibelgeschichten, in denen es um die Beziehung des Menschen zu Gott, Staat und Gesellschaft geht. Wieder und wieder das gleiche Motiv: Der Mensch ist nichts, Die Mächte sind alles. Jehova konnte demzufolge den Menschen nur ertragen, wenn sich dieser ihm komplett hingab. Dem Menschen steht alles Glück der Erde zur Verfügung, solange er sich seiner selbst nicht bewusst wird. Staat, Gesellschaft und Moral singen gemeinsam den gleichen Refrain: Dem Menschen steht alles Glück der Erde zur Verfügung, solange er sich seiner selbst nicht bewusst wird. Anarchismus ist die einzige Philosophie, die den Menschen seiner selbst bewusst macht; die davon ausgeht, dass Gott, Staat und Gesellschaft nicht existieren, dass ihre Versprechen null und nichtig sind, da sie nur aufgrund der Unterordnung des Menschen erfüllt werden können. Anarchismus lehrt uns daher die Einheit des Lebens; nicht nur in der Natur, sondern beim Menschen. Zwischen Mensch und gesellschaftlichen Impulsen gibt es keinerlei Konflikt, wie es auch keinerlei Konflikt zwischen Herz und Lunge gibt: Eines beinhaltet eine wertvolle Lebensessenz, das andere sorgt dafür, dass diese Essenz rein und kraftvoll bleibt. Das Individuum ist das Herz der Gesellschaft und trägt in sich die Essenz des gesellschaftlichen Lebens; die Gesellschaft ist die Lunge, der es zu verdanken ist, dass die Lebensessenz – das Individuum also – rein und kraftvoll erhalten wird. »Das einzig Wertvolle der Welt«, sagt Emerson, »ist die aktive Seele; jeder Mensch trägt sie in sich. Die Seele, die aktiv ist, erkennt die absolute Wahrheit und gibt Wahrheit von sich und erschafft.« Mit anderen Worten ist der individuelle Impuls das Wertvollste auf der Welt. Es ist die wahre Seele, die die lebendige Wahrheit erkennt und erschafft, aus der wiederum eine noch viel größere Wahrheit erwächst: die neu erschaffene gesellschaftliche Seele. Anarchismus ist die großartige Kraft, die den Menschen von den Phantomen befreit, von denen er gefangen gehalten wurde; Anarchismus schlichtet den Kampf zwischen den beiden Mächten, schafft Frieden und damit individuelle und gesellschaftliche Harmonie. Um diese Einheit zu erreichen, hat der Anarchismus jenen verderblichen Kräften den Krieg erklärt, die bisher die harmonische Vermischung individueller und gesellschaftlicher Impulse, von Mensch und Gesellschaft, verhindert haben. Religion, die den menschlichen Geist beherrscht; Eigentum, das die menschlichen Bedürfnisse beherrscht; und die Regierung, die das menschliche Verhalten beherrscht – von ihnen allen geht die Versklavung des Menschen mitsamt ihrer Schrecken aus. Religion! Wie sie den Geist des Menschen dominiert, wie sie seine Seele erniedrigt und entwürdigt. Gott ist alles, der Mensch ist nichts, sagt die Religion. Aber aus diesem Nichts hat Gott ein Königreich erschaffen, dass so despotisch, so tyrannisch, so grausam, so furchtbar aufreibend ist, dass seit dem Ursprung der Götter nichts als Dunkelheit, Tränen und Blut die Welt regiert haben. Der Anarchismus ruft den Menschen zur Rebellion gegen dieses schwarze Monster auf. »Wirf die Ketten ab, die deinen Geist fesseln«, sagt der Anarchismus zum Menschen, »denn erst, wenn du selbst denkst und urteilst, wirst du aus dem Reich der Dunkelheit entkommen, das jeglichen Fortschritt behindert.« Eigentum – es beherrscht die Bedürfnisse des Menschen und negiert das Recht, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Es gab eine Zeit, als Eigentum ein göttliches Recht war und dem Menschen mit dem gleichen Refrain wie die Religion kam: »Opfere! Entsage! Unterwirf dich!« Der Geist des Anarchismus hat dem niedergeschmetterten Menschen aus seiner misslichen Lage aufgeholfen. Nun steht er aufrecht, das Gesicht zum Licht gewandt. Er hat gelernt, den unersättlichen, alles verschlingenden, zerstörerischen Charakter von Eigentum zu erkennen, und nun bereitet er sich darauf vor, dem Monster den Todesstoß zu verpassen. »Eigentum ist Diebstahl«, sagte der große französische Anarchist Proudhon. Ja, aber ohne Risiko und Gefahr für den Dieb. Das Eigentum hat sämtliche Bestrebungen des Menschen für sich vereinnahmt und ihn damit seines Geburtsrechts beraubt, ihn arm gemacht und ausgestoßen. Für Eigentum gilt nicht einmal mehr die oft genannte Ausrede, dass der Mensch nicht genug erschaffe, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Studierende der Wirtschaftswissenschaften lernen bereits in den ersten Semestern, dass seit einigen Jahrzehnten die Produktivität der Arbeit den Bedarf hundertfach übersteigt. Was aber ist ein normaler Bedarf für eine anormale Institution? Der einzige Bedarf, den Eigentum anerkennt, ist sein eigener unersättlicher Appetit nach größerem Wohlstand, denn Wohlstand bedeutet Macht; die Macht zur Unterwerfung, zur Vernichtung, zur Ausbeutung, die Macht zur Versklavung, zur Ausübung von Gewalt, zur Entwürdigung. Insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika rühmen sich ihrer großen Macht, ihres riesigen nationalen Reichtums. Arme USA – wie vergeblich ist doch all ihr Reichtum, wenn die Individuen, aus denen sich die Nation zusammensetzt, bettelarm sind? Wenn sie in Elend, in Schmutz, inmitten von Verbrechen leben, ohne Hoffnung und Freude, eine heimatlose, entwurzelte Armee menschlicher Opfer. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass Bankrott unvermeidlich ist, wenn die Gewinne eines Geschäfts dessen Kosten nicht übertreffen. Jene jedoch, die sich dem Geschäft verschrieben haben, Reichtum zu produzieren, haben noch nicht einmal diese einfache Lektion verstanden. Jahr für Jahr steigen die Verluste von Menschenleben in der Produktion (im vergangenen Jahr wurden in den USA 50.000 Menschen getötet und 100.000 verletzt); die Massen, die dazu beitragen, Reichtum zu erschaffen, bekommen immer weniger dafür zurück. Dennoch stellen sich die USA weiter blind gegen den unvermeidlichen Bankrott unseres Geschäfts mit der Produktion. Und das ist nicht ihr einziges Verbrechen. Noch viel schwerer wiegt es, die Produzierenden zu simplen Maschinenteilen degradiert zu haben, die weniger Willen und Entscheidungsgewalt haben als ihr stählerner und eiserner Herr. Der Mensch wird nicht nur der Früchte seiner Arbeit beraubt, sondern vor allem seiner Möglichkeit, frei zu handeln, originell zu sein und sich für die Dinge, die er produziert, zu interessieren oder sie zu wollen. Wahrer Reichtum findet sich in Dingen, die nützlich und schön sind, in Dingen, die dazu beitragen, starke, wunderbare Körper und Umgebungen zu schaffen, die dazu anregen, darin zu leben. Wenn aber der Mensch dazu verdammt ist, 30 Jahre seines Lebens Baumwolle auf eine Spule zu wickeln oder Kohle auszuheben oder Straßen zu bauen, kann von Reichtum keine Rede sein. Was er der Welt gibt, sind nur graue, abscheuliche Dinge, die eine stumpfe, abscheuliche Existenz widerspiegeln – zum Leben zu schwach, zum Sterben zu feige. Es ist schwer nachvollziehbar, aber es gibt Menschen, die diese abstumpfende Methode zentralisierter Produktion als beste Errungenschaft unserer Zeit preisen. Ihnen fehlt komplett das Verständnis für die Erkenntnis, dass, wenn wir uns weiter in den Dienst von Maschinen stellen, unsere Sklaverei größer ist, als es unsere Bindung an den König war. Sie wollen nichts davon wissen, dass Zentralisierung nicht nur die Totenglocke der Freiheit ist, sondern auch das Ende von Gesundheit und Schönheit, von Kunst und Wissenschaft einläutet, die allesamt nicht in einer mechanischen, von Uhren diktierten Atmosphäre gedeihen können. Der Anarchismus kann eine solche Produktionsform nur ablehnen: Sein Ziel ist, dass sich alle latenten Kräfte des Individuums so frei wie möglich entfalten können. Oscar Wilde definiert eine perfekte Persönlichkeit als »jemanden, der sich unter perfekten Bedingungen entwickeln kann, nicht verletzt und verstümmelt ist oder sich in Gefahr befindet.« Eine perfekte Persönlichkeit ist also nur möglich in einer Gesellschaft, in der der Mensch frei ist, seine Arbeitsweise und seine Arbeitsbedingungen zu wählen und sich frei zur Arbeit zu entscheiden. Für den einen ist die Konstruktion eines Tisches, der Bau eines Hauses oder das Bearbeiten des Bodens das, was für den Künstler das Malen und für den Wissenschaftler die Entdeckung ist – das Ergebnis von Inspiration, von einem intensiven Wunsch und tiefgreifenden Interesse an der Arbeit als kreativem Akt. Geht man von diesem Ideal des Anarchismus aus, bestehen seine wirtschaftlichen Voraussetzungen aus freiwilligen produktiven und distributiven Vereinigungen, aus denen sich nach und nach der freie Kommunismus als beste Produktionsweise mit der geringsten Verschwendung menschlicher Energie entwickelt. Der Anarchismus erkennt jedoch auch das Recht des Individuums oder einer Anzahl von Individuen an, sich jederzeit gemäß ihrer Vorlieben und Wünsche andere Arbeitsweisen zu schaffen. Da eine solch freie Entfaltung menschlicher Energie nur im Rahmen einer umfassenden individuellen und gesellschaftlichen Freiheit möglich ist, richtet der Anarchismus seine Kräfte gegen den dritten und größten Feind jeglichen gesellschaftlichen Ausgleichs: den Staat, die organisierte Autorität oder das Gesetzesrecht – allesamt Beherrscher menschlichen Verhaltens. So wie Religion den menschlichen Geist in Ketten gelegt hat und wie Eigentum bzw. das Monopol der Dinge die Bedürfnisse des Menschen unterdrückt und erstickt hat, so hat der Staat seinen Geist versklavt, indem er jede Verhaltensweise vorschreibt. »Jede Regierung ist im Wesentlichen Tyrannei«, sagt Emerson. Dabei ist es gleich, ob die Regierung nach göttlichem Recht oder nach Mehrheitsentscheidung eingesetzt wurde. Ihr Ziel ist zu jeder Zeit die absolute Unterordnung des Individuums. David Thoreau, der größte US-amerikanische Anarchist, sagte über die Regierung seines Landes: »Regierung, was ist das schon, nichts als eine Tradition, wenn auch noch eine junge, die danach strebt, sich selbst intakt in die Zukunft zu befördern, dabei aber gleichzeitig zu jeder Zeit an Integrität einbüßt; sie ist nicht so lebendig und stark wie ein einziger lebendiger Mensch. Gesetze haben zu keiner Zeit den Menschen auch nur ein klein wenig gerechter gemacht; selbst die Willigsten werden, indem sie den Gesetzen folgen, tagtäglich zu Agentinnen und Agenten der Ungerechtigkeit gemacht.« Tatsächlich ist Ungerechtigkeit der Grundgedanke von Regierung. Mit der Arroganz und Autarkie des unfehlbaren Königs ordnen Regierungen an, urteilen, verurteilen und bestrafen auch die geringsten Vergehen, während sie sich selbst des schlimmsten Verbrechens schuldig machen: der Auslöschung der individuellen Freiheit. Ouida hat recht, wenn sie sagt, dass »der Staat nur darauf aus [ist], seiner Öffentlichkeit solche Qualitäten zugänglich zu machen, die dazu fuhren, dass Forderungen erfüllt und Kassen gefüllt werden. Seine größte Errungenschaft ist es, dass er den Menschen auf ein Uhrwerk reduziert hat. In diesem Ambiente sind all die feineren und empfindlicheren Freiheiten, die Aufmerksamkeit und Raum zur Entfaltung erfordern, unvermeidlich zum Austrocknen und Verderben verdammt. Der Staat braucht eine Steuern zahlende Maschine, die reibungslos funktioniert, eine Staatskasse, in der es nie ein Defizit gibt, und eine Öffentlichkeit, die monoton, gehorsam, farblos, geistlos und demütig ist wie eine Herde Schafe auf einer geraden Straße zwischen zwei hohen Mauern.« Doch selbst eine Schafherde würde sich die Schikanen des Staates nicht gefallen lassen, wenn dieser nicht korrupte, tyrannische und repressive Methoden zur Erreichung seiner Ziele einsetzen würde. Deshalb verurteilt Bakunin den Staat und setzt ihn mit der Kapitulation der Freiheit des Individuums oder kleiner Minderheiten gleich: Zum Zwecke seiner eigenen Verherrlichung zerstört er gesellschaftliche Beziehungen und beschneidet das Leben selbst oder negiert es gar komplett. Der Staat ist der Altar der politischen Freiheit, und wie der Altar in der Kirche dient er dem menschlichen Opfer. Tatsächlich gibt es kaum moderne Denker und Denkerinnen, die nicht der Ansicht sind, dass Regierung, organisierte Autorität oder Staat einzig und allein dem Schutz von Eigentum und Monopol dienen. Nur in dieser Funktion haben sie sich als effizient erwiesen. Selbst George Bernard Shaw, der als Anhänger des Fabianismus[1] vom Staat ein Wunder erhofft, muss zugeben, dass »er derzeit eine riesige Maschine [ist], die dem Diebstahl und der Versklavung der Armen durch brutale Gewalt dient«. Unter dieser Voraussetzung ist es schwer nachvollziehbar, warum jener kluge Mensch, der diese Worte schrieb, den Staat aufrecht erhalten will, wenn es einmal keine Armut mehr gibt. Unglücklicherweise hängt eine Anzahl von Menschen noch immer dem fatalen Glauben an, dass Regierung auf Naturgesetzen beruhe, dass sie gesellschaftliche Ordnung und Harmonie erhalte, dass sie Verbrechen reduziere, dass sie den arbeitsscheuen Menschen davon abhalte, auf Kosten seiner Mitmenschen zu leben. Deshalb möchte ich mich mit diesen Aussagen näher auseinandersetzen. Ein Naturgesetz ist jener Faktor im Menschen, der sich selbst frei und spontan ohne jede Einwirkung von außen manifestiert, in Harmonie mit den Bedingungen der Natur. Beispielsweise das Bedürfnis nach Nahrung, nach sexueller Befriedigung, nach Licht, Luft und Bewegung – das sind Naturgesetze. Um diese auszudrücken, bedarf es keiner Regierungsmaschinerie, es braucht keinen Knüppel, kein Gewehr, keine Handschellen und kein Gefängnis. Um diesen Gesetzen zu gehorchen – wenn wir das Gehorsam nennen können – sind lediglich Spontanität und freie Möglichkeiten vonnöten. Dass sich Regierungen nicht durch solche harmonischen Merkmale auszeichnen, beweist das schreckliche Ausmaß an Gewalt, Zwang und Nötigung, die alle Regierungen zum Leben brauchen. Blackstone hat also recht, wenn er sagt: »Menschengemachte Gesetze gelten nichts, denn sie stehen den Gesetzen der Natur konträr gegenüber.« Es fällt schwer, Regierungen überhaupt ein Potenzial zur Schaffung von Ordnung und gesellschaftlicher Harmonie zuzuschreiben, es sei denn, man versteht darunter die Ordnung, die in Warschau nach dem Abschlachten Tausender Menschen herrschte.[2] Ordnung, die aus Unterwerfung entsteht und durch Terror aufrechterhalten wird, kann kaum Sicherheit garantieren; dennoch ist dies die einzige ›Ordnung‹, die Regierungen jemals aufrechterhalten konnten. Wahre gesellschaftliche Harmonie entsteht auf natürliche Weise aus einer Interessensolidarität. In einer Gesellschaft, in der diejenigen, die stets arbeiten, nie etwas haben, während diejenigen, die nie arbeiten, alles genießen, besteht keine Interessensolidarität; gesellschaftliche Harmonie ist hier nichts als ein Mythos. Der einzige Weg, wie die organisierte Autorität dieser gravierenden Situation begegnet, ist die Ausweitung immer größerer Privilegien für jene, die bereits die Erde monopolisiert haben, und die weitere Versklavung der entrechteten Massen. Das gesamte Regierungsarsenal also – Gesetze, Polizei, Armee, Gerichte, Legislativen, Gefängnisse – ist unermüdlich im Einsatz, um die antagonistischsten Elemente der Gesellschaft zu ›harmonisieren‹! Die absurdeste Eigenschaft, die Autorität und Gesetz zugeschrieben wird, ist, dass sie der Verbrechensminderung dienen sollen. Abgesehen von der Tatsache, dass der Staat selbst der größte Verbrecher ist, der jedes geschriebene und natürliche Gesetz bricht, der in Form von Steuern stiehlt und in Form von Krieg und Todesstrafe mordet, ist es im Umgang mit Verbrechen zu einem absoluten Stillstand gekommen. Staat, Autorität und Gesetz sind kläglich daran gescheitert, die schreckliche Geißel der eigenen Schöpfung zu bekämpfen oder auch nur zu minimieren. Verbrechen sind nichts als fehlgeleitete Energie. Solange sämtliche Institutionen von heute, seien es wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche oder moralische Institutionen, ihre Kräfte bündeln, um menschliche Energie in falsche Bahnen zu lenken; solange die meisten Menschen deplatziert sind und etwas tun, was sie hassen, ein Leben leben, das sie verabscheuen – solange werden Verbrechen unvermeidlich sein und jegliche Gesetzestexte können Verbrechen nur vervielfachen, nicht aber beseitigen. Was weiß die Gesellschaft, wie sie heute existiert, vom Prozess der Verzweiflung, von der Armut, dem Schrecken, dem angsterfüllten Kampf, den die menschliche Seele auf ihrem Weg zum Verbrechen und zur Entwürdigung durchlaufen muss. Welcher Mensch, der diesen schrecklichen Prozess kennt, kann nicht die Wahrheit in den Worten Peter Kropotkins erkennen: »Diejenigen, die zwischen dem Nutzen abwägen, der Gesetz und Bestrafung zugeschrieben werden, und den erniedrigenden Auswirkungen letzterer auf die Menschheit; diejenigen, die den Schwall von Verdorbenheit überdenken, der durch Spitzel allerorts auf die menschliche Gesellschaft ergossen wird, selbst unter Zustimmung des Richters und mit Bezahlung in klingender Münze durch die Regierungen unter dem Vorwand, bei der Entlarvung des Verbrechens helfen zu wollen; diejenigen, die in die Gefängnisse gehen und dort sehen, was aus Menschen wird, wenn sie ihrer Freiheit beraubt werden, wenn sie der Obhut brutaler Wärter, wenn sie ungehobelten, grausamen Worte, wenn sie Tausenden stechenden, beißenden Erniedrigungen ausgesetzt werden, werden mit uns darin übereinstimmen, dass der gesamte Apparat von Gefängnissen und Bestrafung ein Missstand ist, dem ein Ende bereitet werden muss.« Der abschreckende Effekt, den ein Gesetz auf den arbeitsscheuen Menschen haben soll, ist zu absurd, um überhaupt darüber nachzudenken. Wäre die Gesellschaft nur von der Verschwendung und den Kosten befreit, die nötig sind, um eine arbeitsscheue Klasse zu unterhalten, und von den ebenso großen Kosten der Ausrüstung, die zum Schutz dieser arbeitsscheuen Klasse nötig ist, wären die Tische der Gesellschaft für alle reich gedeckt, selbst für ab und an vorkommende faule Individuen. Davon abgesehen muss man in Betracht ziehen, dass Faulheit entweder aus einem besonderen Privileg erwächst oder aus physischen oder mentalen Unregelmäßigkeiten. Unser derzeitiges wahnsinniges Produktionssystem unterstützt beides, und am erstaunlichsten ist das Phänomen, dass überhaupt Menschen unter den herrschenden Bedingungen arbeiten wollen. Der Anarchismus strebt danach, Arbeit von ihren stumpfen, faden Aspekten zu befreien, von ihrer Düsterkeit und ihrem Zwang. Er will Arbeit zu einem Instrument der Freude, der Stärke, der Farbe, der wahren Harmonie machen, sodass auch der ärmste Mensch in der Arbeit sowohl Erfüllung als auch Hoffnung findet. Um solche Lebensbedingungen zu erreichen, muss die Regierung mit ihren ungerechten, willkürlichen, repressiven Maßnahmen abgeschafft werden. Sie hat allen Menschen ein einheitliches Lebensmodell aufgezwungen, dabei aber individuelle und gesellschaftliche Variationen und Bedürfnisse außer Acht gelassen. Der Anarchismus schlägt vor, die Rettung von Selbstrespekt und Unabhängigkeit des Individuums über jegliche autoritäre Beschränkungen und Eingriffe zu stellen, indem er zur Zerstörung von Regierung und Gesetzgebung aufruft. Nur in Freiheit kann der Mensch seine wahre Größe entfalten. Nur in Freiheit wird er das Denken und die Bewegung lernen und das Beste aus sich herausholen. Nur in Freiheit wird er die wahre Kraft erkennen, die in den sozialen Banden liegt, durch die die Menschen miteinander verbunden sind und die die wahre Grundlage eines normalen gesellschaftlichen Lebens bilden. Was aber ist mit der menschlichen Natur? Kann sie verändert werden? Und wenn nicht, wird sie den Anarchismus ertragen? Arme menschliche Natur, welch schreckliche Verbrechen sind in deinem Namen begangen worden! Jeder Narr, vom König bis zum Polizisten, vom engstirnigen Pfaffen bis zum kurzsichtigen Pseudowissenschaftler, nimmt sich heraus, gebieterisch von der menschlichen Natur zu sprechen. Je größer der geistige Scharlatan, desto beharrlicher sein Bestehen auf der Niederträchtigkeit und Schwäche der menschlichen Natur. Doch wie kann heute jemand von menschlicher Natur sprechen, wenn jede Seele eingesperrt ist, wenn jedes Herz in Ketten liegt, verwundet und verstümmelt? John Burroughs hat festgestellt, dass alle Studien an Tieren in Gefangenschaft absolut nutzlos sind. Ihr Charakter, ihre Gewohnheiten, ihr Appetit – alles macht eine komplette Veränderung durch, wenn sie aus ihrer ursprünglichen Umgebung, von Wald und Feld, weggerissen werden. Die menschliche Natur ist in einem engen Raum gefangen, wird Tag für Tag zur Unterwerfung gepeitscht. Wie können wir da über ihre Potenziale sprechen? Freiheit, Entfaltung, Möglichkeiten und vor allem Frieden und Gelassenheit – nur sie können uns die wirklich charakteristischen Merkmale der menschlichen Natur und all ihrer wunderbaren Möglichkeiten lehren. Anarchismus steht also tatsächlich für die Befreiung des menschlichen Geistes von der Beherrschung durch Religion, die Befreiung des menschlichen Körpers von der Beherrschung durch Eigentum, die Befreiung von den Fesseln und Beschränkungen der Regierung. Anarchismus steht für eine Gesellschaftsordnung, die auf dem freien Zusammenfinden von Individuen zur Schaffung wahren gesellschaftlichen Reichtums beruht; eine Ordnung, die jedem Menschen den freien Zugang zur Erde und eine komplette Entfaltung der Lebensbedürfnisse garantiert, je nach Wunsch, Geschmack und Neigung des Einzelnen. Das sind keine wilden Fantasien oder geistigen Verwirrungen. Es ist die Schlussfolgerung, zu der viele intellektuelle Männer und Frauen auf der ganzen Welt kommen; eine Schlussfolgerung, zu der man gelangt, wenn man aufmerksam und fleißig die Tendenzen der modernen Gesellschaft beobachtet: individuelle Freiheit und wirtschaftliche Gleichheit, die Zwillingskräfte, die im Menschen das Gute und Wahre gebären. Zu den Methoden: Anarchismus ist nicht, wie einige annehmen mögen, eine Theorie der Zukunft, die durch göttliche Inspiration umgesetzt werden wird. Er ist in den Angelegenheiten unseres Lebens eine lebende Kraft, die ständig neue Bedingungen schafft. Die Methoden des Anarchismus sind daher nicht in einem in Eisen gegossenen Programm zusammenzufassen, das unter allen Umständen so und nicht anders durchgeführt werden muss. Methoden erwachsen vielmehr aus den wirtschaftlichen Anforderungen an den jeweiligen Orten und den intellektuellen und natürlichen Bedürfnissen des Individuums. Der ruhige, gelassene Charakter eines Tolstoi wird andere Methoden zum gesellschaftlichen Wiederaufbau einsetzen als lebhafte, überströmende Persönlichkeiten wie Michael Bakunin oder Peter Kropotkin. Ebenso liegt auf der Hand, dass die wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse Russlands drastischere Maßnahmen erfordern, als in England oder den USA nötig wären. Anarchismus steht nicht für militärischen Drill und Uniformität; er steht vielmehr für den Geist der Revolte, in welcher Form auch immer, gegen alles, was die menschliche Entfaltung hemmt. Darin sind sich alle AnarchistInnen einig, ebenso wie in ihrem Widerstand gegen die Behauptung, die politische Maschinerie könne zu einem großen gesellschaftlichen Wandel führen. »Wählen«, sagt Thoreau, »ist wie eine Art Glücksspiel, wie Dame oder Backgammon, ein Spiel mit richtig und falsch; seine Verpflichtung überschreitet niemals die der Zweckdienlichkeit. Selbst die richtige Wahl bedeutet nicht, etwas Richtiges zu tun. Kein intelligenter Mensch wird das Recht der Gnade des Zufalls überlassen, und er wird auch nicht wollen, dass es durch die Macht der Mehrheit erreicht wird.« Eine gründliche Untersuchung der Maschinerie von Politik und ihrer Errungenschaften bestätigt Thoreaus Logik. Was zeigt die Geschichte des Parlamentarismus? Nichts als Versagen und Niederlagen, nicht eine einzige Reform, die die wirtschaftlichen und sozialen Belastungen der Menschen gelockert hätte. Gesetze sind verabschiedet und verfügt worden, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Arbeiterinnen zu schützen. Aber im letzten Jahr hat sich beispielsweise gezeigt, dass in Illinois, dem Staat mit den strengsten Minenschutzgesetzen, die größten Minenunglücke verzeichnet wurden. In Staaten, in denen Gesetze zur Regulierung der Kinderarbeit gelten, ist die Ausbeutung der Kinder am größten, und obwohl den Arbeiterinnen bei uns alle politischen Möglichkeiten offenstehen, hat der Kapitalismus unverfroren seinen Höhepunkt erreicht. Selbst wenn die ArbeiterInnen wirklich ihre eigenen Vertreterinnen haben könnten, nach denen unsere guten sozialistischen Politiker und Politikerinnen verlangen – wie groß sind die Chancen, dass diese ehrlich sind und guten Willen zeigen? Führt man sich die Prozesse vor Augen, die in der Politik ablaufen, wird deutlich, dass es auf einem Weg voller guter Intentionen von Fallgruben nur so wimmelt: Manipulation, Intrigen, Bestechung, Lügen, Betrug; Tricks aller Art also, die dem politischen Kandidaten oder der Kandidatin zum Erfolg verhelfen können. Dazu kommt die völlige Demoralisierung von Charakter und Überzeugung, bis nichts mehr übrig ist, das noch Hoffnung auf irgendetwas zulässt, was von einem solchen menschlichen Überrest kommen kann. Immer wieder waren Menschen einfältig genug, strebsamen PolitikerInnen zu vertrauen, zu glauben und sie mit ihrem letzten Cent zu unterstützen, um dann wieder betrogen und verraten zu werden. Es mag behauptet werden, dass ein rechtschaffener Mensch auch in den politischen Mühlen nicht korrupt wird. Vielleicht nicht; aber ein solcher Mensch wäre absolut hilflos und hätte nicht den geringsten Einfluss auf den Bereich der Arbeitswelt, wie sich tatsächlich schon bei zahlreichen Gelegenheiten gezeigt hat. Der Staat ist der Herr über seine Diener, die wirtschaftlich von ihm abhängig sind. Gute Menschen, wenn es sie denn gibt, würden lieber ihrer politischen Überzeugung treu bleiben und dafür ihre wirtschaftliche Unterstützung einbüßen, oder sie würden sich um wirtschaftlicher Unterstützung Willen an ihren Herrn klammern und wären damit schlichtweg nicht in der Lage, auch nur eine Kleinigkeit Gutes zu tun. Die politische Arena lässt keine Alternativen zu – entweder ist man ein Dummkopf, oder man ist ein Schurke. Der politische Aberglaube herrscht noch immer über die Herzen und das Denken der Massen, aber jene, die die Freiheit wirklich lieben, haben damit nichts mehr zu tun. Sie glauben dagegen mit Stirner, dass ein Mensch über so viel Freiheit verfügt, wie er annehmen möchte. Anarchismus steht daher für die direkte Aktion, die offene Herausforderung und den Widerstand gegen sämtliche Gesetze und Restriktionen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher oder moralischer Art. Aber Herausforderung und Widerstand sind illegal. Darin liegt die Rettung des Menschen begründet. Alles Illegale verlangt Integrität, Zuverlässigkeit und Mut. Kurz, es braucht freie, unabhängige Geister: »Menschen, die stark sind und ein Rückgrat haben, das sich nicht mit bloßer Hand brechen lässt.« Das universelle Wahlrecht selbst verdankt seine Existenz der direkten Aktion. Wäre da nicht der Geist der Rebellion, die Herausforderung durch die amerikanischen Väter der Revolution gewesen, würden ihre Nachfahren noch immer die Kleider des Königs tragen. Ohne die direkte Aktion von John Brown und seinen Mitstreitern würden die USA noch immer mit dem Fleisch von Schwarzen handeln. Zwar stimmt es, dass der Handel mit weißem Fleisch noch immer stattfindet; aber auch das wird durch direkte Aktion abgeschafft werden. Gewerkschaften, die Wirtschaftsarena des modernen Gladiators, verdanken ihre Existenz der direkten Aktion. Erst vor Kurzem haben Gesetz und Regierung versucht, die Gewerkschaftsbewegung zu zerschlagen, und die VerfechterInnen des Menschenrechts auf Organisationsfreiheit wurden wegen Konspiration zu Gefängnisstrafen verurteilt. Hätten sie versucht, ihre Sache durch Betteln, Bitten und Kompromisse durchzusetzen, wäre die Gewerkschaftsbewegung heute eine unbedeutende Größe. In Frankreich, in Spanien, in Italien, in Russland, ja sogar in England (man beachte die wachsende Rebellion englischer Gewerkschaften) ist die direkte, revolutionäre, wirtschaftliche Aktion im Kampf für die industrielle Freiheit derart erstarkt, dass der Welt die enorme Bedeutung der Macht der Arbeit bewusst wird. Der Generalstreik, höchster Ausdruck des wirtschaftlichen Bewusstseins der Arbeiterinnen, wurde in den USA noch vor Kurzem nicht ernst genommen. Heute muss jeder große Streik, damit er gewonnen wird, die Bedeutung des solidarischen Generalprotests erfassen. Die direkte Aktion, die sich in wirtschaftlichen Zusammenhängen als durchaus effektiv erwiesen hat, kann auch auf das Individuum angewendet werden. Hunderte Mächte wirken auf das Wesen des Menschen ein und nur durch beharrlichen Widerstand dagegen wird er sich schließlich befreien können. Direkte Aktion gegen die Autorität im Betrieb, direkte Aktion gegen die Macht des Gesetzes, direkte Aktion gegen die invasive, aufdringliche Autorität unseres Moralkodex, das sind die logischen, konsequenten Methoden des Anarchismus. Wird das nicht zur Revolution führen? Doch, das wird es. Kein wirklicher gesellschaftlicher Wandel ist jemals ohne Revolution geschehen. Entweder kennen die Menschen ihre Geschichte nicht oder sie haben noch nicht gelernt, dass Revolution nichts anderes ist als in Handlung umgesetztes Denken. Anarchismus, jene treibende Kraft des Denkens, durchdringt heute jede Phase menschlichen Strebens. Wissenschaft, Kunst, Literatur, Theater, das Mühen um wirtschaftliche Verbesserungen und tatsächlich jeder individuelle und gesellschaftliche Widerstand gegen den bestehenden Aufruhr der Dinge wird vom spirituellen Licht des Anarchismus erleuchtet. Das ist die Philosophie von der Souveränität des Individuums. Es ist die Theorie von gesellschaftlicher Harmonie. Es ist die großartige, wogende, lebendige Wahrheit, die die Welt neu erschafft und in einen neuen Morgen fuhren wird. [1] Die Fabian Society war eine sozialistische intellektuelle Bewegung in Großbritannien, vor allem aktiv ab Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. [2] 1. Mai 1905: Bei Maikundgebungen in Warschau kommt es zu blutigen Zusammenstößen zwischen polnischen Arbeiterinnen und dem russischen Militär. Mehr als hundert Polinnen wurden getötet. Über die Stadt wurde das Kriegsrecht verhängt, in dessen Folge weitere Menschen getötet wurden.