Titel: Verteidigungsrede
AutorIn: Henry, Émile
Datum: 1894
Bemerkungen: Verteidigungsrede von Émile Henry, erstmals in "Histoire du mouvement anarchiste en France (1880 - 1914)" (Societe Universitaire, Paris 1955) im vollen Wortlaut abgedruckt. In Anarchismus. Grundtexte... unter "Anarchie und Terror" in deutscher Sprache veröffentlicht.
Aus: Rammstedt, Otthein (Hg.): Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt, Westdeutscher Verlag 1969. Gescannt und bearbeitet von www.anarchismus.at

Meine Herren Geschworenen,

Sie wissen, wessen man mich anklagt: Der Explosion in der Rue des Bons Enfants, bei der fünf Menschen ums Leben kamen und der Tod eines sechsten verursacht wurde; der Explosion im Café Terminus, bei der eine Person ums Leben kam, der Tod einer zweiten verursacht und weitere Menschen verletzt wurden; schließlich der sechs Revolverschüsse, die ich auf jene richtete, die mich nach dem letzten Attentat verfolgten.

Die Verhandlungen haben Ihnen gezeigt, daß ich mich für diese Taten verantwortlich erkläre. Ich will also keine Verteidigung vorbringen. Ich versuche nicht im geringsten, mich den Vergeltungsmaßnahmen der Gesellschaft, die ich angegriffen habe, zu entziehen.

Im übrigen, ich unterstehe nur einem Gericht, mir selbst, und das Urteil jedes anderen ist mir gleichgültig. Ich will ganz einfach eine Erklärung für mein Handeln abgeben und Ihnen sagen, wie ich dazu kam.

Noch gar nicht lange bin ich Anarchist. Erst seit Mitte des Jahres 1891 habe ich mich der revolutionären Bewegung angeschlossen. Zuvor hatte ich in Kreisen gelebt, die vollkommen von der gegenwärtigen Moral durchtränkt waren. Ich war es gewöhnt, die Prinzipien Vaterland, Familie, Autorität und Eigentum zu respektieren, ja sogar sie zu lieben.

Aber die Erzieher der augenblicklichen Generation vergessen eines nur allzu häufig, nämlich daß das Leben mit seinen Kämpfen und Bitternissen, mit seinen Ungerechtigkeiten und seinen Ungleichheiten, selbst es auf sich nimmt, ganz unbemerkt, den Unwissenden die Augen zu öffnen, sie sehend zu machen für die Realität. So ist es mir ergangen, und so geht es allen. Man hatte mir gesagt, daß dieses Leben einfach und für die Intelligenten und Tatkräftigen weit offen sei, und die Erfahrung zeigte mir, daß nur die Unverschämten und die Kriecher einen guten Platz ergattern können. Man hatte mir gesagt, daß die sozialen Institutionen auf Gerechtigkeit und Gleichheit beruhen, doch ich stieß überall nur auf Lug und Trug. Jeder Tag raubte mir aufs neue eine Illusion. Wo ich auch hinkam, immer wurde ich Zeuge der gleichen Sorgen bei den einen, der gleichen Freuden bei den anderen. Bald verstand ich, daß die großen Worte, die man mich verehren gelehrt hatte: Ehre, Demut, Pflicht nur eine Maske waren, um schamlose Niederträchtigkeiten zu verbergen.

Der Fabrikant, der ein riesiges Vermögen durch Ausbeutung seiner Arbeiter hortete, die ihrerseits alles entbehrten, war ein ehrbarer Mann. Der Abgeordnete, der Minister, die immer nur nach dem Weinglas langten, widmeten sich dem öffentlichen Wohl. Der Offizier, der sein neuestes Gewehrmodell an siebenjährigen Kindern erprobte, hatte seine Pflicht erfüllt, und vor versammeltem Parlament beglückwünschte ihn der Präsident! (Anm.: Anspielung auf das Massaker von Fourmies am 1. Mai 1861)

Alles, was ich sah, empörte mich, und meine Gedanken konzentrierten sich auf die Kritik an der sozialen Organisation. Diese Kritik ist bereits allzu häufig vorgebracht worden, als daß ich sie hier wiederholen müßte. Es genügt mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich der Feind einer kriminellen Gesellschaft wurde.

Eine Zeitlang war ich vom Sozialismus angezogen, löste mich jedoch bald von dieser Partei. Meine Liebe zur Freiheit war zu groß, ich hatte zuviel Respekt vor der individuellen Initiative, zuviel Widerstand gegen die Mitgliedschaft, um Nummer in der Armee des Vierten Standes zu sein. Darüber hinaus erkannte ich, daß der Sozialismus im Grunde genommen nichts an der gegenwärtigen Ordnung ändert. Er hält am autoritären Prinzip fest, und, was auch immer die sogenannten Freidenker dazu sagen mögen, dieses Prinzip ist nur ein altes Überbleibsel des Glaubens an eine höhere Macht.

Ich war Materialist und Atheist: Wissenschaftliche Studien hatten mich nach und nach das Kräftespiel der Natur durchschauen lassen, und ich hatte begriffen, daß die Hypothese Gott durch die moderne Wissenschaft ausgeschlossen war, da man ihrer nicht mehr bedurfte. Die religiöse und autoritäre Moral, auf einem Trugschluß beruhend, mußte also verschwinden. Welches war nun diese neue Moral, die mit den Naturgesetzen harmonierte, die die alte Welt wiederbeleben und eine glückliche Menschheit hervorbringen sollte?

Damals begann meine Beziehung zu einigen anarchistischen Genossen, die ich noch heute zu den besten zähle, die ich je kannte. Der Charakter dieser Männer nahm mich von Anfang an gefangen. Ich schätze ihre hohe Aufrichtigkeit, ihre absolute Offenheit, ihre abgrundtiefe Verachtung aller Vorurteile; und ich wollte die Ideen kennen, die diese Männer so sehr von all denen unterschied, die ich bis dahin kennengelernt hatte.

Mein Geist war durch Beobachtungen und persönliche Überlegungen schon reif für diese Ideen. Sie präzisierten nur, was in mir bereits vage und verschwommen existierte. Ich wurde Anarchist.

Es ist nicht meine Aufgabe, hier die Theorie der Anarchie zu entwickeln. (Anm.: Siehe Brief vom 27. Februar 1894, unten) Ich will davon nur die revolutionäre Seite hervorheben, die ablehnende und zerstörerische Seite, um derentwillen ich Ihnen gegenübertrat. Im Augenblick des sich zuspitzenden Kampfes gegen die Bourgeoisie und gegen ihre Feinde bin ich fast versucht, mit Souvarine aus »Germinal« zu sagen: »Alle Gedanken an die Zukunft sind kriminell, weil sie die einfache und reine Zerstörung verhindern und den Vormarsch der Revolution hemmen.«

Sobald eine Idee gereift ist, sobald sie ihre Formel gefunden hat, sollte man ohne Verzug ihre Verwirklichung verfolgen. Ich war davon überzeugt, daß die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur schlecht ist, ich wollte sie bekämpfen, um ihr Absterben zu beschleunigen. Ich ging mit abgrundtiefem Haß in diesen Kampf, ständig neu belebt durch das empörende Schauspiel, das diese Gesellschaft bot, in der alles gemein, alles feige ist, alles die Entfaltung der menschlichen Leidenschaften, der großmütigen Neigungen des Herzens und des freien Gedankenspiels verhindert.

***

Ich wollte so hart und so gerecht vorgehen, wie ich konnte. Beginnen wir also mit dem ersten Attentat, das ich begangen habe, der Explosion in der Rue des Bons Enfants.

Ich hatte mit Spannung die Ereignisse von Carmeaux verfolgt. Die ersten Nachrichten über den Streik ließen mich vor Freude jauchzen: Die Bergarbeiter schienen endlich bereit, friedliche und unnütze Streiks aufzugeben, in denen der vertrauensvolle Arbeiter geduldig darauf wartet, daß seine paar Francs über die Millionen der Gesellschaften triumphieren. Sie schienen einen Weg der Gewalt beschreiten zu wollen, was sich dann auch endgültig am 15. August 1892 bestätigte. Die Büros und die Geschäftsgebäude der Mine wurden von der Masse gestürmt, die es müde war zu leiden, ohne sich zu rächen: Gerechtigkeit widerfuhr dem bei den Arbeitern so verhaßten Ingenieur, als Eingeschüchterte sich dazwischenstellten.

Wer waren diese Männer? Dieselben, die jegliche revolutionäre Bewegung im Keim ersticken, aus Angst, daß das Volk, einmal aufgewacht, sich ihrem Willen nicht mehr beugt; dieselben, die Tausende zu monatelangen Entbehrungen zwingen, um dann ihre Leiden an die große Glocke zu hängen und sich damit so populär zu machen, daß sie sich ein Mandat ergattern können — ich denke dabei an die sozialistischen Führer; denn in der Tat rissen diese Männer die Streikbewegung an sich. Man sah, wie sich plötzlich über das ganze Land ein Heer von Schön-Schwätzern ergoß, das sich voll und ganz dem Streik widmete, die Einschreibungen organisierten, Reden hielten, überall Lohnforderungen stellten. Die Bergarbeiter überließen ihnen die Initiative.

Was dann geschah, ist bekannt. Es kam zum ewigen Streik; die Arbeiter machten engere Bekanntschaft mit dem Hunger, ihrem ständigen Begleiter; sie zehrten die geringen Reserven ihrer Gewerkschaft und die der anderen Vereinigungen, die ihnen zu Hilfe kamen, auf und dann, nach zwei Monaten, kehrten sie mit hängenden Schultern in ihre Schächte zurück, erbarmungswürdiger als zuvor. Es wäre so einfach gewesen, von Anfang an die Gesellschaft an ihrer einzigen empfindlichen Stelle zu treffen, dem Geld; das Kohlenlager in Brand zu stecken, die Fördermaschinen zu zertrümmern, die Schöpfpumpen zu zerstören.

Sicher, die Gesellschaft hätte schnell kapituliert. Aber die Hohenpriester des Sozialismus dulden ein solches Vorgehen, nämlich ein anarchistisches Vorgehen, nicht. Bei diesem Spiel riskiert man Gefängnisstrafe und, wer weiß, vielleicht auch eine jener Kugeln, die in Fourmies Wunder wirkten. Man gewinnt dabei keinen Sitz im Gemeinderat oder in der gesetzgebenden Versammlung.

Kurz gesagt, die für einen Augenblick zerstörte Ordnung herrschte wieder in Carmeaux.

Die Gesellschaft, mächtiger denn je, setzte ihre Ausbeutung fort und die Herren Aktionäre beglückwünschten sich zu dem erfreulichen Ausgang des Streiks. Nun, es lohnt sich noch immer, dort Dividenden zu kassieren!

Und damals entschloß ich mich, in diesem wohlklingenden Konzert eine Stimme erschallen zu lassen, die die Bourgeois zwar schon gehört hatten, die aber mit Ravachol verklungen zu sein schien, die Stimme des Dynamits.

Ich wollte der Bourgeoisie zeigen, daß ihre Vergnügen nicht länger vollkommen sein würden, daß ihrer unverschämten Triumphe Störungen harrten, daß ihr Goldenes Kalb auf seinem Sockel schwanken und daß der letzte Stoß es schließlich in Dreck und Blut hinabstürzen würde. Zugleich wollte ich den Bergarbeitern verständlich machen, daß es nur eine Kategorie Menschen gibt, die Anarchisten, die ihre Sorgen mitempfinden und bereit sind, sie zu rächen. Diese Männer sitzen nicht im Parlament, wie die Herren Guesde und Konsorten, sie gehen zur Guillotine.

Ich bereitete also Sprengstoff. Einen Augenblick lang dachte ich an die Anklage gegen Ravadaol. Und die unschuldigen Opfer? Aber dies Problem war schnell gelöst. Das Haus, in dem sich die Geschäftsräume der »Compagnie de Carmeaux« befanden, war nur von Bourgeois bewohnt. Es würde also keine unschuldigen Opfer geben. Die Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit lebt von der Ausbeutung, so soll sie auch in ihrer Gesamtheit ihre Verbrechen sühnen. So legte ich in absoluter Gewißheit über die Legitimität meines Handelns meinen Sprengkörper vor die Türe zu den Geschäftsräumen der Gesellschaft.

Ich habe im Laufe der Verhandlungen erklärt, wie sehr ich hoffte, daß mein Werkzeug, sollte es noch vor seiner Explosion entdeckt werden, möglichst im Polizeikommissariat losgehen und damit immer noch meine Feinde treffen würde. Soweit also die Beweggründe, die mich das erste Attentat, das man mir hier vorwirft, begehen ließen.

***

Nun zum zweiten, dem im Café Terminus. Ich war zur Zeit der Affaire Vaillant nach Paris gekommen. Ich hatte den furchtbaren Repressionen nach dem Attentat im Palais-Bourbon beigewohnt. Ich war Zeuge der drakonischen Maßnahmen, die die Regierung gegen die Anarchisten ergriff.

Überall wurde spioniert, verfolgt, verhaftet. Willkürliche Razzien, Unzählige wurden ihren Familien entrissen und ins Gefängnis geworfen.- Was wurde aus den Frauen und Kindern dieser Kameraden, solange sie inhaftiert waren? Keiner kümmerte sich darum. Ein Anarchist war kein Mensch mehr, er war ein wildes Tier, das von allen Seiten gejagt und dessen Vernichtung von der ganzen bourgeoisen Presse, dem gemeinen Sklaven der Gewalt, gefordert wurde. Gleichzeitig wurden die anarchistischen Zeitungen und Broschüren verboten, das Versammlungsrecht aufgehoben.

Aber es kam noch besser: Als man einen Genossen vollkommen unschädlich machen wollte, hinterlegte abends ein Spitzel ein Paket Tannin in seinem Zimmer, und am nächsten Morgen setzte die Verfolgung ein, auf Grund einer Anordnung vom Vorabend. Man fand eine Dose mit verdächtigem Pulver, der Kamerad kam vor Gericht und erntete drei Jahre Gefängnis. Fragen Sie doch den erbärmlichen Spitzel, der sich bei dem Kameraden Mérigeaud einschlich, ob es wahr ist!

Aber alle Vorgehensweisen waren gut. Sie trafen einen Feind, den man fürchtete, und diejenigen, die zuvor gezittert hatten, wollten sich tapfer zeigen.

Und hörte man nicht als Krönung dieses Kreuzzuges gegen die Ketzer Herrn Raynal, den Innenminister, vor der Kammer erklären, daß die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen einen guten Erfolg erzielt hätten und das Grauen ins anarchistische Lager zurückgeworfen hätten! Es war noch nicht genug. Man hatte einen Menschen zum Tode verurteilt, der nie getötet hatte; man mußte bis zum Ende mutig erscheinen: man guillotinierte ihn eines Morgens.

Aber, meine Herren Bürger, Sie hatten zu lange die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ihr hattet Hunderte verhaftet, zahlreiche Familien verletzt, aber es gab auch noch außerhalb Eurer Gefängnisse Menschen, von denen Ihr nichts ahntet, die, im Schatten, an Eurer Anarchistenjagd teilnahmen und die nur des günstigen Augenblicks harrten, um ihrerseits die Jäger zu jagen.

Die Worte Herrn Raynals waren eine Herausforderung an die Anarchisten. Der Fehdehandschuh wurde aufgehoben. Die Bombe im Café Terminus war die Antwort auf alle Eure Verletzungen der Freiheit, Eure Verhaftungen, Eure Verfolgungen, auf Eure Gesetze gegen die Presse, Eure Massenvertreibungen von Ausländern, auf Eure Guillotinaden.

Aber, werden Sie sagen, warum friedliche Konsumenten angreifen, die der Musik lauschen und die vielleicht weder Magistrat, noch Abgeordneter, noch Funktionär sind?

Warum? Ganz einfach. — Die Bourgeoisie hat aus den Anarchisten einen geschlossenen Block gemacht. Ein einziger, Vaillant, hatte eine Bombe geworfen; neun Zehntel der Genossen kannten ihn nicht einmal. Aber das half nichts. Man verfolgte en masse; alles, was in irgendeiner Beziehung zum Anarchismus stand, wurde gejagt.

Nun gut! Da Ihr so eine ganze Partei für die Taten eines Einzelnen verantwortlich macht, da Ihr en bloc zuschlagt, schlagen auch wir en bloc.

Sollten wir nur die Abgeordneten, die Gesetze geben und erlassen, die Magistrate, die diese Gesetze anwenden, und die Polizisten, die uns dann verhaften, angreifen?

Ich glaube nicht. Alle diese Menschen sind nur Werkzeuge, handeln nicht in ihrem eigenen Namen: ihre Ämter wurden von der Bourgeoisie zu ihrer Verteidigung eingerichtet; sie tragen nicht mehr Schuld als alle anderen. Die guten Bourgeois, die, ohne ein Amt zu bekleiden, dennoch die Coupons ihrer Verpflichtungen erhalten, die müßig von der Übervorteilung der Arbeiter leben, auch die müssen ihren Anteil Strafe erhalten.

Und nicht nur sie, sondern auch noch alle, die mit der gegenwärtigen Ordnung zufrieden sind, die das Vorgehen der Regierung billigen, es befürworten und sich zu ihrem Komplizen machen, diese Angestellten mit 300 und 500 Francs im Monat, die noch mehr als die dicken Bürger das Volk hassen, diese dumme und ehrgeizige Masse, die sich immer auf die Seite des Stärkeren schlägt, Stammpublikum des Terminus und anderer Cafés.

Deshalb habe ich in die Menge geschlagen, ohne meine Opfer vorher auszuwählen.

Die Bourgeoisie soll endlich begreifen, daß die, die gelitten haben, ihrer Leiden müde sind; sie zeigen die Zähne und, je brutaler man mit ihnen umgeht, um so brutaler schlagen sie zurück.

Sie kennen keine Achtung vor dem Menschenleben, weil die Bourgeoisie selbst es auch nicht respektiert. Die Mörder der »Blutwoche« und von Fourmies haben kein Recht, die anderen Mörder zu nennen.

Sie schonen weder Frauen noch Kinder der Bürger, weil die Frauen und Kinder derer, die sie lieben, auch nicht geschont werden. Sind die Kinder in den Elendsvierteln, die vor Hunger langsam an Anämie sterben, keine unschuldigen Opfer? Oder jene Frauen, die sich in Euren Werkstätten krankschinden, um 40 Sous am Tage zu verdienen, und die noch Glück haben, wenn die Armut sie nicht zu Prostituierten macht? Oder die alten Leute, die ein ganzes Leben lang Produktionsmaschinen für Euch waren und die Ihr auf den Müllhaufen werft oder ins Arbeitshaus, wenn sie verbraucht sind? Habt wenigstens den Mut, Ihr Herren der Bourgeoisie, Euch zu diesen Verbrechen zu bekennen, und räumt ein, daß unsere Vergeltungsmaßnahmen völlig legitim sind.

***

Gewiß, ich mache mir keine Illusionen. Ich weiß, daß mein Handeln noch nicht verstanden wird von den zu wenig vorbereiteten Massen. Selbst unter den Arbeitern, für die ich kämpfte, halten mich viele, irregeleitet durch Eure Zeitungen, für ihren Feind. Aber das stört mich kaum. Ich kümmere mich nicht um das Urteil anderer.

Ich weiß auch, daß sich manche Anarchisten nennen, die jede Solidarität mit den Propagandisten durch die Tat ablehnen. Sie versuchen, eine fadenscheinige Unterscheidung zwischen Theoretikern und Terroristen zu treffen. Zu feige, ihr eigenes Leben zu riskieren, verleugnen sie diejenigen, die handeln; aber der Einfluß, den sie auf die revolutionäre Bewegung zu haben glauben, ist gleich Null. Das Feld ist heute in der Aktion, ohne Schwäche und ohne Nachgiebigkeit.

Alexander Herzen, der russische Revolutionär, hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Von zwei Dingen nur eins: entweder bestrafen und vorwärts maschieren, oder begnadigen und auf halbem Wege straucheln.«

Wir wollen weder begnadigen noch straucheln und wir marschieren immer vorwärts, bis schließlich die Revolution, das Ziel unserer Mühen, unser Werk durch eine freie Welt krönt.

In diesem erbarmungslosen Krieg, den wir der Bourgeoisie erklärten, verlangen wir kein Mitleid. Wir bringen den Tod, wir werden ihn ertragen. So erwarte ich mit Gleichgültigkeit Ihre Strafe.

Ich weiß, mein Kopf ist nicht an letzte unter Eurem Beil; andere werden fallen, denn die am Hungertuch Nagenden fangen an, den Weg zu Euren Cafés und Grand-Restaurants zu finden: zum Terminus und zum Foyot.

Ihr werdet weitere Namen in die blutigen Listen unserer Toten eintragen. Ihr habt die Leute in Chicago aufgehängt, in Deutschland mit dem Beil enthauptet, in Jerez erdrosselt, in Barcelona erschossen, in Montbrison und Paris guillotiniert — aber nie werdet Ihr den Anarchismus zerstören.

Seine Wurzeln reichen zu tief, er entsteht im Herzen einer korrupten, zerfallenden Gesellschaft, er ist eine gewaltsame Reaktion auf die etablierte Ordnung. Der Anarchismus repräsentiert egalitäre und freiheitliche Bestrebungen, die die bestehende Autorität zertrümmern werden; er ist überall und ist darum unüberwindlich. Er wird Euch am Ende umbringen.

Das war es, meine Herren Geschworenen, was ich Ihnen zu sagen hatte.

Sie werden jetzt meinen Rechtsanwalt hören. Da Ihre Gesetze jedem Angeklagten einen Verteidiger aufzwingen, hat meine Familie Herrn Hornbostel gewählt.

Aber, was er Ihnen auch sagen könnte, es wird in keiner Weise das von mir Gesagte schwächen. Meine Erklärungen sind die exakte Wiedergabe meiner Gedanken. Ich halte daran vollkommen fest.

Brief an den Gefängnisdirektor

In einem Brief vom 27. Februar 1894 an den Gefängnisdirektor beschrieb Henry seine Auffassung von Anarchie:


"Monsieur, ich will Ihnen nun kurz meine Idealvorstellung einer anarchistischen Gesellschaft resümieren:

  • Keine Autorität mehr, die dem Glück der Menschheit mehr im Wege steht als vielleicht die wenigen Ausschreitungen, die in der Entstehungszeit einer freien Gesellschaft eintreten könnten. An Stelle der gegenwärtigen autoritären Gesellschaftsstruktur eine freie Gruppierung der Individuen im Einklang mit ihren Sympathien und Affinitäten, ohne Gesetze und ohne Vorgesetzte.

  • Kein Privateigentum mehr; Vergesellschaftung aller Produktion. Arbeit für jeden einzelnen seinen Bedürfnissen entsprechend, Verbrauch eines jeden seinen Bedürfnissen entsprechend, das heißt nach seinem Belieben!

  • Keine Familie mehr, die nur egoistisch und bourgeois den Mann zum Eigentum der Frau und die Frau zum Eigentum des Mannes erklärt; die verlangt, daß zwei Menschen, die sich für einen Augenblick geliebt haben, bis ans Ende ihrer Tage aneinander gebunden sind. Die Natur ist launisch, sie fordert immer wieder neue Empfindungen und Eindrücke. Sie will die freie Liebe; deshalb wollen wir auch eine freie Ehe.

  • Keine Vaterlandsanbeter mehr, keinen Haß mehr zwischen Brüdern, der Menschen, die sich nie gesehen haben, aufeinander jagt. Ersatz dieser engstirnigen und kleingeistigen Anhänglichkeit des Chauvinisten seinem Vaterland gegenüber durch die weite und tiefempfundene Liebe zur ganzen Menschheit ohne Rassentrennung.

  • Keine Religionen mehr, die von Priestern geschmiedet wurden, um die Massen zu verdummen und ihnen die Hoffnung auf ein besseres zukünftiges Leben geben, während sie selbst sich des irdischen Lebens erfreuen werden. Im Gegensatz dazu eine ständige Entwicklung der Wissenschaften, für jeden, der sich vom Studium angezogen fühlt, zugänglich, so daß allmählich alle Menschen zur Erkenntnis des Materialismus geführt werden.

  • Genauere Untersuchung der hypnotischen Phänomene, die die Wissenschaft heute festzustellen beginnt, um die Scharlatane zu entlarven, die den Unwissenden in wundersamem und übernatürlichem Licht rein materielle Tatsachen zeigen.

In einem Wort, keinerlei Hindernisse mehr für die freie Entwicklung der Natur des Menschen. Freie Entfaltung aller körperlichen, geistigen und emotionalen Fähigkeiten."