Titel: Die direkte Aktion
AutorIn: Pouget, Èmile
Datum: 1907
Quelle: Aus: Pouget, Émile – Die Revolution ist Alltagssache : Schriften zur Theorie und Praxis des revolutionären Syndikalismus. Lich 2014, Verl. Edition AV. S.137–162.
Bemerkungen: L’action directe. Hinsichtlich des Erscheinungsjahrs gibt es unterschiedliche Angaben. Nettlau, dessen bibliographische Angaben in der Regel zuverlässig sind, spricht von Frühjahr 1907 (1984: 56). Eine zweite, leicht aktualisierte Version erschien 1910. Die Übersetzung folgt dem Nachdruck in É. Pouget, L’action directe et autres écrits syndicalistes (1903–1910), Marseille 2010, S. 153–183.

Was man unter „direkter Aktion“ versteht

Die direkte Aktion ist das Sinnbild des tätigen Syndikalismus. Diese Formel steht für den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung. In ihr äußert sich, mit einer Deutlichkeit, die für sich spricht, der Sinn und die Orientierung dessen, was die Arbeiterklasse in ihrer unerbittlichen Attacke auf den Kapitalismus erstrebt.

Direkte Aktion ist ein Konzept von solcher Klarheit, von solch offenkundiger Selbstverständlichkeit, dass die Erklärung und Definition in den Worten selbst liegt. Es bedeutet, dass die Arbeiterklasse in ihrem ständigen Aufbegehren gegen die bestehende Ordnung nichts von Außenstehenden, von ihr äußerlichen Mächten oder Kräften erwartet, sondern dass sie ihre eigenen Kampfbedingungen erzeugt, ihre Aktionsmittel aus sich selbst schöpft. Es bedeutet, dass sich gegen die heutige Gesellschaft, die nur den Bürger kennt, fortan der Produzent erhebt. Und dass dieser Produzent, in der Erkenntnis, dass sich jede Form des sozialen Zusammenlebens auf ihr jeweiliges Produktionssystem stützt, versucht, die kapitalistische Produktionsweise direkt zu attackieren, um sie zu verändern, den Unternehmer zu beseitigen und dadurch seine Souveränität am Arbeitsplatz zu erreichen – die wesentliche Voraussetzung für den Genuss realer Freiheit.

Ablehnung des Demokratismus

Direkte Aktion beinhaltet also, dass sich die Arbeiterklasse auf die Begriffe von Freiheit und Unabhängigkeit beruft, anstatt sich dem Autoritätsprinzip zu beugen. Denn durch dieses Autoritätsprinzip, um das sich alles dreht in der modernen Welt – und dessen letzter Ausdruck der Demokratismus ist –, wird dem Menschen, der tausendfach, moralisch wie materiell, in Ketten liegt, jede Möglichkeit genommen, Willen und Initiative zu entwickeln.

Aus dieser Ablehnung des verlogenen und scheinheiligen Demokratismus, dieser letzten Erscheinungsform der Autorität, resultiert die ganze syndikalistische Methode. Die direkte Aktion entpuppt sich somit als authentische Verkörperung des Freiheitsprinzips, seine Verwirklichung in den Massen: nicht länger durch abstrakte, vage und unklare Formeln, sondern in klaren und praktischen Konzepten, die jenen Kampfgeist erzeugen, der das Gebot der Stunde ist. Das ruiniert den Geist der Unterwerfung und des Sichfügens, der die Einzelnen lähmt und zu willigen Sklaven macht, und befördert den Geist der Revolte, der die menschlichen Gesellschaften beflügelt.

Diesen grundsätzlichen und vollständigen Bruch zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und der Welt der Arbeiter, den die direkte Aktion auf den Punkt bringt, hatte die Internationale Arbeiterassoziation in ihrem Wahlspruch formuliert: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiter selbst sein“. Und sie hatte dazu beigetragen, diesen Bruch zur Realität werden zu lassen, indem sie ökonomischen Zusammenschlüssen eine entscheidende Bedeutung beimaß. Doch war dieser Vorrang, den sie ihnen einräumte, noch unklar. Gleichwohl hatte sie eine Ahnung davon, dass das Werk des gesellschaftlichen Wandels an der Basis begonnen werden muss und dass die politischen Veränderungen nur Folge der Umwälzung des Produktionssystems sind. Deshalb befürwortete sie das Vorgehen der Gewerkvereine und würdigte selbstverständlich die ihrer Struktur angemessene Art, ihre Tatkraft und ihren Einfluss kundzutun, mit anderen Worten, die direkte Aktion.

Denn die direkte Aktion ist die normale Funktionsweise der Syndikate, ihr wesentliches Charakteristikum. Es wäre ein himmelschreiender Widersinn, wenn sich derartige Gruppierungen darauf beschränken würden, die Lohnabhängigen zu sammeln, um sie besser mit dem Schicksal zu versöhnen, zu dem die bürgerliche Gesellschaft sie verdammt hat – für andere zu produzieren. Es liegt auf der Hand, dass sich in einer Gewerkschaft Personen zum Zwecke der Selbstverteidigung, des individuellen und unmittelbaren Kampfes zusammenfinden, auch wenn sie noch keine klaren sozialen Vorstellungen haben. Es ist die Gemeinsamkeit der Interessen, die sie dorthin führt, die sie instinktiv anzieht. Dort, in diesem Zentrum des Lebens, vollzieht sich ein Gärungs-, Entfaltungs-, Erziehungsprozess: die Gewerkschaft erweitert das Bewusstsein der Arbeiter, die noch im Bann der Vorurteile stehen, die die herrschende Klasse ihnen eingetrichtert hat; sie öffnet ihnen die Augen für die Dringlichkeit des Kampfes, der Revolte; sie bereitet sie durch Bündelung ihrer Kräfte auf die sozialen Schlachten vor. Aus einer solchen Unterweisung folgt, dass jeder für sich selbst handeln muss, ohne diese Aufgabe jemals auf andere abzuwälzen. Und eben in dieser Gymnastik, die das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl des Einzelnen stärkt, liegt die motivierende Kraft der direkten Aktion. Sie fördert den menschlichen Elan, formt den Charakter, läutert die Energien. Sie lehrt, auf sich selbst zu vertrauen! Sich nur auf sich selbst zu verlassen! Sein eigener Herr zu sein! Selbst zu handeln!

Vergleicht man hiermit die Gepflogenheiten demokratischer Gruppierungen oder Formationen, so stellt man fest, dass sie nichts gemein haben mit diesem Drang zu ständiger Bewusstseinserweiterung und Gewöhnung an eigenes Handeln, der die Atmosphäre ökonomischer Verbände bestimmt. Und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass sich die Methoden der Letzteren auf Erstere übertragen lassen. Außerhalb des ökonomischen Terrains ist die direkte Aktion eine Leerformel, denn sie steht im Widerspruch zum obligatorischen Mechanismus demokratischer Organisationen, dem Vertretungssystem, das die Passivität der Basismitglieder voraussetzt. Da heißt es, auf die Vertreter zu vertrauen! Sich auf sie zu verlassen! Auf sie zu zählen! Ihnen das Handeln zu überlassen!

Der Charakter autonomen und persönlichen Handelns der Arbeiterklasse, den die direkte Aktion zum Ausdruck bringt, wird verdeutlicht und verstärkt durch seine Äußerung auf ökonomischem Gebiet, wo alle Zweifel und Missverständnisse verschwinden, wo jeder Einsatz einen nützlichen Zweck erfüllt. Auf dieser Ebene fällt auseinander, was der Demokratismus künstlich verbindet, indem er Individuen mit gegensätzlichen sozialen Interessen zusammenführt. Hier ist der Feind sichtbar. Der Ausbeuter, der Unterdrücker können nicht hoffen, sich hinter trügerischen Masken zu verbergen oder mit ideologischem Plunder zu täuschen: Klassenfeinde sind sie und als solche erscheinen sie, offen und ungeschminkt! Hier bekämpft man sich mit offenem Visier und jeder Schlag trifft. Jeder Einsatz führt zu einem fassbaren, wahrnehmbaren Resultat: er äußert sich in einer unmittelbaren Verminderung der Unternehmermacht, in einer Lockerung der Ketten, die den Arbeiter an die Fabrik binden, einer relativen Erhöhung des Wohlstands. Woraus folgerichtig das dringende Bedürfnis nach einem Bündnis unter Klassenbrüdern entsteht, um Seite an Seite in die Schlacht zu ziehen und dem gemeinsamen Feind entgegenzutreten.

Ebenso logisch kann man aus der Gründung eines Gewerkschaftsvereins den Schluss ziehen, dass die Arbeiter, die sich dort zusammengetan haben, bewusst oder unbewusst bereit sind, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen; dass sie sich entschlossen haben, gegen ihre Herrn aufzubegehren, und sich Erfolge nur von ihrem eigenen Handeln erwarten; dass sie die Absicht haben, direkt, ohne Vermittler, zu handeln, ohne es anderen zu überlassen, das zu tun, was notwendig ist.

Die direkte Aktion ist also der gewerkschaftliche Kampf in Reinform, frei von allen Vermischungen, Verunreinigungen, ohne alle Puffer, die den Aufeinanderprall der Kombattanten dämpfen, ohne alle Abweichungen, die Sinn und Bedeutung des Kampfes verfälschen: die gewerkschaftliche Aktion ohne Kompromisse mit dem Kapitalismus, ohne die Techtelmechtel mit den Bossen, von denen die Apologeten des „sozialen Friedens“ träumen, ohne Beziehungen zur Regierung, ohne Einschaltung von „Vermittlern“ in die Debatte.

Stärkung des Individuums

Direkte Aktion ist die Befreiung der Menschenmassen, die bisher auf die Hinnahme aufgezwungener Überzeugungen dressiert waren, ihr Aufstieg zu Reflexion und Bewusstsein. Sie appelliert an alle, Teil einer gemeinsamen Anstrengung zu werden: keiner soll länger ein menschliches Nichts sein und darauf warten, dass die Erlösung von außen oder von oben kommt. Jeder wird dazu ermuntert, selber Hand anzulegen, die gesellschaftlichen Zumutungen nicht länger passiv als unabwendbares Schicksal zu ertragen. Die direkte Aktion durchbricht den Kreis der Wunder – Wunder des Himmels oder Wunder des Staates – und verweigert sich dem Glauben an jegliche Art von „Vorsehung“. Sie proklamiert die praktische Umsetzung der Devise: das Heil liegt in uns selbst!

Diese unvergleichliche Strahlkraft der direkten Aktion haben Persönlichkeiten unterschiedlicher Meinung und Veranlagung anerkannt und damit die Verdienste dieser Methode gewürdigt, deren sozialer Nutzen nicht zu bestreiten ist.

Es war Keufer[1], der im Juni 1902, angesichts der heiklen gewerkschaftlichen Lage der Glasmacher (ihre Organisation hatte sich aufgelöst) schrieb:

„Wir wären nicht überrascht zu hören, dass die Politik etwas mit diesen Spaltungen zu tun hätte, denn in den sozialen Auseinandersetzungen glauben viele Genossen allzu oft, dass Politiker sich wirksam für die Wahrung ihrer ökonomischen Interessen einsetzen könnten.

Wir meinen hingegen, dass die in Syndikaten und Berufs- oder Industrieverbänden organisierten Arbeiter eine größere Stärke erzielen und mächtig genug sein werden, um im Konfliktfall mit den Industriellen direkt zu verhandeln, ohne anderen Beistand als den der Arbeiterklasse, an dem es ihnen nicht fehlen wird. Das Proletariat muss sich um sich selbst kümmern...“

Und Marcel Sembat[2] drückte es im Parlament folgendermaßen aus:

„Direkte Aktion? Das ist einfach der Zusammenschluss der Arbeiter zu Syndikaten und Verbänden, mit dem Ziel, dass die Arbeiter, anstatt alles vom Staat, von der Kammer zu erwarten, anstatt ewig im Parlament den Hut hinzuhalten, damit von Zeit zu Zeit jemand verächtlich eine Münze hineinwirft, sich untereinander verständigen.

Bündnis der Arbeiter, direkte Aktion gegen die Unternehmer, Druck auf den Gesetzgeber, um ihn zu zwingen, wenn sein Eingreifen erforderlich ist, sich der Arbeiter anzunehmen...

„Wir wissen“, sagen die gewerkschaftlich Organisierten, „dass die Gewohnheiten dem Gesetz vorausgehen, und wir wollen die Voraussetzungen schaffen, damit das Gesetz leichter anwendbar wird, wenn es eingeführt ist, oder seine Einführung erzwingen, wenn man uns allzu lange warten lässt!“ Denn sie wollen – und machen keinen Hehl daraus – dem Gesetzgeber auch hin und wieder auf die Sprünge helfen.

Haben wir, die Gesetzgeber, es nicht nötig, dass man uns auf die Sprünge hilft? Kümmern wir uns denn stets von selbst um Übel und Missstände? Ist es nicht gut, dass diejenigen, die unter diesen Übeln und Missständen leiden, protestieren und sich empören, damit man sie zur Kenntnis nimmt, und sogar die Lösung oder Reform durchsetzen, die nötig geworden sind?

Deshalb wäre es falsch, meine Herren, wenn Sie sich gegen jene aufbringen ließen, die die direkte Aktion predigen; wenn diese versuchen, so weit wie möglich ohne Abgeordnete auszukommen, so sollten Sie ihnen dafür dankbar sein...

Es gibt noch genug Menschen, die nicht ausreichend ohne Sie zurecht kommen, um Sie Gefallen finden zu lassen am Anblick von Arbeitern, die versuchen, ihre Klasse gewerkschaftlich zu vereinen, in Wirtschaftsverbänden, und sich so gut es geht um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern...“

Und Vandervelde[3] schrieb im Brüsseler Le Peuple:

„Will man dem Kapitalismus auch nur den kleinsten Knochen entreißen, der noch ein wenig Mark enthält, genügt es nicht, dass die Arbeiterklasse ihren Vertretern den Auftrag erteilt, an ihrer Stelle zu kämpfen.

Wir haben es unzählige Male gesagt, können es aber nicht oft genug wiederholen, weswegen viel Wahres an der Theorie der direkten Aktion ist: man erreicht keine ernsthaften Reformen auf mittelbarem Wege...

Wenn man dieser belgischen Arbeiterklasse, die, obwohl von ihren Herrn und Ausbeutern in Elend und Unwissenheit gehalten, in den letzten zwanzig Jahren so viele Beweise ihrer Tapferkeit und Opferbereitschaft erbracht hat, eines vorwerfen kann, dann vielleicht, dass sie sich zu sehr auf die Politik und das Genossenschaftswesen verlassen hat, die die geringste Anstrengung erforderten; dass sie zu wenig für den gewerkschaftlichen Kampf getan hat; dass sie sich zu sehr der gefährlichen Illusion hingegeben hat, die Reformen würden ihr wie gebratene Tauben in den Mund fliegen, wenn sie erst einmal ihre Vertreter im Parlament hätte...“[4]

Somit fördert die direkte Aktion, nach Meinung der zitierten Autoren, wie auch unserer persönlichen Meinung nach, zugleich das menschliche Selbstwertgefühl und den Unternehmungsgeist. Im Gegensatz zur demokratischen Willfährigkeit, die sich mit dem blinden Herdentrieb begnügt, reißt sie die Individuen aus ihrer Betäubung und erweitert ihr Bewusstsein. Sie stellt die Arbeiter nicht in Reih und Glied und verwandelt sie nicht in bloße Zahlen. Ganz im Gegenteil! Sie weckt in ihnen den Sinn für ihre Bedeutung und ihre Stärke, und die Gruppen, die sich auf ihrer Grundlage bilden, sind lebendige und dynamische Vereinigungen, in denen nicht die große Zahl durch ihr schieres Gewicht oder ihre dumpfe Trägheit über das Verdienst dominiert. Die Tatkräftigen werden nicht gebremst und die Minderheiten, die das Ferment des Fortschritts sind – und immer waren –, können sich ungehemmt entfalten und durch ihr propagandistisches Wirken die Koordinierung vollziehen, die der Aktion vorausgeht.

Die direkte Aktion hat somit einen unvergleichlichen erzieherischen Wert: sie bringt den Leuten bei, wie man denkt, entscheidet, handelt. Sie kultiviert die Unabhängigkeit, fördert die Individualität und ermuntert zur Initiative, deren Antrieb sie ist. Und dieses Übermaß an Vitalität, an „lch“-Erweiterung bildet keineswegs einen Widerspruch zur ökonomischen Solidarität, die die Arbeiter untereinander vereint, denn es steht den gemeinsamen Interessen ja nicht im Wege, sondern bringt sie in Einklang und bestärkt sie: die Unabhängigkeit und Initiative des Einzelnen können sich in ihrer ganzen Kraft und Herrlichkeit nur entfalten, wenn sie im fruchtbaren Boden des solidarischen Miteinanders wurzeln.

Die direkte Aktion befreit also den Menschen aus dem Würgegriff von Passivität und Willenlosigkeit, in dem der Demokratismus ihn zu halten versucht. Sie lehrt ihn, zu wollen, anstatt sich aufs Gehorchen zu beschränken, seine Souveränität auszuüben, anstatt seinen Teil davon an einen Delegierten abzutreten. Auf diese Weise kehrt sie die gesellschaftliche Grundtendenz um, sodass die menschlichen Energien, anstatt sich in unseliger und deprimierender Untätigkeit zu erschöpfen, in rechtschaffener Anwendung den Nährboden finden, den sie für ihr kontinuierliches Wachstum brauchen.

Erziehung zur Expropriation

Vor rund fünfzig Jahren, in der 1848er Zeit, als die Republikaner noch Überzeugungen hatten, war ihnen bewusst, wie illusorisch, verlogen und ohnmächtig das Repräsentativsystem ist, und suchten nach einem Mittel, um seine Mängel zu beheben. Rittinghausen[5], der noch viel zu sehr von überflüssigen politischen Mechanismen beeindruckt war, die er für unentbehrlich für den menschlichen Fortschritt hielt, glaubte die Lösung in der „Direktvertretung“ gefunden zu haben. Proudhon hingegen sprach im Vorgriff auf den Syndikalismus vom kommenden wirtschaftlichen Föderalismus, der mit der ganzen Überlegenheit des Lebens die unbrauchbaren Konzepte jedes Politikantentums überwinden würde: der wirtschaftliche Föderalismus, der in den Arbeiterorganisationen heranreift, beinhaltet die Übernahme der wenigen nützlichen Funktionen, auf die der Staat seine scheinbare Daseinsberechtigung gründet, durch Gewerkschaftsorgane, bei gleichzeitiger Beseitigung seiner schädlichen, restriktiven und repressiven Funktionen, mittels derer sich die kapitalistische Gesellschaft am Leben hält.

Doch um einen solchen gesellschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen, bedarf es einer vorbereitenden Arbeit, die innerhalb der bestehenden Gesellschaft die dafür notwendigen Voraussetzungen schafft. Das ist die Aufgabe der Arbeiterklasse. So, wie der Bau eines Hauses mit dem Fundament beginnt, wird auch diese innere Umgestaltung, welche die Auflösung von Bestandteilen der alten Welt mit dem voranschreitenden Neuaufbau kombiniert, von unten nach oben erfolgen. Es geht nicht mehr darum, sich des Staates zu bemächtigen, seine Mechanismen zu verändern oder sein Personal auszutauschen; es geht darum, den Produktionsvorgang umgestalten, indem man den Chef aus dem Betrieb, aus der Fabrik verbannt und die Produktion für seinen Profit durch die gemeinschaftliche Produktion zum Nutzen aller ersetzt... was folgerichtig zum Ende des Staates führt.

Dieses expropriatorische Werk hat bereits begonnen: Stück für Stück vollzieht es sich in den alltäglichen Kämpfen gegen den aktuellen Herrscher über die Produktion, den Kapitalisten; seine Privilegien werden untergraben und beschnitten, die Berechtigung seiner Leitungs- und Führungsfunktion wird geleugnet, der Zehnte, den er auf die Produktion eines jedes erhebt, als vermeintlichen Ausgleich für das investierte Kapital, wird als Diebstahl betrachtet. So wird er nach und nach aus dem Betrieb gedrängt, so lange, bis er endgültig und für immer vertrieben ist.

All das – diese sich täglich erweiternde und verstärkende Kleinarbeit – ist praktizierte direkte Aktion. Und wenn die an Stärke und Bewusstsein gewachsene Arbeiterklasse bereit ist, die Produktion in ihren Besitz zu nehmen, und zur Tat schreitet, dann ist auch das direkte Aktion!

Wenn die Enteignung der Kapitalisten in vollem Gange ist, wenn die Aktien der Eisenbahnaktionäre – die „Titel“ der Finanzaristokratie – wertlos geworden sind; wenn die parasitäre Schar der Eisenbahndirektoren und anderer Magnaten nicht länger fürs Nichtstun bezahlt wird, werden die Züge dennoch weiter rollen... Und zwar, weil sich die Eisenbahnarbeiter der Sache direkt angenommen haben: ihre Gewerkschaft, die sich von einer Kampforganisation zu einer Produzenten Vereinigung gewandelt hat, wird den Betrieb am Laufen halten, nicht im Hinblick auf persönliche Bereicherung, nicht einmal aus beschränkten, berufsständischen Gründen, sondern im Dienste des Gemeinwohls.

Und was bei der Eisenbahn geschieht, wird sich in ähnlicher Form in allen Produktionszweigen wiederholen.

Doch um diese Liquidierung der alten Ausbeutungswelt zu bewerkstelligen, muss die Arbeiterklasse sich mit den Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung vertraut machen; sie muss die Fähigkeit und den Willen besitzen, dieses Werk aus eigenem Antrieb zu vollbringen; sie darf, um mit den auftretenden Schwierigkeiten fertig zu werden, nur auf die eigene, unmittelbare Leistung setzen, auf Kompetenzen, die sie aus sich selbst heraus entwickelt, und nicht auf die Gunst irgendwelcher „Mittelsmänner“, vom Himmel gesandter Wohltäter, Bischöfe in neuem Gewand. In letzterem Fall wäre die Ausbeutung nicht beseitigt, sondern würde in gewandelter Form fortbestehen.

Die Revolution ist Alltagssache

Es gilt also, um auf diesem Wege voranzukommen, die enttäuschenden Konzepte, die leeren Formeln, die Ausdruck einer fortbestehenden Vergangenheit sind, durch Vorstellungen zu ersetzen, die uns den unerlässlichen Konkretisierungen des Willens näherbringen. Diese neuen Vorstellungen können aber nur aus der systematischen Anwendung von Methoden der direkten Aktion resultieren. Denn es ist der tiefe Strom der Autonomie und menschlichen Solidarität angereichert durch die Praxis des Handelns, dem der Gedanke entspringt und sich konkretisiert, das gegenwärtige soziale Chaos durch eine Ordnung zu ersetzen, in der nur Platz für die Arbeit ist und in der jeder seine Persönlichkeit und seine Fähigkeiten frei entfalten kann.

Diese Aufgabe, den Grundstein der Zukunft zu legen, steht dank der direkten Aktion in keinem Widerspruch zum alltäglichen Kampf. Die taktische Überlegenheit der direkten Aktion liegt ja gerade in ihrer unvergleichlichen Anpassungsfälligkeit: die Organisationen, die durch ihre Praxis an Vitalität gewinnen, beschränken sich nicht darauf, den sozialen Wandel in feierlicher Pose zu erwarten. Sie leben im Hier und Jetzt, in größtmöglicher Kampfbereitschaft, und opfern weder die Gegenwart der Zukunft, noch die Zukunft der Gegenwart. Somit folgt aus dieser Fälligkeit, zugleich den Notwendigkeiten des Augenblicks und denen der Zukunft gerecht zu werden, und aus der Übereinstimmung dieser beiden, zu kombinierenden Aufgaben, dass das angestrebte Ideal dadurch weder verschleiert noch vernachlässigt, sondern im Gegenteil verdeutlicht, präzisiert, besser erkennbar wird.

Und deshalb ist es ebenso dumm wie verlogen, die Revolutionäre, die sich durch die Methoden der direkten Aktion inspirieren lassen, als „Anhänger des Alles oder Nichts“ zu bezeichnen. Freilich sind sie dafür, der Bourgeoisie alles zu entreißen! Doch so lange, bis sie stark genug sind, um diese umfassende Enteignung zu vollziehen, bleiben sie nicht untätig und versäumen keine Gelegenheit, partielle Verbesserungen zu erkämpfen, die, insofern sie auf Kosten der kapitalistischen Privilegien gehen, eine Art Teilenteignung darstellen und den Weg für noch weiterreichende Forderungen ebnen.

Die direkte Aktion entpuppt sich somit als reine Verkörperung des Geistes der Revolte: sie konkretisiert den Klassenkampf, überführt ihn aus dem Reich der Theorie und der Abstraktion auf das Gebiet der Praxis und der Realität. Die direkte Aktion ist folglich der im Alltag gelebte Klassenkampf, ist der permanente Angriff auf den Kapitalismus.

Deshalb ist sie bei den Politikern – diesen sehr speziellen Galanen, die sich als „Repräsentanten“, als „Prediger“ der Demokratie gerieren – auch so verhasst. Denn wenn die Arbeiterklasse die Demokratie verschmäht und jenseits von ihr, auf ökonomischem Terrain, nach neuen Wegen sucht, was wird dann aus diesen „Vermittlern“, die sich zu Anwälten des Proletariats aufwerfen? Und deshalb wird sie von der Bourgeoisie noch mehr gehasst und verabscheut! Denn diese erkennt, dass ihr eigenes Ende unsanft beschleunigt wird durch die Tatsache, dass die Arbeiterklasse, die aus der direkten Aktion immer mehr Kraft und Zuversicht schöpft, die endgültig mit der Vergangenheit bricht und sich aus eigenen Mitteln eine neue Gesinnung erschafft, auf dem besten Wege ist, die neue Welt zu verwirklichen.

Die Notwendigkeit, sich anzustrengen

Es ist eine solche Selbstverständlichkeit, dass man gegen Hindernisse aller Art ankämpfen muss, die sich der menschlichen Entwicklung entgegenstellen, dass es paradox erscheinen mag, die Notwendigkeit des Sichanstrengens betonen zu müssen.

Denn was gibt es noch, jenseits der Aktion, außer Trägheit, Erschlaffung, passivem Ertragen der Knechtschaft? In Zeiten der Depression, der Apathie erniedrigen sich die Menschen zu Arbeitstieren, sie sind Sklaven, die sich schinden, ohne jede Hoffnung. Ihre Gehirne bleiben dumpf, ohne Anregungen, ohne Ideen; der Horizont ist verstellt; die Zukunft verspricht keine Aussicht auf Besserung gegenüber der Gegenwart.

Doch plötzlich taucht die Aktion auf! Die Menschen werden wachgerüttelt, ihre erstarrten Gehirne funktionieren wieder, eine strahlende Energie durchströmt und verwandelt die Menschenmassen.

Denn die Aktion ist das Salz des Lebens... Oder, einfacher und genauer ausgedrückt, sie ist das Leben selbst! Leben ist Handeln... Handeln ist Leben!

Die wundersame Katastrophe

Das sind alles Banalitäten! Und doch ist es nötig, sie zu betonen, das Handeln zu preisen, denn die ältere Generation ist von einer lähmenden Erziehung geprägt, von defätistischen Formeln durchdrungen. Die Nutzlosigkeit des Handelns wurde in den Rang einer Theorie erhoben und verkündet, jede Errungenschaft würde dem unabänderlichen Lauf der Ereignisse entspringen: die Katastrophe, so hieß es, würde automatisch eintreten, wenn die kapitalistischen Institutionen, am Ende eines unausweichlichen Prozesses, den Punkt ihrer höchsten Spannung erreicht hätten. Dann würden sie von selbst zusammenbrechen! Das Zutun des Menschen auf ökonomischer Ebene wurde für überflüssig erklärt, sein Vorgehen gegen die Restriktionen, unter denen er leidet, für wirkungslos. Man ließ ihm nur eine Hoffnung: seinesgleichen in die bürgerlichen Parlamente einzuschleusen und auf den unabwendbaren Ausbruch der Katastrophe zu warten.

Man belehrte uns, dass dies automatisch und zwangsläufig geschehen würde, wenn die Zeit reif wäre: aufgrund der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion würde die Kapitalkonzentration immer größer und die Zahl der Kapitaleigner, Usurpatoren und Monopolisten immer kleiner werden... bis der Tag käme, an dem dank der Eroberung der politischen Macht die gewählten Volksvertreter die paar übrig gebliebenen Kapitalmagnaten mittels Gesetzen und Dekreten enteignen würden.

Was für eine gefährliche und niederschmetternde Illusion, dieses passive Warten auf die Ankunft des Messias Revolution! Wie viele Jahre oder Jahrhunderte wird es dauern, die Staatsmacht zu erobern? Und gesetzt den Fall, man hätte es geschafft, wäre die Zahl der Kapitalmagnaten in diesem Augenblick um so viel kleiner? Selbst wenn man annimmt, dass die Trustbildung den bürgerlichen Mittelstand aufgesogen hätte, folgt daraus, dass dieser ins Proletariat abgesunken wäre? Hätte er nicht vielmehr einen neuen Platz in den Trusts gefunden, sodass die Zahl der Parasiten, die leben ohne zu produzieren, mindestens genauso groß wäre wie heute? Wenn ja, müssen wir nicht vermuten, dass die Nutznießer der alten Gesellschaft gegen ihre gesetzliche Enteignung Widerstand leisten?

Lauter Probleme, die sich stellen, und denen die Arbeiterklasse ohnmächtig und ratlos gegenüberstehen würde, wenn sie den Fehler begangen hätte, sich auf Dauer in der trügerischen Hoffnung einer ohne ihr direktes Zutun eintretenden Revolution zu wiegen.

Das sogenannte „eherne Gesetz“

Parallel zu diesem messianischen Revolutionsglauben, mit dem man uns köderte, um uns noch mehr zu entmutigen, noch stärker davon zu überzeugen, dass es nichts zu wagen, nichts zu tun gäbe, uns noch gründlicher in Untätigkeit versumpfen zu lassen, band man uns die Mär vom „ehernen Lohngesetz“ auf.[6] Man erzählte uns, dass aufgrund dieser unerbittlichen (vor allen von Ferdinand Lassalle geprägten) Formel in der gegenwärtigen Gesellschaft jede Anstrengung vergebens, jedes Handeln zwecklos sei, weil die ökonomischen Mechanismen das Proletariat bald wieder unter die Elendsschwelle drücken würden, die es nicht überschreiten könne.

Aufgrund dieses ehernen Gesetzes – das man zu einem Eckpfeiler des Sozialismus machte – „kann der Durchschnittslohn“, so hieß es, „in der Regel nicht über das strikte Existenzminimum des Arbeiters hinausgehen“.[7] Und weiter: „Die Lohnhöhe wird allein durch den Druck der Kapitalisten bestimmt und kann deshalb sogar unter das Minimum absinken, das der Arbeiter zum Überleben braucht... Das Einzige, wonach sich die Lohnhöhe richtet, ist das Überangebot oder der Mangel an Arbeitskräften...“

Um die uneingeschränkte Gültigkeit dieses Lohngesetzes zu beweisen, verglich man den Arbeiter mit einer Ware: gibt es auf dem Markt Kartoffeln in Hülle und Fülle, sind sie billig zu haben; werden sie knapp, steigt der Preis... Mit dem Arbeiter, so die Behauptung, sei es ebenso; sein Lohn schwanke, je nach dem, ob viel oder wenig Arbeitsvieh vorhanden sei!

Gegen die logische Herleitung dieses absurden Arguments ist gar nichts einzuwenden; das Lohngesetz kann man als zutreffend betrachten... so lange der Arbeiter sich damit abfindet, eine Ware zu sein! So lange er passiv bleibt wie ein Sack Kartoffeln, sich nicht rührt und die Marktschwankungen über sich ergehen lässt, sich krumm macht, die Demütigungen von Untemehmerseite erträgt... so lange funktioniert das Lohngesetz.

Doch die Sache sieht anders aus, wenn sich nur ein Funke Bewusstsein in der Arbeitskartoffel regt. Wenn der Arbeiter, anstatt sich in Trägheit, Erschlaffung, Resignation und Passivität zu ergehen, ein Bewusstsein für seinen Wert als menschliches Wesen entwickelt, wenn der Geist der Revolte über ihn kommt; wenn er sich rührt, energisch, entschlossen, aktiv; wenn er nicht mehr nur dumpf neben seinesgleichen herexistiert (wie eine Kartoffel neben anderen Kartoffeln), sondern mit ihnen in Kontakt tritt, auf sie reagiert und sie auf ihn reagieren, wenn das Arbeiterkollektiv zum Leben erwacht... dann gerät das lächerliche Lohngesetz aus dem Gleichgewicht.

Ein neuer Faktor: der Arbeiterwille!

Ein neues Element erscheint auf dem Arbeitsmarkt: der Arbeiterwille. Und dieses Element, das auf den Preis eines Zentners Kartoffeln keinen Einfluss hat, spielt bei der Festlegung der Löhne sehr wohl eine Rolle; sein Einfluss kann größer oder kleiner sein – je nach dem Grad der Spannung innerhalb der Arbeiterschaft, der aus dem Gleich klang der individuell gestimmten Willensäußerungen resultiert – ist aber, ob stark oder schwach, unbestreitbar vorhanden.

Die Einigkeit der Arbeiter setzt somit der Kapitalmacht eine Kraft entgegen, die in der Lage ist, ihr zu widerstehen. Die Ungleichheit der beiden feindlichen Lager – die nicht zu übersehen ist, wenn dem Ausbeuter ein isolierter Arbeiter gegenübersteht – vermindert sich in dem Maße, wie der Zusammenhalt innerhalb der Arbeiterschaft wächst. Der proletarische Widerstand, ob latent oder akut, ist fortan eine alltägliche Erscheinung. Die Konflikte zwischen Arbeit und Kapital nehmen an Schärfe zu. Nicht immer geht die Arbeit siegreich aus diesen partiellen Kämpfen hervor; doch selbst wenn die kämpfenden Arbeiter geschlagen werden, haben sie noch einen Nutzen davon: ihr Widerstand lockert den Druck der Unternehmerseite, und häufig genug ist Letztere gezwungen, einen Teil der gestellten Forderungen zu erfüllen. In diesen Fällen bewahrheitet sich der hochsolidarische Charakter des Syndikalismus: vom Resultat des Kampfes profitieren auch die Wankelmütigen und Untätigen, und den Streikenden bleibt die moralische Genugtuung, für das allgemeine Wohl gekämpft zu haben.

Dass durch den Zusammenschluss der Arbeiter die Löhne steigen, geben die Theoretiker des „ehernen Gesetzes“ bereitwillig zu. Die Fakten sind auch so offenkundig, dass es ihnen schwer fiele, sie ernsthaft zu bestreiten. Sie geben jedoch zu bedenken, dass parallel zu den steigenden Löhnen ein Anstieg der Lebenshaltungskosten zu verzeichnen sei, sodass die Kaufkraft der Arbeiter nicht zunehme und der Vorteil eines höheren Lohnes auf diese Weise zunichte gemacht werde.

Es gibt Fälle, in denen ein solcher Zusammenhang festzustellen ist; doch ist der Anstieg der Lebenshaltungskosten als direkte Folge von Lohnerhöhungen keine solche Konstante, dass sich daraus ein Gesetz ableiten ließe. Und wenn es zu Teuerungen kommt, dann ist das zumeist ein Beweis dafür, dass der Arbeiter, der als Produzent seinen Boss bekämpft hat, es anschließend versäumt, seine Interessen als Konsument zu verteidigen. Sehr häufig ist es die Passivität des Käufers gegenüber dem Händler, des Mieters gegenüber dem Hauseigentümer usw., die es den Geschäftsleuten, Besitzern usw. ermöglicht, durch Preiserhöhungen dem Arbeiterkonsumenten wieder abzunehmen, was dieser durch Lohnerhöhungen als Produzent gewonnen hat.

Im Übrigen liefern Länder, in denen die Arbeitszeiten kurz und die Löhne hoch sind, den unwiderlegbaren Beweis dafür, dass der Anstieg der Lebenshaltungskosten keine zwangsläufige Folge von Lohnerhöhungen sein muss: das Leben ist dort weniger teuer und eingeschränkt als in Ländern mit langen Arbeitszeiten und niedrigen Löhnen.

Lohn und Lebenshaltungskosten

In England, den Vereinigten Staaten und Australien beträgt die tägliche Arbeitszeit oft acht (höchstens neun) Stunden, es gibt einen freien Tag pro Woche und die Löhne sind höher als bei uns. Trotzdem ist das Leben dort leichter. Und zwar, weil der Arbeiter an sechs oder vielmehr fünfeinhalb Arbeitstagen (die Arbeit endet zumeist Samstag Mittag) genug verdient, dass es für sieben Tage reicht; sowie weil die lebensnotwendigen Dinge billiger sind als in Frankreich oder zumindest, bezogen auf die Lohnhöhe, erschwinglicher.[8]

Diese Fakten widerlegen das „eherne Gesetz“, und zwar umso gründlicher, als es unmöglich ist, die hohen Löhne in den genannten Ländern einem Mangel an Arbeitskräften zuzuschreiben. In den Vereinigten Staaten grassiert die Arbeitslosigkeit, genauso wie in England und Australien. Wenn also in diesen Ländern die Arbeitsbedingungen besser sind, dann wird dies offenkundig durch einen anderen Faktor bedingt als den Mangel oder Überfluss an Arbeitskräften: den Arbeiterwillen! Diese besseren Bedingungen resultieren aus dem Einsatz der Arbeiter, ihrer Entschlossenheit, sich nicht mit einem auf bloßes Dahin vegetieren beschränkten Leben abzufinden, und sie wurden durch den Kampf gegen das Kapital errungen. Doch wie heftig die ökonomischen Schlachten auch waren, die zu diesen Verbesserungen führten, sie schufen keine revolutionäre Situation. Es kam zu keiner feindlichen Konfrontation zwischen Arbeit und Kapital. Die Arbeiter entwickelten – zumindest in ihrer Gesamtheit – kein Klassenbewusstsein. Bisher beschränkten sich ihre Ziele noch zu sehr auf das Erreichen eines besseren Lebens innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Aber die Zeiten ändern sich! Die Engländer, Yankees usw. sind auf dem besten Wege, dieses fehlende Klassenbewusstsein auszubilden.

Wenn wir von der Betrachtung von Ländern mit hohen Löhnen und kurzen Arbeitszeiten zu der unserer ländlichen Regionen übergehen, wo viele Industrielle ihre Fabriken errichten, in der Gewissheit, dort eine unwissende und fügsame Bevölkerung anzutreffen, so zeigt sich das genaue Gegenteil: die Löhne sind sehr niedrig und die Arbeitsbedingungen extrem. Da sich hier kein Arbeiterwille regt, diktiert allein der kapitalistische Druck die Arbeitsbedingungen. Der Arbeiter, der seine Stärke nicht kennt, sich ihrer nicht bewusst ist, befindet sich noch im Zustand einer „Ware“, sodass er dem Wirken des vermeintlichen „Lohngesetzes“ uneingeschränkt unterliegt. Doch es braucht nur der Funken der Revolte auf diesen Ausgebeuteten überzuspringen und die Situation ist eine andere! Es genügt, dass der Menschenhaufen, den die proletarische Masse bisher darstellt, sich zu einer gewerkschaftlichen Einheit verdichtet, und der unternehmerische Druck wird durch eine Kraft gemildert, die anfangs noch schwach und unbeholfen ist, aber schnell an Stärke und Bewusstsein wächst.

Somit entlarvt sich im Licht der Fakten das vermeintliche Lohngesetz als trügerisch und verlogen. Als „ehern“ wurde es bezeichnet. Dass ich nicht lache! Es ist nicht einmal aus Gummi!

Das Schlimme ist, dass die Folgen, die das Eindringen dieser fatalen Formel in die Arbeiterschaft hatte, über einen gedanklichen Irrtum weit hinausgingen. Wie viele Leiden und Enttäuschungen hat sie nicht hervorgerufen! Nur allzu lange hat die Arbeiterklasse ihre Zeit vertrödelt und auf diesem falschen Ruhekissen vor sich hin gedöst. Es gab einen logischen Zusammenhang: die Theorie der Nutzlosigkeit des Handelns führte zum Nichtstun. Dass die Tat als unergiebig, der Kampf als sinnlos, unmittelbare Verbesserungen als unmöglich angesehen wurden, erstickte jede Revolte im Keim. Denn wozu kämpfen, wenn die Mühe von vornherein als vergeblich und aussichtslos gilt, wenn man weiß, dass man scheitern wird? Wenn man in der Schlacht nichts als Prügel beziehen wird – ohne Hoffnung auf den kleinsten Erfolg –, ist es da nicht besser, still zu halten?

Und das war die herrschende Meinung! Die Arbeiterklasse gewöhnte sich eine Apathie an, die der Bourgeoisie bestens zupass kam. Wenn die Arbeiter unter dem Druck der Umstände einem Konflikt nicht mehr ausweichen konnten, wurde der Kampf nur widerwillig angenommen. Der Streik geriet in den Geruch eines notwendigen Übels, dem man sich fügte, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, aber ohne die Hoffnung, durch einen positiven Ausgang eine reale Verbesserung zu erzielen.

Exzessives Leid ist kein Ferment der Revolte!

Parallel zu diesem unseligen Glauben an die Unmöglichkeit, aus dem Teufelskreis des „Lohngesetzes“ auszubrechen, gleichsam als übertriebene Schlussfolgerung sowohl aus diesem „Gesetz“ als auch aus dem Vertrauen in die Unausweichlichkeit der Revolution, die ganz ohne Zutun der Arbeiter aus dem normalen Verlauf der Ereignisse resultieren werde, freuten sich manche Leute darüber, wenn sie eine Zunahme der „Pauperisierung“ feststellten, ein Anwachsen des Elends, der unternehmerischen Willkür, der Repression durch die Regierung usw. Nach Meinung dieser Schwach köpfe hätte die Revolution einem zugespitzten Leidensdruck entspringen sollen! Jeder Anstieg der Not, des Unglücks usw. erschien ihnen also als eine gute Sache, weil dadurch die Stunde der Entscheidung näherrückte.

Was für ein hirnverbrannter Unsinn! Was für ein Aberwitz! Das Einzige, was eine Anhäufung von Übeln, gleich welcher Art, bewirkt, ist, diejenigen, die unter ihnen leiden, noch mehr zu entmutigen. Das ist übrigens leicht zu erkennen. Anstatt Phrasen zu dreschen, braucht man nur die Augen aufzumachen und sich umzublicken.

In welchen Branchen ist die gewerkschaftliche Tätigkeit am intensivsten? In denen, wo die Arbeitszeiten nicht so übermäßig lang sind, dass die Genossen nicht nach Feierabend noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, zu Versammlungen gehen oder sich um öffentliche Angelegenheiten kümmern könnten; wo die Löhne nicht so minimal sind, dass jede Ausgabe für einen Beitrag, ein Zeitungsabonnement oder den Kauf eines Buches ein Brot weniger auf dem Tisch bedeutet. In den Gewerben hingegen, wo die Arbeitszeiten und -belastungen extrem sind, ist der Arbeiter nach Verlassen der Fabrikhölle geistig und körperlich buchstäblich „tot“, er hat keinen anderen Wunsch mehr, als sich mit einigen Schlucken Alkohol wieder auf Trab zu bringen – bevor er zum Essen und Schlafen nach Hause geht. Es kommt ihm nicht in den Sinn, zur Gewerkschaft zu gehen oder Versammlungen zu besuchen – es ist dazu gar nicht in der Lage, weil sein Körper vor Erschöpfung wie gerädert ist und sein dumpfes Gehirn das Denken verlernt hat.

Und was soll man von dem Hungerleider erwarten, der im chronischen Elend haust, dem zerlumpten Bettler, den Arbeitsmangel und Entbehrung zugrunde gerichtet haben? Vielleicht werden sie sich in einem Anfall von Wut zu einer Geste der Empörung aufraffen... aber es wird eine folgenlose Geste bleiben! Das Elend hat ihre ganze Willenskraft, ihr ganzes Rebellentum beseitigt.

Diese Feststellungen – die jeder nach Belieben überprüfen und vermehren kann – widerlegen die seltsame Theorie, dass ein Übermaß an Elend und Unterdrückung ein Ferment der Revolution sei. Das genaue Gegenteil trifft zu! Der sozial Schwache, der dem Schicksal ausgeliefert ist und ein beschränktes Leben in materieller und moralischer Abhängigkeit führt, wagt es nicht, gegen die Ausbeutung zu rebellieren. Aus Angst, dass sich seine Lage nur noch verschlimmert, steckt er zurück, rührt sich nicht, unternimmt nichts und fügt sich in sein Elend. Anders derjenige, der sich über den Kampf zur Persönlichkeit entwickelt hat, der ein weniger reduziertes Leben führt, geistig aufgeschlossener ist und, da er seinem Ausbeuter ins Auge geblickt hat, sich ihm ebenbürtig fühlt.

Deshalb haben partielle Verbesserungen nicht den Effekt, die Arbeiter einzulullen; im Gegenteil, sie sind ihnen eine Ermunterung und ein Ansporn, noch mehr zu fordern. Ein höheres Lebensniveau, als unausweichliche Folge der Entfaltung von Arbeitermacht – ob von den Betroffenen selbst erkämpft oder zugestanden von einer Bourgeoisie, die es für klug und ratsam hält, Zugeständnisse zu machen, um die Konfrontationen zu mildern, die sie vorausahnt oder fürchtet –, steigert die Würde und das Bewusstsein der Arbeiterklasse; es erhöht und verstärkt auch – und vor allem – ihren Kampfgeist. Die Arbeiterklasse, die das physische und geistige Elend hinter sich lässt, wird kultivierter; sie entwickelt ein feineres Empfinden für die Ausbeutung, der sie unterliegt, und einen festeren Willen, sich von ihr zu befreien. Sie erlangt auch eine klarere Vorstellung von dem unversöhnlichen Interessengegensatz zwischen ihr und der Kapitalistenklasse.

Doch für wie wichtig man solche Verbesserungen im Kleinen auch immer erachtet, sie können die Revolution weder ersetzen noch überflüssig machen: die Enteignung der Kapitalisten bleibt eine notwendige Voraussetzung, um eine vollständige Befreiung zu ermöglichen.

Denn selbst angenommen, es gelänge, die Kapitalprofite erheblich zu schmälern, die schädlichen Funktionen des Staates teilweise zu neutralisieren, so ist es doch unwahrscheinlich, dass man beide auf null reduzieren kann. Außerdem hätten sich die sozialen Beziehungen dadurch nicht verändert, es gäbe immer noch die Ausgebeuteten und Regierten auf der einen Seite und die Bosse und Politiker auf der anderen.

Offenkundig sind partielle Errungenschaften (für wie wichtig man sie auch hält und selbst wenn sie die Privilegien erheblich beschneiden würden) nicht geeignet, die ökonomischen Beziehungen zu verändern, also die Beziehungen zwischen Unternehmer und Arbeiter, Führer und Geführtem. Die Unterwerfung des Arbeiters, unter das Kapital und unter den Staat, besteht also fort. Die soziale Frage bleibt folglich ungelöst und die „Barrikade“, die die Produzenten von den Parasiten trennt, die auf ihre Kosten leben, ist weder verschoben noch gar beseitigt worden.

Egal, wie kurz die Arbeitszeiten, wie hoch die Löhne, wie „angenehm“, unter hygienischen Gesichtspunkten, die Fabriken auch immer werden mögen, so lange die Beziehungen von Lohngeber zu Lohnempfänger, von Regierendem zu Regiertem fortbestehen, wird es zwei Klassen geben, folglich und zwangsläufig eine Konfrontation dieser beiden Klassen, einen Kampf der einen gegen die andere. Und dieser Kampf wird in dem Maße an Schärfe und Umfang gewinnen, wie die ausgebeutete und unterdrückte Klasse mit zunehmender Stärke und wachsendem Bewusstsein eine genauere Vorstellung ihrer sozialen Bedeutung erlangt: sie wird also im Zuge ihrer Selbsterhöhung, Selbsterziehung, Selbstverbesserung mit immer größerem Nachdruck die Privilegien der parasitären Gegenseite in Frage stellen.

Und das bis zum großen Kladderadatsch! Bis zu dem Tag, da die Arbeiterklasse, innerlich vorbereitet auf den endgültigen Bruch und gestählt durch die ständigen und immer häufigeren Scharmützel mit dem Klassenfeind, mächtig genug geworden ist, um den entscheidenden Angriff zu wagen... Und zwar in Form des höchsten Ausdrucks von direkter Aktion: dem Generalstreik!

Kurz und gut, die genaue Betrachtung sozialer Phänomene erlaubt uns also, die fatalistische Theorie von der Nutzlosigkeit des Handelns ebenso entschieden zurückzuweisen wie die Neigung, das Gute aus einer Übersteigerung des Bösen hervorgehen zu lassen. Im Gegenteil, bei exakter Einschätzung dieser Phänomene zeichnet sich das Bild eines immer umfassender werdenden Handlungsprozesses ab: Wir erkennen, dass die Rückzüge der Bourgeoisie, die ihr Stück für Stück abgerungenen Verbesserungen den Geist der Revolte anfachen. Und wir erkennen außerdem, dass genau so, wie Leben neues Leben zeugt, Handeln weiteres Handeln inspiriert.

Macht[9] und Gewalt

Die direkte Aktion, Ausdruck der Macht und Entschlossenheit der Arbeiter, äußert sich je nach Umständen und Situation in Akten, die mal sehr harmlos, mal sehr gewaltsam sein können. Das richtet sich schlicht nach dem, was jeweils erforderlich ist.

Es gibt also keine spezifische Form der direkten Aktion. Manche sehr oberflächlich informierte Leute meinen, es handele sich dabei um ein massenhaftes Einwerfen von Fensterscheiben. Sich mit einer solchen Definition zu begnügen – die ganz nach dem Geschmack der Glaser ist – hieße, diese Entfaltung proletarischer Macht unter einem wahrhaften engen Blickwinkel zu betrachten. Es hieße, die direkte Aktion auf eine mehr oder minder impulsive Geste zu reduzieren, das Moment zu vernachlässigen, das ihren eigentlichen Wert ausmacht, und zu vergessen, dass sie der symbolische Ausdruck der Arbeiterrevolte ist.

Die direkte Aktion ist die schöpferische Anwendung der Arbeitermacht: die Macht, die neues Recht erzeugt – die das soziale Recht begründet!

Macht ist der Ursprung aller Bewegung, allen Handelns und, zwangsläufig, deren Krönung. Leben ist Machtentfaltung und jenseits der Macht ist das schiere Nichts. Wo sie fehlt, tritt nichts hervor, kommt nichts zustande.

Um uns besser zu täuschen und unter ihr Joch zu zwingen, haben unsere Klassenfeinde uns weismachen wollen, immanente Gerechtigkeit könne der Macht entbehren. Leeres Geschwätz von Ausbeutern des Volkes! Gerechtigkeit ohne Macht ist nichts als Lüge und Betrug. Davon zeugt das bittere Martyrium, das die Völker im Laufe der Jahrhunderte erlitten haben: die Macht, im Dienste der religiösen Autoritäten und weltlichen Herren stehend, hat die Völker zertreten und vernichtet, obwohl deren Sache gerecht war; und dies im Namen einer scheinbaren Gerechtigkeit, die nichts als eine abscheuliche Ungerechtigkeit war. Und dieses Martyrium hält an!

Minderheit gegen Minderheit

Die Arbeitermassen werden stets von einer parasitären Minderheit ausgebeutet und unterdrückt, die aus eigenen Kräften ihre Herrschaft keinen Tag, keine Stunde lang aufrechterhalten könnte. Diese Minderheit bezieht ihre Stärke aus der gewohnheitsmäßigen Zustimmung ihrer Opfer: es sind Letztere – Quellen aller Macht –, die durch ihre Selbstaufopferung für die Klasse, die auf ihre Kosten lebt, das Kapital erzeugen und erhalten, den Staat verteidigen.

Aber um diese Minderheit zu entmachten, reichte es weder in der Vergangenheit, noch tut es das heute, die sozialen Lügen zu sezieren, die ihr als Prinzipien dienen, ihre Ungerechtigkeit anzuprangern, ihre Verbrechen zu entlarven. Wenn Argumente gegen rohe Gewalt nur ihre Überzeugungskraft aufzubieten haben, sind sie von vornherein besiegt. Ideen, Argumente sind schön und gut, aber wenn sie nicht durch Macht gestützt, durch sie getragen werden, sind sie bloß Seifenblasen.

Was ist also nötig, um diese blinde Selbstaufopferung der Mehrheiten für eine ruchlose und hedonistische Minderheit zu beenden?

Die Herausbildung einer Macht, die in der Lage ist, derjenigen Paroli zu bieten, die der herrschenden und besitzenden Klasse aus der Schwäche und Unwissenheit des Volkes erwächst. Diese Macht zu einer Realität werden zu lassen, ist die Aufgabe der bewussten Arbeiter: Das Problem derer, die gewillt sind, das Joch abzuschütteln, das die Mehrheiten sich selbst anlegen, besteht darin, einander zu suchen, zu verständigen, zu einigen, um diese geballte Passivität zu bekämpfen.

Diese notwendige revolutionäre Sammlungsbewegung vollzieht sich innerhalb der Gewerkschaften: dort entsteht und entwickelt sich eine wachsende Minderheit, die danach strebt, stark genug zu werden, um die Mächte der Ausbeutung und Unterdrückung zunächst in Schach zu halten und schließlich zu vernichten.

In einer Einheit aus Propaganda und Aktion bemüht sich diese Bewegung zunächst darum, die Unglückseligen aufzuklären, die als Verteidiger der bürgerlichen Klasse die abscheuliche Geschichte der Sklaven fortschreiben, die von ihren Herren losgeschickt werden, um jene niederzumachen, die auf begehren und sich befreien wollen. Auf dieses vorbereitende Werk kann man gar nicht genug Mühe verwenden. Man muss sich nämlich ständig vor Augen halten, was für eine repressive Macht der Militarismus darstellt. Gegen das unbewaffnete Volk wird das stehende Heer seiner eigenen, hochgerüsteten Söhne aufgeboten. Nun gibt es eine Fülle historischer Beweise, dass alle Volksaufstände, die nicht von der Unterstützung oder wenigstens der Neutralität des uniformierten Volkes, also der Armee, profitierten, gescheitert sind. Es muss also ein ständiges Bestreben sein, dieses blinde Werkzeug, das den Herrschenden von einem Teil der Arbeiterklasse zur Verfügung gestellt wird, lahmzulegen.

Wenn das erreicht ist, bleibt noch die Macht der parasitären Minderheit selbst zu brechen – die zu unterschätzen ein großer Fehler wäre.

Damit ist, in groben Zügen, die Aufgabe Umrissen, die den bewussten Arbeitern zufällt.

Die unvermeidliche Gewalt

Wann und unter welchen Umständen die entscheidende Konfrontation zwischen den Kräften der Vergangenheit und denen der Zukunft stattfinden wird, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Was man jedoch mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ihr mehr oder minder heftige Scharmützel, Geplänkel, Zusammenstöße vorausgehen und sie vorbereiten werden. Und man kann ebenfalls davon ausgehen, dass die Mächte der Vergangenheit nicht einfach kampflos aufgeben und sich unterwerfen werden. Nun war gerade dieser blindwütige Widerstand gegen den unausweichlichen Fortschritt in der Vergangenheit oft genug der Grund, warum die Durchsetzung sozialer Veränderungen mit Gewalt und Brutalität einherging. Und man kann es nicht oft genug betonen: die Verantwortung für solche Gewalttaten liegt nicht bei den Vertretern der Zukunft. Wenn das Volk sich entscheidet, energisch aufzubegehren, dann aus schierer Not heraus: es entschließt sich nur dann zu diesem Schritt, wenn ihm eine ganze Reihe von Erfahrungen die Unmöglichkeit einer friedlichen Lösung vor Augen geführt hat, und selbst unter diesen Umständen ist seine Gewalt nur die milde und menschliche Antwort auf die barbarischen Gewaltexzesse seiner Herrn.

Wäre das Volk von Natur aus gewalttätig, ertrüge es keinen Tag länger die Nöte, Entbehrungen und Schindereien – gekrönt von Schandtaten und Verbrechen –, aus denen das Leben besteht, das eine Minderheit von Schmarotzern und Ausbeutern ihm aufzwingt. Hierzu braucht es keine philosophischen Erklärungen, keine Beweise, dass der Mensch bei der Geburt „weder gut noch böse“ ist, sondern sich je nach Milieu und Umständen in die eine oder andere Richtung entwickelt. Für diese Feststellung reicht die alltägliche Beobachtung: Es steht außer Zweifel, dass das Volk eher gefühlsbetont und sanftmütig ist und nichts von der notorischen Aggressivität besitzt, die die herrschenden Klassen charakterisiert und ihre Herrschaft zusammenhält – Legalität ist nur der dünne Firnis der Heuchelei, der diese tiefsitzende Gewalt überdeckt.

Das Volk, zur Fügsamkeit erzogen und vollgestopft mit Vorurteilen, ist gezwungen, eine gewaltige Anstrengung zu unternehmen, um sich seiner bewusst zu werden. Und selbst wenn es ihm gelungen ist, lässt es sich keineswegs vom Zorn der Gerechten leiten, sondern gehorcht dem Prinzip des geringsten Widerstandes. Es sucht und folgt dem Weg, der ihm am kürzesten und am leichtesten zu bewältigen scheint. Es verhält sich wie das Wasser, das vom Berg in den Ozean fließt, mal mit leisem Gemurmel, mal mit lautem Getöse, je nach dem, ob es auf mehr oder weniger Hindernisse trifft. Es geht unbeirrbar der Revolution entgegen, egal welche Barrieren die Privilegierten vor ihm auftürmen. Aber es macht Pausen und Umwege, als Folge seines friedlichen Gemüts und seines Wunsches, extreme Lösungen zu vermeiden. Wenn die Volksmacht bei der Überwindung der Hindernisse, auf die sie trifft, wie ein revolutionärer Orkan über die alten Gesellschaften hinwegfegt, dann weil man ihr keinen anderen Ausweg gelassen hat. Es steht nämlich außer Frage, dass diese Macht, wenn sie sich ungehemmt hätte entfalten können, gemäß dem Prinzip des geringsten Widerstands, keine gewaltsamen Formen, sondern ein friedliches, ruhiges, würdevolles Aussehen angenommen hätte. Besteht der Fluss, der sich in majestätischer Gelassenheit unaufhaltsam dem Meer entgegenwälzt, nicht aus denselben Wassertropfen, die sich als Sturzbach durch enge Täler ergießen und wütend alles mitreißen, was sich ihnen in den Weg stellt? So ist es auch mit der Macht des Volkes.

Illusorische Palliative[10]

Aber es wäre gefährlich, aus der Tatsache, dass das Volk nicht zum Vergnügen zur Gewalt greift, die Hoffnung abzuleiten, dieses Mittel durch Palliative parlamentarisch-demokratischer Art ersetzen zu können. Es gibt also kein Wahlsystem – weder die Urabstimmung[11] noch irgendein anderes Verfahren, das verspricht, den Schlüssel zu den Wünschen des Volkes zu enthalten –, das die Aussicht bietet, revolutionäre Bewegungen zu umgehen.

Sich in solchen Illusionen zu wiegen, hieße, die unerfreulichen Erfahrungen der Vergangenheit zu wiederholen, als man sich noch Wunderdinge vom allgemeinen Wahlrecht erhoffte. Freilich ist es bequemer, an die Allmacht des allgemeinen Wahlrechts oder gar der Urabstimmung zu glauben, als der Realität ins Auge zu sehen; es erspart einem das Handeln – bringt einen aber auch der ökonomischen Befreiung keinen Schritt näher.

Letzten Endes kommt man jedoch unweigerlich zu dem Schluss: Macht anzuwenden!

Die Tatsache, dass kein wie auch immer geartetes Wahl verfahren, keine Urabstimmung usw. Umfang und Intensität des revolutionären Bewusstseins ermessen oder den Rückgriff auf Macht ersetzen können, sollte nicht als Beweis ihrer völligen Wertlosigkeit interpretiert werden. Die Urabstimmung zum Beispiel kann von Nutzen sein. Unter manchen Umständen gibt es nichts Besseres. In klar und präzise definierten Fällen ist sie ein probates Mittel, um herauszufinden, was die Arbeiter denken. Im Bedarfsfall wissen die Gewerkschaften übrigens auch, sie zu nutzen (sowohl jene, die noch teilweise unter kapitalistischem Einfluss stehend für einen staatlichen Interventionismus eintreten, als auch die eindeutig revolutionären). Und zwar schon lange! Weder die einen noch die anderen haben darauf gewartet, dass man sie zum System erhebt oder aus ihr eine Methode zu machen versucht, die von der direkten Aktion ablenkt.

Es ist also absurd zu behaupten, die Urabstimmung stünde im Gegensatz zur revolutionären Methode – ebenso wie umgekehrt, sie wäre deren notwendige Ergänzung. Sie ist ein Mechanismus zur quantitativen Messung, aber ungeeignet zu qualitativer Bewertung. Deshalb wäre man schlecht beraten, sie für ein Werkzeug zu halten, um die kapitalistische Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern. Selbst häufiger angewandt, wäre sie kein Ersatz für die Initiativen und die Tatkraft, die gefragt sind, wenn die Stunde der Entscheidung naht.

Es wäre albern, von Abstimmung zu sprechen, wenn es um die revolutionäre Tat geht – wie beim Sturm auf die Bastille... Wären die Gardes-Françaises[12] am 14. Juli 1789 nicht zum Volk übergelaufen, hätte nicht eine bewusste Minderheit zum Sturm auf die Festung geblasen... hätte man vorher per Volksbefragung über das Schicksal des finsteren Kerkers entscheiden lassen, würde die Bastille wahrscheinlich noch heute den Zugang zum Faubourg Antoine[13] versperren.

Unsere Vermutung in Bezug auf die Einnahme der Bastille lässt sich auf alle revolutionären Ereignisse übertragen: man frage sich nach dem Ausgang eines hypothetischen Volksentscheids und man wird zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangen.

Nein! Wahlen und Referenden sind kein Patentrezept, um die Anwendung revolutionärer Macht zu umgehen. Doch um uns in diesem Punkt klar und deutlich auszudrücken: diese Anwendung von Macht bedeutet nicht, dass die Masse kein Bewusstsein hat. Ganz im Gegenteil! Sie ist umso wirkungsvoller, je aufgeklärter die Masse ist.

Damit die ökonomische Revolution, mit der die kapitalistische Gesellschaft schwanger geht, sich endlich Bahn bricht und Ergebnisse zeitigt; damit Rückschläge und heftige Gegenreaktionen ausbleiben, müssen diejenigen, die sich um dieses große Werk bemühen, wissen, was sie wollen und wie sie es erreichen wollen. Sie müssen sich ihrer Sache bewusst sein und dürfen nicht impulsiv handeln! Damit wir uns da nicht missverstehen, numerische Macht ist – vom revolutionären Standpunkt aus – nur dann wirksam, wenn sie durch die Initiative der Einzelnen, ihre Spontaneität befördert wird. An sich ist sie nur eine Ansammlung willenloser Individuen, einem Haufen toter Materie vergleichbar, die auf Anstöße von außen reagiert.

Somit erweist sich, dass die direkte Aktion, auch wenn sie den Einsatz von Macht für unverzichtbar erklärt, letztlich den Untergang von Regimen einleitet, die auf Macht und Gewalt basieren, um sie durch eine Gesellschaft des bewussten und harmonischen Miteinanders zu ersetzen. Und zwar weil sie innerhalb der alten Gesellschaft des Autoritarismus und der Ausbeutung schöpferische Vorstellungen propagiert, die auf die Befreiung des Menschen abzielen: Entfaltung der Persönlichkeit, Förderung des Willens, Erziehung zum Handeln.

Man kommt also nicht um die Schlussfolgerung herum, dass die direkte Aktion nicht nur einen wertvollen Beitrag zur sozialen, sondern auch zur moralischen Entwicklung leistet, indem sie diejenigen, die sie beherzigen, formt und verfeinert, sie aus dem Gehäuse der Passivität befreit und ihnen einen Aura von Kraft und Schönheit verleiht.


[1] Auguste Keufer (1851–1924), Sekretär der Druckergewerkschaft und erster Schatzmeister der CGT, war vor dem Ersten Weltkrieg ein wesentlicher Exponent des Gewerkschaftsreformismus nach englischem und deutschem Vorbild.

[2] Marcel Sembat (1862–1922), sozialistischer Journalist und Politiker der blanquistischen Richtung, Pariser Parlamentsabgeordneter (1893–1922) und Minister während des Ersten Weltkriegs.

[3] Émile Vandervelde (1866–1938), belgischer sozialdemokratischer Politiker, Parlamentarier, Minister, Vorsitzender der Zweiten internationale (1900–1918).

[4] Der Artikel Vanderveldes war anlässlich einer Demonstration für kürzere Arbeitszeiten in Brüssel, am 15. August 1906, erschienen. Pouget verwendete dasselbe Zitat in einem Artikel in La Voix du Peuple kurz vor dem Kongress von Amiens, um Versuche der Einflussnahme der sozialistischen Partei (SFIO) auf die CGT zu kontern. Der Reformsozialist Vandervelde äußerte sich durchaus wohlwollend über die Methoden des revolutionären Syndikalismus, hielt sie aber für eine nicht „exportierbare“ französische Eigenart (vgl. den Artikel „Der Generalstreik“, Vandervelde 1908: 553).

[5] Moritz Rittinghausen (1814–1890), Teilnehmer an der Revolution von 1848, später Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Delegierter auf den Kongressen der IAA. Er vertrat die Idee einer „direkten Gesetzgebung durch das Volk“ (so der Titel seines bekanntesten Werkes von 1850), die von Proudhon, auf den sich Pouget bezieht, als „Wiederherstellung des Autoritätsprinzips“ beargwöhnt wurde („Du principe d’autorité“ in Idée générale de la révolution au XIXe siècle, 1851).

[6] Pouget zielt hier insbesondere auf Jules Guesde ab, der in seinem (vielfach nachgedruckten) Artikel von 1878 über „La loi des salaires et ses conséquences“ (Das Lohngesetz und seine Folgen) dieses Dogma für Frankreich formulierte. Urheber ist tatsächlich Ferdinand Lassalle, der geschrieben hatte: »Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen, unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: Dass der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist“ (Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee, März 1863, zit. n. Helga Grebing u.a., Geschichte der sozialen Idee in Deutschland, Wiesbaden 2005, S. 138).

[7] Nahezu wörtliches Zitat aus dem genannten Artikel von Guesde, der wiederum Lassalle paraphrasiert: „Der Durchschnittslohn kann in der Regel nicht über das Minimum hinausgehen, das der Arbeiter zum Leben und zur Fortpflanzung braucht“.

[8] Demzufolge, was oberflächliche Betrachter behaupten, und viele Leute glauben und ungeprüft nach beten, ist das Leben in den besagten Ländern „teuer“. Richtig ist: Luxusgüter sind sehr teuer sind und die Pflege von „Beziehungen“ ist sehr kostenaufwändig. Alle Grundbedarfsgüter hingegen sind billig. Außerdem ist hinlänglich bekannt, dass wir zum Beispiel aus den Vereinigten Staaten Weizen, Obst, Konserven, Industriegüter usw. einführen, die (trotz der Verteuerung durch Transportkosten und Zollgebühren) mit vergleichbaren einheimischen Produkten konkurrenzfähig sind. Es liegt demnach auf der Hand, dass diese Produkte in den Vereinigten Staaten nicht zu höheren Preisen verkauft werden... Wir könnten noch viele weitere überzeugende Beweise an führen, was allerdings den Rahmen einer Broschüre sprengen würde [Anmerkung Pouget].

[9] Pouget verwendet hier und im Folgenden das französische Wort „force“ in einer Bedeutung, die sich im Deutschen nicht genau wiedergeben lässt. „Macht“, im Sinne dessen, was John Holloway unter kreativer Macht (power-to) versteht (vgl. Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2004), kommt dem hier Gemeinten noch am nächsten.

[10] Palliativ: ein Arzneimittel, das die Krankheitsbeschwerden lindert, ohne die Krankheit selbst zu beseitigen. Im 19. Jahrhundert vielfach im übertragenen Sinne gebraucht (Mittel zur Beschönigung, Verschleierung, Bemäntelung eines Übels), wird das Wort heute nur noch fachsprachlich verwendet.

[11] Pouget spielt hier auf eine Initiative von Jean Jaurès an, der im August/September 1908 in mehreren Zeitungsartikeln die Idee einer Urabstimmung im Streikfall propagierte (die er als „Referendum“ oder „allgemeines Arbeiterwahlrecht“ bezeichnete). Dieser Vorschlag wurde von revolutionärsyndikalistischer Seite sofort heftig kritisiert.

[12] Die Haustruppen des französischen Königs, die sich zum großen Teil am Sturm auf die Bastille beteiligten.

[13] Eigentlich Faubourg Saint-Antoine (Vorstadt des Heiligen Antonius), aber das „Heilige“ sparte man sich in revolutionären Kreisen. Einstiges proletarisches Viertel in Paris.