Titel: Weshalb wir Anarchisten sind
AutorIn: Reclus, Elisée
Datum: ??
Bemerkungen: Aus: "Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 3 (1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.

Wir sind „Revolutionäre", weil wir die frei waltende soziale Gerechtigkeit erstreben, anstatt dieser nichts anderes um uns erblicken als Unrecht und Ungerechtigkeit.

Die Verteilung der Arbeitserzeugnisse findet in der modernen Gesellschaft in einer verkehrten Weise statt; dadurch wird die Arbeit selbst schwieriger und mühsamer. Der Nichtproduzent, der Reiche, besitzt alle Rechte, selbst dieses: seinen Mitmenschen verhungern zu lassen. Dem Armen gesteht man bisweilen nicht einmal das Recht zu, in Stille und nach Bedürfnis zu sterben. Man sperrt den Arbeiter ein, sobald er kein Auskommen findet und Vagabund wird. Leute, die sich Priester, Seelsorger, nennen, trachten danach, den Einfältigen einen Wahnglauben einzuflössen; den, dass ihrer priesterlichen Einsicht die Resultate der Wissenschaft unterworfen sind. Wiederum gibt es Leute, die sich Könige nennen und vorgehen, von einem einzigen, ganz besonderen Ahnen abzustammen, um ihrerseits wieder Übernatürliches und Herrschaftliches darstellen zu können. Sie setzen das Volk in Bewegung und dieses hackt, säbelt und schiesst alles nieder, das als Feind zu betrachten es gelehrt wurde. Dann kommen wieder Männer, angetan in schwarzen Röcken, die sich die vollkommene Gerechtigkeit dünken, und sie verurteilen den Armen, sprechen den Reichen frei, in Republiken verkaufen sie oftmals die Verurteilungen und Freisprüche. Kaufleute verteilen Gift an Stelle von reiner, guter Nahrung; sie morden im Kleinen, nicht im Grossen, und so werden sie geachtete Kapitalisten. Der Geldsack ist der Herrscher und der ihn besitzt, hält das Lebenslos des anderen Menschen in Händen. Alles das erklären wir Anarchisten für verwerflich, wollen solches verändern. Gegenüber diesem Unrecht erschallt unser Ruf nach der sozialen Revolution.

Doch halt: „Recht, Gerechtigkeit, das sind bloss Worte, die wir laut gewöhnlicher Übereinkunft gebrauchen", ruft man uns zu. „Was in Wahrheit besteht ist die Macht: das Recht des Stärkeren... " Wohlan, wir akzeptieren es. Aber deshalb sind wir nicht weniger Revolutionär! Von zwei Dingen eines: Entweder die Gerechtigkeit ist ein menschheitliches Ideal, und dann beanspruchen wir dieses für einen jeden, oder aber sie ist ein Ausdruck der Macht, der die Gesellschaft beherrscht, und dann gibt es kein moralisches Recht, das uns davon abhalten könnte, unsere Macht gegen unsere Feinde zu gebrauchen. Man missverstehe uns nicht: Die Freiheit für Alle — oder das Gesetz der Vergeltung für Alle!

„Doch weshalb sich übereilen?" sagen diejenigen, die alles von der Zeit, der „Entwicklung" erwarten, um — selbst nichts tun zu müssen. Die allmähliche Entwicklung, die angeblich alles besorgt, ist ihnen genügend; die soziale Umwälzung flösst ihnen Schrecken ein, sie verschmähen sie.

Über diese Entwicklungstheoretiker und uns hat die Geschichte der Erfahrung ihren Urteilsspruch gefällt. Weder teilweise noch in seinem Ganzen hat sich jemals ein historischer Vorgang ausschliesslich und allein auf dem Wege der Evolution abgewickelt; in seiner Ganzheit ist er stets durch plötzliche Revolutionen entstanden. Die vorbereitenden Eindrücke und die geistige Arbeit finden zuerst statt, dies ist richtig; der Gedanke selbst, die Idee und ihre Verwirklichung aber, das entsteht urplötzlich. Die Evolution muss in den Köpfen sich vollziehen, die Arme aber machen die Revolution.

Und wie können wir dieser Revolution helfen, die wir allmählich in der Gesellschaft ihren Lauf nehmen sehen? Wie können wir sie fördern, wir, die wir mit aller Kraft an ihrer Verwirklichung tätig sein sollen? Ist es unsere Aufgabe, uns einzurichten, wie die Bourgeois oder wie Politiker, also wie bourgeoise Elemente, die wir bekämpfen; sollen wir weiter fortfahren, uns „verantwortliche" Führer zu schaffen und unverantwortliche Untertanen zu bleiben, Werkzeuge in Händen eines einzigen Leiters?

Nein. Denn wir müssen uns als Anarchisten fühlen, also als Menschen, die die volle Verantwortlichkeit für ihre Aktionen tragen, die durch das Gefühl ihres Rechtes und aus ihrer persönlichen Pflichterkenntnis heraus handeln, die einem jeden Wesen seine natürliche, selbständige Entwicklung überlassen, keinen beherrschen und keinen als herrscher über sich anerkennen.

Wir wollen uns vom staatlichen Zwange befreien; wir missachten die Befehle der Majorität ebenso wie jene der Minorität, die ihren Willen an die Stelle unseres eigenen, unserer Emgfindungen und Neigungen zu stellen wünscht.

Wir streben die Beseitigung aller äusserlichen Gesetze an und halten fest an dem Innengesetze der menschlichen Natur, eines jeden Geschöpfes, wünschen die bewusste, geistige Entwicklung dieses inneren Gesetzes. Indem wir den Staat abgeschafft sehen wollen, beseitigen wir auch die offizielle Moral, in der wohlbegründeten Erkenntnis, dass keine Ethik in der gehorsamen Beugung vor unbegriffenen Geboten begründet sein kann; vor Dingen, über deren Wesensart man sich meistens keine Rechenschaft zu geben vermag. Ohne Freiheit keine echte Moral, und es ist einzig in der Freiheit, dass diese einer gesunden Erneuerung fähig.

Freimütig wollen wir bleiben, uns unseren Geist vorurteilslos bewahren und ihn vorbereiten, empfänglich machen für jedes Geschehnis, für jeden neuen Gedanken, für jeden edelmütigen Entschluss!

Doch indem wir Anarchisten sind, Gegner jeder Herrschaft, sind wir gleichzeitig auch internationale Kommunisten. Wir begreifen, dass das individuelle Leben ohne gesellschaftliche Vereinigung unmöglich ist. Vereinzelt können wir nichts, kraft inniger, solidarischer Vereinigung können wir die Welt erobern. Wir vereinigen uns als freie, gleiche Menschen, in gemeinsamer Arbeit arbeitend und und regeln unsere gegenseitigen Beziehungen durch Wohlwollen und Gerechtigkeit, durch die Vernunft. Nicht mehr kann uns der Hass der Religionen oder Nationen oder Rassen entzweien; das Studium und Erforschen der Natur wird unser einziger Gottesdienst sein, denn als Anarchisten und Kommunisten ist die ganze Welt unser Vaterland. Die grosse Ursache des Tierischen und der Niedrigkeit in uns wird aufhören zu bestehen. Die Erde wird gemeinschaftliches Eigentum, die Grenzen verschwinden, Grund und Boden, allen gehörend, wird zum Genusse und Wohlbefinden Aller bearbeitet. Die Erzeugnisse werden die besten Früchte der Natur und Arbeit sein, und es wird sich nur darum handeln, wie sie verbessert und mit noch grösserer Arbeitsersparnis hervorgebracht werden können, als es heute mit unserer verworrenen und verkrüppelnden Arbeitsmethode geht. Und auch die Verteilung der Reichtümer des gesellschaftlichen Lebens unter den Menschen wird nicht mehr geleitet werden von einem oder vielen Unternehmern oder vom Staate, sondern durch die freien Vereinbarungen der Menschen selbst, die in normaler Weise erzeugen und frei geniessen.

Für uns ist die Zukunft nicht eine künstlich aufgebaute Form, die unabänderlich ist oder bleiben muss. Nein, die freie Gesellschaft der Zukunft wird sein das Werk spontan wirkender Individualitäten, die ihre Formen bilden und schaffen, die sich aber unaufhaltsam verändern und weiter entwickeln werden, wie alles Aussprüche des Lebens es tun.

Doch was wir wissen, für uns als Lebenspostulat aufstellen, ist dies: Solange die ökonomische Gleichheit für alle Menschen nicht etabliert ist — bleiben wir: internationale Anarchisten, Kommunisten, die die Unvermeidlichkeit der sozialen Revolution verkünden!