Titel: Eine Dokumentation deutschsprachiger Texte zum Thema Untertauchen
Untertitel: aus Veröffentlichungen der Jahre 1995-1997
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Eine Dokumentation deutschsprachiger Texte

zum Thema Untertauchen


aus Veröffentlichungen der Jahre 1995-1997






Inhaltsverzeichnis



Abtauchen – Leben in der Illegalität


Ein Jahr vor ... und zwei zurück


O sole mio


Das Leben geht weiter und beginnt neu


Interview mit zwei abgetauchten radikal-Beschuldigten


Zum Begriff und Mythos Exil


Einige Gedanken zum Exil aus dem Exil


Von der Bürde und der Würde des Exils


Ready or not?


Brief von Matthes


Brief von Jutta


Brief ins Exil


Interview mit Ulli


"Auch das Abtauchen hat 'ne Perspektive und die ist keine schlechte"


"... dazu beitragen, den 'Mythos radikal' aus den Köpfen zu kriegen"


Gedanken zur Rückkehr dreier im radikal-Verfahren


<strong>Moin, moin! Matthes taucht auf</strong>

Anläßlich der Rückkehr eines vermeintlichen radikal-Mitarbeiters

<strong>Abtauchen - Leben in der Illegalität</strong> Was tun, wenn ein Haftbefehl gegen dich vorliegt - Informationen und Erfahrungsbericht Uns wurde ein längeres Interview zugeschickt, geführt mit einer Person, die mit Haftbefehl gesucht wird und daraufhin in die Illegalität gegangen ist. Wir haben uns über diese Initiative sehr gefreut und es auf den folgenden Seiten dokumentiert. Über diesen Einzelfall hinaus, wollen wir die Gelegenheit nutzen, Tips und Tricks zum Abtauchen zu geben. Illegal zu leben ist nichts exotisches! In die Illegalität geht man, wenn man muß. (Frau auch!) Dieses Muß betrifft in der momentanen politischen Situation zum größten Teil ausländische Frauen und Männer, die aus ihren Herkunftsländern fliehen vor Krieg, politischer Verfolgung, Diskriminierung als Frau oder Angehörige bzw. Angehöriger einer bestimmten Nationalität, Hautfarbe, Religion oder weil ihr materielles Leben nicht mehr gewährleistet ist. Allein in der BRD leben viele Tausende illegal. Für Deutsche erübrigen sich aufgrund des herausragenden Lebensstandards solche Überlegungen zur Flucht. Für uns wird das Thema erst aktuell, wenn wir verschärfter staatlicher Repression ausgesetzt sind. Doch auch hier ist die Praxis des Abtauchens oder Abhauens gar nicht so selten, wie oftmals angenommen wird. Wir fänden es gut, wenn mehr Frauen und Männer, die zu dem Thema was sagen könnten, sich entschließen würden ihre Erfahrungen zu veröffentlichen, soweit das möglich ist. So kann die Vorstellung für viele Linke greifbar und zu einer reellen Entscheidungsmöglichkeit werden und muß nicht bestimmt sein von irrationalen Ängsten und dem Unvermögen, sich ein anderes Verhalten vorstellen zu können als das staatlich vorgegebene. Deine Ausgangssituation: du bekommst mit, daß die Bullen dich suchen! Z.B. waren sie bei deiner Meldeadresse, haben durchsucht und nach dir gefragt, aber du warst nicht da - oder du wohnst eh nicht da, wo du gemeldet bist. Oder du bist bei einer Sache, für die sie dich ziemlich rankriegen können, erkannt oder verraten worden, und es ist nur noch eine Frage von Stunden, bis sie dich abholen kommen. Du bist also in der vergleichsweise "priviligierten" Situation dir aussuchen zu können, ob du dich stellst bzw. verhaften läßt - oder ob du dich entziehst. Spätestens jetzt zahlt es sich aus, wenn du in der Vergangenheit etwas zurückhaltend warst mit wahren Informationen gegenüber Meldestelle, Arbeits- und Sozialamt, Polizei, Hinz oder Kunz. Oder wenn du an " heißen" Telefonen (wo die Wahrscheinlichkeit, daß abgehört wird, relativ hoch ist) nicht immer dein gesamtes Privatleben ausgebreitet hast, nach dem Motto "das wissen die Bullen doch eh alles" ...(tun sie nämlich nicht!). Ruhe bewahren! Es ist grundsätzlich nicht strafbar, sich der Festnahme zu entziehen, deine Strafe kann dadurch nicht höher werden, sollten sie dich kriegen. Du hast deshalb Zeit, ganz im Gegensatz zu den panischen Empfindungen, die die Nachricht von einem Haftbefehl auslöst, dir in aller Ruhe und mit Rat von Freundinnen zu überlegen, wie es weitergehen soll! Der erste Schritt sollte natürlich sein, dich an einen sicheren Ort zu begeben. Der Ort muß nicht ewig weit weg sein, es kommt darauf an, daß er nicht fü r die Bullen nachvollziehbar ist. D.h. es sollte keine Telefonnummer von dort bei deiner Meldeadresse oder Wohnung rumliegen, es sollten nicht die Wohnung deiner allernächsten FreundInnen sein. Außerdem solltest du dich relativ schnell mit einer Anwältin oder einem Anwalt (RA) in Verbindung setzen Rechtsanwalt/-anwältin Die/der RA kann auch gegenüber Justiz und Bullen als dein/e Anwält/in auftreten, ohne daß er/sie verraten muß, wo du dich aufhältst. Es ist natürlich empfehlenswert, Vorsichtsmaßnahmen beim Kontakt mit der/dem RA zu treffen, damit die Bullen dich nicht beim Anwaltsbesuch fangen. Spätestens wenn den Bullen klar ist, wer dich vertritt, wird das wichtig. Z.B. könnte der Kontakt dann über eine/n Vermittler/in laufen. Dein/e RA wird klären, ob überhaupt ein Haftbefehl vorliegt. Dann versucht er/sie, Einsicht in die Akten (Beweislage, Zeuginnenaussagen) zu bekommen. Das kann ein paar Monate dauern, aber mit einer Entscheidung, sich zu stellen, empfiehlt es sich auf jeden Fall, so lange zu warten. Denn die Beweislage weicht häufig sehr erheblich von der Realität ab, im Guten wie im Schlechten. Nur aufgrund der Akteneinsicht kann eingeschätzt werden, wie stark du wirklich belastet wirst, welche Möglichkeiten der/die RA im Prozeß hat, die Anklage zu Fall zu bringen. Kriegt die/der RA überhaupt Akteneinsicht, wenn du der Justiz nicht zur Verfügung stehst? Wenn es noch andere Angeklagte in der Sache gibt, die nicht illegal sind, haben sie ein Recht auf Akteneinsicht. Dann ist es mö glich, sich deren Akte anzuschauen. Wenn du die/der einzige Belastete bist, ist die Chance, die Akte zu bekommen, geringer, aber einer/m pfiffigen RA wird vielleicht auch da was einfallen. Sich zu stellen, kann bei weniger schwerwiegenden Vorwürfen sinnvoll sein, z.B. wenn der einzige Haftgrund "Fluchtgefahr" ist. Dadurch, daß du selbst ankommst, können sie mit der Gefahr, daß du flüchten willst, nicht mehr argumentieren, und den Haftbefehl nicht aufrechterhalten. Grundsätzlich finden wir es wichtig, die Entscheidung - abhauen oder Knast - nicht gänzlich vom Rat der/des RA abhängig zu machen. Anwältlnnen werden meistens der Knast-Variante den Vorzug geben. Das ist ihr Terrain, da kennen sie sich aus, und das ist der " vorgeschriebene" Weg. Deine Realität kann durchaus ne andere sein! Deshalb muß eine solche Initiative von dir (und deinem Umfeld) kommen! Du solltest dir an der Stelle auch klarmachen, daß ein/eine RA keine höhere Autorität sein muß, sondern in einem Dienstleistungsverhältnis zu dir steht. Das heißt, daß du letztendlich die Rahmenbedingungen vorgibst. Aussehen Es ist sehr ratsam, dein Aussehen zu verändern. Auch wenn noch kein Fahndungsfoto von dir erschienen ist, ist es sinnvoll sofort zu überlegen, was du einschneidendes an deinem Äußeren verändern kannst. Du kannst nie genau einschätzen, ob und wann die Bullen sich entscheiden, öffentlich zu fahnden, und wenn du von Anfang an relativ verändert aussiehst, ist die Möglichkeit wesentlich geringer, daß du später denunziert wirst oder deine Fluchtetappen nachvollzogen werden. Grundsätzlich ist eine optische Annäherung an Erna oder Otto Normal sinnvoll, um möglichst wenig aufzufallen. Zum anderen solltest du typische Erkennungsmerkmale verändern, vor allem im Gesicht: Frisur, Haarfarbe, Bart ab oder dran, Brille oder Kontaktlinsen, je nachdem. Für Frauen, die sich nicht schminken: damit ist ne ganze Menge an Veränderung möglich, sieht man ja bei den Fotomodellen! Du solltest dich bei optischen Veränderungen von Leuten beraten lassen, die ein Auge dafür haben. Auch Kleidung kann eine ganze Menge vom Typ verändern. Scheue keine Kosten, um neue Garderobe und Utensilien anzuschaffen, das zahlt sich auf jeden Fall aus! Argumente für und gegen Illegalität 1. Tauchen bedeutet Streß Die Hauptbelastung des illegalen Lebens ist der psychische Druck, der auf dir lastet. Du lebst "unfrei" , weniger körperlich als in deinem Kopf. Die Situation zwingt dich, umzudenken, ständig auf der Hut zu sein, dein Verhalten immer wieder zu kontrollieren. Je nachdem was du bislang an politischen Aktivitäten gemacht hast, wird dir das mehr oder weniger vertraut sein. Viele Leute werden in so einer Situation von ihren Ängsten völlig bestimmt, verfallen in Verfolgungswahn und schaffen es nicht mehr, die tatsächlich vorhandenen Gefahren einigermaßen nüchtern zu sehen und sich entsprechend zu verhalten. Bestimmt kannst du an einer schwierigen Situation wachsen, kannst den Umgang mit der Angst lernen, kannst es schaffen, mit der Zeit auch ein sicheres Gefühl im Alltag zu bekommen und dich wohl zu fühlen, und nicht nur überall Spitzel und Bedrohungen zu wittern. Besonders, wenn es Freundinnen und Freunde gibt, mit denen du dich auseinandersetzen kannst und die dir helfen. Wir wissen aber auch von Leuten, die selbst nach vielen Jahren den Kopf nicht frei bekommen können von dem Gedanken, verfolgt oder beobachtet zu werden, sich nirgends hin trauen und nur in der Wohnung sicher fühlen. Jeder und jede muß für sich einschätzen, ob er/sie in der Lage ist, in so einer Situation einigermaßen cool zu bleiben, und auch die angenehmen Seiten des Lebens zu sehen. Aber selbst wenn du Zweifel hast, ob du der psychischen Belastung des illegalen Lebens gewachsen bist, kann es nicht verkehrt sein, es zu versuchen, denn du kannst deine Entscheidung jederzeit rückgängig machen. Das ist ein großer Vorteil gegenüber Knast - wenn du da erst einmal bist, wird's ganz schön schwer, wieder abzuhauen! 2.Zukunftsperspektiven Der Grund der Verfolgung "erledigt" sich ja meist nicht von alleine, du wirst also, solltest du jemals erwischt werden, deine Strafe evtl. dann absitzen müssen. Du kannst dir dann sagen: "wär ich gleich in die Kiste gegangen, wär ich jetzt schon wieder draußen" . Das ist die eine Seite. Andererseits besteht bei Verfahren von geringerer Tragweite, z.B. Landfriedensbruch, die gute Chance, daß irgendwann der Haftbefehl zurückgezogen und das Verfahren eingestellt wird. Die Zeuginnen vergessen mit den Jahren alles mögliche und damit sinkt die Chance der Verurteilung, die politische Brisanz deiner "Untat" läßt nach, weil die öffentliche Meinung wieder ganz andere Bedrohungen der Demokratie ausgemacht hat ... kurzum, es ist gut möglich, daß ein anfänglich fanatischer, nach Vergeltung geifernder Staatsanwalt das Interesse verliert. Das ist durchaus kein Einzelfall. Oder, ganz banal, die Straftat verjährt. Wann eine Tat verjährt, richtet sich nach der zu erwartenden (Höchst-) Strafe. Mord verjährt grundsätzlich nicht. Taten, für die es bis zu lebenslänglich gibt, verjähren nach 30 Jahren, mehr als zehn Jahre Strafe nach 20 Jahren, fünf bis zehn Jahre Strafe nach zehn Jahren, ein bis fünf Jahre Strafe nach fünf Jahren, der Rest verjährt nach drei Jahren. Diese Fristen sind aber nicht bindend! Durch sogenannte "Unterbrechungshandlungen" kann die Verjährungsfrist immer wieder verlängert werden, maximal bis auf das doppelte der eigentlichen Frist. Unterbrechungshandlungen sind alle möglichen Amtshandlungen, die die Strafsache betreffen, so z.B. eine richterliche Anordnung, eine Untersuchung im Ausland vorzunehmen, ein Strafbefehl, die Erhebung der Anklage oder Eröffnung des Verfahrens, eine richterliche Durchsuchungsanordnung, der Erlaß eines Haftbefehls... Es Ist also wichtig, die tatsächliche Verjährung einer Tat durch eine Anwältin nachprüfen zu lassen, und sich nicht einfach darauf zu verlassen, daß die Zeit um ist! 3. Strukturen/Freundeskreis Eine ganz wesentliche Voraussetzung für ein Abtauchen ohne Untergehen sind Leute, die dich unterstützen! Welche, die dich bei deinen Entscheidungen beraten, die dir helfen, dich zu stylen, sicher über die Grenzen zu kommen, dich zumindest am Anfang materiell versorgen, die dich psychisch stabilisieren, wenn" s dir Scheiße geht,... Wenn du schon in der Situation bist, abhauen zu müssen, dann ist es natürlich zu spät, entsprechende Strukturen aufzubauen, die deine Versorgung und alles Mögliche gewährleisten. Dann kannst du nur noch das mobilisieren was da ist. Deshalb ist es wichtig, daß du bei deiner Entscheidung, ob du lieber abtauchst oder in den Knast gehst, eine vernünftige Einschätzung von deiner persönlichen Stabilität, deinen Beziehungen und Strukturen machst. Wenn du völlig alleine dastehst, sieht es einfach Scheiße aus. Und das nicht nur in einer solch extremen Situation, sondern schon im normalen Leben. Natürlich soll das nicht bedeuten, daß du nicht auch einfach auf eigene Faust los kannst. Wenn du dir das zutraust, ist es sicher einen Versuch wert. Vielleicht hast du auch noch nie darüber nachgedacht, was du tun würdest, wenn du oder andere Bekannte betroffen wären. Vielleicht regt dich der Artikel an, mal darüber zu reden, Leute zu fragen, ob sie jemanden aufnehmen würden, Kontakte zu knüpfen und zu pflegen,... Was es zum Thema Freundeskreis noch zu sagen gibt, ist natürlich, daß es vielen, die gute Freunde und Freundinnen haben, schwer fallen wird sich vorzustellen, ein Leben ohne sie zu führen. Wir denken auch nicht, daß das sein muß. Erstens mußt du nicht unbedingt alleine abtauchen. Welche, die dir total wichtig sind (und umgekehrt), können sich ebenso gut entschließen mitzugehen. Außerdem kannst du dir auch weiterhin Besuche organisieren, du mußt nicht jeglichen Kontakt abbrechen. Wichtig ist nur, daß die Leute, die dich irgendwo treffen, sich absichern, daß sie nicht die Bullen mitschleppen, d.h. konkret, daß ihr euch damit beschäftigen müßt, wie ihr Observationen erkennen kö nnt, und wie ihr euch vergewissern könnt, daß ihr keine Bullen draufhabt. Dazu gibt" s interessante Broschüren - in jeder gut sortierten Buchhandlung. Du hast dich entschieden abzutauchen - wohin, welche Möglichkeiten gibt es? Ganz unabhängig davon wo du vielleicht Freundinnen hast und hin könntest, solltest du dir die Sache grundsätzlicher überlegen. Inland oder Ausland? Mit falschem Paß oder ohne Papiere? Wir spielen das im Folgenden mal durch: Generell ist das Risiko wiedererkannt und verraten zu werden im Inland, wo dich mehr Menschen kennen, größer. Wenn öffentlich nach dir gefahndet wird und deine Fotos rausgegeben werden, wird es noch krasser. Die zwangsläufige Folge davon wäre, daß du dich tatsächlich relativ versteckt halten mußt, nicht am öffentlichen Leben teilnehmen kannst. Wenn du gefaßt wirst, bedeutet das auf jeden Fall Knast, während in manchen Ländern noch kleine Hoffnungen bestehen, daß du nicht ausgeliefert wirst (dazu später mehr). Mit einem falschen Paß brauchst du weniger durch das Leben zu schleichen, da du nicht befürchten mußt, im Falle einer Ausweiskontrolle gleich festgenommen zu werden. Wir halten die Variante, im Inland ohne falschen Paß zu leben, für die allerbeschissenste! Dieses Verstecken und Rumschleichen wird sich zwangsläufig auf deine Psyche auswirken, du wirst ängstlich und geduckt leben müssen und dich immer schlechter auf Menschen einlassen können. Es gibt bessere Möglichkeiten! Du kannst ins Ausland gehen, irgendwie über die Grenze(n) schleichen, und dort mit deinem richtigen Namen und Paß offen leben. Sinnvoller ist es natürlich trotzdem, sich einen neuen Namen oder einen Spitznamen zuzulegen. Du mußt ja nicht allen deinen neuen Bekannten deinen Perso vorlegen. Diese Möglichkeit bietet sich an bei weniger schweren "Straftaten" , wie z.B. Landfriedensbruch. Wir wissen von Leuten, die das seit Jahren praktizieren, und wo relativ klar ist, daß ihr Aufenthalt den Bullen bekannt ist (z.B. wenn du in exponierten besetzten Häusern lebst). Das "Gastland" unternimmt trotzdem keine Anstalten sie festzusetzen und auszuliefern. Mehr dazu im Abschnitt "Auslieferung". Ist die dir vorgeworfene Straftat gravierender, solltest du auch hier einen falschen Paß haben und dich nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Die beste Variante: du lebst im Ausland, hast aber einen Paß oder Ausweis mit anderem Namen, aber deinem Bild. Die Vorteile liegen auf der Hand: Du bist nicht der direkten Fahndung in Deutschland ausgesetzt. Wenn du nicht gerade RAF-Mitglied bist, wird dein "Gastland" keine verschärften Bemühungen unternehmen, der BRD bei der Fahndung behilflich zu sein. Weil du dich außerhalb deines bisherigen sozialen Umfeldes bewegst, gibt es auch kaum Möglichkeiten, von Bekannten erkannt zu werden, die mit ihrem Wissen dann evtl. nicht korrekt umgehen. Und vor allem kannst du dich einigermaßen selbstsicher bewegen und dir einen neuen Bekanntenkreis aufbauen, ohne ständig Angst v or einer Kontrolle haben zu müssen. Gerade letzteres halten wir für sehr wesentlich, wenn es darum geht, für mehrere Jahre oder auch für immer abzutauchen! Die Möglichkeiten, die du persönlich hast, an einen Paß ranzukommen, sind also letztendlich ziemlich entscheidend für dein weiteres Leben! Im Glücksfall gibt es eine Person, die dir ähnlich sieht und dir ihren Paß gibt, ohne ihn verloren zu melden. Vielleicht kannst du auch durch Frisurenangleichung eine Ähnlichkeit zu irgendeinem der Paßfotos deiner Bekannten herstellen. Fotos sind nicht immer besonders treffend und eventuell siehst du einem Paß foto deiner Bekannten viel ähnlicher als der Person. Wenn das alles nichts taugt, dann wäre es gut, dazu in der Lage zu sein, ein Paßbild aus einem geliehenen Paß durch dein eigenes zu ersetzen und die Bildecke nachzustempeln. Dazu gehö ren gewisse praktische Fertigkeiten, die aber durchaus für jede und jeden erlernbar sind. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf eine Publikation der RZ "Von A bis RZ". Dort stehen diese Dinge unter "Fälschen" beschrieben. Leider sind einige Praktiken mittlerweile veraltet, aber im Großen und Ganzen finden wir diese Praxisanleitung doch noch brauchbar. Wir wissen, daß viele nicht die Möglichkeit haben, an diese alte RZ-Publikation ranzukommen, wir bemühen uns deshalb in der nächsten Nummer, sie nochmal abzudrucken und eventuell zu überarbeiten. Für dieses Mal reicht der Platz einfach nicht aus! Was ist mit Auslieferung? Nehmen wir an, dir wird was vorgeworfen, wofür eine hohe Strafe zu erwarten ist. Etwa ab einem Jahr Knast aufwärts wird ein internationaler Haftbefehl rausgegeben. Die Grenze ist nicht genau festzulegen, das ist Ermessenssache der Behörden. Also in jedem Land der Erde können die Bullen theoretisch feststellen, daß jemand deines Namens in Deutschland gesucht wird, wenn sie deine Personalien in ihren Computer geben oder in ihr Fahndungsbüchlein schauen. Wenn du nun mit deinem regulären Ausweis unterwegs bist und in eine Kontrolle gerätst, wird es von Land zu Land recht unterschiedlich sein, wie sich die Bullen und Gerichte verhalten. In der Regel (aber nicht zwangsläufig) werden sie dich in Haft nehmen. Dann werden sie nachfragen, ob "dein" Land ein Auslieferungsgesuch stellt, und darüber entscheiden. Das ist ein bürokratischer Weg, der auf jeden Fall mehrere Wochen dauert. Falls sie dich bei der Kontrolle nicht festgesetzt, sondern nur deinen Aufenthaltsort festgestellt haben, hast du jetzt natürlich Zeit, deine Reise fortzusetzen. Ansonsten sieht es wahrscheinlich schlecht aus. Je freundschaftlicher der betreffende Staat mit der BRD verkehrt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß ausgeliefert wird. Die Schweiz liefert z.B. immer aus, es sei denn, es handelt sich um Steuervergehen. Die Länder des "Schengener Abkommens" (EG) liefern grundsätzlich immer aus. Manche Staaten sind etwas zurückhaltender, wenn es sich in ihren Augen um politische Delikte handelt. Als "politisch" gilt dann aber nur, wenn du deine Meinung gesagt (oder geschrieben) hast, und dafür mit hoher Strafe belegt werden sollst. Also sobald der Tatvorwurf irgendwas mit Gewalt zu tun hat, ist sowieso Essig. In vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks und des Trikonts wird es möglich sein, durch Zahlungen an die zuständigen Behörden den Schutz vor Auslieferung zu erkaufen. Der beste Schutz vor Auslieferung ist aber die Heirat mit einem/einer Einheimischen, in manchen Staaten auch ein gemeinsames Kind. Und natürlich liefern Staaten nie eigene Bürgerlnnen an andere Länder aus. Also würde Belgien keine Belgierin an die BRD ausliefern, wenn die hier was ausgefressen hätte. (Ausnahmen sind natürlich auch hier mö glich.) Was aber passieren kann ist, daß z.B. die belgische Justiz nach Unterlagen aus der BRD selbst ein Verfahren eröffnet. Last but not Least! Wir haben jetzt so ziemlich alle Aspekte des Abtauchens, die uns verallgemeinerbar erscheinen, beschrieben. Natürlich bleiben trotzdem noch viele Fragen offen, die erst aufgrund deiner speziellen Situation beantwortet werden können. Eine wäre, wie du dich in der Illegalität weiter politisch betätigen kannst? Da kommt" s dann drauf an, was du für ein Mensch bist, was du dir alles an politischer Arbeit vorstellen kannst, welche Möglichkeiten das Gastland bietet, auf welche Strukturen du selbst zurückgreifen kannst, also ob es Leute gibt mit denen du was weitermachen kannst,... Aber auch bei dieser Frage finden wir es sinnvoll schon mal im Trockenen zu überlegen, bevor es ans Abtauchen geht! Das war" s dazu. Wir grüßen alle, die in den Kellern sitzen! Und natürlich auch alle, die nie die Chance dazu hatten und deshalb Im Knast schmoren! Für eine Gesellschaft ohne Knäste!!!


<strong>Fragen an einen Illegalen</strong>

aus radikal Nr. 150, 7/94


Ein Gespräch mit einem der im Berliner „Fall Kaind“ gesuchten, flüchtigen AntifaschistInnen


Im Fall Kaindl' wurden/werden insgesamt 11 Frauen und Männer mit Haftbefehl gesucht.
Diese Haftbefehle kommen nicht wegen Ermittlungen der Bullen zustande, sondern weil Erkan Sönmez sich in dieser Sache den Bullen gestellt hat und außerdem belastende Aussagen bezüglich weiterer Personen gemacht hat. Einen Tag nach seiner Festnahme machte er mit den Bullen eine Stadtrundfahrt und zeigte ihnen die Wohnungen, in denen seiner Meinung nach, die von ihm verratenen Frauen und Männer wohnen. Kurze Zeit später wird Erkan in die psychiatrische Abteilung des Knasts. und im Februar dann in eine Nervenklinik verlegt. Er war schon vor sei- ner Verhaftung in psychiatrischer Behandlung gewesen. Aufgrund seiner Aussagen und Hinweise kommt es zur Festnahme von Mehmet Ramme und Fatma Balamir. Eine dritter Gesuchter, Abidin Eraslan, stellt sich nach drei Tagen. Zwei Wochen später, läßt sich Bahrettin Yoldas von den Bullen zu Hause abholen. Er wußte zu diesem Zeitpunkt, daß die Bullen sich für ihn interessieren, hielt sich aber trotzdem in der elterlichen Wohnung auf.
Bahrettin machte daraufhin ohne große Umstände Aussagen zu allem möglichen (gab den Bullen z.B. Tips wo sie die Gesuchten finden könnten) und belastet andere schwer. Allem Anschein nach, erwartet er für sich eine mildere Strafe, wenn er gut mit den Bullen zusammenarbeitet. Mit der Politscene will er nichts zu tun haben.
Was die Bullen in 1 1/2 Jahren nicht geschafft haben, nämlich irgendwen für die Antifaaktion im Chinarestaurant verantwortlich zu machen, hat sich durch Erkans und Bahrettins Aussagen grundsätzlich geändert. Verrat und Denunziation sind die Gründe, warum 11 Männer und Frauen des "gemeinschaftlichen Mordes an Gerhard Kaindl" und des "sechsfachen versuchten Mordes” angeklagt werden können. Das ist eine bittere Geschichte! Zum Glück konnten sich die sechs weiteren Personen, nach denen die Bullen fahnden, ihrer Festnahme entziehen. Mittlerweile läuft die Fahndung per Fotos in diversen Zeitungen und Fernsehsendern. Wir wünschen allen Gesuchten, daß sie durchhalten und daß sich sämtliche Bullen und DenunziantInnen an ihnen die Zähne ausbeißen! Wenn euch dieser Text irgendwo erreicht, dann seid herzlichst und solidarisch gegrüßt!!!!

Im folgenden soll es darum gehen die Situation der Gesuchten zu thematisieren.
In Redebeiträgen auf Demos und Kundgebungen und in diversen Publikationen ist immer wieder gesagt worden, daß Leute abgehauen sind und Unterstützung brauchen. Das fanden wir sehr gut. So wurde vielen Leuten diese Information weitergegeben und darüber vermittelt sich ja auch, daß es nix unmögliches ist, sich dem Zugriff der Bullen auf Dauer zu entziehen.
Auf der anderen Seite tauchten auf Unterstützungsveranstaltungen und in Gesprächen oft Schreckensvisionen vom dunklen Loch, in dem jemand zurückgezogen lebt oder anderen Mysterien vom Leben in der Illegalität auf. Diese Vorstellungen sind natürlich in einer Diskussion schwer zu beseitigen, zumal die allermeisten keine eigenen Erfahrungen mit dem Abtauchen haben und nur rumspekulieren können.
Da uns zu diesem Thema auch keinerlei Veröffentlichungen von Betroffenen bekannt sind, haben wir uns entschlossen ein Interview mit einem der Leute zu machen, die auf der Flucht sind.


* Erzähl uns mal, wie's dir ergangen ist, seit du mitgekriegt hast, daß die Bullen dich suchen und du dich abgeseilt hast.Wie lebst du jetzt? Bist du in Abwarteposition, fremd und einsam, oder hast du die Möglichkeiten, dir ein deinen Vorstellungen entsprechendes Leben aufzubauen?


< Tja , das ist schwierig, dazu so aus dem Stehgreif was zusagen. Die Vorstellung ist ja bei fast allen, das Abtauchen sei eine große Lawine, die dich fortreißt, irgendwohin ins Nichts. Ich glaube, wer versucht, sich das real vorzustellen, wird schnell feststellen, daß du dir das gar nicht vorstellen kannst. Du bleibst stecken bei der Überlegung, daß das Leben aufhört, aber du trotzdem auch noch lebst. Die meisten hören dann auf, weil sie denken, daß das wohl zu schrecklich sei. Aus Berlin habe ich mitbekommen, daß unsere Situation als permanente Anspannung gesehen wird, so als wären wir ständig auf der Hut, hätten kaum persönliche Kontakte und wären halt einfach beschissen dran. Nun, so ist es nicht, zumindest nicht bei mir, von den anderen weiß ich ja leider nichts. Natürlich gab's Zeiten, da ging's mir nicht gut. Das war in Berlin aber auch so. Der Unterschied zu damals besteht nicht darin, ob's mir nun gut oder schlecht geht. Dadurch, daß die Situation gerade am Anfang extrem intensiv war, waren natürlich auch die Gefühle intensiver. Wobei sich das mittlerweile auch einzupendeln beginnt.


Am Anfang, klar, da war ich erstmal traurig. Ich fühlte mich wie ein Toter, der noch nicht gestorben war. In der ersten Woche empfand ich eine völlige Schizophrenie. Ich atmete, fühlte, konnte schauen und nachdenken, aber trotzdem gab es mich nicht mehr. All das, was ich bis zum 15. November machte, was mein Leben ausmachte, war auf einmal weg. Doch mit jedem Atemzug, mit jedem Pulsschlag kam das Leben zurück, ein anderes zwar, aber nichtsdestotrotz ein Leben, und dazu eins, das mir gefiel. Nach einer Woche dann spürte ich eine völlige Erleichterung. Auf einmal war ich wer anders als all diese Durschnittsdeutschen. Mir konnte niemand mehr vorwerfen, ich würde zuschauen, ich brauchte mich nicht mehr zu rechtfertigen, daß ich zwar Deutscher bin, aber daß ich anders bin.


* Hä? Wieso bist du jetzt wer anders als vorher?


< Ich las damals "Der Sturm” von Ilja Ehrenburg, ich las von einer Deutschen, die während dem Bürgerkrieg in Spanien war. Schon immer war mir die Immigration von 1933 bis 1945 vertraut, jetzt auf einmal fühlte ich mich diesen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Deutschland verlassen mußten, zugehörig. Auf einmal hatte ich eine Familie, die tausende, zehntausende zählt, und ich war mit das erste Kind einer neuen Generation dieser Familie. Und das war die Erleichterung. Ich fühlte mich frei, sehr frei damals, und war völlig euphorisch. Mir ging es so gut, daß ich sogar zu tanzen anfing und hinterher einen Muskelkater im Bauch hatte, als hätte ich ein ganzes Haus alleine gebaut. Die Menschen damals, mit denen ich zu tun hatte, waren voll nett. Sie waren ziemlich interessiert und offen zu mir. Da waren zwei, die eigentlich nicht hätten wissen dürfen, was mit mir war, es aber trotzdem wußten, die waren total herzlich zu mir. Oft erinnere ich mich des letzten Abends mit ihnen, auch jetzt noch.


* Du bist dann aus Berlin weggegangen?


< Ja, noch weiter. Irgendwann kam ich dann in mein Exilland. Dazu mußte ich mehrere Schritte machen und zuerst einmal Deutschland verlassen. Merkwürdigerweise war ich an den Grenzen kein bißchen aufgeregt, nur als ich aus Deutschland rausfuhr, da fing ich an zu weinen. Um dieses Land, das mußt du dir mal vorstellen. Unvorstellbar! Aber ich sehe noch heute den Fluß, den wir überquerten, und die letzte Ortschaft, wie sie langsam hinter mir am Horizont verschwindet. In meinem Exilland kam ich an, angefüllt mit all der Euphorie und einer Kraft, daß ich dachte, ich könnte Berge versetzen. Mir gings einfach gut, ich war zufrieden mit mir und mit meinem Leben. Eine Freundin meinte, ich soll aufpassen, ich könnte blind werden in dieser Euphorie, und dann abstürzen. Doch das konnte ich damals gar nicht annehmen, ich verstand es einfach nicht.


* Und, kam dann sowas wie ein Absturz?


< Ja, und wie! Als ich mit meinen Vorstellungen für die Soliarbeit zu unserem Fall auf Grenzen stieß und vor allem das, was ich selber hätte dafür tun können, in unerreichbare Ferne rückte, begann ich abzustürzen. Es ging mir ne Weile ziemlich beschissen und ich versuchte mich an Leute zu klammern. Doch dann gab's auch wieder eine positive Entwicklung: Mit dem ganzen Abstand von Deutschland, von Berlin, konnte ich sehr viel von mir erkennen. Ich tauchte förmlich in die Tiefen meines Selbst ab und holte vieles hoch. Selbst längst verdrängte Bilder aus meiner Kindheit stiegen in mir auf. Zeitweilig war es so, als ob das Exil eine riesige Psychocouch wäre. Für mich persönlich bin ich da ziemlich weit gekommen, und ich finde, die Anstrengungen haben sich gelohnt.


* Hast du das alles mit dir selbst ausgetragen?


< Sicherlich brauchst du dazu auch Menschen, die von dir wissen. Aber die suchst du dir immer automatisch, und du hast immer wen, mit dem du reden kannst. Das gleiche gilt für die Reflexionen mit deiner politischen Geschichte und deiner Vergangenheit, die unweigerlich mit dem Abstand kommen. Du kannst darüber mit ein paar Menschen überall auf der Welt reden, auch wenn sie nicht immer nachvollziehen können, was in Deutschland läuft. Da mußt du halt viel erklären, und daraus ergeben sich dann wieder Diskussionen mit den Linken aus dem Exilland, die dich und sie weiterbringen.


Ihr habt am Anfang gefragt, ob ich mir ein Leben nach meinen Vorstellungen aufbauen kann. Das ist das wichtigste, sich das eigene Leben aufzubauen, das eigene Umfeld zu schaffen. Das dauert natürlich seine Zeit. Mittlerweile kommen auch Menschen auf mich zu. Es ist ähnlich wie bei uns. Sie sind an wem neues interessiert, aber bis du richtig dazugehörst, vergeht schon eine Zeit. Allein schon um ein Gespräch zu verstehen, mußt du den Hintergrund verstehen, um den es geht, und das dauert natürlich eine Zeit. Ich glaub, das dauert sogar länger, als die Sprache zu verstehen. Wobei bei der Sprache noch dazu kommt, daß du nie ganz eine eine fremde Sprache sprechen lernen kannst. Ich merke das jetzt auch wieder, obwohl ich die Sprache schon ganz gut konnte. Das sind aber Probleme, die zu bewältigen sind. Ich frage zum Beispiel oft nach, und führe Gespräche mit, auch wenn ich nicht alles verstehe. Notfalls werde ich dann halt verbessert oder aufgeklärt.


* Das was du erzählst hört sich so an, als hättest du gute menschliche Kontakte aufbauen können, die dir auch eine gewisse Sicherheit geben. Wie sieht das denn aus mit deinen politischen Vorstellungen, kannst du auch als politischer Mensch weiterleben?


< Im Exil zu leben, heißt nicht, völlig passiv zu werden. Du kannst dich, je nach dem Land, in dem du bist, in die Linke einklinken. Das ist aber von Land zu Land unterschiedlich, je nachdem wie stark die Linke dort entwickelt ist, hast du die dementsprechenden Möglichkeiten. Sicherlich gibt es Grenzen, daß du dich z.B. nicht überall öffentlich so präsentieren kannst, wie du's zuhause gewohnt warst. Aber das heißt nicht, daß du aufhören mußt, ein politischer Mensch zu sein. Du kannst dich überall dort einbringen, wo du dich nicht direkt öffentlich sichtbar machst. Und das ist sowieso der größte Teil der politischen Arbeit, auch in Berlin. Vor allem aber kannst du dich zu den Dingen in Deutschland äußern. Das hat mir jedenfalls sehr viel Kraft gegeben und Zuversicht, daß ich mein Wort erhoben habe. Du machst trotzdem weiter und läßt dich nicht unterkriegen. Und das gibt dir Selbstvertauen, ganz viel sogar. Auch wenn die Verhafteten und die anderen Untergetauchten was veröffentlichen, freu ich mich immer tierisch.


Das Leben bietet jedenfalls auch im Exil viele Möglichkeiten. Viele Sachen lerne ich gerade. Ich lese und schreibe viel. Und je mehr ich ein normales Leben führe, mit Menschen die mich mögen, eine Arbeit und Dinge mache, die mich interessieren, desto mehr nimmt das Gefühl ab, verloren zu sein.


Mittlerweile fühle ich mich hier sehr wohl, ich höre sogar schon auf meinen neuen Namen.


* Du sagst, du fühlst dich wohl, heißt das, daß du dich auch sicher fühlst? Oder hast du ständig Angst aufzufallen, kontrolliert und erkannt zu werden?


< Zum gößten Teil fühl ich mich ziemlich sicher. Angst und Bullenparanoia hatte ich jedenfalls kaum, vielleicht drei, vier Tage lang. Ich mach mir sogar oft den Spaß, einen Bullen nach einer Straße zu fragen, auch wenn ich sie weiß. Ich denke, wichtig ist, zu sehen, daß z.B. der Bulle dir gegenüber dir nicht ansehen kann, wer du eigentlich bist. Dieses Wissen hast du, haben einige wenige andere, er aber nicht. Auch die Bullen zuhause wissen nicht, in welcher Gegend du bist. Sicher arbeiten sie daran, das herauszufinden, aber einfach ist es für sie auf keinen Fall. Wenn die Angst dich packt, mußt du versuchen, dir das immer wieder selbst zu sagen. Geh dann auf jeden Fall zu den wenigen, die von dir wissen, laß dich von ihnen in den Arm nehmen und berede dann mit ihnen, wie ihr das jetzt herausbekommen könnt, was Sache ist. Es ist immer möglich abzuchecken, was die Person macht, die du gerade für nen Bullen hältst. Wenn dann zehnmal herauskam, daß die Person an der Ecke gegenüber deiner Wohnung kein Bulle ist, sondern nur an der Bushaltestelle stand, um Freund oder Freundin abzuholen, dann wirst du dich automatisch beruhigen. Wichtig ist, daß du dich auf keinen Fall mit deiner Paranoia abbunkerst, sondern mit anderen zusammen die Initiative ergreifst. Daß du dich nicht in dein Schicksal ergibst wie ein Lamm, sondern selbst aktiv wirst. Diese Erfahrung gibt dir viel Kraft und Selbstvertrauen.


Angst hatte ich in letzter Zeit eigentlich nur einmal, als ich hörte, daß in Deutschland eine Synagoge brannte. Da hatte ich Angst vor diesem Land.


* Hattest du dich mit dem Thema des Abtauchens schon beschäftigt, bevor diese Sache jetzt auf dich zukam? Also hattest du eine ungefähre Vorstellung, wie du so was machen würdest, wenn es dich mal betrifft?


< Vorhin meinte ich ja schon, daß mich die Immigration von 33 bis 45 schon immer beschäftigt hat. Das heißt, ich wußte schon ziemlich früh, was in so einer Situation auf mich zukommen würde. Auch wenn heute einiges anders ist, gibt's doch auch viele Ähnlichkeiten. Wenn du dich z.B nicht anmelden kannst, hast du natürlich Probleme, einen Job und eine Wohnung zu finden. Da hat sich nichts geändert. Das Problem gibt's allein in Berlin für viele tausend Flüchtlinge, die auch auf Menschen angewiesen sind, die ihnen ihren Namen zur Verfügung stellen. Konkrete Vorbereitungen hab ich jedoch nicht gemacht. Allerdings wußte ich immer, wo ich zumindest die erste Zeit hinkönnte. Ich denk das wichtige ist auch, daß du am Anfang erstmal Ruhe findest, um die ganze Situation überblicken zu können, und dann zu entscheiden, was du willst.


* War es für dich ein schweres Abwägen, ob es schlimmer ist, die gewohnte Umgebung zu verlassen oder in den Knast zu gehen? Oder steht es fest, daß du auf keinen Fall freiwillig in den Knast gehst? Einer der Gesuchten hat sich ja gleich zu Anfang der Durchsuchungs- und Verhaftungswelle bei den Bullen gestellt. Hast du dir sowas auch überlegt?


< Für mich war von vorneherein klar, daß ich nicht auf längere oder unbestimmte Zeit in den Knast gehe. Ich denke das ist auch eine normale menschliche Regung. In diesem Fall kommt jedoch noch etwas anderes hinzu. Aufgrund der Zusammenarbeit des polizeilichen Staatsschutzes mit den Faschisten gehe ich davon aus, daß unsere Namen - also auch von uns, die jetzt zuletzt erst ermittelt wurden - weitergegeben wurden. Und das heißt, daß wir auf den Todeslisten von der Anti- Antifa stehen, wie z.B. die Angeklagten von Arolsen.


* Stehen die in der Broschüre "Einblick" der Anti- Antifa, oder woher kommt die Information?


< Ne, die Broschüre kam schon vor dem Fall raus, ich hab die Information aus einem Flugblatt.


Was ich sagen wollte, die Anti- Antifa hat schon vor etwa zwei Jahren verlauten lassen, daß sie ihren Terror auch im Knast ausüben wollen. Auch wenn es im Moment nicht so wahrscheinlich ist, kann ich mir vorstellen, daß zum Beispiel irgend ein dummes Wärterschwein im Dienste der Anti- Antifa mir dermaßen zusetzen würde, so daß ich im Knast letztendlich verrecken würde. Es würd dann wohl wieder heißen – Selbstmord.


* Hältst du das für eine reelle Bedrohung momentan? Es sieht ja ziemlich unterschiedlich aus in den verschiedenen Knästen. Es gibt auch viele, wo Ausländer in der Mehrzahl sind und sich gegen die Faschos organisieren können. Wir halten die Faschos momentan nicht für so stark, daß sie ihre Drohungen umsetzen könnten.


< So was wird nur passieren, in einer zugespitzten politischen Situation, die ich jetzt nicht für gegeben halte. Ich kann aber nicht beurteilen, wie es in drei Jahren in Deutschland aussieht. Und 77 hatten wir schon mal so eine Situation. Den Weg von Abidin würd ich auf keinen Fall gehen. Ich denk, daß er da reichlich unüberlegt war. Daß er sich stellte, kann ich zwar nachvollziehen, weil ich weiß, wie er bisher gelebt hat, daß er schon zwei Mal emmigriert war. Wahrscheinlich war er einfach zu müde. Trotzdem hätte ich aber an seiner Stelle erstmal abgewartet, was Sache ist, und dann nochmal überlegt.


* Du sagst, du bist ziemlich schnell aus der BRD weggegangen. Warum hast du dich für's Ausland entschieden?


< In der BRD wäre die Möglichkeit, von irgendwem erkannt zu werden, weit höher, und da der Tratsch immer noch weit verbreitet ist, sind selbst die Linken für mich eine Gefahr. Die Gefahr ist bestimmt weit höher, da ich aus Berlin bin, und dort sowieso alle möglichen rumspringen, weshalb die Kontakte von Berlin in fast jede Gegend der BRD sehr ausgeprägt sind. Die Alternative in Deutschland hieße für mich irgendwo auf ner isolierte Hallig (für die MetropolenchauvinistInnen: Hallig ist ne kleine Insel in der Nordsee, d. s'in) zu leben, was aber bedeutet,nur sehr eingegrenzte soziale und politische Bezüge zu haben. Prinzipiell gilt, daß, je weiter weg ich bin von Berlin, umso freier kann ich ich mich bewegen.


* Wie sieht es jetzt aus mit deiner Unterstützung? Sowohl politisch mit der Soliarbeit als auch praktisch, was materielle Hilfe betrifft? Hast du Ideen, wie so ne Soliarbeit aussehen sollte, siehst du Möglichkeiten, dich auch selbst einzubringen?


< Am Anfang hatte ich irre viele Vorstellungen und Pläne, wie die Soliarbeit aussehen könnte. Der Schwerpunkt war dabei die Öffentlichkeitsarbeit, die auch bürgerliche Medien mit einschließen sollte. Diese Arbeit sollte zweigleisig laufen, zum einen in Deutschland mit Interviews bei den noch relativ linken Medien, zum anderen im Ausland. Gerade das Ausland schien mir in dem Fall günstig, denn es existiert schon eine Verunsicherung über den Rechtsruck in der BRD. Ich fand auch, daß versucht werden sollte über bestimmte ausländische Parteien in den Gremien der Europäischen Union öffentlichen Druck zu erzeugen, und wenn das nur so weit ginge, daß im Europaparlament Anfragen bezüglich des Prozesses und der Vorgehensweise von Bullen und Justiz gemacht würden.


Ich sah da für mich auch die Möglichkeit, was beitragen zu können, da ich ja zum einen viele Sprachen kann, zum anderen aber ich die Linke in den betreffenden Ländern ganz gut kenne. Für mich hätte das bedeutet, nicht passiv abzuwarten, sondern was mitgestalten zu können, aktiv zu sein.

Es kam dann aber ganz anders. In Deutschland waren einige Medien schon bereit für Interviews. Das scheiterte dann aber aus Sicherheitsgründen. Der Aufwand, so ein Interview sicher für mich zu gewährleisten, wäre viel zu groß gewesen. Das größte Problem aber war, daß viele mich wie eine heiße Kartoffel anfaßten, nämlich gar nicht! Für die war ich einfach der Illegale, zudem mit einem Mordvorwurf, da verschwand dann schnell die journalistische Ehre der Unabhängigkeit bzw. die solidarische Konsequenz verschiedener politischer Strömungen, die eigentlich hätte da sein müssen. Denen war das einfach zu heiß.

Ich halte aber trotzdem auch jetzt noch diesen Weg für wichtig, denn ohne die breite Thematisierung in der Öffentlichkeit, wird der Staat einfach das machen, was er will, uns aburteilen und uns den Stempel von Mördern aufdrücken, als würden wir wie die Faschisten irgendwo hingehen und Häuser anzünden, wie in Mölln und Solingen.


* Was hältst du von der politischen Soliarbeit, die momentan von den UnterstützerInnen in Berlin gemacht wird?


< Wenn ich die momentane Schwäche der Linken berücksichtige, finde ich schon, daß eigentlich ziemlich viel läuft. Es gibt eine Zeitung, ein Plenum, diverse Plakate und einige Demos. Innerhalb der radikalen Linken ist auch schon viel informiert worden und auch im Ausland wissen einige Bescheid. Ich denke das Wesentliche ist erst mal, sich klar zu machen, welche Funktion die Soliarbeit haben muß. Zum einen bietet sie die Möglichkeit, ein breites Spektrum zu erreichen und dieses auch längerfristig einzubinden. Das heißt, dieser Aspekt dient vor allem der radikalen Linken. Für uns elf Betroffene aber hat die Soliarbeit auch eine Funktion und keine geringe. Die Soliarbeit ist für uns der Hebel, irgendwann wieder auftauchen zu können und aus dem Knast zu kommen. Dies geht aber nur in Verbindung mit den beiden Funktionen. Erst wenn es der Solibewegung gelingt, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und eine breite, starke Bewegung draußen existiert, wird der Staat zurückschalten.

Ich sehe allerdings, daß im Moment nicht alles dafür getan wird, um diese Stärke zu erlangen.


* Was meinst du denn konkret? Was sollte anders gemacht werden?


< In den "Herzschlägen” wird überwiegend über die Faschisten informiert, so daß diese Zeitung sich letztendlich in die vielen einreiht, die es dazu schon gibt. Ich denke aber, es wäre wichtig, daß diese Zeitung vor allem das Medium ist, das den Staat angreift, indem es die Repression gegen uns aufzeigt und erklärt, warum er es tut. Hier teile ich die Position von der Roten Hilfe Berlin (Interim Nr.283).

Ich finde, die Zeitung macht nur dann Sinn und mobilisiert, wenn klare Positionen bezogen werden. Das heißt dann aber auch, daß die Zeitung aufzeigen muß, daß wir, die radikale Linke, die einzigen sind, die den Faschisten wirklich entgegentreten und der gesamten Faschisierung der Gesellschaft. Deswegen werden wir ja auch verfolgt, benutzt der Staat in unserem Fall sogar Jugendliche und baut sie zu Kronzeugen auf. Anders als zum Beispiel im Prozeß gegen die Faschisten in Solingen, wo das BKA sagt, daß die Aussagen der Nazis, die sich gegenseitig belasten, nicht relevant sind. Deswegen schreckt der Staat auch nicht mal davor zurück, einen psychisch.kranken Menschen (Erkan Sönmez) zu mißhandeln und in den Selbstmord zu treiben.


Doch in den "Herzschlägen" steht dazu herzlich wenig, im Gegenteil wird da oft eine ziemlich weiche Haltung verbraten, von einigen aus dem Unterstützungskreis, die schon lange etabliert sind und die Redaktion in die Hand genommen haben. Die wollen auch niemand anderes dabeihaben.


Auch die weiche Haltung zu Bahrettin gefällt mir nicht, wenn da steht: "Wir haben jetzt erfahren, daß er keine Unterstützung wünscht."


* Kurzer Einschub: Bahrettin ist der zuletzt Festgenommene, der immer noch Aussagen macht und den Bullen Tips gegeben hat, wo sie euch Abgetauchte suchen könnten...




< Ja, genau der! Wieso soll der sich nach seinen ganzen Denunziationen auch noch was wünschen dürfen! Da sollte schon vom Unterstützungskreis eine Ablehnung kommen und nicht erst von ihm.

Ich wollte auch schon am Anfang bekanntgeben, daß Erkan psy-chisch krank ist und er derjenige war, der alles ins Rollen brachte. Das wäre auch damals gut in der Presse angekommen. Aber das wurde unter anderem von diesem Teil des Unterstützungskreises verhindert und später dann, als es niemanden mehr interessierte, von ihnen selbst erzählt.

So hegen sie jetzt auch eine absolut naive Hoffnung in die deut-sche Justiz. Als wenn diese Justiz schon jemals fair zu uns war.

Da fehlt denen mittlerweile das, was wir Kommies früher "Klassenbewußtsein" nannten.


* Was meinst du konkret, kannst du das genauer erklären?


< Nee, das geht jetzt nicht. Ich denke jedenfalls, daß der einzig gehbare Weg der ist, durch die Soliarbeit eine starke Bewegung aufzubauen und eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Dies geht aber nur, wenn vermittelt wird, daß dieser deutsche Staat nicht nur nichts gegen Faschisten unternimmt, sondern sogar die faschistische Gefahr mit anschiebt, gleichzeitig aber auf uns, die Linke, drischt. Ich finde, es kann schon versucht werden, auf bestimmte Promis zuzugehen, auch wenn die früher einmal Scheiße erzählt haben. Wenn die die faschistische Gefahr sehen, dann ist eben der gemeinsame politische Nenner das Aufzeigen dieser Gefahr, verbunden mit einer Kritik an diesem Staat. Ich sehe jedenfalls kein Problem, wenn ein Giordano öffentlich diesem Staat vorwirft, nichts gegen die Faschisten zu machen, jedoch gegen uns vorgeht. Oder wenn dies Bubis macht.

Es wird uns bestimmt auch nicht schaden, wenn versucht wird, internationale BeobachterInnen zum Prozeß zu bekommen, zum Beispiel vom Simon-Wiesenthal-Zentrum. Wobei die Zweigstelle in Los Angeles mir radikaler erscheint, dafür aber auch religiöser ist. Es sollte versucht werden, ob dieser Nenner gefunden werden kann, allerdings ohne dabei extrem von der eigenen Position abrücken zu müssen, wie das halt der eine Teil des Unterstützungskreises tut. Wenn das klappt, haben wir automatisch eine größere Öffentlichkeit. Daß z.B. die PDS-Abgeordnete im Bundestag Ulla Jelpke auf der Pressekonferenz zur Antifademo am 21.5. in Berlin auftritt, ist ein Schritt in diese Richtung.


* Und praktisch, wie sieht's da aus? Wirst du gut versorgt?


< Ja sicher, beklagen kann ich mich nicht. Was meine existentielle Situation betrifft, denke ich, bin ich ziemlich gut abgesichert. Sicher gibt's da an einigen Punkten Schwierigkeiten, die ich verständlicherweise hier nicht näher ausführen kann. Aber ich denke, daß das Schwierigkeiten sind, die alle lösbar sind und nicht solche großen Probleme.


Wie ich vorhin schon meinte, gibt es überall Leute, die dir in so einer Situation auf die eine oder andere Art helfen. Alleine bist du jedenfalls nie.


* Du hast ja schon erzählt, daß z.B. einigen ReporterInnen das zu heiß war, was mit dir zu machen. Wie haben die Leute, die von deiner Geschichte wissen, auf den Grund deiner Verfolgung reagiert, also den konkreten Tatvorwurf?



< Unterschiedlich. Ein Teil ließ mich halt fallen, andere wiederum waren total herzlich und sind total hilfsbereit. Einige von denen sind jetzt noch nicht mal die straight Politischen, sondern verhalten sich so, weil ihr Herz am richtigen Fleck schlägt. Bei den Politischen kommt da dann natürlich das Bewußtsein hinzu, weshalb sie bereit sind, auch für sich selbst ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen. Bei denen, die Abstand nahmen, denke ich, war der Grund schon der konkrete Tatvorwurf, wobei ich glaube, daß sie dabei mehr vor den Konsequenzen zurückgeschreckt sind, als vor dem eigentlichen Inhalt dieses Vorwurfs.


* Du meinst, Ablehnung kommt vor allem wegen der Konsequenzen für sie selbst?


< Ja, denn bis jetzt hat mir noch niemand ins Gesicht gesagt, daß sie jemanden nicht unterstützen können, der angeblich an so einer Aktion beteiligt war. Der Grund für die Ablehnung war immer die Gefahr, selbst unter die Repression zu fallen. Für Unterstützung von einem mit Haftbefehl gesuchten kann es von Geldstrafe bis zu 5 Jahren Haft geben. Ist aber letztendlich auch nicht mehr als z.B. schwerer Landfriedensbruch.


* Du hast ja vorhin schon ganz kurz was zu einem der Gefangenen gesagt, der euch bei den Bullen belastet hat. Gibt's da von dir aus noch mehr dazu zu sagen, daß zwei Leute Aussagen gemacht haben? Die Bullen hatten ja in der Sache seit 1 1/2 Jahren keine Ermittlungserfolge. Erst Erkan’'s Anruf bei den Bullen und seine Aussagen haben die Verhaftungen und Verfolgungen ausgelöst.


< Mittlerweile gibt es ja eine öffentliche Diskussion um das Verhalten der beiden, was bedeutet, daß nicht mehr völlig bedenkenlos alle Gefangenen und wir Gesuchten gleichgesetzt werden. Diese Gleichsetzung gab es solange, wie diese Debatte nicht geführt wurde. Der Streit geht darum, ob die beiden, die Aussagen gemacht haben, öffentlich als Verräter benannt werden sollen und von uns zumindest, keine Unterstützung mehr erhalten, oder ob wir wegen ihres jugendlichen Alters (18 und 21) und ihrer relativen Unerfahrenheit ein gewisses Verständnis für ihr Verhalten zeigen sollten und sie nicht völlig ausgrenzen. Auch in der Hoffnung, daß sie ihre Aussagen vielleicht noch zurückziehen oder relativieren. Dazu muß aber gesagt werden, daß zumindest Bahrettin so weit geht, sogar Kneipenwirte wegen Schwarzarbeit zu belasten, was noch nicht mal mehr was mit dem Fall zutun hat. Er liefert bewußt jeden ans Messer. (Alte Bauernweisheit: wer andere ans Messer liefert, läuft selbst hinein! d.S.)

Jetzt ist es natürlich immer noch so, daß ein Teil der Leute keine großen Unterschiede machen will, aber das ist auch nicht weiter tragisch, denn jetzt können sich alle Außenstehenden aufgrund dieses Meinungsstreits und der Informationen über den Umfang der Aussagen ihr eigenes Bild machen. Und darum geht es. Sicherlich, ich gehöre zu denen, die meinen, daß beide verraten haben, und halte deshalb die andere Position nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich. Nämlich in dem Fall, daß Aussagen toleriert werden, werden wir es nie schaffen, linke Strukturen aufzubauen, die den staatlichen Druck aushalten. Das endet dann letztendlich im Opportunismus: die Leute haben ne große Klappe, springen irgendwo rum, machen dann Aussagen, und irgendwann kommen sie zurück, und alles beginnt von vorne. Vertrauen wird so sicherlich nicht entstehen, aber genau das brauchen wir in unseren Strukturen.

Ich glaube aber, daß ein Teil dieser "Toleranten” nur deshalb Probleme mit dem Begriff "Verrat" hat, weil sie sich denken, daß das gleich extreme Konsequenzen nach sich zieht. Gerade bei dem Brief des kurdischen Genossen, der auf der 20.4.- Demo in Berlin verlesen wurde (abgedruckt in der Interim Nr.284), hatte ich diesen Eindruck. Wenn nämlich jemand aus der Linken aus der Türkei Verrat übt, wird dort ziemlich bald liquidiert. Dies liegt zum Teil an den ziemlich weitreichenden Erfahrungen, an der Stärke der Linken dort, so daß dort der bewaffnete Kampf weit mehr verankert ist. Und wenn dann dort wer andere verrät, wird die Person halt abgeknallt. Es gibt aber zu Deutschland nun mal Unterschiede, weshalb die Konsequenzen andere sein werden. In Deutschland hat die Linke nunmal sehr wenig Erfahrung mit dem bewaffneten Kampf, weshalb es bestimmt nicht darum geht, Bahrettin gleich zu liquidieren. Der Linken in Deutschland muß es aber trotzdem darum gehen, die Reihen von solchen Leuten frei zu halten, und deswegen ist es falsch, ihn jetzt auch noch zu unterstützen. Zu Erkan wäre noch zu sagen, daß er psychisch krank ist. Deswegen sollte schon eine Trennung vollzogen werden, ohne aber die materielle Unterstützung für ihn aufzugeben, z.B daß eine Anwältin für ihn gecheckt wird und über seine Situation informiert wird. Das Grüßen sollte aber aufhören, und wenn er mal wieder rauskommt, sollte er in der Linken nichts mehr verloren haben. (Anmerkung: es ist eh nicht so, daß Erkan materiell unterstützt wird. Er ist voll unter der Kontrolle seiner Familie, und die lehnen jede Zusammenarbeit mit dem Unterstützungskreis ab. Ebenso sieht's bei Bahrettin aus.)

Der Sinn dieser Unterscheidung liegt in den Zielen der Linken. Ganz allgemein gesagt, geht es um Humanität, darum, daß wir eine andere Gesellschaft wollen und nicht diese Barbarei. Deswegen sollten wir Erkan nicht fallen lassen, gleichzeitig aber klar sagen, daß es kein Vertrauen mehr zu ihm gibt.


* Die Anklage gegen euch lautet ja auf gemeinschaftlichen Mord an Gerhard Kaindl und sechsfachen Mordversuch an den anderen FaschistInnen in dem Lokal. Sollte diese abstruse Anklage tatsächlich im Prozeß durchkommen, bedeutet das für euch Untergetauchte, nie wieder legal in die BRD zurückkommem zu können, da Mord nicht verjährt. Da die Anklage aber absolut überzogen ist, sollte natürlich im Prozeß erreicht werden, daß sie zusammenbricht.

Überlegst du dir nach dem Prozeß gegen die fünf Gefangenen, wenn du einschätzen kannst, was auf dich zukommt, dich evt. den Bullen zu stellen, um wieder legal leben zu können?


< Ich bin hier auch öfters gefragt worden, ob ich wieder zurückge hen würde. Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich lehne es auch ab, daran zu denken, denn im Moment ist es einfach nicht relevant. Sicher, die Verlockung, wieder legal sein zu können, ist groß. Ob ich zurückgehen würde, hängt aber von so vielem ab. Einmal hieße das ja, sich zu stellen. Da hab ich schon Bauchschmerzen mit. Irgendwie denke ich, das ist wie kleinbei geben. Dann kommt dazu, wieviel Jahre Knast wären das? Das wichtigste aber ist, wie sähe dann Deutschland aus? Was für eine Situation wäre dann in diesem Land? Und gleichzeitig, wie sähe mein Leben hier im Exil aus? Es geht dabei um die Perspektive für mein politisches und soziales Leben, was ich abwägen muß. Hier, wie in Deutschland. Dazu kommt, daß das Zurückgehen immer schwieriger ist, als das Weggehen, wobei für mich das Weggehen auch nicht allzu schwierig war. Aber im Moment bin ich verpflichtet, hier mein Leben aufzubauen, und deswegen denke ich gar nicht daran, ob ich zurückgehen würde. Das Leben hier ist wichtiger im Moment, und die Gedanken der Rückkehr würden mich dabei nur behindern.

Ich denke aber natürlich oft an Berlin, oft steigen Bilder der Erinnerung in mir auf, von Begebenheiten, von Menschen. Oft sind es schöne Erinnerungen, manchmal sind es schlechte. Die, die mir nahe waren, die hab ich nicht vergessen. Die möchte ich auch herzlichst grüßen. Und ich denk, die werd ich auch wiedersehen!

<strong>Ein Jahr vor ... und zwei zurück</strong> <em>aus der Broschüre „Überlegungen zum «Kaindl-Fall»</em>

In der Zeit, in der ich weg war, habe ich mir oft genug gewünscht, mir die Gedanken über unsere Verfolgung nicht alleine machen zu müssen. Nun bin ich, sind fast alle wieder da oder auf freiem Fuß und?

Nichts.

Für jeden, und mittlerweile auch für mich, scheint die eigene Auseinandersetzung am produktivsten wir hatten alle davor nicht allzuviel, miteinander zu tun, also warum jetzt? Mag sein, daß das die Realität ist, aber im Grunde ist es eine unpolitische und verantwortungslose Haltung. Zumindest nach Außen entsteht dadurch die Stimmung, als wäre alles vorbei und alle hätten wieder ihre Ruhe.

Es werden wieder drei Leute aus der Szene gesucht, und ich kann mir leider nicht nur abstrakt ausmalen, womit sie sich konfrontiert sehen. Zum Beispiel, ihnen könnte es etwas bringen, wenn ein wenig mehr von uns kommen würde. Auf einer Demo vor kurzem gab es einen Redebeitrag für die drei, an dessen Ende ihnen Hoffnung gewünscht wurde. Ich wünsche ihnen alles, nur nicht, daß sie die gesamte Zeit ihres Wegseins von der Hoffnung leben. Dieser Text macht hoffentlich deutlich, daß Hoffnung zu haben sicher nichts verwerfliches ist, schon gar nicht in der ersten Zeit, aber auf Dauer wird sie zum Klotz am Bein. Deshalb:

Kraft und Liebe.

Daß Menschen aus unseren nächsten Umfeld weg müssen, ist mittlerweile keine unvorstellbare Situation mehr für uns, der Gedanke daran sollte uns weder in Höhenflüge versetzen, noch sollten wir beim bloßen Gedanken daran zusammenbrechen.

Dieser Text ist ein Versuch, das wenige an Exilerfahrung und der Zeit danach zu vermitteln.

Über vieles, was von Nutzen, interessant, amüsant ist und ein wenig von dem Abenteuer hat, das viele mit Flucht verbinden werden, will ich weder hier noch an sonst einem Ort sprechen. Die Gründe liegen auf der Hand. Also wird nicht all zuviel übrig bleiben und im Vordergrund wird die persönliche Verarbeitung einer solchen Situation stehen.

Befasst habe ich mich bisweilen schon mit dem Gedanken, die Sachen packen zu müssen (Sachen packen ist gut, viel Zeit dafür blieb mit nicht: mit einer Hose, einem Hemd, ein paar Socken, ‘nen Batzen Geld, mit dem ich nicht so recht was anzufangen wußte und mit mir machte ich mich auf den Weg), als es dann wirklich soweit war, stimmten meine Vorstellung von mir, wie ich in einem solchen Fall reagieren würde, mit so ziemlich nichts mehr überein. Nichts von “locker hinnehmen, problemlos damit umgehen können. denn für eine korrekte Sache, hinter der ich stehe, muß ich eben auch so etwas in Kauf nehmen”. Vom einen Tag auf den anderen konnte ich nicht mehr teilnehmen an einem Loben, das mir gefiel und in dem ich einen Sinn sah. In den ersten Wochen war ich mir nicht bewußt, was da mit mir geschieht, geschweige denn, daß eben auch ich gesucht werde. Es hat eine Weile gedauert, bis auch ich die Situation ernst wahrgenommen habe. lch fühlte mich enorm nutzlos und es wäre mir um einiges lieber gewesen, bei der Soliarbeit zu helfen, anstatt mir helfen lassen zu müssen. In nur kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, meine Selbstständigkeit vollkommen verloren zu haben; ich halte mir nicht ausgesucht zu gehen, und ich sträubte mich dagegen, daß da an anderer Stelle faktisch eine Entscheidung über mein Leben gefällt wurde.

Aber egal, wie man die Sache drehte und wendete, ich war ersteinmal geparkt. lch wußte in der ersten Zeit nichts mit mir anzufangen, mein Tagesablauf bestand aus dreizehn Stunden Schlaf, nach einem aufregenden Tag erfüllt von Duschen, Frühstück, Spaziergängen, Essen, Kaffee trinken, Rauchen, Fernsehen. Lebens mitteleinkauf wurde zu meinem Ereignis des Tages. Von meiner Situation wußten nur wenige, ich hatte also nicht immer, wenn ICH es wollte, jemanden zum Reden, einen groben Teil der Auseinander setzungen führte ich zwangsläufig mit mir.

Sich nichts anmerken lassen. In dieser Stimmung habe ich einige Seiten von mir kennengelernt, von denen ich nicht gerade sagen würde, daß sie es wert sind, entdeckt zu werden. lch hatte Lethar giephasen, konnte stundenlang auf einen Fleck starren, ohne mich zu bewegen. lch war eifersüchtig auf alle, die ihr zu Hause sein konntet, eure Arbeit machen wie immer, mit Freunden reden, und nicht alleine wart mit eurer Trauer und wenig stens etwas tun konntet, um die Hilflosigkeit nicht allzu stark zu spüren. Meine Interventionsmöglichkeiten waren stark eingeschränkt und im Nachhinein merke ich, daß ich die wenigen, die ich hatte, noch nicht einmal genutzt habe, aus den verschiedensten Gründen: zum einen, weil ich mit der Sache anfangs nicht bewußt genug umgegangen bin, d.h. ich wußte mich in die Situation nicht einzuordnen, zum anderen später erst erschien es mir eher zwecklos, mich zu Wort zu melden, denn in vielen Punkten war ich zu sehr außen vor, als daß ich es für hilfreich und sinnvoll gehalten hätte, mich zu äußern. lch glaube, daraus gelernt zu haben und weit., da ich noch mals in einer solchen Situation bewußter mit mir und den Sachen umgehen werde. Selbst auf stinknormale Leute, die die Straßen entlangpromenierten und eigentlich bullshit redeten, war ich eifersüchtig, und verwondert, daß man überhaupt über die alltäglichsten, unwichtigen und doch wichtigen Kleinigkeiten klönen konnte ich konnte es nicht mehr, meine Gedanken drehten sich größtenteils um mich, um die Leute im Knast und die auf der Flucht. Dieser Neid auf ein solch langweiliges Leben veränderte sich im Laufe der Zeit in Abscheu gegenüber Leuten, die meiner Ansicht nach ihr Leben im Nichtstun vertrödelten der Grund für diese Empfindungen, die ansich ungerecht sind, liegen glaube ich daran, daß ich daß. alles Entscheidende nicht tun konnte: Entscheidungen über mein Leben selber treffen zu können. In dieser Logik paßt demnach auch die Überlegung, mich zu stellen, die ich in dieser Zeit hatte. Den Zeitpunkt hätte immerhin ich bestimmt. Geistig lebte ich in Berlin und vermißte die unmöglichsten Dinge, ich hatte eine Wut im Bauch, mit der ich nicht wußte, wohin.

Die ersten Wochen hatte ich eigentlich nur den Wunsch, schnell zurückzukommen und so zu tun, als wäre nix passiert, einfach dort weiterzumachen, wo ich aufgehört hatte die Schallgrenze dessen, was ich an Verurteilung akzeptieren würde, war zu dieser Zeit eher hoch, ich hätte mich wohl mit allem abgefunden außer einem lebenslänglich. Ein Leben, wie es sich zu dieser Zeit für mich gestaltete, schien mir zwecklos. Ich lechzte nach jeder Nachricht, aber es bewegte sich eine lange Zeit absolut nichts. Dieses Gefühl in der Schwebe war das Unerträglichste an der ganzen Situation mit Fakten konnte ich mich auseinander setzen, aber nicht mit Ungewißheiten. Die Vorstellung, lebenslang in den Knast zu müssen, war mir unvorstellbar und in der Auseinandersetzung mit der Situation macht man sich die unglaublichsten Milchmädchenrechnungen, zählt Jahre, zieht ab, überlegt sich, was man eventuell noch akzeptieren würde, was nicht mehr. Die Vor und Nachteile des Bleibens oder Sich-stellens habe ich zu der Zeit zigmal abgewogen, ein Punkt, der mich das Sichstellen überhaupt in Erwägung hat ziehen lassen war, daß nach der konkreten Anzahl von Jahren die Sache zu mindest ausgestanden gewesen wäre, im Exil gibt es diese Gewißheit nicht.

Wie ich es geschafft habe, diesen toten Zustand zu überwinden und mich mit meiner Situation abzufinden, kann ich nicht genau nachvollziehen; neben der günstigen Lösung einiger Umstände (z.B. Leute kennenzulernen, Arbeit zu haben) denke ich, daß jede/r früher oder später an einen Punkt kommt, an dem man sich mit einer Lage abgibt oder aber eine andere Lösung sucht. Einen Arbeitsplatz zu haben, war in den ersten Wochen mehr Therapie als alles andere. Zum ersten Mal war es mir möglich, auch mal über einen längeren Zeitraum an etwas anderes zu denken, als an meine Situation.

so langsam, habe ich wieder gelernt, für mich die Verantwortung zu übernehmen und nach Dingen zu suchen, die mir Spaß machen und etwas bringen, anstatt ständig nach Gründen zu suchen, warum es für mich absolut unmöglich ist, etwas aufbauen zu können. Um ein anderes Leben anfangen zu können, war es für mich notwendig, ein Stück meines alten Lebens abzuschütteln. Eine lange Zeit über Hatte ich hintergründig ein schlechtes Gewissen,- wenn ich mich dabei ertappte, mal fröhlich zu sein, über Dinge zu lachen, die meine Freundlnnen und Familie nicht mit mir teilen konnten oder mich dabei ertappte, einen ganzen Tag nicht an Berlin gedacht zu haben; oft hatte ich das Gefühl, nur zu nehmen und den Menschen, die mir viel bedeuteten, nichts zurückzugeben.

So langsam wurde mir klar, daß ich mich nicht etwa ablöse, um nicht mehr daran zu denken, sondern vielmehr, um alles andere in Erinnerung haben zu können, nicht geplagt zu sein von Neid und Heimweh, sondern zu schätzen, was ich mit den Leuten hier geteilt habe, mein Leben jetzt aber mit anderen Menschen und einer anderen Realität zu teilen. Um der Unbestimmtheit der Dauer meiner Lage etwas entgegenzusetzen, begann ich, mir selber Zeitpläne zu machen. Ich denke, das war einer der entscheidenden Punkte, die mich das haben aushalten lassen und es mir im Endeffekt ermöglicht haben, eine Alternative zu meinem “alten Leben” aufbauen zu können.

Bis zum Prozessende - damals noch für April, Mai vorgesehen - nahm ich mir vor, die Gedanken an Berlin nicht mehr zu meinem Hauptthema zu machen und mich stattdessen auf das zu konzentrieren, was mich umgab. So wie es oft sinnvoll ist, sich Zwischenziele zu setzen, verhält es sich auch in diesem Fall, das gesamte Ausmaß eines Projektes im Kopf zu haben, lähmt viel mehr, als es einen vorwärtsbringt. Zu einem Teil war es so, daß ich dieses Thema versucht habe zu verdringen an viele unangenehme Situationen erinnere ich mich auch tatsächlich nicht mehr, ansonsten zerbricht man daran. Diese Zeit war auch sicher keine konstant gute Phase, obgleich sie die beste war, die ich hatte; es gibt immer Tage, an denen man schlechte Laune hat und so auch in dem Fall, plötzlich schießt einem eine Szene durch den Kopf und der Tag ist im großen und ganzen dahin. Mich in so einem Fall unter Kontrolle zu haben, war schwer.

Außerdem blieben nach wie vor die Überlegungen, was wohl im April sein wird - es war mir zwar mittlerweile möglich, mir mein Leben auch anders vorzustellen, doch hätte ich doch sicher einen Einbruch bekommen, wenn herausgekommen wäre, daß ich tatsächlich nicht zurückkommen könne, die anderen Iebenslänglich im Knast gesessen hätten. Mittlerweile hatte ich mich auch davon verabschiedet, Milchmädchenrechnungen aufzustellen, d.h.. auszurechnen, wieviele Jahre mit soundsoviel Vierteln Bewährung etc. gerade noch zu vertreten seien. Daß ich mir Monate davor solche Gedanken gemacht habe, liegt wohl daran, daß man zumindest subjektiv das Gefühl hat, es etwas greifbarer und damit überschaubarer für einen zu machen, indem man mit den Zahlen hantiert. lch hatte lediglich noch den Wunsch, entweder mehr oder weniger unversehrt wegzukommen, also maximal -mit einer Bewährungsstrafe, oder aber mit einer derart hohen Knaststrafe rechnen zu müssen, daß, ich gar nicht erst die Gelegenheit gehabt hätte, abzuwägen, ob es Sinn macht mich zu stellen.

Bei einer Knaststrafe von z.B. vier Jahre wäre es mir sicherlich nicht leicht gefallen, eine Entscheidung zu treffen. Hätte ich mich in dem Fall gestellt, hätte ich es in jedem miesen Moment im Knast garantiert bereut, andersherum hätte ich mir wahrscheinlich in schlechten Zeiten, die Tage, die ich schon abgegessen hätte, wenn... einzeln vorgerechnet.

Die plötzliche Nachricht, daß ich zurückkommen kann, traf mich darum auch dementsprechend unverhofft. Einer der ersten Gedanken nach der Freude war, daß ich doch nicht schon wieder alles stehen- und liegenlassen kann... lch wollte die Sachen, die ich begonnen hatte, zu Ende bringen. lch durchlief’ schon wieder eine Phase in der Schwebe, so wie es sich am Anfang meiner Exilzeit darstellte, nur versuchte ‘eh diesmal einigermaßen in Ruhe die Zelte abzubauen, aber unweigerlich baute ich sie in Gedanken in Berlin wieder auf. Natürlich war mir klar, daß ich wiederkommen würde - selbst wenn ich mich dazu entschieden hätte, wegbleiben zu wollen, wäre ich zumindest gekommen, um letzten Endes SELBST die Entscheidung zu treffen, wieder zu gehen; schließlich bin ich nicht freiwillig gegangen, und alleine, wenn es nur eine eher ‘formale’ Entscheidung gewesen wäre, begannen die Muffensausen, was mich da nach einem Jahr erwarten würde. Noch ein halbes Jahr davor hatte ich mir nichts lieber gewünscht, als daß dieser Fall einträte, aber in der Zwischenzeit hat sich eine Menge getan, und es war mir auf einmal nicht mehr so klar, wohin ich denn nun gehöre.

Und das ist es mir nach fünf Monaten zurück in Berlin nach wie vor nicht. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß es mir viel Wert ist, wieder bei meinen Genosslnnen, meiner Familie und Freundlnnen zu sein, aber ich habe nicht mehr die unerschüttliche ‘ überzeugung, am richtigen Ort zu sein. Hier hat sich viel getan, und bei mir eben auch. Das letzte Jahr über habe ich sehr zurückgezogen, umgeben von einem kleinen Kreis -mir mittlerweile unendlich wichtiger Menschen gelebt. lch hatte mich an diesen Lebensstil gewöhnt und hatte nicht oft das Gefühl, das mir etwas fehlt.

Die plötzliche Menge an Menschen, die ich kenne, grüße, und vermisst habe, hat mich die erste Zeit umgeworfen. Es fiel mir schwer, auf so viele Menschen einzugehen und es hat mich ziemlich ermüdet. Dazu kommen eine Menge Kleinigkeiten, die ein Leben mit ‘Vorsicht’ von dem alltäglichen hier unterscheiden, mit denen ich zu kämpfen hatte und habe: Ungefähr ein Jahr lang waren Telefone eher nicht existierende Einrichtungsgegenstände - die Male, die ich einen Hörer abgenommen habe, lassen sich an einer Hand abzählen. Dementsprechend ungewohnt bis unangenehm ist mir bis heute in einigen Situationen dieser Apparat, ebenso die Umgangsweise anderer damit. (Mehr oder weniger zufällig habe ich eine Konfrontationstherapie gemacht, indem ich auf der Arbeit Anrufe entgegennehme.) Zu sagen, wo ich wohne, wie ich heiße, in der Offentlichkeit eine linke Zeitschrift zu lesen, auf Demos zu gehen - es gibt viele Beispiele von Dingen, die normal sind, an die ich mich erst wieder gewöhnen muß, die vielen sicherlich komisch erscheinen - eine Art Paranoia bleibt eben hängen. Nun ja, solch unwichtige Dinge, wie das man in den Bus steigen kann, ohne der Fahrschein zu zeigen, wurden mir gesagt, als ich mir schon den einen oder anderen Fahrschein gekauft hatte... es sind eben Kleinigkeiten, an die man nicht ohne weiteres denkt.


(..)Der Artikel ist aus der Broschüre “Überlegungen zum Fall Kaindl”, herausgegeben vom “Mittwochskreis der Unterstützerlnnen der Kaindl-Angeklagten”, zu erhalten in gut sortierten Infoläden. Wir haben den letzten Teil aus Platzgründen gekürzt, er handelt von dem Wiedereinleben in Berlin.

<strong>O sole mio</strong> <em>aus der Broschüre „Überlegungen zum «Kaindl-Fall»</em>

Wir hatten einige von den menschen, die entweder im Knast gesessen haben oder sich ihm entziehen konnten gefragt ob sie ihre Erlebnisse in dieser Broschüre schildern wollen. Leider kam es nur zu diesem einen Text von jemanden, der nicht in der Redaktion mitarbeitet, untergetaucht war und einige Zeit nachdem sein Haftbefehl aufgehoben worden war wieder „aufgetauchte“.

Es ist seine persönliche Schilderung der Situation, in der er sich befand; die Art der Auseinandersetzung mit dem Exil kann sehr unterschiedlich sein, wie der Vorangegangene Text und dieser zeigen. Teile der Redaktion sehen einige Punkte des folgenden Textes anders, vor allem die weise, wie sich diese Person in der Rolle als Exilierter Mensch einordnet; eine Auseinandersetzung darüber sollte jedoch mit der Person direkt, anstatt an dieser Stelle erfolgen.


Ich sitze in einem Berliner Café und versuche, einen kurzen Erlebnisbericht über meine Erfahrungen im Exil zu verfassen. Es ist dasselbe Café, in dem ich an einem dunklen und kalten Novemberabend vor anderthalb Jahren saß, kurz nachdem ich erfahren hatte, daß nach mir gesucht wurde. Anders als damals kann ich heute über den Platz sehen und erblicke das saftige, frische Grün der Bäume. Die Sonne scheint und es weht ein angenehm milder Wind. Von diesem Café aus begann meine Reise ins Exil; hierher führt mich nach meiner Rückkehr der Weg, um dieser Episode einen vorläufigen Abschluß, ein Resumé zu geben. Anfang und Ende dieser Reise, Exil und Wiederkehr, finden hier ihren örtlichen Bezug. Dieses Café allein vermag in mir die Erinnerungen wachzurufen an die vielen Begebenheiten und Erlebnisse, die ich auf dieser Reise sammeln konnte. Doch Erinnerungen sind schelmische Wesen und narren allzugern ihre Besitzenden. Sie verstecken sich hinter allen denkbaren Möglichkeiten, doch nur, um bei einer richtigen Musik, an einem angemessenen Ort nicht lautstark, dafür aber umso überwältigender hervorzuspringen, ein Gefühl hinterlassend, das einer Konfusion gleichkommt. Erinnerungen geben nie eine Ordnung an, sondern springen wie Träume von einem Punkt zum nächsten:

Als ich aus der Arbeit kam, war es schon lange dunkel. In der Luft lag der Geruch des herannahenden Winters und damit die Zeit der häuslichen Einigelung. Für mich wurde diese Fahrt jedoch nicht zur Fahrt nach Hause, sondern zu einer Fahrt in eine Welt, in der ich nicht mehr existieren würde. Alles, was mein Leben bis zu diesem Abend bestimmt hatte, war wie eine Seifenblase zerplatzt. Weder zur Arbeit noch zur Uni konnte ich, die Cafés und die Kneipen, in die ich so gern ging, waren für mich tabu, selbst zu dem Bett, das meinen Geruch trug, durfte ich nicht zurück. Durch die Scheiben des Taxis, mit dem ich aus Kreuzberg verschwand, blickte ich zurück zu den Lichtern der vielen Bars, die mir schon zu einer anderen, mir unerreichbar fernen Welt zu gehören schienen. Es war ein Abschied für immer, der mit dem Gefühl einherging, daß alles verloren war. Nichts gab es, was mir auch nur annähernd eine Perspektive, eine Zukunft hätte bieten können. Mir schien, als würde ein Druck auf meine Stirn ausgeübt, der, die Augenlider herunterdrückend, mich zwang, nur die wenigen Meter vor mir sehen zu können, jedoch jede Möglichkeit unterband, um in die Ferne zu schauen.


Nach einer Woche schneite es, so daß sämtliche Wege und Straßen kaum passierbar waren. Der Schnee deckte förmlich alles zu und somit auch meine Spuren. Es war leicht zu erkennen, ob Zivilpolizisten in einem Auto saßen. Mit dieser Sicherheit bekam ich die nötige Ruhe, um den Übertritt in ein anderes Leben, in eine neue Welt abschließen zu können. Die Strukturen funktionierten nun und ich begann meinen ersten Brief zu schreiben. Fühlte ich mich vorher als ein belastendes Objekt, so gab mir nun das Schreiben die erste Gelegenheit, wieder aktiv werden, eingreifen zu können. Es war ein grandioses Gefühl, handelndes Subjekt zu sein und ich empfand eine vollkommene Euphorie. Jetzt war ich ein Antifaschistischer Emigrant, ausgestattet mit einer Legende und, was meine Verhältnisse betraf, ungeheuerlich viel Geld. Ich war zwar illegal, aber dennoch aktiv, ja die Illegalität vermochte mir sogar ein Ausmaß an Freiheit zu geben, die mich für niemanden wirklich sichtbar werden ließ, denn alle konnten immer nur einen projizierten Schein von mir sehen. Greifbar war ich so kaum.

Mit dieser Euphorie angefüllt kam ich in mein Exilland. Mein Äußeres war dermaßen unscheinbar, daß ich an keiner der Grenzen auch nur den geringsten Anflug von Problemen hatte. Die meisten Polizisten bemerkten mich noch nicht einmal. Auf dem Bahnhof wurde ich abgeholt und wir fuhren mit einer Hochbahn zu einer Wohnung. Wie gespannt stand ich am Fenster und schaute auf diese schöne, mir noch unbekannte Stadt. Sie gefiel mir vom ersten Augenblick an. Auf dem U-Bahnhof spielte ein Bettler auf einer Geige “o sole mio" und obwohl er völlig falsch spielte, schien es mir, als wäre er extra zu meiner Begrüßung gekommen. Mit jedem erhaschten Blick stieg die Neugierde in mir, was ich in dieser jetzt schon anregenden Stadt in Zukunft erleben würde. Sprachlos beeindruckt betrat ich die erste Wohnung, in der ich für fast eine Woche leben sollte. In dieser Woche legte ich unzählige Kilometer zurück. Zu Fuß durchwanderte ich die auf Hügeln erbaute Stadt, tauchte in die Täler hinab und verschwand in den engen Gassen der verschiedenen Stadtviertel. Die Baustile wechselten, Barock löste sich mit Jugendstil ab und dieser machte Platz für die Moderne. Ich durchlief wahrhaft einen Traum.

Schließlich kam nach wenigen Tagen der Moment der Heimreise meines Besuches. Ich verschlief am Abfahrtstag und kam deswegen zu spät zum Bahnhof, weshalb ich den Zug nur noch aus dem Bahnsteig fahren sah. Nun war ich also allein. Die einzigen, zu denen ich Kontakt hatte, waren die wenigen, die von meiner Geschichte wußten und mich betreuten, mir jedoch vollkommen fremd waren. Ich, der ich noch nicht einmal der eigenen Mutter traute, war nun auf fremde Menschen angewiesen und mußte lernen, ihnen zu vertrauen. Für den Moment ergaben sich daraus noch keine Probleme, denn noch immer lebte ich verborgen hinter dem schützenden Schleier der Illegalität und damit auch in der Situation nicht bindender Verantwortung. Doch in demselben Maß, mit dem ich mich jeden Tag mehr auf meine neue Umgebung einließ, stieg auch der Grad der Verantwortlichkeit. Als ich mich dazu noch verliebte, wurde dieses Problem grundlegend. Nun mußte ich aus meinem Schleier hervortreten, mußte nicht nur eine Legende erzählen, sondern mit ihr leben. Das Gefühl der Liebe löste einen kaum lösbaren Widerspruch in mir aus. Zum einen sehnte ich mich nach diesem Gefühl, doch sobald ich es zu leben begann, mußte ich aufhören in der Verborgenheit zu wandern, mußte mich in die mich umgebende Realität begeben und mich ihr stellen. Je näher mir diese Frau wurde, desto mehr wuchs in mir das Bedürfnis, ihr von mir zu erzählen. Andererseits durfte ich genau dies nicht und so nahm mit der sich entwickelnden Nähe gleichwohl auch eine nur mir sichtbare Distanz wieder zu. Ich löste diesen Widerspruch auf die einfachste, aber gemeinste Weise. Insgeheim gab ich ihr die Schuld an diesem Widerspruch und überwarf sie mit Vorhaltungen und Anschuldigungen. Ich wurde sehr ungerecht und zerstörte damit binnen kürzester Zeit diese Liebe. Natürlich blieb ihr nichts weiteres, als sich von mir abzuwenden, und mir die Erfahrung, daß Begründungen meist zur Rechtfertigung einer Tat dienen, jedoch kaum zu einem Eingeständnis, geschweige denn zu einer Auseinandersetzung taugen. Die folgenden Monate sahen mich alle verstummt.

Nur einmal, als ich für ein Interview besucht wurde, durchströmte mich wieder eine Lebendigkeit, wie ich sie sonst nur aus der Zeit der Euphorie kannte. Ich war zwar ehrlich meinem Besuch gegenüber, dennoch zeigte ich nicht meine wahre Realität. Ehrlichkeit und Realismus gehen oft getrennte Wege. Meine eigentliche Situation war mehr durch unzählige Stunden bestimmt, in denen ich die verschiedenen Cafés der Stadt aufsuchte, um deutsche Zeitungen zu lesen oder an einem Text über die politische Arbeit mit Jugendlichen zu schreiben. Dies, um den vielen Zweifelnden in Berlin verständlich zu machen, daß es zwar Fehler gab, aber dennoch der eingeschlagene Weg nicht falsch war. Wie die Fledermaus auf dem Bild, das ich zu Anfang geschenkt bekam, war ich tagsüber nicht sichtbar, konnte gleichwohl aber nachts hinausfliegen in die mich bergende Dunkelheit und vieles von dem mitbekommen, was in Berlin los war.

Mit der Entscheidung, für eine Zeitung der örtlichen Linken zu arbeiten, veränderte sich mein Leben grundlegend. Ich bekam einen guten Überblick über diese Linke, sah viel Interessantes und konnte zudem noch überaus kreativ sein. Mit dem Anstieg der Temperaturen wuchs auch die Energie in mir. Überall war ich nun anzutreffen, auf Konzerten, in der Redaktion, in den Bars, rastlos sog ich alle sich mir bietenden Gelegenheiten auf. Schließlich kannte ich viele verschiedene Menschen und konnte mir einen eigenen Freundeskreis erwählen. Ich sah die letzten Ausläufer einer Kultur, die ich längst für gestorben hielt. Ich kannte Enkelkinder der Generation von zumeist jüdischen Frauen und Männern, die die Anfangszeit der Kommunistischen Parteien so sehr geprägt hatten. Viele von ihnen waren die rastlosen Wandernden im Widerstand der verschiedensten Länder Europas gegen die faschistische Barbarei. Mir, dem Sohn eines Faschisten, der sogar seinen Ausweis fälschte, um in die SS gehen zu können, begegneten nun die letzten Reste der proletarisch-jüdischen Kultur des Banat wie des gesamten Ostens. Jiddische Worte, wie ich sie noch schwach in der Erinnerung aus meiner Kindheit im Wedding her kannte, hörte ich nun an einem weit entfernten Ort zu einer gänzlich anderen Zeit. Einer dieser osteuropäischen Jüdinnen und Juden erkannte mich und wurde mir zu meinem liebsten Freund. Später zogen wir gemeinsam in eine große, schöne, helle Wohnung.

Mit dem Sommer kam die Zeit, in der ich nichts mehr von Berlin wissen wollte. Die letzten Nachrichten meines Besuches bestärkten mich noch in diesem Gefühl, hatte sich doch die entpolitisierende Linie durchgesetzt. Leute vom Antifaschistischen Infoblatt hielten selbst Briefe von mir zurück, um ihrer Linie zum Durchbruch zu verhelfen. Es gab wahrlich Erfreulicheres als die Meldungen aus Berlin: Die Fußballnationalmannschaft verlor gegen eine slawische Mannschaft und flog achtkant aus der WM. Ich selbst fand endlich eine eigene Wohnung und bekam eine Arbeit, die mal länger als nur wenige Tage dauern sollte. So normalisierte sich mein Leben, ich wurde nun heimisch und die Erinnerungen an Berlin verschwanden fast gänzlich. Ein neuer Beziehungsversuch scheiterte ebenso schnell wie der erste, doch diesmal war ich ihr zu gut, so daß sie sich für einen anderen Deutschen entschied, der darüber hinaus noch meinen eigentlichen Namen trug. Wenn es doch eine Gottheit geben sollte, dann müßte sie weiblich sein und Ironie heißen.

Ich schlenderte nach wie vor durch die Stadt, oft mit einem Lächeln auf den Lippen, das aus der Gewissheit erwächst, daß nichts Bestand hat und alles in fortwährender Entwicklung begriffen ist. Selbst schlimmste Ereignisse besitzen ihre positiven Seiten und können sich gar in ihr Gegenteil verkehren. Ich genoß nun das Leben in vollen Zügen, in der Liebe wie auf Arbeit, ich schrieb viele Artikel und ging oft zum Baden an den Strand. Geschlafen hatte ich dafür sehr wenig, ich war ein guter Fußballspieler und gleichzeitig oft einer der Letzten auf den vielen Festen. Ich lebte jeden Tag sehr intensiv, denn es hätte der letzte sein können und diesen galt es wenigstens zu genießen. Ich hatte wieder einen Platz an der Sonne, im Licht. Nur als ich aus Berlin den Befehl bekam, die Zeitung zu verlassen, zogen Wolken auf und ich befürchtete wieder in die Dunkelheit zurückkehren zu müssen.

Im Oktober zeichnete sich ein anderes Ende ab als jenes, an das wohl alle gedacht hatten. Die Ereignisse in Berlin überstürzten sich und es war abzusehen, daß ich bald schon heimkehren werde. Ich war zwar gespannt auf Berlin, gleichwohl aber wollte ich jetzt noch nicht zurück. Was konnte mir Berlin schon bieten, was hatte ich schon zu erwarten? Nicht einmal ansatzweise konnte Berlin mit dieser Stadt verglichen werden, Berlin war einfach viel zu kaputt, zerstört von Krieg und Sanierung, bestimmt von einer nordamerikanischen Moderne der Funktionalität, die alle gewachsenen Strukturen und selbst die Sprache zerfraß. Nein, die Stadt, in der ich lebte, konnte mit Paris und Madrid verglichen werden, ein Gleichnis mit Berlin aber wäre nur zynisch gewesen. Armes Berlin! Wieder erzählte ich eine Geschichte, dieses Mal von bürokratischen Problemen. Dies war ansatzweise sogar die Wahrheit, nur daß die genannte Institution nicht das Geringste damit zu schaffen hatte. Doch ich gab allen die Gelegenheit, sich über diese Bürokratie zu empören und mit diesem Gefühl trat bei ihnen eine Zufriedenheit ein, die sie nicht weiter nachfragen ließ. Wie leicht sind doch Menschen zu täuschen. In Berlin angekommen, bemerkte ich erst den ständigen Druck in mir, mich nicht in meinen vielen Geschichten zu verlieren. Die nächsten Monate verbrachte ich oft kopfschüttelnd, manchmal lächelnd und meist schlafend. Ich hatte ja viel nachzuholen.

Das Leben geht weiter und beginnt neu oder einfach – Exil
<em>aus Intro zu radikal Nr. 153</em>

Zum Ausklang unseres Doppelheftes servieren wir jetzt noch einige Artikel zum Komplex "Exil". Unsere Erfahrung aufgrund der Startbahnschüsse oder dem 18.12.93 im Ruhrgebiet (Durchsuchungswelle wegen den RZ) war, daß Leute, die verschwinden mußten, bereits kurze Zeit später kein Thema der politischen Auseinandersetzung mehr waren. Nur in den internsten Kreisen Wurde noch über ihre Situation geredet. Ganz anders dagegen der Umgang mit den Menschen im Knast. Da gibt es einen ganz konkreten Ort, wohin mobilisiert werden kann, es kann darüber geredet werden, ob du dich mit ihnen schreibst und gegebenenfalls auch darüber, was die Gefangenen geschrieben haben. Gefangene verlieren nicht ihre Präsenz innerhalb der linksradikalen Szene. Sei es, daß sie selbst ihre Haftbedingungen thematisieren oder andere dies tun, sei es der anstehende Prozeß, der diskutiert werden muß. Wenn auch in reduzierter Form, versucht die linksradikale Szene, den Anspruch auf Solidarität gegenüber den Gefangenen umzusetzen.

So kennen wir zwar die Parole "Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen" aber wer kennt schon den Spruch "Ihr taucht zwar weltweit in der Gegend herum, aber euer Platz wird immer hier vor Ort sein" oder "Freilassung - subito" aber nicht "Unbedingtes Rückkehrrecht - aber ein bißchen plötzlich".

Nicht daß wir diese Parolen besonders gelungen fanden, aber wir wollen klarmachen, daß es erhebliche Schwierigkeiten gibt, die Tauchenden noch in die alltägliche politische Praxis zu integrieren. Deutlich wurde dieses Mißverhältnis z.b. in Berlin. Nachdem sich am 11.4. Bernhard, Peter und Thomas wegen einem mißlungenen Anschlag auf einen Abschiebeknast verdrücken mußten, (siehe auch Teil 1), passierte in den folgenden Wochen so gut wie gar nichts (außer der Veröffentlichung mehrerer anonymer Flugis). Als am 13.6. Werner in Berlin wegen der radikal verhaftet, zog das sofort die Gründung eines Solidaritätskomitees nach sich.

Dies hat sicherlich einerseits mit den Schwierigkeiten oder dem Nichtexistieren der Kommunikation mit den Abgetauchten zu tun, aber auch damit, daß in der Vergangenheit "Exil" eher eine Seltenheit war und von beiden Seiten individuell gehandhabt wurde. Briefe von Exilierten wurden selten veröffentlicht, ihre konkrete Verfassung, ihre Auseinandersetzungen wurden nicht greifbar. Auch spielt sicherlich eine Rolle, daß die vorgefundenen Probleme in der Exilsituation nicht offen thematisiert werden können - um keine Rückschlüsse zu ermöglichen.

Es stehen beide Seiten, die linksradikale Solidaritätsszene vor Ort sowie die Exilierten in der Verantwortung, an diesem Umgang etwas zu ändern. Dazu bedarf es auch den Mut, auszuprobieren, ob dies nun durch offene Briefe, Feten und Geldsammlungen für die Getauchten, Interviews oder durch andere Methoden versucht wird - es gilt, die Exilierten, wie die Gefangenen als gleichberechtigte Faktoren in der Solidaritätsarbeit zu sehen.

Vor einigen Nummern hatten wir ein Interview mit einem Gesuchten im Kaindl-Verfahren gemacht, zudem hatten wir in einem eigenen Text versucht, grundsätzliche Probleme technischer und psychischer Natur des Abtauchens zu beschreiben. Mittlerweile konnten die Leute aus dem Kaindl-Verfahren bis auf Cengiz (der wegen Mordvorwurf untergetaucht bleiben muß, weil er im Prozeß durch die Aussagen der meisten Angeklagten schwer belastet wurde) nach Berlin zurückkehren. Wir veröffentlichen einen Artikel, in dem eine Frau, die im gleichen Zusammenhang abtauchen mußte, in einer Art Nachbereitung ihre Gefühle in der Exilzeit beschreibt. Daran anschließend stellt die Gruppe "Wider den Knick" ihre Überlegungen zu Exil als politische Haltung und Handlung zur Diskussion. Reaktionen darauf von nah und fern würden uns freuen.

<strong>Interview mit zwei abgetauchten radikal-Beschuldigten</strong> <em>aus radikal Nr. 153</em>

Am Anfang dieses Blockes steht ein Interview, das jemand von uns aus gegebenem Anlaß mit Gesuchten im radikal-Verfahre durchführte.

Radikal interviewt Radikal-Beschuldigte, dieser in der bewegten Geschichte der Zeitung einmalige Vorgang verwirrte unsere Redakteurln so sehr, daß das besprochene Konzept des Interviews leider nicht ganz eingehalten wurde und für uns wichtige Komplexe wie "Welche Vorstellung haben eigentlich Exilierte, wie die linksradikale Szene mit Ihnen umgehen sollte" oder "Was bedeutet euch die radi" völlig außen vorblieben. Die mehrtägige Odysee durch Kanaldeckel, Dachfirsten und Strickleitern hatte diese Punkte aus dem Hirn entfernt.

Das Interview teilt sich in zwei Komplexe:

1.

Verdauung der Fluchtsituation

1.

Solidarität mit den Betroffenen des 13.6., oder "Wie schwer es noch werden kann"

Genannt haben sich die beiden Molotov (M) und Balakov (B) - wir sind, wer hätte es gedacht, das R. Powrigste Grüße noch an die beiden anderen die im Zusammenhang mit der radi gesucht werden, an die drei, denen die BAW wegen dem K.O.M.I.T.E.E. am Arsch hängt und Cengiz. Grüße auch an Ulf der immer noch in Beugehaft sitzt und an all diejenigen, denen dies in Zukunft noch drohen kann. Da im Zusammenhang mit den Gesuchten weitere Zeuglnnenvorladungen drohen können, haben wir auf den letzten beiden Seiten noch eine gekürzte Fassung eines Textes aus der Interim abgedruckt, der sich mit Aussagen und ihren Auswirkungen beschäftigt.

R: Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt anfangen soll. Hier auf'm Zettel stehen so viele Fragen.

B: Jetzt fang'endlich an.

R: Na, wie geht's euch denn?

B: Den Umständen entsprechend.

M: Tja, wenn die andere Perspektive Knast ist, dann geht es mir blendend.

R: Jetzt aber mal ...

M: ... Ab und zu packt mich schon mal der Frust. lch wandel manchmal durch die Straßen am Strand, in den Bergen herum, mir kommt es dann wie Urlaub vor. Dieses Urlaubsgefühl dauert ein paar Sekunden oder besser, es ist ein Gefühl, das ich kenne und deshalb kann ich mir das auch ranholen. Mensch war ja schon öfters im Urlaub. Das Gefühl "gesucht zu werden" ist eben anders.

R: Was meinst Du, was für dich den Unterschied ausmacht?

B: lch glaub, ich hab in der ersten Zeit immer nach mir bekannten Gefühlen und Gedanken gesucht. Ja, dieses Schauen nach den Anderen und du gehörst nur äußerlich dazu. Ich hab mich dann gefragt, wie die sich wohl fühlen, im Gegensatz zu mir. Dabei wurd' dann klar, die können zurück oder bleiben, wie sie wollen.

M: Für die gehört ihr Urlaub zum Leben, wie auch ihre Arbeit. - Und zu Hause ist für uns nun da, wo wir uns gerade aufhalten müssen. Da sollten wir das Beste draus machen.
B: Das ist aber nicht einfach. Du kommst schnell auf' so einen Trip, daß die Leute sich nicht genug um dich kümmern und verfällst auch in Selbst-Mitleid. Dir fällt, viel vor die Füße, was du vorher alles verdrängt hast. Da ist dann niemand, der sich mit dir über deine Probleme auseinandersetzt. Wenn ich Leute neu kennenlerne, kann ich denen nur'ne Story erzählen. Das ist schon blöd ohne Hintergrund meine Probleme zu schildern!

M: lch hab mich oft gar nicht mehr aus'em Haus getraut und kam mir wie ein Fremdkörper vor. Aber mit (der Zeit gewöhnte ich mich daran, auch wieder aus'em Haus zu gehen.

B: Am Beschissensten ist es, daß ich direkt spüre: das ist nicht meine Entscheidung. Die Bedingungen worden von den Pigs diktiert. Klar, lach ich mir ins Fäustchen, ich ihnen erstmal entwischt bin. Das ist der Trost und auch der Anstoß, sich nicht hängen zu lassen.

R: Wie verpackt ihr denn diese vollständige Umstellung eures bisherigen Lebens? Ich würd' das als einen Bruch beschreiben, so wie das bei euch bisher rüberkam. Wie ist eure Situation, was beschäftigt euch?

M: Ja, das ist schon lustig. Viele Dinge fallen einfach weg. Die Alltagsscheiße erübrigt sich, z. B. brauch' ich keine lästigen Ämtergänge mehr zu machen. (Allgemeines Gelächter) Dann kommt es aber schon wieder hoch, an einem "unbekannten Ort" zu sein - sich sehr unsicher zu fühlen. Bei jedem Bullenwagen erstmal Konzentration bis sie wieder weg sind. Oder wenn Leute einen angucken, habe ich zuerst versucht, mich diesem Blick zu entziehen, oder versucht, mich in meinen Vorstellungen so normal zu bewegen, wie es geht. Aber was ist schon normal?

B: Für mich ist es völlig neu, daß ich keine Dates mehr habe und dadurch auch mehr in den Tag hinein lebe. Mir geht dann andauernd durch den Kopf, daß ich ja aus politischen Gründen gesucht werde, und ich merke, das ist es nicht, zumindest nicht alles. Da gibt es mehr, was zum Leben gehört. Es gibt nicht nur Politik. Um das vielleicht besser zu verstehen, ist es wichtig, daß ich mich entschieden habe, vor Ort, auf der Straße Politik zu machen und eben auch in der Stadt zu leben - nicht auf'em Dorf oder inner Vorstadt. Und jetzt mußte ich mich dem Zugriff der Bullen entziehen...
M: Das ist für mich auch ein Bruch. Mein ganzes Leben zieht manchmal an mir vorbei. lch hab ja viel Zeit und merke, in so'ner Situation war ich noch nicht und ich weiß nicht, wann ich mich damit zurechtfinden werde.

B: Das geht mir auch so, es ist alles auf' einmal anders und für fast alle geht es weiter wie bisher.

R: lch glaub', so ein Gefühl hatten viele nach den Durchsuchungen.

B: Vorher konnste immer auch bestimmte Momente abschalten, dir überlegen, wie geh' ich bestimmte Sachen an. Das geht jetzt nicht mehr so. Diese ungewollte Situation bestimmt einfach deine ganzen Lebensäußerungen. lch wach'auf damit, schlaf ein damit und renn' damit auch durch den Wald, die Stadt und über die Felder. Nach ein paar Monaten oder vielleicht auch Jahren kann das dann vielleicht mal weg sein. Zur Zeit ist es für mich zumindest nur wenige Momente nicht da, daß ich weg mußte.

R: Aber war das für dich nicht eine Auseinandersetzung Wie verhältst du dich, wenn sie dich einknasten wollen?

B: Doch klar, ähnlich wie auf'ner Demo, wenn sie dich haben wollen, haust du ab, aber diese ganze Scheiße ist ja anders gelagert. Das hört nicht auf, wenn du keine Lust mehr drauf hast. Da gibt es verschiedene Stationen. Das fängt bei den ersten Meldungen in den Nachrichten an. Nun haben sie also wieder zugeschlagen, sind bei mir, Freunden, Bekannten und GenossInnen eingeritten. Ein paar Leute gehen gleich-ab-nach-Karlsruhe und ich bin nicht da.

R: Das ist doch erstmal ganz gut.

B: Na klar, aber was meinst du, was dir durch den Kopf geht? Du kriegst langsam mit, was für'n Ausmaß das hat, stellst dir die übelsten Situationen vor; die dann ja auch gelaufen sind, mit Blendschockgranate, Türenaufbrechen, Kinder fertig machen, Leute auf die Wachen zerren usw. Dann fragst du dich schon, wie gehen die Leute damit um? Hoffentlich haben sie es frühzeitig mitbekommen? Sind nicht völlig überrascht; - weil dieses Überrumpeln ist ja ihr hauptsächliches Mittel. Die Pigs wollen dich auf dein kalten Fuß erwischen. Was dann auch bei einigen geklappt hat. Dann geht das ja weiter, du hörst von denen, die eingeknastet worden sind - 24 Punkte Haftstatut (ist mittlerweile cm 8-Punkte-Haftstatut d.S.), klar überleg ich mir dann, wie das aussieht. Rainer hat ja z.B. ein Kind - hab ich gehört. Wie wird es ihm damit wohl gehen'? Erpressung auf Kosten der Kinder. Hat es ja auch in anderen Prozessen schon gegeben. Oder Werner aus Berlin wird bei seinen Eltern mit einer Hepatitis abgeholt. Das kann doch nur übel abgehen. Ist schon heftig, diese ganzen Eindrücke die dann auf dich niederprasseln; und dann merkst du langsam, bei dir waren sie ja auch und mit nach Hause kommen, ist erstmal Essig. Das geht schon rein! Es war von mir ja nicht beabsichtigt, um auf die Frage zurückzukommen, daß ich wegbleibe. lch war nicht inner Guerilla organisiert, die dies - zwar immer weniger - offen vertritt. Das war nie meine Politik und jetzt bist du auf einmal von der Bildfläche. Mir fallen die ganze Zeit Gespräche ein, die ich noch führen wollte. Mal' mir aus, was wohl die Leute machen, mit denen ich zusammengesessen hab'. Da gab es ja Entwicklungen, auf die ich Bock hatte. Das ist dann auf einmal alles weg. Was für'ne Scheiße!!!

R: Langsam, nicht so schnell ...

B: ... Ja, aber es ist ja nicht nur Scheiße, was abgeht. Du findest dich mit deinem neuen Alltag zurecht. Das nimmt auch einiges in Anspruch. Aber eigentlich setzt als erstes die Verdrängung ein. lch fing erstmal an zu hoffen, das werden die doch nicht so voll durchziehen, ist doch wirklich nicht das Ding. Aber das änderte sich, um so mehr Informationen ich bekam. Das sind dann auch immer sehr heftige Sachen, weil die Infos dich ja voll mit deiner Realität konfrontieren und du die Leute, um die es da geht, vielleicht auch kennst. Klar ist die Freude groß, wenn du mal was von zu Hause hörst. Aber desto länger ich weg war, um so mehr ging es mir so, daß ich für mich beschloß - zumindest im Kopf- ICH BLEIB WEG! Mit diesem Gedanken wurde es dann einfacher. lch bemüh' mich immer noch an meinem neuen Wohnort anzukommen.

R: Machen eben mal 'ne Kurze Pause!

R: Weiter geht's! Wie ist das denn für euch, daß ihr durch die neue Situation ständig auf die Hilfe von Anderen angewiesen seid?

M: So‘n Gefühl hatte ich bisher nicht. Normal war es, daß ich nach meinem Ermessen oder mit Anderen zusammen Sachen mache. Sei es jetzt 'ne Veranstaltung vorzubereiten oder Aufgaben auf 'ner Demo zu übernehmen oder sonst irgendwas. Genauso regelte ich mein Leben ab, da beruhte es auf Gegenseitigkeit, wie welche Arbeiten erledigt werden. Das war auf einmal weg. Da mußten Leute auf einmal für dich Pennmöglichkeiten suchen, Fahrzeuge besorgen usw. Das lag alles nicht mehr in meiner Hand. Ich war oft total froh, wenn was geklappt hat, weil es im politischen Alltag eher häufiger ist, daß was nicht klappt. Auf einmal lief die Sache, auch ohne mich. Das fand ich eine wichtige Erfahrung, weil oft hab ich vorher gedacht, daß klappt eh'nicht also mach ich es lieber selber.

R: Wenn du schon von den Leuten sprichst, die dich oder euch versorgen - wie gehen sie auf euch ab? Habt ihr Konflikte oder läuft das locker vom Hocker?

B: Das geht alles nicht so einfach. Da war als erstes die Bedrohung, der sie ausgesetzt sind, wenn sie mit mir verkehren. Das muß dann geklärt werden.

M: Für mich war es eine wichtige Erfahrung, daß die Leute, die mich versorgen, mir bisher nicht das Gefühl gaben, daß sie für mich wer weiß was Tolles machen. Sondern, sich in meine Situation versetzen und z.B. wenn sich der Frust breit macht, Geschichten erzählen, die sie erlebt haben. Dieses Aufheitern war sehr wichtig. Auch mir mal in den Arsch zu treten, daß ich rausgehe oder wir zusammen was machen. Das waren Situationen, die waren schon sehr schön.

B: Eins will ich noch schnell los werden. Tausend Dank, Umarmungen und auch Küsse an Alle, die sich darum bemühen, daß, ich wegbleiben kann!! Vor allem an die Leute, die ich überrumpelt habe mit meinem Problem, und auch an die, wo ich es nicht erwartet hätte, daß sie sich zu diesem Scheiß verhalten würden.

M: Von mir auch!!!

<strong>Ein Problem wird erst dann gelöst, wenn mensch es schon lange kennt</strong>

R: Der Komplex 13.6. ist inhaltlich sehr unterschiedlich. Eben von der radi bis zu den Ansätzen vom K.O.M.I.T.E.E. und den AIZ. Das K.O.M.I.T.E.E. hat sich bisher auf aktuelle Prokjekte bezogen, wie der Angriff auf die Bundeswehrkaserne wegen Kurdistan oder den versuchten Angriff auf den Abschiebeknast in Berlin Grünau. Dahingegen setzt die AIZ in meinen Augen auf eine Strategie, zweit- oder drittreihige Ziele oder Politiker anzugreifen. Wie seht Ihr die Politik der AIZ?

M: Zuerst habe ich mich noch amüsiert über die aktionistische Art und Weise der AIZ, wie z.B. bei den Schüssen auf das Arbeitgeberbüro in Köln oder die brennende Barrikade vor dem Elternhaus eines GSG9'ler in Solingen. Aber dann folgten später die Aktionen auf die Parteibüros. Bei beiden Anschläge, in Düsseldorf auf die CDU und in Bremen auf die FDP, waren sogenannte Unbeteiligte gefährdet. In Düsseldorf sind Wohnungen über dem CDU-Büro und in Bremen ist das FDP-Büro in einer Wohngegend. Von meinem Anspruch her waren diese Aktionen kontraproduktiv, weil unbeteiligte Dritte in Gefahr gebracht wurden. Eine gewisse Ungenauigkeit in der Ausführung wurde anscheinend in Kauf genommen. Das halte ich für sehr gefährlich. Kriterien, wie die, daß Dritte nicht gefährdet werden sind ein Grundprinzip von revolutionären Aktionen. Dies kann ich bei den AIZ nicht erkennen.

B: Das halte ich auch für sehr gefährlich, wenn solche Kriterien, weiter aufgeweicht werden. Mich hat es erstaunt, daß auch Familien von Tätern bedroht werden, wie bei der Barri in Solingen, wo mal ein GSG9'ler gewohnt hat, oder in Erkrath, wo es auch die Familie hätte treffen können.

R: Aber in Erkrath ist es doch so gewesen, daß die Bombe mit einer Sirene versehen war. In meinen Augen wurde diese Sirene installiert, um eine Warnung auszusprechen. "Kommt hier nicht hin!". Das war technisch schon besser, wie bei dem Anschlag auf einen ehemaligen Bundestagsabgeordneten der CDU in Wolfsburg.

M: Das mag vielleicht so sein, aber wie reagiert mensch auf eine Sirene? lch würde erstmal gucken gehen und dann sehe ich da eine Kiste - und schon macht es Wumms!! Das Teil war ja an scheinend auch mit Nägeln gefüllt. Das empfand' ich alles nicht als eine Warnung, sondern stell' dies in den Zusammenhang, wie schon oben erwähnt, daß die AIZ Ungenauigkeiten in ihre Ak tionen mit einplant. Das gefällt mir nicht.

B: Mir kommt das auch ein wenig so vor wie Hauptsache, es knallt, und das Schweinesystem ist ja schon böse genug. Aber Sippenhaft, wie in Solingen, ist ein grober Fehler. Da wird der eigene Wille und die eigene Subjektivität, unbedingt was machen zu müssen, in den Vordergrund gerückt. Das bezweckte Ziel, so einen Arsch von der GSG9 zu treffen, wird aus den Augen verloren. Da fehlt das Wohldurchdachte und Abwägen, um zur richtigen Zeit, das Richtige zu treffen.

R: Wie seht ihr den weiteren politischen Hintergrund der AIZ? Besonders der Bezug auf fundamentalistische Kräfte in Algerien?

M: Das hat mich schwer verwundert, wie mensch sich positiv auf den Islam beziehen kann. Das sehe ich schon eben als Counter an. Religion ist Sache der Götter und die gibt es nicht mehr und somit ist jede Religion erstmal Lüge und Unterdrückung. Das ist beim Islam genauso, wie beim Buddhismus oder Christentum. Hierauf sich zu beziehen, bedeutet nichts anderes ,als sich auf Kräfte zu beziehen, die was anderes wie eine befreite Gesellschaft wollen.

B: Es kann einen Bezug auf Religion geben, aber nicht im globalen Sinn. Es gibt in der Kirche progressive Ausnahmen, wie die Befreiungstheologie in Lateinamerika, aber deshalb wird der Bezug nicht auf die gesamte Kirche ausgedehnt und so seh' ich das auch mit dem Islam. Klar gibt es auch im Islam positive Ansätze, aber im Ganzen ist es eine Religion der Unterdrückung, wie das Christentum oder der Buddhismus.

M: Mir geht das aber nicht nur mit dem religiösen Touch so. Ich hab auch Schwierigkeiten damit, wie die AIZ imperialistische Strukturen benennen. Z.B. die Ausführungen zu einzelnen Schweinereien, wie die imperialistische Rolle der BRD in Marokko ist - aus diesen Gründen wird dann der Vorsitzende der Deutsch-Marokkanischen Gesellschaft angegriffen. Oder bei dem Anschlag auf das Düsseldorfer CDU-Büro, da wird die Kurdistanpolitik der BRD dargestellt.
Bei den Erklärungen findet mensch eine bestimmte Form der Recherche. Sie listen eine Schweinerei nach der anderen auf und meinen, damit sei der Anschlag begründet. Dies geschieht in einer reduzierten und eindimensionale Form.

R: Was meinst Du mit eindimensional bzw. reduziert?

M: lch würde dies als eine Form der Aufklärung begreifen, wie Böse dieser Staat ist. Die AIZ sucht nach meinem Eindruck Entscheidungsstrukturen, um die jeweilige deutsche Politik in Marokko, Kurdistan usw. anzugreifen. Nur geht das völlig an der Realität vorbei. Es werden vermeintliche Ziele ausgegraben und gespickt mit einer Recherche über imperialistische Interessen der BRD-Eliten. Für mich gehören nur solche Leute wie in Erkrath oder Wolfsburg nicht zur imperialistischen Elite dieses Systems. Diese Fuzzys tragen eine gewisse Verantwortung, für die sie auch zur Rechenschaft gezogen werden sollten, dennoch rechtfertigt der Zweck nicht die Mittel. Die grobe Mitverantwortung ist bei, diesen Figuren nicht zu erkennen. Schon bei Braunmühl ( Im Zuge der Offensive '86 im November von der RAF liquidiert. d.S.) stellte sich die Frage, ob es richtig ist, Leute zu liquidieren oder anzugreifen, die in der zweiten Reihe sitzen. Die dort begonnene Diskussion fällt durch diese Aktionen dahinter zurück. Es sieht immer so aus, als wenn man an die Anderen nicht mehr rankommt und sich deshalb an die zweite oder dritte Reihe hält.



B: Klar kann man solche Figuren angreifen und aus dem Schatten ziehen, aber was passiert dann mit Leuten wie Schäuble oder sonstigen Scharfmachern. Die kann man dann alle ja nur noch killen - so eine Konfrontation führt zu nichts! Da werden keine politischen Ziele mehr deutlich. Nicht jeder Machtmißbrauch führt automatisch dazu, die Leute auch "potentiell zu töten". Die AIZ legt einen sehr niedrigen Maßstab für das Einsetzen von militanten Aktionen fest. Ihr Niveau passt auf zu viele Leute in diesem Land - und den Feind genau zu treffen, muß weiterhin Für die Linke Priorität haben. Aber eben unter der Berücksichtigung, was mensch sich zu traut, ob schon alle anderen Mittel ausgeschöpft sind, was mit der Aktion vermittelt werden soll und auch abgewogen ob es nicht bessere Ziele gibt, z. B. für die Beziehungen EG-Marokko, BRD-Türkei, Flüchtlingspolitik oder Strukturen von Faschisten, wo auch wirklich was hinter ist...



M: ... aber bei Bundestagsabgeordneten, ehemaligen Bundestagsabgeordneten, Partei-Büros oder auf Arbeitgeber-Büros wirken die Aktionen willkürlich. Das wird auch dann nicht besser, wenn ich die gesamte Marrokko-Politik an einer Person festmache oder die Rolle einer FDP analysiere und dann deren Büro in Bremen angreife. Die Vermittelbarkeit fehlt und auch der praktische Nutzen ist für mich unklar. Das wird in den Erklärungen auch nicht weiter ausgeführt.

R: In unseren Vorgesprächen haben wir über die Imperialismusanalyse der AIZ geredet, könnt ihr dazu nochmal was sagen?.

M: Mir ist die Imperialismus-Analyse von den AIZ zu dünn. Bei der AIZ beschränkt sich Imperialismus auf' eine parlamentarische, parteiliche Ebene als die vermeintlichen Hauptvertreter deutscher Großmachtpläne. Diese Form von Aufklärung würde ich als zu platt bezeichnen. Es sind keine neuen Impulse zu erkennen. Die Aktionen sind inhaltlich und aktionsmäßig ein Auf- der-Stelle treten. Da war Lenin und Rosa Luxemburg schon weiter, wenn sie sich darüber ausließen, welche Formen von Imperialismus existierten. Wie z.B. der ökonomische Imperialismus oder der territoriale Imperialismus, der heute eher als Kolonialismus oder Neokolonialismus umschrieben worden kann, oder den kriegerischen Imperialismus, wie z.B. beim 1. und 2. Weltkrieg sichtbar.

B: Auch die Diskussion, wie Imperialismus funktioniert, ist mittlerweile schon weiter. Da braucht nicht Lenin oder Rosa herangezogen werden. Die Diskussion über imperialistische Flüchtlingspolitik hat neue antiimperialistische Ansätze vermittelt, die sich dann weiterentwickelten zu der Auseinandersetzung über Triple Oppression. Dieser Denk- und Diskussionsansatz, die Vernetzung mit anderen Unterdrückungsdynamiken, wie Rassismus und Patriarchat, werden in der Analyse der AIZ nicht genügend berücksichtigt.

M: Das fehlt mir auch! Dieser große Anspruch, gegen den lmperialismus zu sein, und bestimmte Strukturen, warum dieser in der Form existiert, einfach zu verschweigen, verwundert mich. Die Teilhabe an bestimmten Privilegien, vor allem hier in der BRD, kommt nicht zu Wort. Theoretisch richten sich die Schreiben an eine Szene, die eigentlich schon weiß, welche Schweinerein die BRD ausübt.

R: Aber diese Vernachlässigung von Analyse und Vermittlung von Zusammenhängen kann man den AIZ nicht alleine vorwer fen. In der radikalen Linken findet ja kaum eine Diskussion darüber statt, wie die Unterdrückungsmechanismen zusammenhängen. Die netzförmige Analyse fällt ja offensichtlich allen recht schwer.

B: Dir auch?

R: Mir auch!!

<strong>wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht wir!</strong>

R: Wie seht ihr die Durchsuchungswelle und die 4 Festnahmen bisher?

B: Wie sollen wir die schon sehen. Is'Scheiße...

M: ... Die Frage finde ich falsch gestellt, es sitzen nicht nur 4 Leute. Da sitzt noch der Genosse aus Bremen wegen Aussageverweigerung …

B: ...'nen schönen Gruß nach Heimsheim - oder wie das heißt.

M: Und dann sitzt noch eine Frau wegen BTM. Bei ihr fand auch am 13.6. 'ne Durchsuchung statt, weil sie mit in das Raster der BAW gekommen ist. Nur bei ihr fanden die Schweine anscheinend ein zu großes Rauchpiece und sie wurde gleich eingeknastet. Das sollte nicht einfach so unter den Teppich gekehrt werden.

B: Und dann bleibt auch zu hoffen, daß es bei den 6 Festnahmen bleibt, weil das Raster von der BAW ja größer angelegt ist.

R: Ja gut, nochmal von vorne: Welche Auswirkungen hat der 13.6. nach eurer Meinung auf die politische Bewegung?

M: Zum Glück konnte ich in den Nachrichten verfolgen, was sich alles am 13.6. abspielte. Erst wurde von den AIZ gesprochen, speziell in Berlin wurden die Durchsuchungen im Zusammenhang mit dem K.O.M.I.T.E.E. gebracht und dann wurde auch die RAF erwähnt...

B: ... mir fehlten die Revolutionären Zellen, die Angriffe wegen dem Castortransport, die Sprüherei gegen Shell und alles was noch folgen könnte - Hauptsache böse und terroristisch.

M: Irgendwann tauchte dann auch mal die radi auf und da wurde es dann auch konkreter, 25 Ermittlungsverfahren oder namentlich bekannte Personen seien auf der Liste der BAW. Da hab ich mich ganz schön erschrocken.

B: Der Schrecken wechselte dann langsam in die Erkenntnis, daß nach ihren Angaben schon seit Jahren Ermittlungen gegen die Leute geführt wurden, die sie der radikal zurechnen. Ähnlich war es wohl auch in Hamburg, wo sie aber erst nach dem Anschlag auf das Rechtshaus an der Uni ein Raster konstruiert haben, um an Leute ranzukommen. Wieder ein bißchen anders liegt die Sache mit dem K.O.M.I.T.E.E., wo ihnen anscheinend einige Leute durch die Lappen gegangen sind, als der Anschlag auf einen neuen Abschiebeknast in Berlin-Grünau laufen sollte.

M: Hiermit einen schönen Gruß an die Berliner, die abgetaucht sind, und auch an den gesuchten Antifa Cengiz, wegen dem Kaindl-Prozeß.

R: Nochmal zu der Frage von gerade, wie schätzt ihr diesen Schlag ein?

B: lch denke mir, daß die BAW einmal ein persönliches Interesse an der Zerschlagung der radikal hat und dies auch mit allen Mitteln versucht, durchzuziehen. Die jahrelange Observation und auch die jetzt veröffentlichte Konstruktion sprechen da ihre eigene Sprache. Die radi wird nun in der Öffentlichkeit als eine "kriminelle Vereinigung" verkauft. Dies war in den bisherigen Verfahren gegen die verschiedenen Regionalblätter und auch bei der radi nicht der Fall. Eine strafrechtliche Verfolgung lief, wie schon in den 80zigern, über die "Unterstützung von terroristischen Vereinigungen". Selbst die TAZ hatte in dieser Zeit Probleme, weil sie mal 'ne Anschlagserklärung veröffentlichte.

M: Aber dabei bleibt die BAW nun nicht mehr. Sie hat wohl selbst erkannt, daß "Unterstützung von so und so ... " in der Öffentlichkeit zu viel Wirbel erzeugte. Dies ist jetzt mit dem Zusammenhang "eigenständige kriminelle Vereinigung" anders. Die bürgerliche Presse von TAZ bis Süddeutsche Zeitung haben die Kröte der BAW jedenfalls erstmal geschluckt.

B: Dies war ja auch nicht anders zu erwarten. Wenn auf einmal AIZ, K.O.M.I.T.E.E., RAF und radikal in einen konstruierten Zusammenhang auftauchen.

R: Diese Konstruktion bedeutet auch, daß nun die radi auf das Niveau einer Guerilla gesetzt wird. So wurde später auch gesagt, es wurde sich in Codes unterhalten und sich konspirativ getroffen.

M: Das finde ich auch ein wenig happig, damit wird ja Tür und Tor geöffnet, für die Kriminalisierung aller linksradikalen Zeitungen, die versuchen eine militante Debatte zugänglich zu machen. Dies wird sich auch noch ausdehnen lassen.

B: Die Repression setzt immer unterschwelliger an. Für die Beteiligten an einer Zeitung mit linksradikalen Inhalten kann es nun Knast geben, ohne, daß die BAW unbedingt feststellen muß, wer, welche nun für die Hereinnahme von Artikeln verantwortlich ist. Eine Veränderung also, wenn die BAW nicht mehr Einzelne zur Verantwortung zu ziehen braucht. Die "kriminelle Vereinigung" dient in der Form der Kriminalisierung von Zeitungsredaktionen, die sich zur Aufgabe setzen, linksradikale Öffentlichkeit zu schaffen, ohne den pseudo-neutralen-demokratischen Anschein der bürgerlichen Medien. Aber die BAW hat sich auch eine Hintertür offen gelassen, um jegliche Form von Organisierung zu kriminalisieren, wenn sie sich nicht an den von ihnen vorgebenen Rahmen hält. Welche lnitiative trifft sich schon immer mit der Ansage: "Hallo Bulle, wir treffen uns heute in einer Hütte und besprechen die nächste Antifa-Aktion oder bringen ein Flugi raus."

R: Was heißt das nun für euch?

M: Das ist bisher noch nicht genau absehbar, weil es sich vor Gericht entscheiden wird, was dieser Staat nun für strafbar hält und was nicht. Die Hoffnung auf eine breite Öffentlichkeit wäre schön. Aber wir Leben in den 90zigern und da hat Öffentlichkeit nur noch Marktwert und eine liberale Öffentlichkeit gibt es nicht mehr, so wie in den 70zigern oder 80zigern. Somit ist die radikale Linke auf sich selber angewiesen. Eine Mobilisierung wird somit von uns getragen.

B: Was für mich in einer Kampagne wichtig ist, nicht aus den Augen zu verlieren, warum wir uns organisieren. Einen Hintergrund zu vermitteln, weshalb es gute Gründe gibt sich gegen dieses System zu stellen, aber auch, daß es noch was anderes gibt als diese Gesellschaftsordnung. Wieder mehr darauf zu achten, was wir wollen. In einigen Diskussionspapieren kam das auch zum Ausdruck, z.B. in dem Diskussionsvorschlag aus Berlin. Wichtig ist es, daß die Leute sehen, wie wir leben, wie wir feiern und eben das wir uns wehren. Das muß wieder sichtbar werden, raus aus der Badewanne rein in den Ozean.

R: Was kann eine politische Kampagne bewirken?

B: Da muß sich genau über die Ziele unterhalten werden. Durch die Aneinanderreihung von Widerstandsinitiativen ist die Situation entstanden, daß auf einmal wieder miteinander geredet werden muß. In den letzten Jahren war es doch eher so, daß die verschiedenen Fraktionen der radikalen Linken für sich alleine was machten. Zwar gab es bei bestimmten Mobilisierungen, 3.10. in Bremen, Rote Flora in Hamburg szeneübergreifende Schwerpunkte, dennoch ist daraus keine inhaltliche Diskussion entstanden.

M: Mit dieser Situation einen neuen Anfang wagen, wird sehr schwer. Nach meinen Informationen finden schon Streits über die Rolle der AIZ statt. Die einen sagen wohl eher: Solidarität und auf der anderen Seite werden sie als durchgeknallt beschrieben. Dies unter einen Hut zu bekommen, wird nicht einfach.

B: lch sehe das auch als eine künstliche Form an, sich an einen Tisch zu setzen, wenn es die Repression erfordert. Leute, die seit Jahren untereinander kaum was zusammengemacht haben, sollen nun auf einmal eine gemeinsame Solidaritätskampagne zusammenstellen wie soll das gehen?

R: Aber es ist doch das Mindeste, was passieren muß, daß sich verschiedene Städte über eine mögliche Kampagne auseinander setzen. Wo es dann gemeinsame Forderungen, gemeinsame Passagen in Flugis, Parolen, Demos und andere Aktionen gibt.

M: Dagegen hat Balakov auch nicht geredet. lch glaub', es geht um eine realistische Herangehensweise, wie dieser Angriff gegen die Linke zusammen beantwortet werden kann. Es geht um eine strukturelle Zusammenarbeit, auch wenn sich nur über den Stand der Dinge informiert wird. Alles was darüber hinausgeht wird sich zeigen. Einigen wird das zu wenig sein. Aber ohne eine bundesweite Vernetzung wird dieser Schlag nicht aufzufangen sein!!!

R: Wie seht ihr die Möglichkeit über die Vernetzung hinaus zu einer inhaltlichen Diskussion zu kommen?

B: Ja, die BAW hat das schon geschickt gemacht. Einmal in der Öffentlichkeit ein Terrorkonstrukt zu verkaufen und intern geht es bei dieser Gemenge-Lage wahrscheinlich auch in die Hose. Inhaltlich wird es sich über kurz oder lang herausstellen, ob es zusammen läuft. Zu den AIZ gibt es nunmal unterschiedliche Positionen, da läßt sich wahrscheinlich nichts vereinheitlichen. Daß diese Unterschiede nicht anerkannt werden, hat es schon zur Genüge gegeben. Das letzte Beispiel dafür ist der Kaindl Prozeß. Die Unterstützerlnnen teilten sich in verschiedene Fraktionen. Politisch unterschiedliche Rangehensweisen wurden nicht berücksichtigt. Es finden Grabenkämpfe über Konten, bis zur Herausgabe eines Prozeßinfos statt. Die Strategie während des Prozesses individuelle Aussagen zu machen, hat dazu geführt, daß Cengiz nun als einziger wegen Mordes noch gesucht wird.

B: Das ist genau die Schwierigkeit auch bei anderen Prozessen. Es ist klar, daß Aktionen, wie gegen Kaindl oder bei der Startbahn, keine uneingeschränkte Solidarität hatten und genau in dieser Diskussion werden dann belastende Aussagen gemacht. [2.11.87 wurden an der Startbahn West in Frankfurt zwei Bullen nach einer Demo getötet. Bei der nachfolgende Repression ist es zu zahlreichen Aussagen gekommen, durch die viele der Szene im RheinMainGebiet stark belastet wurden. d.S.] Das ist der Punkt, um den es sich eigentlich dreht: wenn militante Aktionen gemacht werden, die nicht eingebettet sind in gesellschaftliche Prozesse und verantwortlich geplant sind, dann kommt es zu Distanzierungen.

M: In meinen Augen ist auch ein Fehler, daß nicht über die politischen Schwierigkeiten gesprochen wurde, sondern sich die Fronten sehr schnell verhärten. Wenn sich nicht mehr über den politischen Sinn der jeweiligen Aktion auseinandergesetzt wird, Der Konflikt reduziert sich dann auf die Aussage: Ja oder Nein.

R: Aber das war doch das wichtigste! In beiden Fällen wurden Aussagen gemacht und andere belastet, die dann dafür in den Bau mußten. Das gilt es doch zu verhindern. Da gibt es doch nichts dran zu rütteln: Anna und Arthur Halt's Maul!!

B: Daß das was Molotov sagt, so ankommt, hab ich mir schon gedacht. Aber das ist genau der Fehler. Es geht nicht um Aussagen vor den Bullen oder der Justiz. Vor denen braucht mensch sich für nichts und gar nichts zu rechtfertigen, aber die Diskussion untereinander muß geführt werden. Dabei kommt mensch auch darauf, daß es nicht drin sein kann, daß Leute eingeknastet werden, die sich mit einer Aktion nicht verbunden sehen.

R: Und die anderen können dann eingeknastet werden oder was?

B: Natürlich nicht! Für uns müssen doch die Bedingungen geklärt sein, wie falsche oder von einem bestimmten Kreis propagierte Aktionen wirken. Auf den Umgang unter uns kommt es an! Leute, die bestimmte Aktionsformen ablehnen, sind ja nicht gleich Schweine. Es muß nach Wegen gesucht werden, unter diesem Druck ein verantwortliches Handeln zu entwickeln.

R: Das kann ich schon verstehen, aber der heikle Punkt bleibt ja für die Leute, denen die Bullen eine bestimmte Aktion nachweisen können. Und die sollen dann den Kopf hinhalten!?

M: Das ist doch die falsche Frage! Die Diskussion muß erstmal beginnen. Wie wollen die Betroffenen überhaupt mit den Vorwürfen umgehen? Wie sieht die Anklageschrift aus? usw. Wenn das dann geklärt ist, kann es dazu kommen, daß Leute sich den Fängen der Bullen entziehen müssen und andere den politischen Charakter einer Aktion nicht teilen und dies auch vermitteln können. Nicht vor dem Gericht, aber nach außen hin. Vor dem Gericht wird der Anwalt genügend zu sagen haben.
B: Es kann ja auch nicht darum gehen, sich von den Aktionen an der Startbahn am 2.11. zu distanzieren oder der Sache mit Kaindl. Der Kern ist doch, daß niemand dafür die politische Verantwortung übernommen hat und da heraus auch eine Unklarheit entstand. Und um diese Unklarheit umzukehren geht es in einer politischen Bewertung und wie mensch sich dann in diesen Prozeß stellt und was gemeinsam dabei laufen kann.

R: Das ist jetzt alles ein wenig idealisiert, aber vom Prinzip ist mir klar, daß es eine Berechtigung hat zu sagen, was mensch gut und richtig findet und wo man/frau steht. Es geht euch eher um die Adressaten, den Bullen hat man nichts zu sagen, aber in der Szene oder unter den Betroffenen muß es möglich sein. zu über legen, wie mit anstehenden Prozessen umzugehen ist und wie es in der Öffentlichkeit vertreten werden kann. Schließlich kann mensch nicht verlangen, daß alle eine bestimmte Aktion gut finden.

Aber wie seht ihr das bei dem konkreten Verfahren vom 13.6. wegen, AIZ, K.O.M.I.T.E.E. und radikal?

B: Die vorherigen Beispiele sind anders gelagert, um die Startbahn oder um Antifa-Aktionen gab es schon seit langem Diskussionen. Bei dem politischen Konzept der AIZ verhält es sich anders. Bei ihnen ist es so, daß sie eine Solidarität mit ihren Aktionen gar nicht groß einfordern oder politisch miteinbeziehen und in diesem Sinne sind sie auch isoliert. Was ich aus ihrem bisherigen Konzept herauslese, kann man sie eher als Kader bezeichnen, die für ihre Aktionen die Verantwortung übernehmen. Diese KaderRolle, auch wenn es für sie nicht so ist, kommt beiden jetztigen Repressionsmaßnahmen deutlich zum Ausdruck. Sie erfahren keine breite Unterstützung, sondern werden mit grober Skepsis beobachtet. Bei dem K.O.M.I.T.E.E. liegt dies dann wieder anders. Einen Abschiebeknast sprengen zu wollen, ist für breite Teile der linken Öffentlichkeit eine richtige Konsequenz. Eine Ablehnung hieße an dem Punkt, sich vom militanten Widerstand zu verabschieden. Dieser Unterschied in der Bewertung sollte während einer politischen Kampagne zum Ausdruck kommen, um auch unterschiedliche Rangehensweisen darzustellen, an denen sich Diskussionen entzünden.

M: Zu der Analyse und Praxis der AIZ haben wir uns ja weitgehend ausgelassen und genau diese Diskussion muß vertieft werden, um wieder einen Begriff von Militanz zu bekommen und an welchen Punkten sie eine Berechtigung hat und auch auf gesellschaftliche Prozesse eingeht.

R: Wir hoffen euch, den LeserInnen, durch diese Diskussion einige Ideen gegeben zu haben.

Macht's gut und schreibt uns!!!!!


<strong>Zum Begriff und Mythos Exil</strong> <em>aus radikale Zeiten Nr.3, Februar 1996:</em> Seit einiger Zeit wird das Thema "Exil" in linken aber auch in anderen Kreisen vermehrt diskutiert. Spätestens nach dem Untertauchen von vielen Menschen innerhalb des Verfahrens zum 13.6. und dem Kaindl-Verfahren. Der Begriff "Exil" wird in der linken Szene erst seit kurzem wieder benutzt und ist nicht unumstritten. Dieser Artikel soll als Anregung zur Diskussion dienen. Vorweg muß gesagt werden, daß er sich nur mit der Situation von linken EuropäerInnen befaßt, da die Ausgangslage für Flüchtlinge eine ganz andere ist. Der Begriff "Exil" oder besser "politisches Exil" ist historisch stark besetzt und wird von vielen mit verschieden Bildern assoziiert. Einige denken sofort an die Situation im 3. Reich, als viele Menschen aufgrund von Verfolgung aus Deutschland bzw. aus den von den Deutschen besetzten Ländern ins Ausland flüchten mußten. Andere wiederum denken an Staatschefs, die ihre Haut in befreundeten Ländern in Sicherheit gebracht haben. In beiden Bildern ist das Exil ein Ort, in dem der/die ExilantIn in "Sicherheit" lebt und dies womöglich über einen längeren Zeitraum. Die ExilantIn lebte danach meistens offen mit ihrer/seine Biographie, d.h. sie/er konnte die "Arme ausbreiten" und sagen: "So heiße ich, deswegen bin ich geflohen und das ist meine politische Meinung." Doch dies war nicht immer so. Ins Exil gehen heißt nicht immer Exil bekommen. Oft waren die Menschen im Exil gezwungen, sich versteckt zu halten. Ein Beispiel dafür sind die Niederlande vor der deutschen Besatzung. KommunistInnen, die aus Deutschland flüchteten, mußten damit rechnen, daß sie, wenn sie aufgegriffen wurden, nach Deutschland ausgeliefert werden. Das bedeutet, daß es damals immer auch ein illegales Exil gab. Die Sicherheit in einem solchen illegalen Exil entstand durch Strukturen, die der/dem Flüchtenden halfen, eine neue Identität und Existenz aufzubauen. Mythos "Exil" Nach 1945 kamen viele KommunistInnen aus ihrem Exil wieder nach Deutschland zurück. Wie konnten Sie auch ahnen, daß nur ein Jahrzehnt vergehen würde, bis sie sich wieder mit der Fragestellung Exil beschäftigen würden müssen. Im Rahmen des kalten Krieges wurden tausende KommunistInnen wieder mit Zuchthaus und Gefängnis bestraft, weil sie sich gegen die Remilitarisierung der BRD aussprachen, weil sie Befürworter einer friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands waren, weil sie für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens eintraten, weil sie sich für ein Verbot der Atomwaffen stark machten oder weil sie in die DDR reisten. Insgesamt wurden sowohl vor und nach dem - 1956 ausgesprochenen - KPD-Verbot 6679 KommunistInnen in Gefängnisse und Zuchthäuser eingeknastet. Die Zahl der Straf- und Ermittlungsverfahren ging in die "Hunderttausende". Zusammen mit den entsprechenden Recherchen etwa in Betrieben und Verwaltungen hatte dies eine große Zahl von beruflichen und arbeits- platzbetreffenden Auswirkungen. Gegen die Auswirkungen auf Renten (bei Inhaftierten), nach Verurteilung erfolgter Verweigerung von Wiedergutmachung für Nazi-Unrecht (weil, wer unter der freiheitlich demokratischen Grundordnung verurteilt wurde mußte wohl auch zu Recht unter der faschistischen Herrschaft verurteilt worden sein. Somit gab es kein Nazi-Unrecht mehr), finanzielle Belastungen etwa aus Prozessen, usw. kämpfen sie noch heute. Daß viele in dieser Zeit Deutschland wieder verließen und Exil in den realexistierenden sozialistischen Staaten suchten, ist verständlich. Ein zeitlicher Sprung. In den 7Oiger und 8Oiger Jahren war Exil in der westdeutschen Linken kein Thema, obwohl viele Menschen in die Illegalität gingen. In vielen Fällen war dieser Schritt Voraussetzung, um weiter kämpfen zu können und somit eine bewußte Entscheidung. Diejenigen, die durch staatliche Repression gezwungen waren zu verschwinden, wurden als ab- oder untergetaucht bezeichnet. Dieses geschah ohne öffentliche Diskussion über die Grundlagen, Chancen und Schwierigkeiten eines solchen Schrittes. Vielleicht ist das einer der Gründe, daß es bis heute eine Art "Mythos" um das Thema gibt, das besagt, "verschwinden kann nur WelcheR auch kämpfen will, du mußt stark sein und verwegen, sonst geht es nicht!" So ein Quatsch, aber dazu später. Von den Untergetauchten von damals wissen wir heute, daß einige in den realsozialistischen Ländern (z.B. DDR) ein Exil gefunden hatten. Gerade aber die DDR ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell sich die Lage für ExilantInnen in den letzten Jahren verändert hat. Durch das Wegbrechen vieler realsozialistischer Länder und die Entwicklung in der EU ist es fast unmöglich geworden, ein legales Exil zu finden. Gerade das Schengener Abkommen macht es nötig, den Begriff "Exil" heute neu zu diskutieren und zu definieren. Am Ende der Entwicklung soll es in der EU so aussehen, daß der Verfolgungsdruck in jedem Land derselbe ist. Jedes Land liefert aus! Auch bei Delikten, die in einigen Ländern nicht strafbar sind, gibt es keinerlei Garantie, nicht ausgeliefert zu werden (Stichwort: internationaler Haftbefehl, Interpol, Europol). Doch nicht nur in Europa ist dies so. Die BRD hat inzwischen mit über 150 Staaten Auslieferungsabkommen unterzeichnet. Wenn der Verfolgungsdruck also in fast jedem anderen Land quasi dem der BRD gleicht, so heißt das, daß es egal ist, wo mensch sich im Exil aufhält. Exil beginnt, wo Verfolgung aufhört. Also dort, wo mensch sich "sicher" fühlt. Allerdings ist "Sicherheit" ein Gefühl und wird von jedem/jeder anders wahrgenommen. Die einen fühlen sich erst sicher im Ausland, "ohne deutsche Polizei", den anderen reicht es vielleicht schon, in eine andere Stadt zu gehen. Voraussetzung für alle dafür ist aber, daß es Strukturen geben muß, die ihm/ihr helfen, den Alltag zu organisieren. Exil als Chance? In der "radikal" Nr.153 erschien vor kurzem ein Artikel zu "Exil" in dem u.a. stand: "<em>...wer im Exil Probleme hat und es nicht aushalten zu können glaubt, der/die wird im Knast oder bei den Bullen erst recht Probleme bekommen.</em>" Diese Aussage legt den Rückschluß nahe, daß wenn Mensch die Wahl hat, es immer besser ist sich für Exil zu entscheiden. Diese Schlußfolgerung ist falsch! Die Probleme die mensch hat wenn er/sie sich fü r Exil entscheidet sind anders gelagert. Ins Exil gehen ist bei einer drohenden Verhaftung ein Weg, eine Chance, sich dem Knastapparat zu entziehen. Doch kann die Ausgangssituation, mit der sich mensch auseindandersetzten muß sehr unterschiedlich sein. So haben z.B. Lesben, Leute mit Kindern, oder Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen andere Dinge zu bedenken, zusätzliche Schwierigkeiten zu lösen. Grundsätzlich gilt aber für alle: das Exil ist eine Chance, Zeit zu gewinnen, mensch kann erst mal einen klaren Kopf bekommen und sich so in "Ruhe" überlegen, wie es weitergehen soll. Vor allem muß sich erst einmal angeschaut werden, worum es geht und da sind die Unterschiede wieder sehr groß. Zwei Beispiele: Bei dem Vorwurf des schweren Landfriedenbruchs besteht die Möglichkeit, daß der Verurteilungswille der Justiz mit der Zeit nachgelassen hat; bei der Verweigerung von ZeugInnenaussagen in einem Verfahren und der darauf folgenden Androhung von Beugehaft, ist es möglich, daß nach einigen Monaten der Grund für die Aussage entfällt und somit die Staatsanwaltschaft nicht mehr auf die Zeugenaussage besteht. Bei allen Verfahren, mit einem mittelschweren Vorwurf (bis 5 Jahre Knast Höchststrafe) läßt sich die maximale Dauer des Exils vorplanen, längstens bis zur Verjährung (wobei mensch vor dem Auftauchen auf jeden Fall mit einem Anwalt Rücksprache halten muß). Die Ausnahme von der Regel sind Verfahren nach &167; 129/129a, hier ist es nie klar, wann und ob Mann/Frau wieder zurück kommen kann. Ein Grund hierfür ist, daß der/die Untergetauchte beweisen muß, das er/sie im Exil nicht mehr in der kriminalisierten Gruppe mitgearbeitet hat. Wie schwer das sein kann, weiß jedeR der sich die abenteuerlichen Konstrukte der Bundesanwaltschaft der letzten Jahre vor Augen hält. Exil - ein politischer Begriff Daß der Begriff für Abgetauchte verwendet wird, ist neu und teilweise umstritten. Für den Begriff Exil spricht, daß er ein politisch besetzter Begriff ist. Menschen die ins Exil gingen und gehen, entzogen sich immer staatlicher Verfolgung und so wird er auch in der Öffentlichkeit" verstanden. Unserer Ansicht nach ist eine Diskussion über Exil als Alternative zum Knast notwendig, um auch in unseren Köpfen einen solchen Schritt als gangbar zu realisieren. Wichtig ist dabei der Austausch über gemachte Erfahrung mit Exil, das Einbeziehen in die praktische Solidaritätsarbeit zu einem Verfahren und die Möglichkeiten der Kommunikation mit Untergetauchten. Eine öffentliche Diskussion kann selbstverständlich nicht die konkrete technische Umsetzung zum Inhalt haben. Solche Diskussionen können nur in den einzelnen Gruppen und Zusammenhängen geführt werden. Dort muß neben der politischen Diskussion ein Umgang mit Ängsten und der persönlichen Ausgangslage, die immer eine andere ist, gefunden werden. Fangt lieber heute als morgen mit der Auseinandersetzung über Exil an, denn wenn die Staatsmacht erst vor der Tür steht, ist es viel schwieriger Strukturen zu schaffen. Es muß Raum geben, um in Ruhe eine Entscheidung für oder gegen Exil (ein Schritt, der sich im übrigen nicht strafverschärfend auswirkt) treffen zu können: Der Schritt vom Exil in den Knast ist jederzeit möglich - andersrum nicht!



<strong>Einige Gedanken zum Exil aus dem Exil</strong> <em>aus radikale Zeiten Nr.3</em> Gesuchte im Zusammenhang mit "Radikal-Verfahren" melden sich zu Wort. Exil - ein Thema, das selten "Thema" ist in der Linken: schwer zu fassen und nur unvollständig zu beschreiben. Außerdem mußten sich in letzter Zeit nur wenige deutsche Linke dorthin begeben. Aber wo ist das überhaupt - Exil? Wie sieht es dort aus, wie geht es einer/m Exilierten, womit beschäftigt sie sich...? Exilien - ein unbekanntes Land?! EIN MÄRCHEN??? Von Exilien soll ich euch erzählen. Nun, das ist nicht so einfach. Erst einmal bin ich dort gerade erst angekommen und es ist ein unglaublich großes Land, von dem ich nur einen ganz kleinen Teil kenne. Es ist fast so groß, wie die ganze Erde und Menschen aus dem Land, wo ich herkomme reisen dort in der letzten Zeit nur sehr selten hin. Aber es gibt hier sehr viele Menschen aus Afrika, Südamerika oder auch Osteuropa, die sehr viel mehr Erfahrung mit diesem Land haben - aber sie leben hier in Gegenden und unter Verhältnissen die mir weitestgehend verschlossen bleiben. Auch der kleine Teil den ich kenne ist schwer zu beschreiben. Zum einen erlauben die BewohnerInnen hier nicht, daß man ihr Land allzu genau beschreibt - aus Sicherheitsgründen, wie sie sagen (Ich konnte bisher noch nicht ergründen, was wirklich dahintersteckt, aber keine Sorge, ich arbeite dran!). Und zum anderen erleben alle, die hier mal gewesen sind oder immer noch sind, auch diesen kleinen Landesteil, den ich mit der Zeit kennenlerne völlig unterschiedlich. Deshalb ist es schwer, dieses Land halbwegs allgemeingültig zu beschreiben, da es immer wieder anders aussieht und die, die sich dort hinbegeben, meistens so gut wie keine Vorstellung davon haben, wie es aussieht, was sie dort erwartet. Zum Teil haben sie vorher noch nie versucht, etwas darüber zu erfahren und wenn doch, hatten sie große Schwierigkeiten an die rar gesäten Reiseberichte heranzukommen. Aus früheren Zeiten gibt es zwar eine Vielzahl von Berichten, aber nur wenige, die in letzter Zeit aus Exilien zurückgekommen sind haben sich entlocken lassen, was sie dort erlebten und einige sind dort auch für immer geblieben. Doch auch für die, die versucht haben, sich sicherheits- halber vorher schon möglichst gründlich über das unbekannte Land zu informieren und vielleicht sogar schon mal Kontakte zu den Menschen, die dort leben aufgenommen haben, werden erfahren, daß das Land dann doch wieder ganz anders aussieht, als sie es sich vorgestellt haben. Denn es is t ein gewaltiger Unterschied, ob mensch sich - sagen wir mal - einen Reiseprospekt von einem Land betrachtet und sich dann versucht vorzustellen, wie es sich dort leben läßt oder ob mensch sich wirklich dort niederläßt. Oft muß die Abreise auch völlig überstürzt angetreten werden, ohne für den Zeitpunkt dann auch schon gebucht zu haben, ohne sich vorher anmelden zu können. Wenn ihr Glück habt trefft ihr Menschen in Exilien die freundlich sind und hilfsbereit. Am Anfang braucht ihr viel Geduld um euch zurechtzufinden und das Land kennenzulernen. Aber einigen von euch wird es dort nach einiger Zeit so gut gefallen, daß ihr vielleicht gar nicht mehr zurück wollt - aber da beginnt schon eine andere Geschichte, die ich euch ein ander Mal erzählen will. NUN ABER: Dieser Text entsteht aus der Auseinandersetzung mit unserer Exilsituation (in der wir uns seit etwa einem halben Jahr wegen des Vorwurfes der Mitarbeit bei der radikal befinden) und mit Hilfe der Texte aus der radikal 153, die sich mit "Exil" beschäftigen. Vorweg möchten wir klarstellen, daß wir unsere Situation momentan als ein Stadium zwischen Flucht und Exil begreifen, nicht mehr nur Flucht, sondern so langsam auf dem Weg, ein Leben im Exil aufzubauen. Wir denken, bestimmte Sachen sind vera1lgemeinerbar, da alle ins Exil Getriebene mit ähnlichen Fragestellungen, Unsicherheiten und Problemen konfrontiert sein werden. Vor allem ist mensch plötzlich weitestgehend abgeschnitten von Auseinandersetzungen und Diskussionen und auch die Möglichkeiten, nach alten Mustern zu agieren, das Leben zu gestalten, Politik zu machen fallen erst mal weg und müssen auf andere Art und Weise ersetzt werden. BESONDERE BEDINGUNGEN FÜR FRAUEN IM EXIL Beginnen wollen wir mit einem Punkt, der (und das überrascht uns nicht) in den vorliegenden Texten vernachlässigt oder ganz weggelassen wird: das Eingehen auf die speziellen Bedingungen und Probleme, die sich für Frauen ergeben, wenn sie sich zur Flucht und für Exil entscheiden. Für Frauen bedeutet ein Leben in der Illegalität normalerweise, sich weniger wehren zu können gegen sexistische An- und Übergriffe. Denn ein Leben im Exil heiß t immer auch, sich möglichst unauffällig und zurückhaltend in der Öffentlichkeit zu bewegen, kein Aufsehen zu erregen. Außerdem stellt die Vergewaltigungsbedrohung eine noch größere Gefahr dar als sie es ohnehin schon ist. Da muß frau sich schon mit beschäftigen, wie sie in einer illegalen Situation auf Angriffe reagieren kann und will. Zum Beispiel: wenn sie abends durch die Stadt geht, ist dies mit ganz anderen Unsicherheiten verbunden als es früher der Fall war. Dies wird frau sehr schnell klar. Sie kann nun nicht mehr im Falle eines Angriffes vielleicht noch schnell zu einer in der Nähe wohnenden Freundin flüchten. Sie kann sich nicht mehr mit ihren Freundinnen treffen, um ihnen davon zu erzählen und sich mit ihnen zu beraten. Sie wird sich unsicher sein, auf welche Infrastrukturen wie Notruf o.ä. sie zurückgreifen könnte, so es sie gibt. Und auch die Variante verbale Anmache löst immer noch eher Unsicherheit aus. Eskalation kann im schlimmsten Fall bedeuten, sich die Bullen an den Hals zu holen. Deeskalation kann bedeuten, den Typen nicht genügend klar zu machen, daß sie sich verpissen sollen. Auffälligkeit auf der Straße assoziiert sie immer noch mit einem gewissen Risiko. Was ist, wenn sich noch andere Leute einmischen usw. Alles Fragen auf die frau nicht so schnell schlüssige Antworten finden wird. Ein anderer nicht zu unterschätzender Punkt ist, daß frau sich gerade am Anfang in einem ziemlich vollständigen Abhängigkeitsverhältnis befindet und auch da die Gefahr bestehen kann, daß dies von Männern ausgenutzt wird. Und das beginnt ja schon bei solchen Sachen wie: sexistische Sprüche, Blicke, Verhaltensweisen, auf die frau bisher sofort ziemlich heftig reagiert hat, es sich nun aber zweimal überlegt, was das für Folgen haben könnte: schlechte Stimmung und mieseres, abgekühltes Verhältnis zu den Leuten/Männern. Und das in einer Situation, wo du, wie gesagt - zumindest am Anfang - auf eine sehr beschränkte Anzahl von Menschen angewiesen und von ihnen auch abhängig bist. Wir hoffen, es ist etwas klarer geworden, daß es für Männer und Frauen auch in der Exilsituation gravierende Unterschiede gibt. Nur kurz erwähnen wollen wir, daß sich die Situation für eine Frau mit Kindern oder die schwanger ist sehr viel komplizierter darstellt. Es müssen nochmal ganz andere Probleme gelöst werden und das wird ihre Entscheidung für das, was sie sich vorstellen kann mitbestimmen. Auf die besondere Situation und die speziellen Schwierigkeiten mit denen Lesben oder Schwule konfrontiert sind, werden wir wahrscheinlich in einem späteren Text näher eingehen. VIEL ZEIT UND BESCHRÄNKTE MÖGLICHKEITEN Vor allem in der Anfangsphase des Exil-Daseins ist Lesen eine sehr gute Möglichkeit, das Gehirn in Gang zu halten und den Geist zu fordern; aber auch mal einfach Ablenkung zu finden von der ganzen Lage. Aufgrund der vielen Zeit, die du plötzlich zu Verfügung hast, kann dem Lesen eine enorme Bedeutung zukommen und zu intensiven eigenen Auseinandersetzungen beitragen, die natürlich noch mal bedeutend schöner und fruchtbarer sind, wenn du dich darüber auch noch mit anderen austauschen kannst. weiterhin ist das Erlernen einer neuen Sprache, bzw. das Wiederauffrischen eine sinnvolle und oft notwendige Beschäftigung. Eine andere Form, einen Teil der früheren Auseinandersetzungen weiterzuführen oder auch überhaupt erst zu beginnen, ist das Briefeschreiben. Und das will erst mal gelernt werden: sich selber schriftlich mitzuteilen und Diskussionen zu fü hren. Wer ist es denn noch gewohnt, Briefe zu schreiben? Alles wird über das Telefon ausgetauscht, eine Kommunikationsform, die für uns momentan natürlich tabu ist. Es zeigt sich, daß die Briefe eine Möglichkeit sind, andere anders und zum Teil besser kennenzulernen als vorher und auch, anderen von sich mehr und andere Sachen mitzuteilen. Wie schreibt Werner doch so treffend: "<em>Andererseits trainiere ich mich auszudrücken. Bevor ich euch etwas mitteilen kann, muß ich meine Gedanken und Erlebnisse verarbeiten, wodurch das Schreiben zur erstklassigen Selbstforschung und Bewußtseinsarbeit wird. (...) Sie (die Briefe, d. S.) enthalten persönliche Gedanken, auf die ich antworten kann, sind nicht schlechter oder besser als Sprechen, sondern anders: konzentrierter, überlegter, nicht so spontan. Ich lerne einige Leute neu oder von einer neuen Seite kennen, und das ist manchmal huch wie aufregend!</em>" (aus einem Brief von Werner aus dem Knast Berlin-Moabit, siehe Interim 354 vom 30.11.95 - mittlerweile ist er zum Glück wieder draußen!). Dies und vieles andere muß natürlich auch in irgendeiner Form organisiert werden: die Briefe, möglichst viele Infos und wahrscheinlich Kohle müssen dich erreichen können; du willst ja nicht völlig abgeschnitten sein von allem, sondern möglichst viel von dem mitkriegen, was weiter passiert. Außerdem muß sich um viele Sachen, die du einfach so liegen lassen mußtest (Wohnung, Arbeitsamt, Krankenversicherung usw., usf.) gekümmert werden. Viel Arbeit! Weiter: es gibt durchaus eine Menge spannender und neuer Aspekte im neuen Leben. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen, denn vor allem am Anfang tendiert mensch oft dazu, das neue Leben nur anstrengend, langweilig, einfach Scheiße zu finden und das "frühere" demgegenüber zu verklären; mensch ruft sich nur die schönen, spannenden Teile in Erinnerung, kann es nur mit Mühe realistisch als das betrachten, was es war: eben oft auch unbefriedigend, nervig, voller Lücken und Tücken. Aber je mehr wir das "Alte" verklären, desto schwerer fällt es, sich auf das "Neue" wirklich einzulassen. Und das ist auch für den nächsten Punkt wichtig: WEG VON DEN GRÜBELEIEN - AUF ZU NEUEN LEBEN (MIT VIEL GEDULD!) Das Thema Knast beschäftigt uns zumindest in dieser Anfangsphase häufig, und das aus mehreren Gründen : Klar, erstmal sind wir heilfroh, ihnen entwischt zu sein und wir denken sehr oft an die 5, die drin Sitzen (bzw. sind inzwischen alle 5 wieder raus, worüber wir uns riesig gefreut haben - wir schicken euch, Werner, Rainer, Andreas, Ralf und Ulf, auf diesem Weg 1000 Grüße und Küsse!!!). Andererseits ist es ja nicht ausgeschlossen, daß sie auch uns durch einen dummen Zufall oder was auch immer noch erwischen. Also Versuchen wir uns vorzustellen, wie es uns im Knast ergehen würde, wie gut wir das durchstehen könnten. Sicherlich eine sinnvollere Auseinandersetzung als dies ständige "Was wäre wenn..." -Grübeln. Denn dieses Grübeln über das evtl. zu erwartende Strafmaß, das ständige Abwägen im Kopf (bis zu welcher zu erwartenden Strafe gehe ich wieder zurück usw .) ist mit Sicherheit eines der Themen, die immer wieder auftauchen. Es ist schwer, sich davon frei zu machen. Ständig rauschen dir Mindeststrafen, Höchststrafen, Bewährungsstrafen durch den Kopf. Dabei ist es ja gerade bei politischen Prozessen kaum möglich, ein Strafmaß vorher abzuschätzen, die Urteile meist völlig willkürlich. Es macht natürlich noch einen Unterschied, was dir genau vorgeworfen und welches Strafmaß damit verbunden sein wird. Wenn ziemlich klar ist, daß dich mindestens 5 Jahre Knast erwarten, wirst du dich weniger mit solchen Grübeleien abgeben, die endgültige Entscheidung wegzubleiben wird dir leichter fallen. Alles was darunter liegt, wird dich schon eher in dieses abwägende Denken treiben und auch wir müssen da sehr aufpassen, uns nicht davon bestimmen zu lassen. Denn sobald dies der Fall ist, führt es mit Sicherheit dazu, Augen und Ohren für viele Möglichkeiten, die sich im Exil im Laufe der Zeit bieten zu verschließen und sich nicht darauf einzulassen, da mensch mehr mit den fruchtlosen Abwägereien und dem früheren Leben beschäftigt ist, als mit dem neuen. Wenn wir bewußt davon ausgehen, für lange Zeit wegzubleiben mobilisiert das ganz andere Kräfte in uns selbst, die neue Situation mitzugestalten. Du gewinnst einen Teil der Initiative fü r das eigene Leben zurück, versuchst Sachen anzupacken, auszuprobieren, beginnst Ideen zu entwickeln und nach ihrer Realisierbarkeit zu suchen. Aber dann zeigt sich schnell, daß für alles viel viel viel Geduld nö tig ist, was auch erst gelernt sein will. Wir haben festgestellt, daß dies wirklich ein sehr wichtiger Punkt ist, weil alles viel mehr Überlegung braucht und nichts geht mehr so einfach hoppla die hopp. Wir müssen ja auch erst mal herausfinden was wir eigentlich wollen, eine Klarheit finden und das geht am besten mit einer inneren Ruhe, die nun auch nicht auf Abruf und immer parat steht. Und deshalb brauchen wir auch viel Geduld mit uns selbst und dem Fakt, da ß es dauern kann, bis sich entsprechende Möglichkeiten auftun. Bzw. von anderen aufgetan werden können, denn das ist ja auch so ne Sache, daß wir auf einmal in ganz vielen Sachen sehr von anderen Leuten abhängig sind und darauf bauen und vertrauen müssen, daß sie vieles für uns regeln und anleiern. Und wenn das dann mal nicht so schnell klappt, wie wir es gerne hätten, heißt es wieder, sich in Geduld zu üben, nachzuhaken, zu erinnern. Denn die Leute hier haben natürlich auch noch ihr eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen und können sich nicht ständig um unsere Sachen kümmern, auch wenn wir es gerne hätten. Und so hat man auch erstmal viel Zeit für sich selbst, viel weniger Termine, der Tag/die Woche ist meist kaum strukturiert und du mußt aufpassen, daß du nicht einfach in den Tag hineinlebst, kaum noch was geregelt kriegst und in ein Loch fällst. Du merkst nochmal sehr viel intensiver, ob du mit dir klarkommst, mit dir was anfangen kannst. Wir versuchen, uns Sachen vorzunehmen, auf die wir uns freuen können und sie uns immer wieder in Erinnerung zu rufen: sei es nun ein Kinobesuch, eine Essenseinladung oder ein Ausflug. Oder du fängst an (oder setzt es fort), dich intensiv mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen, dir Sachen zu erarbeiten und auch mal was zu Papier zu bringen, wie dies hier gerade. Der wichtigste Punkt unserer Meinung nach ist, wieder eine politische Perspektive zu entwickeln, also etwas zu finden wo wir wieder politisch aktiv sein, uns engagieren und sinnvoll beschäftigen können. Dabei ist auch wieder Geduld ein ganz wichtiger Faktor. Die Auswahlmöglichkeiten und die Art der möglichen Betätigung werden anders sein, vielleicht weniger, und so müssen wir uns eben auch in ungewohnten Sachen fordern und versuchen zurechtzufinden. Aber auch im "normalen alten Leben" verlief ja nie alles einfach und geradlinig. Zusammenhänge sind aus den verschiedensten Gründen auseinandergeflogen, oder bei einem Umzug in eine andere Stadt konnte es ja auch lange dauern, bis mensch die richtigen Leute gefunden hat oder das richtige Projekt um sich einzuklinken. Klar, es gibt Erfahrungen auf die du dann zurückgreifen kannst und die das Suchen und Finden erleichtern und auf die wir nun nicht mehr so einfach zurückgreifen können, aber trotzdem.... EINE GEKLAUTE EINLEITUNG ALS SCHLUßWORT Zum Schluß zitieren wir die Einleitung eines Artikels aus der radikal vom Juli "Abtauchen - Leben in der Illegalität", der darüber hinaus viele lesenswerte Tips und Hinweise zum Thema enthält: "<em>Illegal zu leben ist nichts exotisches! In die Illegalität geht man, wenn man muß.(Frau auch!) Dieses Muß betrifft in der momentanen politischen Situation zum größten Teil ausländische Frauen und Männer die aus ihren Herkunftsländern fliehen vor Krieg, politischer Verfolgung, Diskriminierung als Frau oder Angehörige bzw. Angehöriger einer bestimmten Nationalität, Hautfarbe, Religion oder weil ihr materielles Leben nicht mehr gewährleistet ist. Allein in der BRD leben viele Tausende illegal. Für Deutsche erübrigen sich aufgrund des herausragenden Lebensstandards solche Überlegungen zur Flucht. Für uns wird das Thema erst aktuell, wenn wir verschärfter staatlicher Repression ausgesetzt sind. Doch auch hier ist die Praxis des Abtauchens oder Abhauens gar nicht so selten, wie oftmals angenommen wird. Wir fänden es gut, wenn mehr Frauen und Männer, die zu dem Thema was sagen könnten, sich entschließen würden, ihre Erfahrungen zu veröffentlichen, soweit das möglich ist. So kann die Vorstellung für viele Linke greifbar und zu einer reellen Entscheidungsmöglichkeit werden und muß nicht bestimmt sein von irrationalen Ängsten und dem Unvermögen, sich ein anderes Verhalten vorstellen zu können als das staatlich vorgegebene. Wir grüßen alle, die im Exil sind, besonders Bernhard, Peter und Thomas, Andrea, Cengiz und Frank, Jutta, Mattes und Ulli! Wir wünschen euch ganz viel Power und auch dort, wo ihr jetzt seid viele Sternstunden!!!</em>" <strong>Von der Bürde und der Würde des Exils</strong>

aus radikal Nr. 153

Die Frage Exil oder Knast ist nicht gerade neu in der linken Geschichte. SpanienkämpferInnen, KPlerInnen und andere AntifaschistInnen während des Nationalsozialismus, lateinamerikanische GenossInnen während der Militärdiktaturen - es lohnt sich, ihre Biographien zu studieren, um eigene Probleme und Möglichkeiten zu relativieren und zu klären. Das ist keine billige Moralisierung, sondern ein Hinweis auf die viel geringere aktuelle Erfahrung der BRD-Linken mit dieser Frage.

Wir sind auf historische und internationale Erfahrungen angewiesen, die uns zumeist nur in schriftlicher Form vorliegen. Auch die Solidarität, praktisch-unmittelbar und politische Kampagnen usw., läßt sich mit historischen Erfahrungen vor Augen besser entwickeln.

Es ist sinnvoll zwischen Exil, Illegalität und Flucht zu unter- scheiden. Flucht ist Weglaufen, Entkommen. Die erste Phase vielleicht, negativ bestimmt, in der du reagierst und wenig gestaltest. Illegalität ist in der Definition und dem Selbstverständnis von militanter Organisierung offensives Handeln aus der verdeckten Gruppenstruktur heraus. Exil hingegen ist das Leben in einer neuen Existenz, unter anderen Vorzeichen, fern der bisherigen Lebenswelt.

Ausgangspunkt für die Entscheidung, entweder ins Exil zu gehen oder sich zu stellen, ist das eigene politische Verhalten vor- her. Ist die jetzige Lage nur ein Tritt in die Scheiße oder Konsequenz eines bewußt eingegangenen Risikos, einer politischen Arbeit, von deren Sinn du überzeugt warst um den Preis persönlicher Schwierigkeiten und Repression? Wenn das so ist, wirst du wenig(er) Probleme haben, weil du nichts bereust. Mit dieser Einstellung stellst du dich nicht, aber wenn es dann doch mal dazu kommt, fällt dir auch Knast leicht(er).

Die erste Zeit im Exil ist selbstverständlich geprägt von Trauer, Verlustgefühlen und Eingewöhnungsproblemen. Angesichts dieser Schwierigkeiten der ersten Monate - die vermutlich alle Exilierten hatten/haben - scheint die vage Überlegung, legal zurückkommen zu können, wichtiger, als sie es nach ca. einem Jahr ist. Historisch wie auch aktuell berichten die meisten, daß sie nach dieser Zeit sehr gut klar kamen und noch länger zu bleiben kein Problem geworden sei. Manche wollten sogar nicht zurück, weil sie ihr neues Leben im Exil mehr schätzen gelernt hatten als ihr früheres.

Exil ist gelungene Flucht, Gestaltungsmöglichkeit. Diese Möglichkeit zu nutzen, nicht nur (über)leben zu wollen, sondern eine persönliche und politische Perspektive sich aufbauen zu wollen, das ist entscheidend.

Die Entscheidungsmöglichkeiten und -chancen sind nicht gerade die alten, vormals gelebten, aber auch nicht weniger zahlreich auf lange Sicht. Es sind neue Möglichkeiten, die Zeit brauchen, bis sie realisiert werden. Diese Erfahrung und die Wichtigkeit von hartnäckiger Geduld unterstreichen Exilierte immer wieder.

Exil bedeutet auch, nicht allein zu sein und sogar in einer zunächst fremden Gesellschaft leben, lernen, kämpfen zu können. Letztlich, sich von dort aus einmischen zu können in die Dinge "zuhause".

Sich zu stellen, der Knast, ist eine Pseudoalternitive, die so gut wie nichts davon bietet.

Sowohl zu Knast, als auch zu Exil, gehören zwei: die Betroffenen und die Solidarischen.

Die Entscheidung Knast oder Exil ist von beiden Seiten abhängig und gemeinsam zu fällen. Jemandem im Exil zu helfen ist etwas anderes, als ihn/sie im Knast zu besuchen. Ersteres ist erheblicher befriedigender, lehrreicher und gestaltbarer! Sicherlich, es gibt finanzielle, zeitliche und allgemein logistische Probleme, die desto gravierender sind, je kleiner und angeschlagener die Linke allgemein ist. Aber diese Schwäche -als unabänderlichen "Sachzwang" hinzunehmen und deshalb in den Knast gehen zu "müssen", das wäre eine politisch unkontrollierte, bittere und eigentlich phantasielos-dumme Entwicklung. Es gab und gibt immer bessere Lösungen als sich zu stellen.

Wichtig ist es, sich nicht auf juristische Überlegungen zu versteifen. Auf dem Gebiet ist vieles doppelbödig und voller möglicher Irrtümer. Gerade AnwältInnen sind oft "betriebsblind" und keine sicheren RatgeberInnen. Der einfache, fast platte Ansatz, daß die Bullen ja nicht umsonst so eine Aktion in dem Ausmaß gestartet haben, um einen zu kriegen und es deshalb auch nicht unterlassen werden, einen richtig einzumachen - so sie dich denn hätten - ist immer der richtige. (Wenn sie mit dem Einmachen dann doch nicht durchkommen, weil es eine gute Kampagne usw. gibt, dann ist das deren Verdienst und nicht Folge des Sich-stellens).

Das Beispiel Kaindl-Prozeß sollte lehrreich sein: Wer sich dort guten Glaubens und juristisch beraten stellte, saß erstmal im Knast, die weg blieben, hingegen nicht.

Nebenbei: Bei dem jetzt erhobenen juristischen Vorwurf wäre eine Kampagne im Exilland gegen eine Auslieferung im Falle des dortigen Einfahrens ziemlich gut möglich und erfolgsträchtig, denn die BRD ist so ziemlich das einzige Land, welches so etwas kriminalisiert.

Wer sich stellte, wer in den Knast kam als "SelbststellerIn", der/die hatte es schlecht. Das läßt sich leicht begründen: Sich zu stellen führt zu der Einstellung, daß alles, was danach geschieht, deine eigene Schuld ist. Du hättest dich ja nicht stellen müssen. Eine Schikane im Knast, ein gehässiger Kommentar in der Presse über dich - alles wäre vermeidbar gewesen; Scham, Wut und Stress hätte es in dieser Form im Exil nicht gegeben.

Sich zu stellen in einem Deal für Haftverschonung bringt andere Nachteile mit sich. Der Knast droht weiter, das macht erpreßbar, erzwingt gewisses zurückhaltendes Verhalten - sprich: eine opportunistische Zwangslage. Und tief in dir drin sticht die Gewißheit, daß du dich hast beugen lassen. Dies kann eine Schädigung der Persönlichkeit für das ganze weitere Leben bedeuten; diesen Knick in der politischen Biografie wird niemand los.

Es ist ein hohes Risiko in den Knast zu gehen, denn medizinische oder psychische Probleme kommen oft erst dort zum Tragen.

Katharina Hammerschmidt ist z.B. auf den Rat ihres damals linken Anwalts zu den Bullen gekommen, im Knast gelandet und drei Jahre später aufgrund eines dort nicht erkannten und nicht behandelten Tumors gestorben. Nach ihrer viel zu späten Freilassung ist sie ausgerechnet im Ausland medizinisch behandelt worden - in dem Land, in das sie vorher ins Exil hätte gehen können ... Sie hätte dort sehr wahrscheinlich überlebt. Im Exil krank zu werden, ist immer noch besser als im Knast, denn dort gibt es keine Wahl mehr, dort bist du auf die Knastmedizin angewiesen und ihr nahezu ausgeliefert.

Exil ist Leben in Gesellschaft, wenn auch am Rand oder mit wenigen, aber es ist immer noch deine Wahl. Knast ist Einsamkeit, denn die räumliche Nähe zur alten Lebenswelt ist real, durch Post- und Besuchskontrolle, eine sehr große Entfernung. Ein gutes Treffen im Exil alle paar Wochen für ein paar Tage ist mehr als alle zwei Wochen ein, zwei Stunden Besuch in einem widerlichen Raum mit noch widerlicheren Lauschern.

Kommunikation im und aus dem Exil ist sicherlich nicht ein- fach, aber sie ist organisierbarer als im Knast. Die wesentlichen Verbindungen lassen sich von dort aus leichter herstellen, im Knast ist nichts bis wenig davon möglich.

Wichtig: Wer im Exil Probleme hat und es nicht aushalten zu können glaubt, der/die wird im Knast oder bei den Bullen erst Recht Probleme bekommen. Bullen halten sich nicht an Absprachen, sie legen sich-stellen als Schwäche aus und versuchen mit mehr Druck mehr zu kriegen. Nach der Logik: Wenn der Druck des Exils reichte, daß der/die sich stellte, dann wird der Druck des Knastes noch ganz andere "Erfolge" zeitigen...

Die Schliesser lachen sich schlapp über "SelbststellerInnen"', sie haben nie den Respekt, der für Gefangene extrem wichtig ist und der politischen Gefangenen zumeist doch entgegengebracht wird. Bei Knackis gelten "SelbststellerInnen" als unsichere Figuren, da sie sich offensichtlich gebeugt haben, anstatt so lange wie nur irgend möglich dem stumpfen Knastleben zu entgehen. Gerade die Gefangenen, die hart darum gekämpft haben nicht so leicht erwischt zu werden, oder die versucht haben auszubrechen, haben wenig Verständnis für welche, die freiwillig in eine Zelle gehen.

Knasterfahrungen und -berichte gibt es in der BRD inzwischen reichlich. Wie der zu überleben ist, wie du dort halbwegs klarkommen kannst, können einige erzählen. (Und alle werden erzählen, daß er am besten zu überleben ist, wenn du dich nie er- gibst und nie freiwillig auf ihn einläßt).

Die wenig zahlreichen Exilerfahrungen sind eher unverarbeitet und undokumentiert. Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe, sie zu sammeln, zu beschreiben und auszuwerten - für andere Linke, die mit Gewißheit irgendwann vor der gleichen Frage - Exil - stehen werden.

Zum Absch1uß: Es ist erfahrungsgemäß wichtig, im Exil eine Aufgabe zu haben, bzw. sie sich zu suchen und an politischen Projekten beteiligt zu sein, die einen unmittelbaren Sinn für einen selbst wie für die Linke haben. Die Beteiligung an diesen Projekten muß konkrete Formen annehmen, sei es "nur" durch Schreiben und übersetzen, oder Recherchen oder sonstwas ...

Im Exil zu warten, kostet nicht viel, sich-stellen kann sehr, sehr teuer werden. Nicht nur für die, die es tun.

Warten bringt Durchblick, sich-stellen ist Ungeduld. Wer sich stellt, beschädigt sich selbst, er/sie verliert den Respekt anderer und den Respekt vor sich selbst. In den Worten lateinamerikanischer GenossInnen, die sehr grobes Gewicht darauf legen: Du verlierst deine Würde.

Exil ist eine viel "würdevollere " Situation als der Knast.

Gruppe "Wider den Knick"


Ready or not?

<em>In der radikal Nr. 153 erschien der Artikel "Von der Bürde und Würde des Exils" der "Gruppe wider den Knick" (GwdK). Der folgende Text war ursprünglich als Entgegnung darauf gedacht. Nun ist es aber mehr eine Ergänzung geworden: dazu, wie durch das Abtauchen neben den Flüchtenden auch viele andere mitbetroffen sind, und wie deren Situation und Probleme aussehen</em>. Mir sind beim Lesen des Artikels einige Sachen aufgefallen, die mir nicht gefallen haben. Ich will aber auf keinen Fall die Absicht des Artikels infrage stellen. Im Gegenteil, auch ich finde es gut, dem Thema "Flucht/Exil/Leben mit einer neuen Identität" seinen Schrecken zu nehmen und der Alternative "Knast" entgegenzusetzen. Es ist wichtig, dem Mythos des Abtauchens als etwas Unmögliches (da die Bullen ja eh alles wissen und kontrollieren würden), entgegenzuarbeiten und konkrete Erfahrungen dagegen zu setzen. Das aber gelingt in o.g. Artikel nur zum Teil, zum anderen tragen die Leute eher dazu bei, neue Mythen zu kreieren (z.B. die/der ungebrochene, psychisch kaum angeknackste Abgetauchte auf der einen, die/der gebrochene Selbst-Steller/in auf der andern Seite). Es gab in letzter Zeit einige gute Erfahrungen mit dem Abtauchen, zu denen sich die entsprechenden Leute auch geäußert haben: einige Leute aus dem Kaindl-Verfahren (vgl. radi 150 und 153), Leute aus dem radikal-Verfahren (radikal Nr. 153, kassiber Nr. 29), Ulli D. aus den Verfahren gegen die Rote Zora und die Revolutionären Zellen (Konkret 9/96). Es gibt aber auch schlechte Erfahrungen, wo Leute mit dem Exil nicht klargekommen sind bzw. es auch gar nicht versucht haben. Einige sind relativ schnell von den Bullen gekriegt worden, andere haben sich sofort gestellt, ohne abzuwarten, wie das Verfahren sich überhaupt entwickeln wird - u.a. auch deshalb, weil sie und ihre FreundInnen es sich nicht zugetraut haben, die Illegalität zu organisieren. Aber auch aus einigen der positiven Erfahrungsberichte geht hervor, daß das Abtauchen höllisch viel Arbeit und große psychische Belastung vor allem auch für die Dagebliebenen bedeutet. Von daher wär's nun Zeit, auch vermehrt und konkreter über die Probleme und Schwierigkeiten, die das Abtauchen für die Zurückbleibenden mit sich bringt, zu reden. 1. "Umfeld" In den ganzen Diskussionen ums Abtauchen sind bisher fast ausschließlich die Betroffenen selbst zu Wort gekommen, aber kaum Leute aus deren Umfeld, politische Zusammenhänge, Bezugspersonen etc. Die einzige mir bekannte Ausnahme sind die Frauen aus Bremen, und es scheint mir kein Zufall zu sein, daß es gerade Frauen sind, die das Thema, was das Abtauchen für das sog. Umfeld bedeutet thematisieren. Auch im Artikel der GwdK tauchen die ganzen Bezugspersonen, FreundInnen etc. so gut wie gar nicht auf. Der Tatsache, daß das Abtauchen nicht allein ein Problem ist für die, die gehen, sondern gerade auch für die, die zurückbleiben, wird viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auch ihre Situation wird durch Flucht und Abtauchen grundsätzlich verändert, auch sie müssen mit dem Verlust, dem Schock und der Angst klarkommen. Je besser vorbereitet so ein Umfeld ist, wenn die Leute sich schon eingehend mit der Möglichkeit, selbst Abtauchen zu müssen, auseinander- gesetzt haben, und je mehr Erfahrungen mit konspirativem Verhalten und Organisierung sie haben, desto einfacher wird es für sie werden. Und trotzdem ist es noch hart genug - und noch mehr für die, die einfach ins kalte Wasser geworfen werden, sich in der Beziehung wenig Gedanken gemacht oder/und sich wenig zugetraut haben. Von daher ist es eigentlich unerläßlich, auch über den Bekanntenkreis nachzudenken und entsprechende Vorkehrungen zu treffen, wenn mensch sich entscheidet, Aktionen zu machen, die das Risiko von mehreren Jahren Knast beinhalten. Derartige Überlegungen habe ich bisher nur von Eltern bezüglich ihrer Kinder mitgekriegt. Mütter und Väter stehen immer wieder vor der Frage, was kann ich meinem Kind gegenüber verantworten und wie kann ich garantieren, daß das Kind möglichst wenig darunter zu leiden hat, wenn ich plötzlich von der Bildfläche verschwinde, also z.B. im Knast oder eben auf der Flucht bin. Ähnliche Überlegungen könnten sich aber auch bezüglich anderer Personen gemacht werden: Menschen, die besonders von uns abhängig sind, z.B. weil sie schwer krank sind oder sich psychisch in einer labilen Verfassung befinden, die eigenen Eltern, nicht leibliche Kinder oder einfach unsere ganzen FreundInnen und GenossInnen. Natürlich soll das nicht heißen, nichts mehr riskieren zu können, wenn einige der Faktoren nicht optimal sind (wer hat schon die Eltern, die mit 'ner derartigen Situation klarkommen ...). Aber es ist auf alle Fälle wichtig, sich dazu im voraus Gedanken zu machen, und da, wo Probleme zu erwarten sind, diese ernst zu nehmen und nach Lösungen zu suchen. Das fängt bei Kleinigkeiten wie der Melde-Adresse an: Eine Ein- oder Zwei-Zimmer-Wohnungs-Adresse kann besser sein als eine große Wohngemeinschaft, da dadurch wesentlich weniger Leute in Mitleidenschaft gezogen werden. Es kann heißen, sich gegen einen "Markennamen" zu entscheiden, da durch den _ 129a die drohende Knaststrafe höher und die Verfolgung (z.B. Fahndung, Observationen, Vorladungen) durch die Staatsbüttel bedeutend härter ist. Es kann heißen, eine weitere, an der Aktion nicht beteiligte Person einzuweihen, damit im Falle des Scheiterns immerhin eine außenstehende Person Bescheid weiß, die dann schnell reagieren und z.B. von der Fahndung betroffene Leute warnen kann. Und es soll heißen, Vorkehrungen für den Fall des Fehlschlagens einer Aktion und für die Flucht zu treffen (Fluchtwohnung, Bargeld, Konto-Karten und PIN weitergeben). Eigentlich müßten wir alle, die sich als "radikale und/oder revolutionäre Linke/r" verstehen, auf derartige Situationen vorbereitet und in der Lage sein, damit umzugehen. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft oft eine riesengroße Lücke. Und nur wenige Leute können auf Erfahrungen in derartigen Situationen zurückblicken. Außerdem gibt es 'ne ganze Menge Leute unter uns, die psychisch nicht besonders belastbar sind. Aus obigen Gründen finde ich den Satz der GwdK "Es gab und gibt immer bessere Lösungen als sich zu stellen" in dieser Absolutheit auch nicht richtig. Ich will damit nicht sagen, daß es eine gute Lösung ist, in den Knast zu gehen, aber es könnte in bestimmten Situationen die bessere von zwei schlechten sein. Mensch könnte sich z.B. gegen ein langjähriges Exil entscheiden, um für ein Kind oder eine andere abhängige und wichtige Bezugsperson erreichbar zu sein und einigermaßen regelmäßige Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten durch Knastbesuche und Briefe aufrechtzuerhalten. Dies wäre in meinen Augen auch eine korrekte und akzeptable Entscheidung in einer derartigen Situation. Wichtig aber auch da, daß so eine Entscheidung nicht überstürzt gefällt wird, sondern erst nach ausführlichen Diskussionen mit Vertrauenspersonen und nachdem genauere Abklärungen über den Stand der Ermittlungen eingezogen sind (was aber in einem Verfahren, wo keine Anklage erhoben werden kann, "weil die Verdächtigen flüchtig sind", nicht so einfach ist). Außerdem sollten Alternativen vorhanden sein und die Person sich emotional wieder gefaßt haben. 2. Anspruch und Realität Der durch das Abtauchen in Mitleidenschaft gezogene Personenkreis setzt sich meist aus den unterschiedlichsten Leuten mit den unterschiedlichsten politischen Standpunkten und Erfahrungen zusammen. Im folgenden werde ich mich auf Leute beziehen, die selber aus einem radikalen linken/ autonomen Spektrum kommen, die sich also - zumindest von ihrem Anspruch her - schon mit derartigen Situationen auseinandergesetzt haben, und wo mensch denken könnte, daß diese Leute der Situation einigermaßen gewachsen wären. Doch so glatt geht das alles nicht, wie sich in Berlin nach dem mißglückten Anschlag auf die Baustelle des Abschiebeknastes und der darauf einsetzenden Fahndung gezeigt hat. Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe, und fast alle, die's irgendwie betroffen hat, waren zuerst einmal völlig außer sich. Einerseits das Entsetzen, daß das "Schreckliche" eingetreten ist, daß Leute, die wir lieben, die Flucht antreten müssen. Andererseits die Angst angesichts der auf einen zurollenden Fahndungs- und Repressionsmaschinerie, irgendwas falsch zu machen und den Verfolgten zu schaden. Die wenigsten schafften es, mit dieser Situation von heftigster praktischer Belastung auf der einen und extremem Gefühlssalat auf der andern Seite korrekt umzugehen. Es war unheimlich viel Aggression, Mißtrauen und Verständnislosigkeit untereinander zu spüren. Im nachhinein kommt es einem so vor, als wenn für den Schock und die Angst ein Ventil gesucht und Unmengen von Aggressionen mobilisiert wurden und - da Bullen und Staat grad übermächtig erschienen - nicht gegen diese, sondern gegeneinander gerichtet wurden. Viel Wut auch auf die Gesuchten, denen ihre ganzen Sünden der letzten Jahre aufgerechnet wurden, und auf die, die diese Aktion verbockt hatten. Ich will damit nicht sagen, daß es keinen Grund gegeben hätte, wütend zu sein. (Die Gruppe K.O.M.I.T.E.E. hat ja auch selbst eingestanden, schwerwiegende Fehler gemacht zu haben, indem sie Unbeteiligte heftigst in die Sache mitreingezogen hat.) Doch damit läßt sich das, was in den ersten Tagen abgelaufen ist, nicht erklären. Vielmehr spielte eine Rolle, daß viele über Nacht in eine für sie sehr unangenehme und schwierige Situation katapultiert wurden, eine Situation, die viele für sich eigentlich ausgeschlossen hatten, da sie sich entschieden hatten, bestimmte Aktionen und Aktionsformen nicht (mehr) zu machen. Zu einer solchen Entscheidung hatten unterschiedliche Gründe geführt, z.B. die Unzufriedenheit über die eigene Praxis, die nicht den Ansprüchen genügt (zu viele Fehler/zu wenig Verantwortung), oder es politisch nicht mehr sinnvoll bzw. das Verhältnis Risiko/Wirkung nicht mehr stimmig zu finden oder einfach die Angst und den Psychostreß und andere Unannehmlichkeiten von militantem Alltag nicht mehr länger mitmachen zu wollen. Meist spielen mehrere dieser Gründe zusammen, doch oft wird damit nicht offen umgegangen, die politischen werden angeführt, von den persönlichen wird geschwiegen (weil's oft nicht so leicht zu akzeptieren ist und auch etwas am Selbstvertrauen kratzt, von früheren Vorstellungen und Ansprüchen Abschied zu nehmen). In so eine Situation platzen andere, versuchen sich an einer Aktion, die vom Angriffsziel her nicht zu kritisieren ist, und scheitern - aufgrund dummer Zufälle und aufgrund eigener Fehler und Fehleinschätzungen. Die Konsequenzen (ungeahnten Ausmaßes) donnern über alle hinweg, auch über die, die sich anders entschieden haben. Tja, und da liegt es eben doch sehr nahe, mit Wut und Abwehr zu reagieren und die Verantwortung auf andere abzuwälzen. Hier aber läßt sich die Kritik, die sich im ersten Teil an die Militanten richtete, das "Umfeld" nicht genügend in die eigenen Überlegungen miteinbezogen zu haben, nun auch an die andere Seite richten. Solange wir uns individuell - oder als kleine Gruppe - gegen militante Aktionen entscheiden, können wir nicht davon ausgehen, daß sich all die anderen um uns herum auch so entscheiden, d.h. wir müssen uns auch weiterhin einen Kopf darum machen, wie wir mit Repression umgehen, was Abtauchen für uns heißt etc. Und solange wir uns als Teil einer linksradikalen Szene begreifen, die sich die Wahl der Mittel nicht vorschreiben läßt, die sich die Option auf direkte Angriffe nicht nehmen läßt, solange müssen wir auch politisch die Verantwortung für das übernehmen, was solche Angriffe an Repression auslösen, und können die Verantwortung nicht allein auf die abwälzen, die sich zu bestimmten Aktionen entschlossen haben. Dazu ein Zitat aus dem Papier "Selbstverständnis einer militanten Gruppe" (Interim Nr. 388, S. 16, Abschnitt 4, Praktische Distanz zu Militanz?): "<em>Wenn wir die Prämisse von der Militanz als integralem Bestandteil revolutionärer Politik setzen, ist die Frage der "praktischen Distanz" zu militantem Vorgehen nicht allein an militante AktivistInnen zu richten. Linksradikale, die eine "praktische Distanz" zu Militanz verspüren, und damit nicht nur ein zeitlich befristetes Aussetzen meinen, sondern sich generell davon abwenden und ihr gar die Legitimation absprechen, sind umgekehrt durchaus nach der Ernsthaftigkeit ihres sozialrevolutionären Engagements zu fragen.</em>" 3. Die "Würde" Die Gruppe Wider den Knick schreibt in ihrem Papier: "<em>Wer sich stellt, beschädigt sich selbst, er/sie verliert den Respekt anderer und den Respekt vor sich selbst. In den Worten lateinamerikanischer GenossInnen, die sehr großes Gewicht darauf legen: Du verlierst deine Würde.</em>" Nun, das ist der Abschnitt im Text, der mich am meisten wütend gemacht hat. Es gibt die unterschiedlichsten Voraussetzungen und Gründe, weswegen sich Leute stellen. Die einen sind durch die veränderte Verfahrenslage nur noch von wenig Knaststrafe bedroht und das Leben im Exil erscheint ihnen fremdbestimmter und aufgezwungener als ein Sich-Stellen. Andere sehen keine andere Möglichkeit der RAF-Kill-Fahndung zu entkommen. Sicher, diese Leute gehen Kompromisse ein, aber ist es nicht etwas dick aufgetragen, ihnen gleich Würde und Respekt abzusprechen? Ich finde, Ihr habt einen sehr dogmatischen und eingeschränkten Begriff von dem, was "Würde" sein soll. Eine Vorstellung, wonach mensch eine Würde hat, die sie/er unwiderruflich verliert, wenn mensch sich den Bullen gegenüber nicht eindeutig verhält. Das ist ein sehr eingeengter Blick. Ich denke eher, daß es im ganzen Leben immer wieder Situationen gibt (und nicht nur im Zusammenhang mit der Staatsgewalt), wo wir unsere Würde zu verteidigen haben. Und je nach Biographie und Geschlecht haben wir mehr oder weniger Situationen hinter uns, wo wir uns nicht so verhalten haben/konnten, wie wir's richtig gefunden hätten, wo wir schwach waren, feige, Ohnmacht erlebt und (uns) erniedrigt haben/wurden - und uns hinterher mühsam wieder unsere Würde erkämpfen/erarbeiten mußten. So kompromißlos wie Ihr urteilt, wird das Verhalten vor Gericht, gegenüber Bullen und Justiz zu dem Maßstab unserer Identität, erscheint als etwas nicht wieder Gutzumachendes, und die ganzen Miesheiten, Feigheiten, das Kuschen im privaten und alltäglichen Bereich geraten aus dem Blickfeld. Sicher, das Sich-Stellen kann eine sehr "unwürdige" und erniedrigende Situation sein (vor allem wenn's aus einer kraßen Schwäche- oder Ohnmachtsposition erfolgt), und sicher ist es immer wieder wichtig, Bullen und Justiz so wenig wie möglich entgegenzukommen, sich möglichst nicht freiwillig zu stellen, keine Aussagen zu machen (und solche, die andere belasten, auf gar keinen Fall!). Aber leider gibt es immer wieder Situationen, wo die Leute sich anders entscheiden, wo sie zuviel Angst haben oder kein Risiko eingehen wollen (die autonome Prozeß-Geschichte ist voll davon). Mit diesen Schwächen und Unzulänglichkeiten müssen wir wohl oder übel umgehen. Je offener damit umgegangen wird, desto kleiner der Schaden, der dadurch entsteht. Und auch die Abgetauchten werden immer wieder vor Situationen stehen, wo sie um ihren Respekt kämpfen müssen, z.B. wenn der Flucht ärgerliche Fehler vorausgegangen sind. Oder wenn sich das Abtauchen als sehr schwierig und belastend rausstellt, sie an ihre eigenen Grenzen stoßen und die Frage des Sich-Stellens wieder auftaucht. Oder wenn sich Beziehungen entwickeln zu Leuten, die nicht Bescheid wissen und nicht eingeweiht werden können, also ein großer Teil einer Beziehung auf einer Legende, einer Art Lüge, beruht. 4. Fazit Nun, was sollte das Ganze? Mir geht's um mehrere Dinge: als erstes fänd ich's gut, wenn in der gesamten Diskussion ums Abtauchen vermehrt das "Umfeld" der Abgetauchten ins Blickfeld gerät und sich selbst dazu äußern würde (soweit das halt in einem nicht abgeschlossenen Verfahren der Fall sein kann). Wie die Verfolgten Flucht und Exil erleben, hängt zu einem grossen Teil von deren Umfeld ab, z.B. wie die Leute in der Lage sind, weiterhin Kontakte und Kommunikation aufrechtzuerhalten, und sich die Verfolgten nicht so abgeschnitten und alleine fühlen. Ich fänd's auch gut, wenn in der Geschichte des militanten Widerstands vermehrt das Auge auf die Schwierigkeiten und Schwachstellen, die sich immer wieder auftun, gelegt würde. Wir scheitern ja nicht einfach an der Repression, sondern eben genau daran, daß sie doch immer wieder Auswirkungen auf uns hat. Oder weil wir Fehler machen, die den Bullen überhaupt ein Eingangstor öffnen. Leider ist dies alles viel zu wenig Thema. In dem Zusammenhang fällt mir auch das Papier der Roten Zora "Milli's Tanz auf dem Eis" ein, wo der überaus spannende Abschnitt, warum sie nach der Repressionswelle 1987 sieben Jahre lang nix von sich haben hören lassen, warum welche ausgestiegen sind und mit welchen "menschlichen" Problemen sie zu kämpfen hatten, leider auch ziemlich knapp ausgefallen ist. Nicht wenige der Gründe für unsere Probleme und unser Scheitern sind im psychologischen Bereich zu suchen, bei den ganzen Gefühlen, Ängsten und dem Mißtrauen, das uns und den andern das Leben schwer macht, und einer konstruktiven Zusammenarbeit und Auseinandersetzung im Wege steht. Okay, das war's! Ich freue mich auf Reaktionen! Urmel aus dem Ei(s)


Ein Brief von Matthes
Einem der Gesuchten im Zusammenhang mit dem radikal und AIZ-Verfahren


Hallo Leute,

als ich von dieser Demo gehört habe, habe ich mich entschlossen, dafür einen Redebeitrag zu machen.

Einen schönen Gruß also aus dem Exil!

Hoffentlich seid ihr viele und die Bullen sind nicht so heftig drauf!

Vorweg will ich schnell einen Gruß loswerden, an alle BremerInnen, die sich zur Demo aufgerafft haben! Also viel Power und ich vermisse euch, mit euren Schwächen und Stärken!

Dann will ich Werner, Ente, Cräcker und Rainer grüßen, die vielleicht auch da sind!!

Aber nun zum Redebeitrag - Nun bin ich seit sechs Monaten nicht mehr zu Hause gewesen. In diesen sechs Monaten ist viel passiert.


Es haben sich einige Solidaritäts-Komitees gebildet. Diskussionen finden statt und vieles mehr. - Von all dem will ich Teil sein, bin aber doch oft weit, weit weg.

Für Abgetauchte ist es schwer, öffentlich wahrnehmbar zu sein. Das hat verschiedene Gründe. Einer sagte mal: "Es ist schlimmer, als tot sein, denn über Tote kann man wenigstens reden." Damit hat er recht, weil niemand offen darüber sprechen kann. Somit ist es auch schwierig zu vermitteln, wie es mir gerade geht, was mich beschäftigt, usw.. Ich bin einfach von der Bildfläche verschwunden, nicht mehr wahrnehmbar.


Dennoch ist es möglich, Kontakt zu Abgetauchten zu halten: Sie lesen nämlich Zeitungen und Bücher, hören Radio und gucken Fernsehen. Wenn alle ein wenig nachdenken, dann können sie dafür sorgen, daß die Abgetauchten weiterhin Teil des Widerstands sind!


Aber zurück zu mir - Von Anfang an, hatte ich die Hoffnung wiederzukommen und zwar so schnell es geht. Das hat sich aber im Laufe der Zeit als unmöglich herausgestellt, außer, ich liefere mich selber der Knastmaschine aus. Da ich das nicht wollte und will, habe ich beschlossen, wegzubleiben, entweder, bis sie mich packen oder es einen Sinn macht, wieder aufzutauchen.

Zuerst war dieses abgetauchtsein ein ungewöhnlicher Zustand. Mittlerweile kann ich sagen, daß ich mich eingelebt habe. Wo ich nun lebe, haben sich spontan Leute gefunden, die mir Wohnraum zur Verfügung stellten und auch einiges mehr. Durch die Hilfe vor Ort konnte ich eine neue Perspektive entwickeln - neue Freunde und Freundinnen kennenlernen. Eine fette Umarmung und auch an Einige Küsse, die mich bisher menschlich, finanziell und politisch unterstützten!!!


Trotzdem vermisse ich eine selbstgewählte Umgebung, und vor allem vermisse ich meine alten Freunde und Freundinnen. Oft hänge ich der Vergangenheit hinterher und versuche mich zu erinnern, wie es vor dem 13.6. war. Für viele von euch hat sich nicht soviel verändert; für mich und auch einige Andere aber alles. Diese Veränderung haben die Bullen am 13.6.95 inszeniert. Ihnen hat wohl was nicht gepaßt. Sie sagen, es geht um die Radikal, die AIZ und das K.O.M.I.T.E.E. und zum guten Schluß auch um die RAF.

Eine feine Aufzählung!


Ich werde gesucht, weil ich angeblich die Radikal gemacht haben soll und weil ich in Verbindung gebracht werde, mit einem Anschlag auf das FDP-Büro in Bremen.

Das ehrt mich natürlich, nun bin ich nach ihrer Definition ein richtiger Terrorist! Ich schreibe böse Texte und lege dann entsprechend die Bomben. Alles in einer Person vertreten. Zum Glück haben sie in Bremen und anderswo noch ein paar mehr gefunden, die genauso sein sollen, wie ich. Sonst würde ich mir auch ganz verloren vorkommen!

Diese ganze Lügerei der Schweine, alles in einen Topf geschmissen und dann umgerührt, ist in der Öffentlichkeit gut angekommen. Die Bürgerlichen, von taz bis FAZ berichten erstmal nicht mehr darüber; nicht verwunderlich in Großdeutschland, andere Themen sind angesagt. Der Konsens der Demokraten hat sich durchgesetzt.


Schon der alte Bundeskanzler Schmidt, er ist hier in Hamburg zu Hause und für die sogenannten Selbstmorde in Stammheim mitverantwortlich, sagte in seiner Regierungserklärung am 20. April 1977: "Mit Gesetzgebung allein schaffen wir den Terrorismus nicht aus der Welt. Wir müssen ihm jeden geistigen Nährboden entziehen. (...) Wo nach ruhigem Abwägen durch Politiker, durch Juristen und Fachleute der inneren Sicherheit, die Instrumente nicht wirksam genug erscheinen, dort sollen sie verbessert und ergänzt werden. (...) Wir haben die Aufgabe, den Terrorismus ohne Wenn und ohne Aber und ohne sentimentale Verklärung der Tätermotive, zu verfolgen, bis er aufgehört haben wird, ein Problem zu sein."


Das sagt also der olle Helmut zum Problem Terrorismus. Obwohl er es hätte besser wissen müssen. Menschen greifen auf Gewalt als letztes Mittel zurück. Sie wollen auf Verhältnisse und Umstände aufmerksam machen, wo die herrschende Macht sich über die Interessen von Menschen hinwegsetzt. Denn wo Macht ist, ist auch Widerstand. Diese Tatsache hat bei Law and Order Strategen nicht zum Umdenken geführt.

Diese Schweine haben gezeigt, daß sie Hochsicherheitstrakte bauen können, die heute unter anderem mit Drogis gefüllt werden; daß sie einen Bullenapparat aufgebaut haben, der den gläsernen Menschen entstehen ließ; daß sie eine Paragraphenvielfalt gegen die Linke entwickelt haben, von der Verschärfung des Demonstrationsrechts, über die Ausweitung des Paragraphen 129, bis zur Einführung des Lauschangriffs und der Aushöhlung des Presserechts und daß eine liberale Öffentlichkeit nahezu verschwunden ist.


Dennoch sind einige Menschen übrig geblieben, die sich nicht haben einlullen lassen, von der Gefährlichkeit von sogenannten Terroristen, sondern die Gefährlichkeit von Rassismus, Patriarchat, Faschismus und Imperialismus erkannt haben. Die sich gegen Unterdrückungsdynamiken zur Wehr setzen und nicht nur die scheinheiligen Worte der ach so ehrenwerten Politiker glauben.

Sind Terroristen diejenigen, die Abschiebeknäste in die Luft sprengen (oder es zumindest versuchen)?


Terroristen sind die, die Abschiebeknäste bauen und verwalten.

Und zum Schluß will ich die ganzen Abgetauchten grüßen, die sich aus der BRD verpißt haben oder versteckt leben müssen. Und einige besonders: Cengiz, der wegen der Kaindl-Sache gesucht wird und sich in den Bergen Kurdistans dem Guerillakampf angeschlossen hat. Natürlich auch Jutta, Frank und Uli und auch Andrea aus Frankfurt.

Ach ja, eins hätte ich bald vergessen, denn auch im Exil habe ich davon gehört: Die neue Radi ist draußen! Haben die ´radikal´en es wieder geschafft, obwohl der Wasserschlag doch so niederschmetternd sein sollte.


Einen schönen fetten Gruß von mir, und ich drück euch die Daumen, daß es weitergeht!


So das wars, machts gut und noch ne muntere Demo!


Tschau,
Matthes


Heute ist nicht alle Tage - ich komm wieder, keine Frage!!
Ein Brief von Jutta, einer der Gesuchten im Zusammenhang mit dem radikal-Verfahren:

da ich nie so sang und klanglos verschwinden wollte, möchte ich hiermit - zumindest was meine persönliche situation betrifft ein wenig licht in das dunkel meines verschwindens bringen.

es war ein zufall, daß sie mich damals nicht auch geschnappt haben, wie jene vier die seitdem im knast sitzen.

hallo ralf, werner, rainer und andreas, ich grüße euch ganz herzlich, schicke euch viel power und solidarität!!!

nun wie gesagt, ein großer zufall, der mich in eine ganz andere welt katapultiert hat. erst mal war ich natürlich völlig durcheinander und hatte genug damit zu tun mich einigermaßen zurechtzufinden. vor allem die plötzliche und vollständige trennung von den frauen (und einigen wenigen männern) die ich am meisten liebe, hat mir am heftigsten zu schaffen gemacht und macht es immer noch. trotzdem war ich von anfang an glücklich darüber, ihnen entwischt zu sein. ich konnte also, so mehr oder weniger, in ruhe erst mal herausfinden was eigentlich los ist und überlegen, was ich für das richtige halte zu tun. und ich halte es immer noch für das richtige, mich weiterhin der festnahme zu entziehen und abzuwarten, was aus der ganzen sache wird. es hat schon eine ganze weile gedauert, bis ich einigermaßen realisiert hatte, was das alles eigentlich bedeutet. z. b. daß ich keine mal so eben anrufen kann, geschweige denn besuchen usw.

am meisten beeindruckt hat mich die selbstverständliche und solidarische hilfe von einer ganzen menge von menschen, die mir dabei geholfen haben, daß ich einigermaßen schnell wieder das gefühl hatte, boden unter den füssen zu haben. eine unschätzbare hilfe, die mir ermöglicht hat, bei dieser entscheidung zu bleiben und darin eine vorläufige perspektive zu sehen.

in dieser situation hatte ich zeit in rauhen mengen, mich mit meinen ängsten, wünschen, sehnsüchten und meiner wut auseinanderzusetzen. ich habe von anfang an versucht, möglichst eine struktur für den tag aufzustellen, woran ich mich tatsächlich weitgehend gehalten habe, um nicht in ein tiefes loch zu fallen, und auch das hat ganz gut geklappt. ganz wichtig dafür war bewegung und lesen. ich habe sehr gute bücher gelesen, die mir einen teil von auseinandersetzung, von der ich ja weitgehend abgeschnitten war, wiedergegeben haben. es ist schon eine seltsame situation so völlig abgeschnitten zu sein von dem, was mein normales leben ausgemacht hat. sei es die verschiedenen gruppen, wie schon gesagt vor allem meine freundinnen und viele kleinigkeiten an die ich mich einfach gewöhnt hatte. aber ich habe auch eine menge kraft daraus eschöpft, selber ganz gut mit der situation fertig zu werden,

aus der solidarität die ich erfahren habe, und aus dem wissen, daß meine freundinnen an mich denken.

ich schicke euch eine ganze menge power für die nächste zeit, von da, wo auch die nacht auf den tag folgt und der tag auf die nacht.

NEVER GIVE UP!!!


Brief ins Exil
Liebe Jutta,

wie schön ist es, Briefe von Dir und anderen aus dem Exil in einer Zeitung zu lesen - wenn sie schon nicht in unseren Briefkästen landen. Sehr privat kann unsere Unterhaltung so nicht werden, aber wir haben das Glück, in den letzten zehn Monaten wenigstens auf diese Weise mitzukriegen, daß Ihr mit uns hier in Verbindung bleiben wollt und könnt. Wir hören Dich, Jutta, jetzt schon rufen: 'Was heißt hier in Verbindung bleiben - zurück will ich!'

"Ich komm wieder, keine Frage", hast Du Deinen Brief überschrieben und wir waren saufroh, daß Du nicht so großen Gefallen an Exilien gefunden hast, daß Du dort bleiben willst. Obwohl wir Dir natürlich wünschen, daß es Dir gut geht, sind wir froh, daß Du davon ausgehst, daß es irgendwann ein Zurück geben kann - wir sehen, Du bist alles andere als verzweifelt.

An dieser Stelle viel Mut und Power an alle, die im Exil sind!!!

Wir haben versucht, uns vorzustellen, wie Dein Alltag abläuft: das Sich-Bedeckt-Halten, vielleicht eine fremde Sprache, wenige bis gar keine Personen, mit denen Du offen reden kannst, Ungewißheit und Abhängigkeiten. Wieviel größer muß Deine Sehnsucht sein als unsere, denn wir vermissen Dich - DU vermißt so VIELE!

In dem Brief einiger Exilierter in den Radikalen Zeiten Nr.3 lasen wir über die besonderen Bedingungen von Frauen im Exil und haben sehr an Dich gedacht. Ganz bestimmt gibt es dazu noch viel mehr zu sagen. Wir in unserem lesbisch-feministischen Umfeld können Gespräche über Tagesgeschehen, private Probleme, linke Debatten so feministisch führen wie wir wollen. Trotz mancher Konflikte in der Szene ist das ein sehr angenehmer Hintergrund, den Du wahrscheinlich jetzt nicht hast. Der Brief hat uns klar vor Augen geführt, daß die Bedrohung für Frauen im Exil anders aussehen kann, mit der möglichen Konsequenz, daß Frauen sich weniger gegen sexistische Angriffe wehren, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Situation kann noch schwieriger werden, wenn sie bei Typen wohnen, von ihnen Geld bekommen oder in irgendeiner anderen Weise auf sie angewiesen sind. Für uns zeigt sich hier, daß sich sexistische Gewaltverhältnisse für Frauen im Exil und auf der Flucht potenzieren. Wir haben uns gefragt, wie Du damit umgehst, wie Deine Situation konkret sein könnte:

Wie präsent ist die sexistische Bedrohung in Deinem Alltag?

Wehrst Du Dich jetzt anders?

Auf welche Strategien greifst Du zurück?

Eröffnet Deine Situation vielleicht sogar neue Möglichkeiten, Dich zu wehren?

Da wir Dich in den konkreten Situationen nicht unterstützen können, wünschen wir Dir von ferne viel Entschlossenheit, Stärke und Mut!

Wir haben uns vorgestellt, wie es Lesben im Exil geht. Viele von uns sagten, sie würden im Exil nach Lesben suchen, um nicht noch mehr von der eigenen Existenz verstecken zu müssen. Lesben, die in Exilien Lesben aufnehmen, sind sicher so rar wie sie es hier in der BRD sind. Dabei wäre es gerade wichtig, daß Lesben andere Lesben aufnehmen, um nicht noch mehr als nötig auf Heterozusammenhänge angewiesen zu sein - sowohl für persönliches wie für politisches Zusammensein. Wir wünschen Dir, daß Du ein paar nette Lesben in Deiner Nähe hast, mit denen Dich etwas verbindet.

In den Briefen aus Exilien steht häufig, daß die Leute oft ein großes Grübeln über das zu erwartende Strafmaß plagt.

Exil oder Knast ist da die Frage. Fünf Jahre Knast seien zu viel, sagen einige. Einverstanden! Nur - was wäre nicht zu viel? Sind die sechs Monate, die die vier Ex-Gefangenen aus dem radikal-Verfahren im Knast saßen in Kauf zu nehmen? Die Bundesanwaltschaft hat das Verfahren an den Oberstaatsanwalt in Koblenz abgegeben. Wir denken, daß damit das Verfahren politisch runtergestuft wurde. Bedeutet das für Euch im Exil, also auch für Dich, Jutta, daß ein Zurückkommen näher rückt? Sicher bezieht Ihr in Eure Überlegungen mit ein, wie das Verfahren oder auch der Prozeß verläuft. Vielleicht wägst Du auch ab, was Du aufs Spiel setzt, d.h. wie sehr der momentane Verlust zu einem Dauerverlust werden würde, wenn Du weiterhin wegbliebest: Beziehungen, Freundinnenschaften und Kontakte leben von der Präsenz. Auf der anderen Seite spielt bei der Überlegung 'Wegbleiben oder nicht' sicherlich auch eine Rolle, ob Du dort, wo Du jetzt bist, eine politische Perspektive siehst. Wir können nur vermuten, was Du Dir überlegst und wir können uns vorstellen, wie schwierig es ist, Entscheidungen zu fällen.

Aber wir können Dir erzählen, wie's bei uns aussieht: Wir machen uns Gedanken darüber, wie wir Dein bzw. Euer Verbleiben in Exilien von hier aus unterstützen können. Da fällt uns vor allen Dingen die vielzitierte Solidaritätsarbeit ein. Mit Dir, mit Euch, solidarisch zu sein, bedeutet für uns erstmal ganz allgemein, daß wir weiter politisch arbeiten, an den Sachen und Themen, die wir angesichts der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse für nötig halten und in der Form, wie wir das können und wollen. Das heißt für uns auch, daß wir unser politisches Engagement nicht an der drohenden Repression orientieren, daß wir uns nicht einschüchtern lassen werden - und wir werden versuchen, das mit unseren Mitteln auch nach außen zu tragen.

Ein anderer, schon etwas konkreterer Aspekt, der uns zu Soliarbeit eingefallen ist, ist der Austausch mit Dir, mit Euch. Also zu versuchen, trotz der beschissenen Bedingungen, noch halbwegs eine Diskussion über politische Entwicklungen hinzukriegen, um ein Mindestmaß an Kommunikation aufrechtzuerhalten. Das wäre z.B. auch über Briefe wie diesen hier möglich und wir würden uns wünschen, daß Ihr öfter mal schreibt, damit wir was von Euch mitkriegen.

Eine weitere Form der Solidarität mit Dir/Euch ist die Öffentlichkeitsarbeit, die seit nun fast einem Jahr läuft. Konkret: dafür zu sorgen, daß insbesondere Ihr als Exilierte nicht vergessen werdet, weder politisch (Du kannst Dir sicher vorstellen, daß das nicht immer einfach ist...) noch persönlich. Insgesamt geht es natürlich darum, die §§ 129/a immer wieder zu thematisieren (und das auch nicht nur an Euren Verfahren) und politische Verfolgung als entlarvenden Ausdruck dieses Herrschaftssystems deutlich zu machen. Und ein Teil dieser Arbeit ist auch, für die Einstellung Eurer Verfahren einzutreten. Und wenn wir dann erfolgreich waren und die Einstellung der Verfahren politisch durchgesetzt haben, kommst Du zurück - claro!

Aber jetzt mal im Ernst: falls Du Dich entscheidest, vorher zu kommen, muß natürlich das Wiederkommen vorbereitet sein, von beiden Seiten aus. Wir werden dafür sorgen, daß Du hier gute Bedingungen vorfindest und daß Du beim Prozeß bzw. Deinem eventuellen Gang in den Knast unterstützt wirst. Vor allen Dingen aber werden wir Dich mit offenen Armen, mit Sekt, Selters und Whisky empfangen! Es wird keinen nahtlosen Anschluß an das geben, was Du verlassen hast. Du wirst Dich sicherlich verändert haben, Deine Erfahrungen aus dem Exil hierher mitnehmen. Vielleicht hast Du neue starke Bindungen an ein Land und an Leute entwickelt, die Du jetzt weiter pflegen willst. Dich wird sicher auch interessieren, was wir hier in der Zeit alles gemacht haben und was sich verändert hat. Wir hoffen, wir können dann gemeinsam Deine Erfahrungen im Exil und evtl. Knast und unsere Erfahrungen hier aufarbeiten (vielleicht findest Du in einem Synonym-Wörterbuch einen passenderen Ausdruck...) und uns nach der langen Zeit wieder annähern. Flucht, Exil und Knast sind uns jedenfalls im Laufe des letzten Jahres um einiges näher gerückt. Und wir werden sehen müssen, wie wir weiter politisch arbeiten, auch angesichts dessen, daß sich die gesellschaftliche Situation für radikale linke und feministische Politik nicht gerade verbessert. So, das sind alles Punkte, über die wir gerne mit Dir reden wollen und laß Dir gesagt sein: darauf freuen wir uns schon - egal wie lang es noch dauert!

Wie immer Du Dich auch entscheiden magst, wir werden Dich darin unterstützen. Wir denken an Dich und wünschen Dir ganz viel Kraft!

Laß Dich nicht unterkriegen!

Dicke Grüße und Küsse von Deinen F.L.O.P.s


Interview mit Ulli
<em><em>Das folgende Interview haben wir mit Ulli einem der Hauptbeschuldigten im radikal-Verfahren, geführt.</em></em> <em><em>Ulli ist eine der drei Personen, die sich am 13.06.1996 in Bremen den Verfolgungsbehörden gestellt haben, nachdem sie sich genau ein Jahr ihrer Festnahme entzogen hatten.
<br>
Besonders gefreut hat uns, daß sich Thea (oder hieß sie Heinrich?), die in die Unterstützungsarbeit zu den Abgetauchten eingebunden war, an dem Interview beteiligt hat.</em></em> <em><em>Schwerpunkt der nächsten Ausgabe der "radikalen Zeiten" ist das Thema Aussageverweigerung!
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Für uns gibt es dabei zwei thematische Schwerpunkte, die wir in den Mittelpunkt rücken wollen. Zum einen die Feststellung, daß wir Aussageverweigerung als generell richtiges und wichtiges politische Mittel begreifen, zum anderen die Frage der Unterstützung von Männern und Frauen, die diesen Schritt mit allen Konsequenzen durchziehen.</em></em> <em><em>In diesem Zusammenhang wollen wir auch das Abtauchen,egal ob nun die BAW Zeuginnen mit Beugehaft droht (Abtauchen bis zum Beginn, bzw. bis zum Ende des Prozesses), oder bei Ausstellung des Haftbefehls gegenüber Beschuldigten, thematisieren.</em></em> <em><em>
<br>
Natürlich geht es uns dabei nicht um Einzelheiten, sondern um grundsätzliche, verallgemeinerbare Punkte, an denen wir von Dir Ulli, der Du die die Erfahrung des Abtauchens gemacht hast, lernen können. Es geht uns dabei um eine konstruktive Thematisierung, von der alle, die momentan abgetaucht sind, bzw. die die in den nächsten Jahren vor diesem Schritt stehen, sowie die Unterstützerinnenscene, lernen können.</em></em> Von Dir wollen wir in diesem Zusammenhang wissen:

Mit welchen Vorstellungen von Unterstützung bist Du abgetaucht?

Ulli: Das Ganze traf mich weitgehend unvorbereitet, muß ich sagen. Klar, wenn du politisch im autonomen/linksradikalen Bereich aktiv bist, mußt du immer mit Repressionsmaßnahmen rechnen, aber daß es dann so heftig abging hat mich erstmal ziemlich überrollt. Aber ich hatte von Anfang an das Vertrauen, daß sich Leute um alles Nötige kümmern, sodaß ein Abtauchen möglich ist. Daß ne Wohnung organisiert, Geld aufgetrieben wird und ne Menge anderer Sachen organisiert werden, die geregelt werden müssen. Dabei baute ich natürlich vor allem auf die direkteren persönlich-politischen Zusammenhänge, da solche Sachen ja viel Vertrauen voraussetzen. Kurz gesagt traute ich sowohl mir, als auch den "Unterstützenden" zu, daß wir das auf die Reihe kriegen.

Thea: Wobei gesagt werden sollte, daß diese Unterstützung wirklich tierisch viel Arbeit bedeutet, die meist an relativ wenigen Leuten hängenbleibt. Für Außenstehende ist es schwer nachvollziehbar, was alles diskutiert, geplant, vorbereitet und organisiert werden muß, damit die Sachen möglichst korrekt laufen.

Was hat sich dann bei Dir von den Vorstellungen bewahrheitet und was hätte Deiner Meinung nach besser laufen können?

Ulli: Im Großen und Ganzen lief alles so, wie ich es mir erhofft habe. Es gab natürlich immer wieder mal Sachen, die nicht geklappt haben und wo ich dann schnell ungeduldig und auch nervös wurde. Da kann ich hier aber schlecht Genaueres zu sagen. Ich mußte mich einfach erstmal in die Situation einfinden und lernen damit klarzukommen, daß vieles nicht so schnell passiert oder geregelt werden kann, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich war einfach vorläufig ziemlich ruhiggestellt und das mußte ich akzeptieren und davon wegkommen, ständig drauf zu warten, daß etwas passiert. Das hängt auch damit zusammen, daß die Diskussionen oft nur sehr zeitverzögert möglich waren. Das heißt, bis meine Reaktion auf eine Überlegung oder einen Vorschlag z. B. aus der Soli-Bewegung dort wieder ankam, war die Diskussion oft schon ganz woanders und meine Antwort überholt. Und Streits gab´s auch immer wieder mal, wie die Situation einzuschätzen und mit ihr umzugehen ist. Das bleibt nicht aus.

Was nicht so günstig war: Es war klar, daß ich an dem Ort, wo ich war, nur vorübergehend bleiben konnte, er bot mir keine längerfristige Perspektive. Daher begann ich auch gar nicht, dort so richtig Fuß zu fassen und mich intensiv einzuleben. Das ist schon unbefriedigend in einer Situation, wo ich im Kopf hatte, wahrscheinlich mehrere Jahre wegzubleiben, weil einfach mehrere Jahre Knast drohten. Und mehrere Jahre wegbleiben heißt, dir was ganz Neues aufzubauen, woanders ein neues Leben anzufangen, ohne die Perspektive, irgendwann wieder zurückzugehen. Das ging dort nicht, das war sehr schnell klar. Es wurde dann versucht, woanders etwas Langfristiges zu organisieren, was dann nach einigem Hin und Her auch erfolgreich war. Aber als das geklärt war, hatte sich inzwischen die Situation sehr geändert: im Dezember kamen Rainer, Werner, Ralf und Andreas aus dem Knast raus und im Laufe der Zeit war immer klarer, daß das Verfahren nicht mehr so hoch gehängt wurde wie anfangs. Und mit der Überlegung im Kopf, vielleicht demnächst zurückgehen zu können, wollte ich nicht den Schritt machen, nochmal ganz woanders hin zu gehen und mich dort dann wieder ganz neu orientieren zu müssen. Zumal dieser "Umzug" auch ein gewisses Risiko beinhaltet hätte.

Es ist also auf jeden Fall besser, wenn von Anfang an eine Abtauch-Möglichkeit vorhanden ist, wo du langfristig bleiben kannst. Und sowas muß natürlich schon vor dem "Ernstfall" organisiert und klargemacht sein. Aber das ist ja nun wahrlich keine neue Erkenntnis.

Wie hast Du die politische Unterstützung des von dir gewählten Schrittes wahrgenommen?

Ulli: Da ist bei mir nur sehr wenig angekommen. Im ersten halben Jahr war ja vor allem Thema, daß die 4 im Knast sitzen, was überhaupt passiert und wie das einzuschätzen ist. Es kam schon rüber, daß eigentlich alle gut finden, daß wir abgehauen sind und wir wurden ja auch immer wieder mal gegrüßt. Aber das war´s dann auch. Ich denke, es ist schwierig, eine politische Unterstützungsarbeit zu Abgetauchten zu organisieren. Es gibt so gut wie keine veröffentlichten Erfahrungen zu dem Thema, auf die wir zurückgreifen konnten. Und die Situation ist nunmal auch ne andere als in den Siebzigern, wo das Thema viel aktueller und präsenter war.

Würdest Du sagen, daß Euer Abtauchen in der Öffentlichkeit genügend thematisiert wurde?

Ulli: Nein, find ich nicht. Wobei ich denke, daß das eine beiderseitige Schwäche war. Ich hätte da auch mehr in die Pötte kommen können, um meine Situation zu vermitteln und meine Überlegungen rüberzubringen. Auch wenn das in so ´ner Situation nicht ganz einfach ist.

Zu der Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit kann Thea besser was sagen.

Thea: Es wäre schon möglich gewesen, das Abtauchen öffentlich mehr zu thematisieren. Es gab ein starkes Interesse an dem ganzen Verfahren und auch bezüglich der Situation der Abgetauchten. Z. B. waren die Informations-Veranstaltungen, die wir organisiert haben immer sehr gut besucht. Aber wir waren einfach zu wenig Leute, um auf diesem Interesse etwas aufzubauen und zu entwickeln. Wir waren eigentlich mit dem ganzen anderen Organisationskram schon ziemlich überlastet und hatten kaum noch Kräfte frei, um ständig noch was in die Öffentlichkeit zu blasen und Leute konkret anzusprechen. Außerdem herrschte lange eine große Unsicherheit, wie denn mit so ´nem Abgetauchtsein umgegangen werden kann. Was kannste sagen, was besser nicht? usw. Das ging praktisch allen Leuten so, daß sie dann lieber gar nicht nachgefragt haben, als irgendwas Falsches oder Zu-weit-gehendes zu sagen. Viele wagten es noch nicht mal den Namen "Ulli" auszusprechen. Auf der anderen Seite bestand aber auch ganz konkret die Gefahr der Kriminalisierung der UnterstützerInnen. Diese Drohung schwebte immer über allem und war ganz schwer einzuschätzen. Es gibt einfach so wenig Erfahrungen mit dieser Situation. Übrigens war es kein großes Problem, immer mal wieder Kohle zusammenzukriegen, wenn Leute konkret darauf angesprochen wurden.

Bei uns gab es eine längere Diskussion, ob wir Forderungen an Euch, die Ihr aus Euren Zusammenhängen gerissen wurdet und individuell vor einem großen Haufen Probleme standet, stellen können, oder nicht. Denn allgemein wurde das, was von Euch öffentlich bekannt wurde, als zu unpolitisch, als zu wenig auf die Verfahren bezogen, eingestuft. Wir haben uns dann dazu entschieden, daß es nicht an uns sein kann, Forderungen zu stellen, zusätzlich Druck auf Euch auszuüben. Natürlich war es für alle von uns wichtig, zu erfahren, wie es Euch geht, wie ihr mit Eurem neuen Umfeld klarkommt, ob Ihr Euch dort, wo Ihr Euch eingerichtet hattet, den Umständen entsprechend wohlfühlt, oder nicht. Wir hätten uns gewünscht, Eure Vorstellungen von Soliarbeit stärker in unsere Arbeit mit einbeziehen zu können.

Warst du genügend in die Entscheidungsprozesse der Solistrukturen eingebunden?

Ulli: Ich habe mir erst relativ spät überlegt, was ich an die Solistrukturen vermittel und wie das am besten passieren kann. Erst bin ich davon ausgegangen, daß das schon irgendwie läuft. Es gibt Leute, die wissen über meine Situation Bescheid und wissen auch, was ich mir zu der ganzen Sache so denke und wo ich hin will. Und das wird dann auch den Weg zu den Solistrukturen finden, dort eingebracht werden. Aber das lief nicht so einfach, wie sich mit der Zeit rausstellte.

Thea: Ich würde sagen, daß Du eher nicht in die Entscheidungsprozesse eingebunden warst. Du fandest es ja auch falsch, daß lange Zeit keine Diskussion zum Thema Auftauchen aufkam.

Es gab ja bei den Solitreffen zumindest in der ersten Zeit immer die Unsicherheit, wie über die Abgetauchten geredet werden kann, was da wie vermittelt werden kann. Das ist ja auch eine Sache des Vertrauens, das sich erstmal im Laufe der Zeit entwickeln mußte. Aber es war sicher ein Fehler, daß wir da mit dir nicht genauer geklärt haben, was vermittelt werden soll, bzw. daß du öfter mal zu Papier gebracht hättest, was dir wichtig ist, welche Überlegungen die Solistrukturen erreichen sollen. Andererseits war aber auch das erste halbe Jahr die Situation der Eingeknasteten total bestimmend für die Soliarbeit. Das ist ja auch was Handfestes, wo ganz klar ist, worum es geht. Die Situation der Abgetauchten ging da oft unter, wie sich ja auch an dem Redebeitrag von Matthes für die Demo im Dezember zeigte. Er fiel einfach unter den Tisch, weil die 4 gerade aus dem Knast rausgekommen waren.

Und auch im letzten halben Jahr kam die Diskussion um die Abgetauchten nur sehr mühsam in die Gänge. Auch als dann von den Abgetauchten die Überlegungen rüberkamen, evtl. wieder aufzutauchen, wurde erst sehr spät angefangen, darüber zu diskutieren. Dies sehe ich vor allem als einen Fehler von uns an. Du hattest ja ab März gefordert, daß veröffentlicht wird, daß Du und auch die anderen zurückkommen wollen. Aber wir wußten nicht so recht, wie wir das anfangen sollen. Außerdem fanden wohl viele die Entscheidung falsch oder zu früh, aber die Kritik wurde nie genau formuliert. Wir haben es nicht auf die Reihe gekriegt, darüber gemeinsam zu diskutieren. Erst als die Entscheidung dann schon feststand, gab es Auseinandersetzungen um die Form des Stellens.

Würdest Du aus jetziger Sicht sagen, daß eine stärkere Einbindung in die Solistrukturen möglich gewesen wäre?

Ulli: Ich hätte es gut gefunden, wenn von euch z. B. öffentliche Briefe gekommen wären, wo ihr eure Vorstellungen zu der Situation deutlich macht und auch ruhig Forderungen an mich und die anderen gestellt hättet. Die Überlegungen und Diskussionen, die ich geführt habe, kreisten oft um sehr praktische, organisatorische Dinge und direkt um das Verfahren. Da wäre es ein wichtiger Anstoß gewesen, mit solch einem offenen Brief von euch konfrontiert zu werden. Es wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen, in die Diskussion zu kommen. Und wenn ich eure Forderungen dann nicht hätte erfüllen wollen oder können, dann wäre zumindest das klar gewesen. Es mangelte ja allgemein an öffentlichen Positionen zum Abtauchen und evtl. Wiederauftauchen und überhaupt am Austausch mit uns. Eine Initiative von euch aus in diese Richtung hätte ich sehr gut gefunden. Es machte mit der Zeit etwas müde, immer nur gegrüßt zu werden, aber nicht mit konkreten Positionen konfrontiert zu werden. Und je länger du weg bist, desto größer wird auch die Distanz zu den Entwicklungen und Diskussionen "zu Hause", sie sind nicht mehr so wichtig und es wird dann im Laufe der Zeit immer schwerer, selbst in die Pötte zu kommen.

Was könntet Ihr Euch, auch auf zukünftige Fälle, bzw. auf Matthes und die drei im Komitee-Verfahren Abgetauchten, an Kommunikation vorstellen?

Thea: Der Austausch, die Kommunikation mit Abgetauchten ist wirklich ein fast unbeschriebenes Blatt in der Linken. Es gibt ja auch kaum Aufarbeitungen oder Erfahrungsvermittlungen vom Abgetaucht-Sein und der damit verbundenen Soliarbeit. Nach wie vor gibt es ne Menge Unsicherheit im Umgang mit dem Thema und den Leuten und es ist schwierig, da ranzukommen. Aber wie gesagt, offene Briefe halte ich für eine gute Möglichkeit, in einen Austausch zu kommen. Und wie schon erwähnt ruhig auch mit kritischen Überlegungen und Forderungen. Das ist besser, als sich von vorneherein sehr zurückzunehmen und dann lieber gar nichts zu schreiben, als das Gefühl zu haben, zuviel Druck auszuüben. Ich denke, Abgetauchte sind dann schon in der Lage rüberzubringen, wie ihre Situation ist und ob sie auf solch eine Diskussion Bock haben oder im Moment halt nicht in der Lage sind, dazu Stellung zu beziehen.

Und wichtig ist es auch, das Thema ständig in den Köpfen zu behalten. Zum einen, damit die Leute nicht vergessen werden und zum anderen, damit die Notwendigkeit des Abtauchens in bestimmten Situationen präsent bleibt und vielleicht doch einige Leute auf die Idee kommen, in dieser Hinsicht Möglichkeiten abzuchecken und vorzubereiten.

Wie von Thea schon gesagt, hat, es im Zusammenhang mit Eurem Auftauchen am 13.06. und dem sich Stellen, viele Fragen und viel Unverständnis gegeben. Bei uns kam das als ein mehr individueller Schritt, denn als ein politisch bewußter, an, zu dem wir uns politisch-solidarisch verhalten mußten, an dem wir keine Mitsprache hatten.

Kannst du in diesem Zusammenhang noch was zu der Kritik an eurem Auftauchen und Stellen am 13. Juni diesen Jahres sagen?

Ulli:Vor dem von Thea beschriebenen Hintergrund wurde unser Auftauchen organisiert und vorbereitet. Es wurde letztlich nicht gemeinsam entschieden und getragen, sondern einige Soli-Leute wurden schließlich vor vollendete Tatsachen gestellt und mußten zusehen, was sie damit anfangen. Dies hat mit dazu beigetragen, daß einige Sachen am 13.6.96 nicht zu Ende gedacht und geplant waren. Aber die Behauptung, daß ”eigene (autonome) Medien außen vor gelassen wurden”, wie´s in den radikalen Zeiten vom Juli ´96 steht, stimmt einfach nicht. Sie wurden genauso wie andere Medien auch von dem Termin der Pressekonferenz unterrichtet. Wir hatten uns gegen einen Extra-Termin für die ”eigenen Medien” (so viele gibt´s da ja auch gar nicht) entschieden, weil der Tag für uns auch so schon vollgepackt und stressig genug war. Und wir denken auch, daß unser Auftauchen für die Szenemedien im Gegensatz zu den ”normalen, linksliberalen” nicht nur für einen Tag Thema sein wird, sondern das Interesse daran doch hoffentlich ein wenig länger anhält.

Verstehen kann ich den Frust und die Enttäuschung der Video-Gruppe aus Berlin, die leider etwas zu spät zur Pressekonferenz kamen und daher nur noch den Schluß aufnehmen konnten. Wir hatten weder ihre Verspätung mitgekriegt noch ne Ahnung von der tollen Aktion, die sie vorbereitet hatten (flächendeckendes Plakatieren von Auftauch-Plakaten mit der Ankündigung einer Veranstaltung noch am gleichen Abend im EX in Berlin, d. T.). Wir hätten es auf die Reihe kriegen müssen, ihnen nach der Pressekonferenz noch ein paar Fragen zu beantworten und was zu erzählen.

Hattet ihr denn erwartet, daß euch so viele Leute zum Gericht begleiten würden?

Ulli: Nee, überhaupt nicht. Das war ein tolles Erlebnis, als wir da rauskamen und die etwa 300 Leute gesehen haben. Das war ein starkes Gefühl der Solidarität, das wir dann mitgenommen haben. Besonders Glosch war ganz begeistert darüber und ich bin mir sicher, daß es ihm sehr geholfen hat, mit der folgenden Scheiße erstmal fertigzuwerden. Ich ärgere mich allerdings darüber, daß wir von der ganzen Situation so geplättet waren, daß wir nicht mal ein paar Worte zu den Leuten gesagt haben.

Aber noch kurz was zu einem anderen Kritikpunkt: Einige meinten, es ist Scheiße sich direkt beim Gericht abliefern zu lassen. Sondern es wäre besser gewesen, sich an einen öffentlichen Ort zu begeben, dort Veranstaltungen und Fete zu machen und abzuwarten, bis wir dort geholt werden. Wir entschieden uns dagegen, weil wir keinen Bock auf den Stress hatten, jeden Augenblick damit rechnen zu müssen, daß die Bullen auflaufen. Und wir konnten uns auch nicht vorstellen, dort in so einer Situation in Ruhe ne Veranstaltung zu machen oder ausgelassen feiern zu können. Außerdem hätten wir dann den Zeitpunkt unserer Festnahme nicht selbst festlegen können, sondern diesen hätten die Bullen bestimmt.

Insgesamt schwingt oft der Vorwurf an uns mit, daß unsere Entscheidung eine rein persönliche war und nicht politisch bestimmt gewesen sei. Es wurde aber nie klar gesagt, warum ein Zurückkommen politisch falsch und wo die Alternative ist. Ich finde es sehr schwer die persönlichen und politischen Gründe voneinander zu trennen, sowohl was unsere Entscheidung angeht, als auch die von Matthes, erstmal noch wegzubleiben. Ich sehe in unserem Auftauchen keinen Kniefall vor dem Staat oder etwas Ähnliches; genauso wenig wie ich das bei Leuten sehe, die zu mehreren Monaten Beugehaft verurteilt wurden und von denen nur die wenigsten auf die Idee kommen abzutauchen. Klar, am liebsten wäre es mir, wenn es so eine starke linke (Solidaritäts-) Bewegung gäbe, daß es sich die BAW gar nicht erlauben könnte, Glosch in den Knast zu sperren und Matthes noch mit Knast zu drohen. Aber so lange zu warten, bis solch eine Bewegung möglicherweise entsteht, wollte ich dann doch lieber nicht.

Ihr seid ja im Verlauf des Interviews schon an einigen Stellen drauf eingegangen, aber sind unsere momentan nicht gerade starken Strukturen überhaupt in der Lage, derartige politische Unterstützung zu gewährleisten?

Auch wenn diese Frage nicht von Dir allein beantwortet werden kann, sondern alle, die sich in linksradikalen Strukturen bewegen, betrifft, wäre es doch interessant, abschließend Deine Einschätzung dazu zu hören, damit Forderungen, die Du an unsere Strukturen hast, in die allgemeine politische Arbeit mit einfließen können.

Ulli: Hm, ich denke erstmal, daß die Solibewegung nicht ohne weiteres so einen starken Druck entwickeln kann, daß Glosch aus dem Knast rauskommt und Matthes ohne Knast zurückkommen kann - geschweige denn die Leute, die wegen dem Komitee-Verfahren abgetaucht sind. Aber die linken Strukturen sollten es zumindest schaffen, eine öffentliche Kommunikation mit den Abgetauchten anzuleiern. Und auch die geplante bundesweite Demo in Köln für die Freilassung von Glosch halte ich für richtig und wichtig. Allerdings fände ich es gut, wenn in dem Zusammenhang auch die Situation von Matthes und den anderen Abgetauchten thematisiert wird.

Wir danken für das Gespräch!


"Auch das Abtauchen hat 'ne Perspektive und die ist keine schlechte"
<em>aus kassiber 29, September 1996</em> Interview mit Jutta und zwei anderen Frauen zum "radikal-Verfahren Am 13. Juni 1995 fanden im gesamten Bundesgebiet Razzien statt, vier im sog. radikal-Verfahren gesuchte Männer wurden verhaftet, drei weitere Männer und eine Frau tauchten ab, um nicht in den Knast zu müssen. (...) Genau ein Jahr später kamen Jutta aus Bremen, Ulli aus Oldenburg und Glosch aus Köln zurück, Matthes aus Bremen blieb abgetaucht. Im Ende Juli mit Jutta, Clara und Xenia (zwei Frauen aus einer Bremer Frauen/Lesben- Solistruktur) geführten Interview, das hier nur stark gekürzt wiedergegeben werden kann, ging es schwerpunktmäßig um die Themen Abtauchen und Solidaritätsarbeit; die politische Einschätzung des Verfahrens und der Repression sowie das Projekt radikal sollen im nächsten kassiber diskutiert werden.

kassiber: Jutta, Du warst am 13.6.95 im Urlaub - und hattest das Glück, nicht festgenommen zu werden. Kannst Du mal erzählen, wie Du den Tag verlebt hast?


<strong>Jutta:</strong> So genau kann ich mich jetzt nicht mehr an den Tag erinnern ... Auf jeden Fall wußte ich davon nichts, hab' das auch erst später erfahren. Ich glaube, an dem Tag habe ich eine wunderschöne Radtour gemacht, bei schönem Wetter - das war einfach ein ganz netter Urlaubstag.

kassiber: Wie war denn Deine Reaktion, als klar war, daß, falls Du 'einfach' zurückkommen würdest, Du festgenommen werden würdest?


<strong>Jutta:</strong> Also ich hab' mich schon erstmal erschreckt, als ich davon erfahren habe. Was ganz gut war, daß ich einfach noch Urlaub hatte, und daß ich von daher mir einfach auch Zeit nehmen konnte, zu überlegen, was ich mache, ob ich überhaupt zurückkomme - oder nicht -, ohne das Gefühl zu haben, jetzt völlig panisch reagieren zu müssen.

kassiber: Die Entscheidung, nicht nach Bremen zurückzukommen ..., kannst Du mal erzählen, wie die gefallen ist: Warst Du da auf Dich allein gestellt, hast Du erstmal 'n paar Tage irgendwie 'vor Dich hin gelebt', ohne klar abzuchecken, was Du jetzt machen willst?


<strong>Jutta:</strong> Am Anfang war das ja ziemlich unklar, was mir eigentlich alles vorgeworfen wird. Überhaupt war das ganze propagandistisch so aufgebaut, daß verschiedene Gruppierungen mehr oder weniger in einen Topf geworfen wurden - und darüber natürlich auch relativ unklar war, was das heißt. Was mir schon relativ schnell klar war, daß ich mir erstmal die Zeit nehmen wollte, Informationen zu kriegen, um dann in Ruhe zu entscheiden, was ich machen will. Also das war nicht so, daß ich gedacht hab': "Ich fahr' jetzt zurück und erkundige mich hier", sondern da gab es dieses: "Das könnte dann auch sein, daß ich festgenommen werde, wenn ich zurückkomme" - das war mir nicht ganz klar. Und da fand ich es dann sinniger, mir erstmal die Grundlagen für 'ne Entscheidung zu schaffen.

kassiber: Wie hast Du Dich, nach der Entscheidung, erstmal abzutauchen, auf die neue Situation eingestellt? Was ist so abgelaufen, 'gedanklich', aber auch von daher, sich an ein Leben an einem anderen Ort gewöhnen zu müssen?


<strong>Jutta:</strong> Zunächst war ich schon ziemlich durcheinander ... Du fällst in 'ne Situation, die völlig unbekannt ist, oder die mir zumindest völlig unbekannt war. Ich war schon auch ziemlich aufgeregt, einfach dadurch, daß sich das so schwer einschätzen ließ - was bei politischen Prozessen ja sowieso meistens der Fall ist. Das hat mich schon beschäftigt, gedanklich, was mich eigentlich erwarten könnte, oder was daraus gedreht wird. Was ich versucht habe, ist möglichst nicht in so 'ne Panik zu verfallen, sondern mit Hilfe der Leute, die mich dann betreut haben, viel darüber zu reden, mich mit denen auszutauschen. Ich hab' viel gelesen am Anfang, was zum einen 'ne Ablenkung ist, zum anderen haste auf ein Mal total viel Zeit. Ich lese gerne, wozu ich früher nie so viel Zeit hatte, das hat mir schon ganz gut getan. Und ich mußte mich zwangsläufig auch relativ viel mit mir selber beschäftigen - und das hat eigentlich ganz gut geklappt. Aber es hat schon 'ne ganze Zeit gedauert, bis sich so 'n normaler Alltag wieder aufgebaut hat, denn das schüchtert schon ein. Es hat dann gedauert, bis ich einfach ganz normal wieder einkaufen gegangen bin, oder bis ich mich daran gewöhnt hatte, daß eigentlich das Leben auf 'ne bestimmte Art auch ganz normal weiter abläuft - weil es gibt dann so 'ne Verfolgungsparanoia... Ich weiß nicht, ob die bei allen einsetzt, bei mir war das so - ich mußte mich erstmal umstellen und daran gewöhnen, so 'nen Alltag wieder aufzunehmen, wie ich den von hier gewöhnt bin, zumindest in einigen Teilen.

kassiber: Wie lange hat das denn ungefähr gedauert? Ich stell' mir vor, daß 'ne wesentliche Schwierigkeit sein könnte, doch überwiegend mit den Gedanken in oder an Bremen, an Leuten hier, zu hängen, aber zugleich vor der Notwendigkeit zu stehen, sich auf die neuen Bedingungen einzulassen...


<strong>Jutta:</strong> Ich würd' da schon mal unterscheiden: Was mir total schwer gefallen ist, daß ich natürlich nicht mehr meine Freundinnen um mich hatte - mit denen ich am besten hätte reden können; also die sind mir vertraut, da gibt es auch das Vertrauen, über alles mögliche zu reden. Das hat' ich erstmal nicht, das fand ich auch sehr schmerzhaft. Das hat mir auch richtig was weggenommen, hat mich auch wütend und traurig gemacht. Aber, mir war auch ziemlich schnell klar: Ich bin jetzt irgendwo anders, damit muß ich mich auseinandersetzen und versuchen, die neue Situation, die neue Umgebung zu erkunden - mich darin zu orientieren und zurechtzufinden. Also das waren im Prinzip getrennte Sachen. Ich hab' nicht in meinen Gedanken immer hier gehangen, und das andere wie durch so 'nen Nebelschleier wahrgenommen, sondern hab' mich eigentlich schon richtig da befunden, wo ich war.

kassiber: Inwieweit hattest Du Dich mit der Frage auseinandergesetzt, an so 'nem anderen Ort, mittel- bzw. langfristig 'ne persönliche, 'ne politische Perspektive entwickeln zu können bzw. evtl. zu müssen?


<strong>Jutta:</strong> Das ging relativ schnell. Also die Einschätzungen am Anfang gingen ja dahin, daß es bis zu sechs Jahren Knast heißen kann, was bei dem Verfahren 'rauskommt. Das hätte für mich geheißen, nicht zurückzukommen. Von daher hab' ich mich relativ schnell damit auseinandergesetzt, daß das auch 'ne längerfristige Perspektive sein könnte. Die Schwierigkeiten sind dann ja, daß du das nicht so machen kannst, wie wenn du legal jetzt hier umziehen würdest in 'ne andere Stadt. Ich war erstmal ziemlich auf mich zurückgeschmissen - über Bücher und Broschüren und solche Sachen hab' ich theoretisch weiter 'ne Auseinandersetzung mit dem geführt, was ich auch früher gemacht habe. Und mir war schon klar, daß ich langfristig schon 'ne politische Perspektive da will, wo ich bin, aber daß das schon anders funktioniert als legal zu sein. Denn mit den Leuten zu arbeiten, die Bescheid wissen und dich betreuen, ist relativ einfach. Die wissen, wer du bist, die kennen ein bißchen deine Geschichte... Da ist es kein Problem, was du erzählen kannst, weil die informiert sind, und da ist auch klar: Die reden jetzt nicht groß darüber mit anderen Leuten, sondern das bleibt in 'nem bestimmten festen Kreis einfach hängen. Wenn du diesen Kreis verläßt, mußt du dir einfach überlegen: Trittst du unter 'nem anderen Namen auf? Gibst du dir 'ne andere Legende? Du hast ja zum Beispiel keine Familie, also du hast eigentlich nicht mehr viel Vergangenheit, außer, du denkst sie dir aus. Und das sind natürlich schon 'ne Menge Überlegungen, das geht nicht so schnell - innerhalb von wenigen Monaten -, 'ne Lösung dafür zu finden. Dazu kommt dann auch noch: Du kriegst keine Post, du wirst auch nie angerufen, du bist richtig abgeschnitten von Deiner Vergangenheit. Für die, die das wissen, ist das auch klar. Aber für alle anderen, wenn du mehr mit denen zu tun hast, ist das dann irgendwie komisch. Also das ist eigentlich ein sehr künstliches Leben. Ich hätte mir nicht zugetraut, das ratz fatz zu verändern, sondern, um auch Fehler zu vermeiden, wollte ich mir damit Zeit lassen und das sehr gründlich mit den Leuten besprechen, wie man damit umgehen kann, daß man nicht völlig komisch auf andere Leute wirkt. Denn eigentlich bin ich nicht komisch, sondern die Situation ist irgendwie 'n bißchen komisch. <strong>Clara:</strong> Hattest Du Dir auch überlegt, wie Deine politische Praxis weiterhin laufen könnte? Weil auf Demos z.B. kannst Du als Illegale ja eigentlich nicht gehen - oder nur unter erschwerten Bedingungen oder wenn Du 'n ganz festes Umfeld hast. Waren da so Überlegungen da oder eher noch nicht, weil die Zeit zu kurz war oder ...? <strong>Jutta:</strong> Ich muß sagen, daß die Zeit wirklich relativ kurz war und ich relativ wenig ausprobiert hab', aber ich hatte schon auch Gedanken, wie z.B. daß ich mir vorgestellt hab', daß ich wieder Gruppen suche, in denen ich arbeiten kann; daß ich eigentlich nicht öffentlich auftreten kann; daß ich dem auch in gewisser Weise Rechnung tragen muß bzw. daß es auch irgendwann sein kann, daß ich 'n bestimmtes Risiko eingehen würde. Wenn du 'ne Gruppe hast, ist das natürlich einfacher, zu überlegen, welches Risiko du eingehst - und du baust das einfach ganz langsam auf ... <strong>Xenia:</strong> Du hast vorhin gesagt, daß Du viel gelesen hast. Waren das vor allem Bücher über Leute, aus welcher Zeit oder welchen politischen Bedingungen auch immer, die sich im Exil befunden haben, oder Literatur über Knast? <strong>Jutta:</strong> Also ich hab' viel Widerstandsliteratur gelesen, auch Sachen zu Exil - und hab' da dann schon festgestellt, daß ich die Situation, in der ich mich befinde, erstmal nicht als "Exil" bezeichnen würde. Die Leute sind aus anderen Situationen gekommen, das war viel umfassender, was da an Repression war, es waren ja oft Exilbewegungen, wo sehr viele Leute zu 'nem bestimmten Zeitpunkt abhauen mußten - das war bei uns nicht so. Es gibt sehr viel zu Exil, Leuten, die ins Exil gegangen sind, während des Faschismus oder aus Lateinamerika, aus den Diktaturen geflohen sind - aber das war mit meiner Situation erstmal wenig vergleichbar. Das war aber 'ne ganz gute Auseinandersetzung, weil "Exil" schon 'n ganz schöner Begriff ist, auch ganz griffig, aber ich hatte so im Laufe der Zeit den Eindruck: Das paßt eigentlich nicht so richtig auf meine Situation ... <strong>Xenia:</strong> Wie würdest Du Deine Situation denn beschreiben? <strong>Jutta:</strong> Als Abtauchen - das finde ich eigentlich 'nen recht passenden Begriff.

kassiber: Eine weitere Frage wäre die nach anderen oder besonderen Bedingungen von Frauen oder Lesben, die abtauchen bzw. ins Exil gehen. Kannst Du dazu noch was sagen?


<strong>Jutta:</strong> Also ich kam ja aus einer Lebenssituation, wo ich hauptsächlich mit Lesben und Frauen gearbeitet, gelebt, meinen Alltag hatte - das hatte ich da erstmal nicht. Das war schon 'ne ziemliche Umstellung, mich in einer absoluten Heterowelt wiederzufinden. Also die Auseinandersetzungen laufen schon ein bißchen anders ... Und ich denke, es gibt schon auch Vor- und Nachteile für Lesben. Wenn Du direkt in ein 'Netz' reinrutscht, wo auch viele Lesben drin sind, das erleichtert natürlich 'nen Einstieg in die 'Szene'. Dabei ist es aber sehr entscheidend, wo und in welchem Land du bist. Ich hätte mich auf jeden Fall auch in die Richtung orientiert, mir da wieder Zusammenhänge zu schaffen und 'ne Perspektive. Die sind dann als Lesbe vielleicht auch noch mal leichter zu finden, wenn es schon relativ viel Anlaufpunkte oder Möglichkeiten gibt, sich umzugucken. Auf der anderen Seite, wenn du das erst mal nicht hast ..., ich kann schon ganz eindeutig sagen: Mir hat da auch viel gefehlt von dem, was ich mir hier aufgebaut hatte an politischen und Lebenszusammenhängen, so wie ich leben und arbeiten will. Im Alltag kommen noch ganz andere Faktoren dazu. Um mal 'n Beispiel zu nennen: Wenn ich in 'ne fremde Stadt komme, in der ich mich nicht auskenne, ist das schon ganz normal, daß ich erst mal mehr gucke. In Bremen kenne ich mich aus, da hab' ich das nicht so nötig, da weiß ich die Ecken, die ich irgendwie seltsam finde, also fahr' ich da entweder blitzschnell mit dem Fahrrad durch oder ich umgeh' die. So lernst du als Frau ja eigentlich jede neue Stadt kennen. Ich war im Ausland, da kommen dann noch Sprachprobleme hinzu: Das ist 'n ganz wichtiger Faktor, daß wenn du angesprochen wirst, du irgendwas falsch auffaßt oder nicht verstehst oder auch nicht direkt passend antworten kannst, besonders wenn es sich um sexistische Anmache handelt. Und ich habe mich am Anfang, z.B. abends oder nachts, relativ wenig allein auf der Straße bewegt. Das mach' ich hier ganz automatisch, nachts allein auf der Straße zu sein, aber da mußte ich für mich erstmal dieses Gefühl für kriegen. Dazu kommt dann auch noch dieser illegale Status, der ja heißt, daß du nicht auffällig sein willst. Da hatte ich den Eindruck, wie kann man das so schön sagen, daß bestimmte patriarchale Klischees mir schon genutzt haben: Frauen werden sowieso leichter übersehen, also auch schon schneller ignoriert. Und mit dem entsprechenden Aussehen und dem entsprechenden Outfit wirst du auf der Straße schon auch ein bißchen unsichtbar. Das hilft dir dann erstmal, selbst wenn es eigentlich total beschissen ist, dich zu bewegen, also auch davon 'runterzukommen, daß jeder Gang auf die Straße, zumindest am Anfang, wie so 'ne Bedrohung wirkt - du huscht dann irgendwie ganz unauffällig durch. Und ich hab' schon relativ schnell gemerkt, daß ich mir das nicht nehmen lassen will, z.B. nachts auf die Straße zu gehen, das auch auszuprobieren und mir da wieder 'n Gefühl für zu schaffen - also mir das wieder zurückzunehmen. Es hat einfach nur etwas länger gedauert als normal, würd' ich sagen. <strong>Clara:</strong> Ein Vorteil war ja sicherlich auch, daß Du keine schwarze Frau bist, sondern 'ne weiße... <strong>Jutta:</strong> Ja, das war mir ziemlich schnell klar, weil ich auf der Straße schon gesehen hab', daß Leute, egal ob Männer oder Frauen, mit schwarzer Hautfarbe angehalten werden und wesentlich öfter in Konfliktsituationen gestanden haben - in die ich mich dann aber nicht eingemischt habe. Das ist mir sehr schwer gefallen, dieses Gefühl, mich nicht einmischen zu können, weil ich dann nachher vielleicht in einer Situation steh', die ich nicht überblicken und die für mich einfach relativ gefährlich werden kann. Ich bin nie angehalten und nach Personalien gefragt worden, sondern im Prinzip als Inländerin angesehen worden, außer, die Leute haben mich angesprochen - dann war ziemlich schnell klar, daß ich es nicht bin. Das war auch noch mal 'n ziemlich großer Teil, mit dem ich mich beschäftigt hab': Das Land, in dem ich war, wollt' ich auch kennenlernen, weil ich auch 'nen Zugang zu dem Land kriegen wollte, Ansatzpunkte finden wollte dafür, was mich eigentlich politisch an dem Land interessiert. Weil ich nicht im Kopf hatte, da zu sein und Politik für hier zu machen. Sondern wenn ich da bin, dann mach' ich da Politik, denn dann werde ich da leben - alles andere wär' mir auch unsinnig erschienen. Das hätt' ich alleine machen müssen, und das wollte ich einfach nicht. Ich hab' Bücher über das Land gelesen - dann auch in der Sprache, um die Sprache zu lernen. Dann hab' ich Unterricht genommen, damit das alles 'n bißchen schneller geht, Zeitung zu lesen, Nachrichten zu gucken ... Das war 'ne ganz gute Beschäftigung, das fand ich auch ziemlich interessant, mir 'n bißchen zu erarbeiten, was ähnlich zu hier ist, was eindeutig Unterschiede sind, warum es diese Unterschiede gibt - vieles resultiert dann ja auch aus der Geschichte von 'nem Land. das ist aber auch viel in Gesprächen gelaufen: Ich hab' ganz viele Sachen nachgefragt, hab' mir viel erzählen lassen.



kassiber: Ich wollte noch mal auf einen Punkt zurückkommen: Freundinnen und Genossinnen von Dir hatten in einem Offenen Brief beschrieben, daß "Beziehungen, Freundinnenschaften und Kontakte von der Präsenz" leben, und daß über den "momentanen Verlust" durch Deine Abwesenheit quasi ein "Dauerverlust" droht ...


<strong>Jutta:</strong> Am Anfang hab' ich gedacht, und das war auch dieses Schmerzhafte daran, daß damit einfach ganz viele Beziehungen unterbrochen oder vielleicht auch zu Ende sind. Damit hatte ich 'nen relativen Abstand zu hier. Also für mich wär' das auch total schwierig gewesen, an Bremen zu klammern, weil ich mich dann einfach auch auf nichts anderes hätte einlassen wollen oder können. Das ganze ist ja dann, nach knapp 'nem halben Jahr, ein bißchen gekippt: Dadurch, daß die vier aus dem Knast 'rausgekommen sind, gab es so eine Entwicklung, die 'ne Lücke aufgemacht hat, also 'ne Möglichkeit, mit 'nem bestimmten Risiko zurückkommen zu können. Da hat das auch bei mir eingesetzt, daß ich mich gedanklich wieder mit hier verbunden gefühlt habe - einfach dadurch, daß es sein könnte, daß ich zurückkommen kann. Das hat schon ziemlich viel ausgelöst - das wurde wieder viel präsenter. Ich hab' dann im letzten halben Jahr von da langsam Abschied genommen. Das war dann auch schon so, daß ich gedacht hab', daß hier meine politische Perspektive liegt. Ich könnte sie mir irgendwo anders aufbauen, aber hier weiß ich, daß sie da ist - das ist ja noch mal 'n Unterschied. Aber, so 'n Jahr weg zu sein ..., im Moment hab' ich den Eindruck, ich komm' zurück und fang' schon überall 'n bißchen neu an. aber das war jetzt nicht so lange, daß sich das kaum überbrücken läßt - so ist es nicht. <strong>Clara:</strong> Das hört sich jetzt so relativ bruchlos an ... Ich kann mir vorstellen, daß da schon auch ziemlich widersprüchliche Gefühle und Überlegungen 'bei waren, daß das auch 'ne ziemliche Zerreißprobe war, seine Gedanken so weit wegzuschicken - und dann wieder zurückzuholen ... Kannst Du den Prozeß vielleicht 'n bißchen genauer beschreiben? <strong>Jutta:</strong> Ich hatte schon, wenn ich das jetzt als Zeitraum beschreiben würde, vielleicht drei Monate gebraucht. Also erstmal dieser Anfangsgedanke, daß ich das überhaupt zugelassen hab', daß es evtl. eine Möglichkeit gibt zurückzukommen, das hat mich wirklich ..., das war schon euphorisch. Vielleicht hab' ich das ein bißchen abgedeckelt, weil es mir zu schmerzhaft gewesen wäre, immer wieder davon Abstand nehmen zu müssen, mich immer wieder davon verabschieden zu müssen, weil ich den Eindruck hatte: Es geht - vielleicht - einfach auch nicht. Und das war schon ..., das fand ich schon klasse, was sich da in mir bewegt hat, wie explosionsartig ich gedacht hab': "Mensch, diese Chance ist vielleicht da" - aber dann war ich schon auch hin und her gerissen. Was ich 'nen ziemlich Vorteil in der Situation fand, war genug Zeit zu haben, dieses Hin und Her und diese Widersprüchlichkeit mitzumachen. Das ist manchmal so gewesen, daß ich mich am Tag 24mal umentschieden hab' und gedacht hab': "Ja, ich geh' jetzt zurück", und irgendwie 'ne Stunde später hab' ich gedacht: "So 'n Quatsch, Du gehst nicht zurück" - denn auch das Abtauchen hat 'ne Perspektive und das ist keine schlechte. Dann hab' ich das mit den Leuten, die mich betreut haben, beredet, die ich im übrigen total großartig fand.

kassiber: Hattest Du denn von der öffentlichen Soliarbeit zu den Verfahren im Zusammenhang mit dem 13.6.95 was mitbekommen? Also von der öffentlichen Soliarbeit?


<strong>Jutta:</strong> Ich hatte schon Zugang zu den Publikationen. Und es gab ja dann auch eine eigene Zeitung für das Verfahren, die "radikalen Zeiten", wobei natürlich in anderen Zeitungen auch immer wieder Sachen dazu drin waren. Das hab' ich schon mitgekriegt, das hab' ich dann natürlich auch immer gelesen. Das ist auch ganz wichtig, denk' ich, daß es so was gibt, damit du wenigstens die Chance hast, das mitzukriegen, was läuft oder was an Soliarbeit passiert, sonst biste wirklich ganz abgeschnitten und weißt ja überhaupt nicht mehr, was passiert.

kassiber: Clara und Xenia, Ihr beide seid Teile dieser Solistruktur aus Frauen/Lesbenzusammenhängen ... Könnt Ihr mal grob skizzieren, was Ihr so gemacht habt in den vergangenen 14 Monaten?


<strong>Clara:</strong> Am Anfang war die Situation hier ja auch sehr konfus: Niemand wußte genau, was die Vorwürfe sind, in welchen Städten was passiert ist, was mit den Leuten ist, die 'n Verfahren haben oder die im Knast sitzen. Dann gab's 'n ziemlich großes FrauenLesben-Plenum, wo wir angefangen haben, darüber zu reden und erstmal zu sortieren, was überhaupt passiert ist - und auch angefangen haben, zu reden, inwieweit das unsere Szene betrifft: Also, was ist mit dem Frauen-Buchladen und der Therapie-Praxis, oder was ist mit Jutta und den anderen Frauen, die Verfahren haben - parallel zu diesem gesamten Zusammenhang. Dann hamm wir ziemlich bald angefangen, über das Projekt "radikal" zu diskutieren, über Widerstand, über Militanz - immer in Hinblick darauf, vielleicht was dazu zu veröffentlichen, um so 'ne Diskussion anzufangen oder weiterzuführen. Dann gab's 'ne Infoveranstaltung, also wir hamm immer versucht, auch öffentliche Arbeit zu machen, nach außen zu gehen - grad noch mal in der Situation -, und gleichzeitig auch im eigenen Rahmen zu gucken, die Sachen zu sortieren: Also Anwaltskontakte aufnehmen und sich um diese ganzen rechtlichen Geschichten zu kümmern usw. usf. Das war so ungefähr das erste halbe Jahr. <strong>Xenia:</strong> Was uns eben auch wichtig war, war möglichst viel nach außen zu bringen, in irgend'ner Form Sachen zu veröffentlichen, seien's Artikel, seien's Grüße, seien's Thesen oder auch dieser "Brief ins Exil" an Jutta, weil wir davon ausgegangen sind, daß, wenn das in mehreren Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht wird, sie irgendwann was davon mitkriegt. Das ist 'n Schwerpunkt in dem letzten halben Jahr der Solibewegung gewesen, den - soweit es unter diesen total beschissenen Bedingungen geht -, Kontakt zu den Abgetauchten aufzunehmen, also deutlich zu machen: "Ihr seid hier noch in unseren Köpfen und Herzen und wir vermissen Euch als FreundInnen, als KampfgefährtInnen oder Genossinnen und Genossen! Wir finden, daß Ihr hierher zurückkommen können müßt, wenn Ihr das wollt." Und unsere Aufgabe als Solibewegung, die wir halt hier sind und hier politisch arbeiten, ist es, die Bedingungen soweit wie möglich dafür zu schaffen, soweit es eben geht, 'ne Diskussion mit den Abgetauchten herzustellen, wo wir uns eben überlegt hatten: Wenn überhaupt, dann geht das über Offene Briefe, wo du welche - in Zeitungen veröffentlicht - anschreibst, und die die Möglichkeit haben, auf demselben Wege zu antworten. Denn es war ja schon so, daß wir auch viele Fragen an die Abgetauchten, daß wir 'n Auseinandersetzungsbedürfnis hatten. Das ist uns im letzten halben Jahr erst richtig klar geworden: Da müssen wir mehr machen und da hätten ..., auch wir haben da relativ spät was ... Das war natürlich auch bei uns 'n Prozeß, diesen Automatismus des Vergessens oder Verschwindens aufzubrechen, zu sagen: "Halt! Nee! Stop! Wir lassen uns die Leute nicht wegnehmen!" Ich finde auch, daß mehr hätte laufen können und müssen - auch von uns aus. Und es muß auch in Zukunft mehr laufen, denn immerhin ist es ja so, daß nicht alle zurück sind, sondern Matthes abgetaucht ist. Ich sehe es nach wie vor als Aufgabe der Solibewegung an, Bedingungen zu schaffen, daß er zurückkommen kann, wenn er das will.

kassiber: Da wollt ich gleich noch mal zu kommen, aber Soliarbeit für Leute, die auf der Flucht bzw. im Knast sind, heißt ja auch, viel Kleinkrams machen zu müssen, z.B. Mietzahlungen zu gewährleisten oder irgendwas mit Ämtern zu klären ...


<strong>Clara:</strong> Das war ja nicht so viel und auch ganz gut aufgeteilt - das lief dann so nebenher: Da hat man eben die Wohnung aufgelöst, kurz die Klötten zu der Schwester gebracht und lauter solche Geschichten, aber das war irgendwie nicht so dramatisch und hat auch nicht so viel Zeit gebraucht. In so Extremsituationen ist man ja auch etwas mehr auf Zack - und so Sachen erledigen sich auch etwas schneller als normalerweise üblich ... Gleich zu Anfang haben wir natürlich schon auch geguckt, daß Deine Familie angesprochen, aufgeklärt, daß da 'nen Kontakt hergestellt wird, und dann auch zu Deinem Umfeld, zu Zusammenhängen in anderen Städten, zu Bekannten usw. usf. Das war aber eigentlich nicht nur Arbeit, das war eigentlich 'ne ganz positive Sache, so 'nen Zusammenhalt zu spüren, auch von Leuten, die du kanntest, die sich dann engagiert haben. Also das war schon okay. Und zu Anfang waren ja schon unwahrscheinlich viele Leute auf den Beinen, hamm sich damit beschäftigt, versucht, was zu machen oder viel Geld gespendet … <strong>Xenia:</strong> Noch mal zu Deiner Frage ... Ich finde, es gibt drei Punkte in der Soliarbeit: Erstens mußt du Aktionen machen und nach außen gehen, da tauchen dann die Schwierigkeiten auf, die du als Linke oder Feministin in diesem System hast, deine Inhalte überhaupt nach außen zu bringen. Die Kontakte zur Familie, den juristischen Krams zu klären und und und - das ist der zweite Bereich, der auf die Leute zurückfällt, die halt hier sind und sich solidarisch verhalten wollen. Und der dritte Punkt ist natürlich, daß, auch wenn du nicht direkt von einem Verfahren, einem Haftbefehl oder 'ner Durchsuchung betroffen warst, du natürlich erstmal ganz schön perplex dastehst - trotz allem, was du dir vielleicht theoretisch oder politisch erarbeitest hast, und dir eigentlich klar ist, wenn es plötzlich in deine engsten Kreise einschlägt. Das ist was, womit du als Solistruktur, als Teil einer Gruppe oder als Einzelfrau erstmal auch klarkommen mußt: Du mußt es politisch einschätzen, du mußt es persönlich und emotional verarbeiten, du mußt dir klar werden: Was will ich wo, wie, wann, in welcher Art und Weise machen, zum Ausdruck bringen? Viele Gruppen hatten dann plötzlich Auseinandersetzungen darum, also über Repression überhaupt: Wie gehen wir damit um? Was heißt das für uns? Wie können wir uns dazu verhalten? Und wir waren auch immer bemüht, die Angriffe des Staates zu thematisieren, z.B. den "Großen Lauschangriff" und solche Geschichten, haben immer versucht, nicht nur so Versorgungsarbeit und Aktionen zu machen, sondern auch die Inhalte nicht zu verlieren, uns klar zu machen, was da eigentlich gerade abgeht, in welchem Zusammenhang das eigentlich steht: Was wird u.a. durch solche oder andere Verfahren oder durch das PKK-Verbot und und und hier durchgepuscht? Also was versteckt sich hinter dieser Floskel "Verschärfung der gesamt- gesellschaftlichen Situation"?

kassiber: Ihr als Solistruktur ..., auch andere Zusammenhänge haben so 'n ähnliches Bedürfnis formuliert, wolltet mit den Abgetauchten in die Diskussion kommen ... Da ist aber nach meinem Eindruck auf beiden Seiten, zumindest was diese Offenen Briefe angeht, sehr, sehr wenig gelaufen. Und Euer Offener Brief, fand ich, enthielt sogar relativ unverblühmt den Appell, doch wieder aufzutauchen - nachdem es vorher, zumindest auf so 'nem Wege, gar keine andere Diskussion gegeben hat. Und dieser Appell, der kann dann ja sicherlich auch weitergedacht werden, nicht nur an Jutta, sondern auch an ...


<strong>Xenia:</strong> Zugegebenermaßen kommt in so 'nem Offenen Brief, wenn frau ihn denn dann mal schreibt, natürlich die persönliche Haltung und das, was du dir wünscht und was du auch für richtig hälst durch - das war durchaus so. Aber daß "relativ unverblühmt" zum Zurückkommen aufgefordert worden sei, also ganz so würd' ich's nicht sagen. Ich denke, was vor allem zum Ausdruck kam, war, daß wir wollten, daß Jutta zurückkommen kann, das war quasi der politische Sinn dieses Offenen Briefes. Aber natürlich war der auch sehr persönlich an Jutta gerichtet, auch an die anderen, aber vor allem an sie, und natürlich wollten wir ihr damit zum Ausdruck bringen, daß wir sie vermissen, daß wir sie gerne bei uns hätten, daß wir gerne wieder mit ihr reden und arbeiten möchten ... war es keine Aufforderung: "Komm zurück!", sondern: "Wenn du kommst, stehen wir hier immer noch mit offenen Armen". Für uns war aber auch völlig klar, daß, h ätte sie sich anders entschieden, wir diese Entscheidung mitgetragen hätten - und, so gut das eben geht, hier als Teil einer Solibewegung, versucht, diese Entscheidung zu unterstützen - und trotzdem den Kontakt nicht abreißen zu lassen, da weiterhin für zu arbeiten. Es ging uns mit dem Brief auch darum, 'n politisches Zeichen zu setzen: Man/frau kann Abgetauchten schreiben. Das läuft natürlich nicht über den Postweg, sondern man muß sich eben die Mühe machen, so 'nen Brief zu formulieren und zu veröffentlichen. <strong>Jutta:</strong> Ich möchte da auch noch mal was zu sagen, weil ich mich total über diesen Brief gefreut hab'. Der war allerdings wirklich sehr, sehr spät, ich hab' ihn erst gelesen, als meine Entscheidung für's Zurückkommen schon feststand. Was ich an dem Brief schwierig fand, war, daß ich mich, wie gesagt, sehr schwer damit getan hab', diese Entscheidung zu fällen, das war schon ein sehr langwieriger, widersprüchlicher Prozeß. Und das ist, fand ich, in dem Brief überhaupt nicht aufgetaucht. Das war auch was, worauf, wenn ich weggeblieben wäre, ich dann noch mal geantwortet hätte. Aber dadurch, daß meine Entscheidung eigentlich stand und ich ihn wirklich kurz vorher erst gelesen habe, ist das dann hinten 'runtergefallen. Bei der ganzen Soliarbeit hatte ich den Eindruck, daß das im Prinzip das erste Mal war, daß direkt Bezug genommen wurde - und nicht auf einer sehr theoretischen, abstrakten Ebene, außer die der Grüße. Und das war auch was, was ich schon vermißt habe, wo ich mir vorstellen kann, daß es den anderen genauso gegangen ist. Ich hatte den Eindruck, daß wir relativ wenig Thema sind, egal wie Entscheidungen laufen, sondern daß das Weggehen auch wirklich ein bißchen bedeutet, daß du ausgelöscht bist. Also dann gibt es zwar immer mal Grüße, manchmal ist das sogar so, daß dabei noch nichtmals alle benannt werden, was ich auch sehr komisch fand - das hat mich dann seltsam berührt. Und trotzdem hab' ich mich über den Brief gefreut und gedacht: "Ja, das ist vielleicht ein Anfang, so was zu probieren", weil es natürlich auch noch andere Leute gibt, wo es wichtig wäre, mit denen vielleicht über so 'ne Art in Kontakt zu treten: Was Du schon gesagt hast, daß Matthes noch weg ist - aber es gibt auch noch die K.O.M.I.T.E.E.-Leute, die erstmal 'n wesentlich größeres Risiko hätten. Wo ich denke, für die liegt das wahrscheinlich auch gar nicht an zu überlegen, zurückzukommen, aber es läßt sich ja trotzdem vielleicht 'ne Diskussion oder 'n Kontakt zu ihnen herstellen ... <strong>Xenia:</strong> Was auf jeden Fall stimmt ist, daß der Brief sehr spät 'rauskam. Das liegt daran, daß, das muß ich auch sagen, es uns sehr spät als Möglichkeit erst eingefallen ist, daß frau so was machen kann. Das war im Endeffekt natürlich zu spät, jetzt nicht zu spät, weil Du dann eh bald darauf zurückgekommen bist, sondern politisch gesehen ... Und es war auch nur 'n Anfang, deshalb will ich den jetzt auch nicht überbewerten. Und das andere, warum er so sehr die Perspektive des Zurückkommens betont hat: Darüber sind bei uns viele Diskussionen gelaufen. Wir hatten aber keine anderen Überlegungen oder zumindest ähnliche Überlegungen wie Du, ganz woanders. Wir wußten natürlich auch: Die vier sind draußen, die Auflagen sind weg, das Verfahren ist an Koblenz abgegeben, also 'runtergehängt worden und und und. An diesem Runterstufen, diese Talfahrt, die das Verfahren genommen hat, daran haben wir diskutiert, daß die Perspektive, evtl. zurückzukommen, jetzt 'ne andere ist - oder näher liegt als noch vor einem Jahr. <strong>Clara:</strong> Das ist bestimmt auch was, was man aus der Sache lernen kann: Daß es wichtig ist, Diskussionen öffentlich zu vermitteln. Es wurde zwar in den Frauengruppen diskutiert, auf dem bundesweiten FrauenLesben- Treffen ..., es war nur nicht so, daß das großartig veröffentlicht wurde - und ich denke, das haben wir teilweise auch versäumt. Und 'n anderer Punkt, den ich daran wichtig finde ist, daß uns ziemlich schnell klar war, daß weder die 'gemischte' noch die feministische Linke es schaffen wird, so 'ne politische Stärke zu entwickeln, daß Ihr zurückkommen könnt, ohne persönliche Repression zu erfahren, ohne einzufahren, daß Eure Haftbefehle durch unsere Stärke aufgehoben werden und ... Das war für uns ziemlich schnell klar - und darüber entstand dann auch so 'ne Abwägerei: Was passiert, wenn Ihr zurückkommt? Wieviel Knast müßt Ihr erwarten? Das hat das ganze auch etwas zu einer persönlicheren oder individuelleren Diskussion gemacht, anders als wenn man jetzt Tausende von Leuten im Rücken hat - und 'ne unheimliche Kraft, um politisch was durchzusetzen. Und ich denke, der Brief war auch 'n Ausdruck dafür, daß Du hier einfach willkommen bist, daß wir wollen, daß Du zurückkommst, auch wenn die politische Situation die ist, daß Du dafür 'nen ziemlich hohen Preis bezahlen mußt.

kassiber: Die Soliarbeit aus FrauenLesben-Zusammenhänge wird in bzw. von 'ner 'gemischten' Szene immer wieder gern unter 'gemischter' Soliarbeit oder autonomer Politik subsummiert. Wie ist es für Euch als Frauen/Lesben, mit 'gemischten' Zusammenhängen Soliarbeit zu machen?



<strong>Xenia:</strong> Nicht ganz einfach! Das liegt einerseits daran, daß viele von uns entweder überhaupt das erste Mal oder zumindest schon seit langem nicht mehr innerhalb der 'gemischten' Linken arbeiten - und da ihre Gründe für haben - oder eben sowieso nur auf so 'ner 'Bündnispolitikebene'. Wenngleich es für uns als FrauenLesben-Zusammenhang immer so war, daß uns klar war, daß dieser Verfolgungszusammenhang 13.6. 'gemischt' ist, und wir deswegen, oder Teile von uns, 'ne bestimmte Arbeit in diesem Rahmen machen. Es war uns eben klar, daß wir Jutta als Freundin und Genossin, als Frau, Lesbe, da nicht herauslösen wollten, sondern daß sie in diesem Zusammenhang betroffen ist. Das andere sind eben die Schwierigkeiten, daß wir irgendwann das Gefühl hatten, daß wir als FrauenLesben-Zusammenhang ..., also das alte Problem, in 'ner 'gemischten' Organisierung immer Gefahr laufen, subsummiert zu werden: persönlich quasi und halt auch mit unseren Inhalten, mit unseren teilweise anderen Politikansätzen oder dem anderen -verständnis. Das ist 'ne Schwierigkeit, über die wir immer gestolpert sind - und das auch noch immer tun! <strong>Clara:</strong> Ja, wobei man schon sagen muß, daß das von Anfang an 'n ganz klar solidarisches Verhältnis nicht nur zu Jutta, sondern auch zu den anderen Betroffenen war, auch wenn das immer wieder 'n Punkt ist, der diskutiert wird, inwieweit wir uns solidarisch zu 'gemischten' Projekten verhalten. Das knüpft auch noch mal an die Diskussionen an, die wir, auch aufm FrauenLesben-Plenum, geführt haben: "Was für 'ne Position haben wir eigentlich zu dem Projekt 'radikal'?" "Was für 'ne Position haben wir zu den militanten Gruppen, wie AIZ oder K.O.M.I.T.E.E. oder auch RAF?" Dann gibt es ja lange und sehr ausführliche Diskussionen z.B. auch über den Punkt Militanz - wo ich denke, daß Feministinnen 'nen wesentlich anderen Standpunkt vertreten als den, den 'gemischte' Zusammenhänge teilweise an die Öffentlichkeit tragen. Also es berührt ganz viele Punkte, politische Punkte, die wir zu diskutieren angefangen haben , um 'nen eigenen Standpunkt darin weiterzuentwickeln oder zu festigen. Und das ist schon 'n unwahrscheinlicher Kraftaufwand, dieser Stimme, die eigentlich 'ne sehr starke Stimme ist, in so 'ner übermächtigen 'gemischten' Struktur, die richtige Position zu geben. Das kann man teilweise als subsummieren verstehen - ich versteh' das zumindest so. Aber das fällt sehr leicht unter den Tisch bzw., wenn man da nicht selber immer seine gesamte Energie hinterhersetzt, dann wird das überhaupt nicht thematisiert. Es wird aber gleichzeitig immer wieder 'ne eigentlich fast schon bedingungslose Solidarität erwartet - ich empfinde die oft als 'ne unkritische Solidarität -, und das ist 'n Widerspruch, der eben immer wieder auftaucht, nicht nur in diesem Verfahren, sondern in allen möglichen politischen Bereichen. <strong>Jutta:</strong> Um das noch mal klarer zu machen, wobei ich da ja noch nicht besonders lange mit konfrontiert bin: daß permanent von "wir" und "uns" geredet wird. Alles, was dann kommt, das sind "wir" und das betrifft "uns" - und es wird nicht mehr unterschieden! Und das würde dann an den FrauenLesben-Zusammenhängen liegen, diese Unterschiede immer wieder zu thematisieren, immer wieder 'reinzubringen - und das macht müde, und das macht auch ärgerlich. Das ist dann schon 'n Kraftakt, das immer wieder deutlich zu machen, immer wieder zu sagen: "Moment, stop! Das ist aber noch ein bißchen unterschiedlich für unterschiedliche Zusammenhänge", die es faktisch einfach sind. <strong>Xenia:</strong> Und ein Punkt, der da noch dazu kommt, ist, daß ich das Gefühl habe, daß die 'gemischte' Linke es auch recht schwer verkraftet, daß es autonome FrauenLesben-Zusammenhänge gibt, die sich so organisieren, so organisieren wollen und auch weiterhin so organisieren werden - und die sich ... <strong>Jutta:</strong> ... der Kontrolle entziehen! <strong>Xenia:</strong> Ja genau, die sich, ab 'nem bestimmten Punkt, auch der Kontrolle der 'gemischten' Linken entziehen. Daß das eben 'ne eigenständige Organisierung ist, eine, die sich immer wieder solidarisch verhält, das steht überhaupt nicht zur Debatte, aber eben 'ne eigenständige Organisierung - und ich glaube, da haben viele 'gemischte' Linke extreme Probleme mit, die sie vielleicht mal klären könnten ... <strong>Clara:</strong> Also ich würde das schon mal anders sehen. 'Ne autonome FrauenLesben-Organisierung ist aus dem Interesse heraus entstanden, die Politik zu vertreten, die man vertreten möchte, und mit den Frauen eben, mit denen man sie vertreten möchte - und nicht in Abgrenzung gegen linke oder 'gemischte' Inhalte. Die Inhalte sind ja auch nicht anders: Wir arbeiten ja zu allen Themen, die von der 'gemischten' Linken - unterschiedlich - auch aufgegriffen werden. Es gab ja z.B. auch 'nen Artikel zu dem Projekt "radikal", der wild diskutiert wurde und einen Teil von feministischen Positionen zu dem Projekt dargestellt hat. Ich fand, daß das eigentlich 'n ganz guter Ansatz war, in 'ne Diskussion zu kommen. Und es gab ja auch Veranstaltungen und viele andere Sachen in unserer Szene, die gelaufen sind - nicht nur diesen Brief.

kassiber: Der Offene Brief an Jutta war relativ persönlich gehalten - auf 'ner bestimmten Ebene -, ich hatte aber den Eindruck, daß er als ein sehr persönlicher Brief auch austauschbar gewesen wäre - auch für andere Zusammenhänge ...


<strong>Clara:</strong> Ich finde diesen Brief nicht austauschbar, weil ich mir nicht vorstellen könnte, daß so 'n Brief aus 'ner 'gemischten' Szene überhaupt geschrieben wird. Also da ist 'n ganz eigener Umgang mit Frauen aus 'nem Zusammenhang drin, den ich so von 'Gemischten' erstmal auch nicht kenne bzw. nicht erwarten würde, den ich aber eigentlich auch ganz positiv find'.

kassiber: Jutta, Du hast Dich am 13.6. dieses Jahres, ein Jahr nach den Razzien, den Behörden gestellt ... Kannst Du noch mal kurz zusammenfassen, was Dich dann letztendlich dazu bewogen hat?



<strong>Jutta:</strong> Dieses Verfahren ist am Anfang ja total aufgebauscht worden - und du weißt ja nie, ob 'sie' das dabei belassen, ob 'sie' dann im Prozeß irgendwelche Konstruktionen durchkriegen, durchpowern können ... Aber dann hat das diesen Umschwung genommen: Ich war sehr überrascht, als die vier aus dem Knast kamen, da hatt' ich eigentlich nicht mit gerechnet, eher damit, daß die bis zum Verfahren im Knast bleiben ... Dann wurden die Kontaktverbote aufgehoben, das war noch mal 'n Schritt in so 'ne Richtung, dann dieser Vorwurf der "Unterstützung von terroristischen Vereinigungen" fallen gelassen. Übrig geblieben ist eigentlich nur, daß wir eine "kriminelle Vereinigung" sein sollen, die zum Ziel hat, eine Zeitung herzustellen - und in dieser Zeitung wird dann halt geworben, also die "Werbung" ist bestehen geblieben. Das machte 'nen ziemlichen Unterschied, was sich jetzt im nachhinein noch mal dadurch bestätigt hat, daß bei den vieren die Haftbefehle aufgehoben wurden - relativ kurz, nachdem wir wiedergekommen sind. Damit blieb dieses für mich erstmal kalkulierbare Risiko, am Anfang bestraft zu werden, dafür, daß ich mich entzogen habe, was ich im schlechten Fall, auf 'n halbes Jahr Knast angesetzt habe, die Alternative wäre gewesen, nicht zurückzukommen, den Prozeß abzuwarten, inclusive Revisionsverfahren - das zieht sich ja immer enorm lange hin. Das hätte auch geheißen, und das ist schon 'n Kraftakt, sich da 'n Leben aufzubauen - und das stand für mich in keinem Verhältnis. Denn ich hatte den Eindruck, daß ich ja weiß, wohin ich hier zurückgehe. Mir ist ja auch signalisiert worden, daß die Zusammenhänge noch existieren - und daß ich willkommen bin. Und es ist mir schon sehr wichtig, politisch zu arbeiten und ein leichteres, das hier zu tun als da neu aufzubauen. Das ist auch nicht so schwer, glaub' ich, sich das vorzustellen. Und nach diesem Abwägen hab' ich gedacht hab': "Okay, dann geh' ich dieses Risiko ein, weil das lohnt sich auch, zurückzugehen."

kassiber: Wart Ihr überrascht, von so vielen Leuten empfangen zu werden?


<strong>Jutta:</strong> Wir waren alle drei total begeistert von den vielen Leuten, die, als wir aus der Pressekonferenz 'rausgekommen sind, da waren - das hat uns total gefreut. Ich hatte da das Gefühl: "Das nehm' ich mit in den Knast 'rein." Jetzt bin ich ja nicht 'reingekommen, aber ich bin mir sicher, daß Glosch das auch mit 'reingenommen hat - das war wirklich ein total tolles Gefühl. So viele Leute und die Stimmung war, so wie ich das wahrgenommen hab', ziemlich powerig, ziemlich gut. Das hat für das Zurückkommen ziemlich viel ausgemacht, so 'ne Power dann auch mit ins Gerichtsgebäude 'reinzunehmen. Was sehr bitter war, war daß sie halt Glosch eingefahren haben.

kassiber: Drei von Euch sind zurückgekommen, Matthes ist abgetaucht geblieben ... War's für Euch schwierig, nur zu dritt zurückzukommen? Also gab's da, auch wenn natürlich die Entscheidung, ob Du wiederauftauchst, individuell gefällt werden muß, sozusagen moralische - oder andere - Bedenken, mit einem zu wenig wiederaufzutauchen?


<strong>Jutta:</strong> Sagen wir mal so: Ich will auf jeden Fall, daß Matthes zurückkommen kann! Ob er das dann tut oder nicht, das ist wirklich seine eigene Entscheidung ... Ich kann Dir das nur indirekt beantworten, weil ich eigentlich nur von mir ausgehen kann: Natürlich find' ich das schade, wenn vier weg sind - und nicht alle vier kommen gemeinsam zurück. Meine Schwierigkeiten bei diesen Überlegungen zurückzukommen waren, daß ich den Eindruck hatte, daß ich in ein Vakuum zurückgehe. Und ich habe mich, für mich, darüber hinweggesetzt, weil ich nicht wußte, wann sich dieses Vakuum eigentlich auflöst. Es wäre einfacher gewesen, wenn es Thema gewesen wäre, du hättest das Gefühl gehabt, in 'ne Situation zurückzugehen, wo sich viele schon damit beschäftigen, sich auseinandersetzen: Ist dieses Risiko tragbar? Ist das politisch vertretbar? Wo dann vielleicht auch noch mal schneller 'ne Stärke entstehen kann. Also die muß dann nicht von ..., Null ist jetzt natürlich blöd, das stimmt nicht, aber sie muß nicht von relativ niedrig erstmal aufgebaut werden. Und meine Überlegung war dann halt, daß ich wenigstens noch die Chance haben wollte, in das Verfahren 'reinzurutschen, das wird immer schwieriger, je länger du wegbleibst. Und wenn ich weggeblieben wäre, hätte ich, nachdem meine Entscheidung eigentlich klar war, daß ich zurück und dieses Risiko eingehen will und auch die Konsequenzen verkraften werde -, nur noch gewartet: Das ist unerträglich, wenn du weg bist und eigentlich nur noch wartest, weil du dann aufhörst, da richtig zu leben. <strong>Clara:</strong> Aber hattest Du nicht auch den Eindruck, daß es schon auch noch mal 'n anderer Ausdruck von politischem Zusammenhalt und Stärke gewesen wäre, wenn Ihr zu viert gekommen wärt? <strong>Jutta:</strong> Natürlich hat mich das beeinflußt und ich hätte das auch besser gefunden: Zum einen, weil ich denke, daß das natürlich auch noch mal 'n anderer Ausdruck gewesen wäre, das zu viert zu machen. Das war auch noch mal was, was diese Widersprüchlichkeit in der Entscheidungsfindung ausgemacht hat - aber die Entscheidung ist so gefallen. Und ich finde sie trotzdem nach wie vor richtig ... Ich würde jetzt aber schon dafür powern wollen, daß zu Matthes mehr läuft als zu uns gelaufen ist. Wo ich das wichtig finde, daß so was wie Offene Briefe als Kommunikationsmöglichkeit mehr genutzt werden, oder daß, weiß ich nicht, vielleicht Bäpper gemacht werden zu ihm, die dann überall hängen, also daß er noch mal mehr präsent wird. Und daß ihm irgendwie signalisiert wird, daß es 'ne Auseinandersetzungsbereitschaft gibt - das find' ich total wichtig. <strong>Clara:</strong> Du hattest, als Du noch weg warst, nicht den Eindruck, daß das in absehbarer Zeit, noch vor dem Prozeß, passiert, daß dieses Vakuum gefüllt wird? <strong>Jutta:</strong> Das war ganz schwer einzuschätzen. Erstmal hab' ich da wenig Ansätze für gefunden, daß das passieren würde. Aber dadurch, daß ich weit weg war, wußt' ich natürlich auch nicht, was hier diskutiert wurde - intern quasi -, ob das kurz davor stand, ob das jetzt massiv Thema werden würde. Ich hatte einfach das Gefühl, daß für mich die Zeit abgelaufen ist. Das war 'ne gute Zeit - aber ich wollte die nicht künstlich verlängern, um sie zu 'ner schlechten Zeit zu machen.

kassiber: Das, was Du vorher gesagt hast, impliziert ja, daß 'ne 'bessere' Soliarbeit aus 'gemischten' Zusammenhängen, aus denen Matthes ja kommt, die Möglichkeit für ihn deutlich verbessern würde, ebenfalls zurückzukommen ...


<strong>Jutta:</strong> Wie ich vorhin schon gesagt hab', war das, wie ich es für mich gesehen habe. Wie das für ihn ist ..., das kann anders sein. Aber ich kann für mich einfach sagen, daß es mir leichter gewesen wäre, diese Entscheidung zu fällen, wenn ... Es ist aber auch nicht so, daß ich sagen will, daß die Soliarbeit mangelhaft gewesen ist. Was ich fand, war eben, daß zu uns relativ wenig gelaufen ist, aber mir schon klar ist, daß in der Soliarbeit schon sehr viel gelaufen ist, was sich nicht direkt auf uns bezogen hat, mehr indirekt, wenn dahin gearbeitet wurde, daß diese Haftbefehle aufgehoben werden ... Also ich möchte nicht sagen, daß die Soliarbeit schlecht war, oder daß die Leute nichts gemacht haben, sondern kann einfach nur sagen: Für mich wäre das Zurückkommen widerspruchsfreier und einfacher gewesen, wenn dieser Punkt, das Abtauchen und - möglicherweise - das Wiederkommen, mehr thematisiert, mehr diskutiert und mehr in die Öffentlichkeit getragen worden wäre. An dieser Stelle auch viele Grüße an Matthes. Viele Grüße an Glosch. Glosch muß jetzt sofort 'raus! <strong>kassiber: Dann möchte ich mich bei Euch für das Gespräch bedanken.</strong> <em>Die Fragen stellte Willi Leow. Er - aber auch Clara und Xenia - heißen allerdings in Wirklichkeit ganz anders. (...)</em>


"... dazu beitragen, den 'Mythos radikal' aus den Köpfen zu kriegen"
<em>aus kassiber Nr. 31, April '97</em> Interview zum radikal-Verfahren Neun Hauptbeschuldigten im 'radikal-Verfahren' soll in diesem Jahr der Prozeß gemacht, die 'radikal' zur "kriminellen Vereinigung" erklärt werden. Aber obwohl dieses Verfahren bundesweite Bedeutung hat und Auswirkungen auf große Teile der Linken haben könnte, scheinen sich Beschuldigte wie 'Soliszene' schwer zu tun. Das dürfte nicht nur daran liegen, daß die Prozesse und ihre Vorbereitung viel Kraft und Zeit kosten (werden), sondern hängt wohl auch mit - nicht nur - 'internen Problemen' zusammen. Dazu gehört der Vorwurf, daß einige ihre Wohnung nicht sauber genug gehalten hätte, wodurch andere (zusätzlich) beschuldigt werden konnten - sagt nicht nur die Bundesanwaltschaft. Oder daß öffentlich über Dinge geredet werde, über die besser zu schweigen wäre, wozu Interviews mit der internationalen Presse genauso gehörten wie Plauderein über Fluchtländer - sagen zumindest Teile der 'Soliszene'. Um diese und andere Fragen dreht sich das Interview mit Matthes, der Ende November als letzter derjenigen, die sich während der bundesweiten Razzia am 13.6.95 der Verhaftung entziehen konnten, wieder auftauchte:

kassiber: Matthes, seit Ende November bist Du wieder in Bremen, wie ist es Dir denn inzwischen ergangen?

<strong>Matthes:</strong> So weit, so gut! Die Anfangszeit war für mich dadurch geprägt, erstmal alles mitzukriegen, was so abgeht. Da war die Solibewegung und die verschiedenen Leute, zum größten Teil waren sie mir ja nicht bekannt und auch nicht, wofür sie standen. Das alles dann selber mitzubekommen war schon eine andere Qualität. Was mir noch gut in Erinnerung ist, ist mein Ankommen in Bremen. Bei dem inoffiziellen Teil war ich auf einmal mit zig Leuten zusammen, die ich seit dem Abtauchen nicht mehr gesehen habe. Das war eine überwältigende Situation. Der offizielle Teil lief eher wie ein Programm ab, so wie es diskutiert war. Das hat mich sehr überrascht und erfreut. Dennoch war es für mich eigentlich nur Streß - permanente Spannung. Auf diesem Weg will ich nochmal allen danken, die ihren Teil dazu beigetragen haben, daß alles gelungen ist. Dann wurde schnell klar, daß ich erstmal nicht in den Knast muß. Auf dieser Wolke bin ich dann so langsam angekommen. Das hat auch in gewissem Maße Spaß gemacht. Alles mußte ich neu kennenlernen, denn 1 1/2 Jahre sind auch hier in Bremen nicht ohne Veränderungen vorbeigegangen, Beziehungen und auch Treffpunkte haben sich verschoben. Als ich dann so langsam in Bremen wieder Boden unter den Füssen verspürte, kam aber auch ein wenig Heimweh auf. Ich habe ja wieder einen Bruch machen müssen. Es ist eine traurige Situation, zu wissen, es beginnt ein neuer Abschnitt und ich kann wieder nicht das machen, was ich will, sondern muß gucken, was die Bullen und die Justiz von mir wollen. Nach einiger Zeit werden hoffentlich die Auflagen aufgehoben und der Haftbefehl außer Kraft gesetzt, wie bei den anderen vier Beschuldigten.

kassiber: Du hast den größten Teil der Zeit, in der Du weg warst, in den Niederlanden verbracht - und das auch öffentlich verkündet. An diesem Verhalten hat es Kritik aus der hiesigen Solibewegung gegeben, denn eigentlich sei es immer Praxis der radikalen Linken gewesen, über 'so etwas' nicht zu reden. Oder, um es mit der RAF zu dem allerdings einigermaßen anders gelagerten 'Fall' Christoph Seidler zu sagen: 'Aussagen über illegale Strukturen und geheime Orte des Exil sind und bleiben absolut abzulehnen' ...


<strong>Matthes:</strong> Ja, diese These ist mir auch zu Ohren gekommen. Ich will mich bei meiner Antwort nur auf meinen Fall beschränken. Es gab schon längere Zeit vor dem Bekanntwerden meines Aufenthaltslandes Diskussionen darüber, wie mensch diesen Fall der Kriminalisierung einer Zeitung im Ausland publik machen kann. Einige rieten mir, ich solle doch Pressekonferenzen in dem Land machen, in dem ich mich aufhalte. Das habe ich zu diesem Zeitpunkt noch abgelehnt, vor allem weil mir nicht klar war, um welchen Schwerpunkt es gehen soll. Dann gab es das Angebot, einen Artikel in einer überregionalen, niederländischen Zeitung veröffentlichen zu können, das auch einigen Leuten weitervermittelt wurde. Die einzige Reaktion, die ich daraufhin bekam, war, daß es schön und doch toll wäre, Öffentlichkeit zu schaffen. Ich sah es schon als schwierig an, was mensch da erzählen soll. Denn was in Deutschland beschissen ist, ist in abgewandelter Form in den Nieder- landen auch beschissen. Außer einer braunen Vergangenheit sind die Niederlande auch ein durch und durch kapitalistisches Land. Sexismus sieht mensch auch überall und die Abschiebepolitik ist z.T. noch schärfer als in Deutschland. Was dann bleibt, ist einige Nuancen zu vermitteln, die es natürlich gibt. So kommt es dann auch zustande, daß mensch bei öffentlichen Statements über das redet, womit mensch sich gerade beschäftigt. Für mich war es auch kein Bruch mit linken Prinzipien. Dieses ungeschriebene Gesetz ist in der Hinsicht völliger Quatsch, weil es von einer bestimmten Analyse ausgeht. Diese wird bei der Kritik nicht öffentlich gemacht und ich will darauf auch jetzt hier nicht näher eingehen. Wenn aber noch Klärungsbedarf besteht, werde ich auf diese Analyse näher eingehen. Wenn mensch sich die linke politische Geschichte anschaut, dann ist es schon öfter vorgekommen, daß Leute ihre Aufenthaltsländer kundtaten. So war z.B. bekannt, daß Leute nach Nicaragua abgehauen sind, als es dort noch anders abging. 1984 ist auch schon mal jemand in die Niederlande geflohen, der wegen Mitarbeit an der radi angeklagt werden sollte. Er wurde dann bei der taz Auslandskorrespondent für die Benelux-Staaten. Davon abgesehen sind die Niederlande seit jeher ein bekanntes und beliebtes Fluchtland, wenn mann nicht zur Bundeswehr gehen will. Ich will mit diesen Beispielen sagen, daß es immer darauf ankommt, abzuwägen, ob es an dem Punkt, an dem mensch steht, mehr Sinn macht, sich still zu verhalten oder es gerade sinnvoll ist, sich zu äußern und mit dieser Geschichte internationale Öffentlichkeit zu schaffen. Für mich hielt sich das Risiko in Grenzen - ich konnte von einem halben Jahr U-Haft ausgehen, alles andere hätten weitere Anklagepunkte beinhalten müssen. Als weiteres gab es die Diskussion, ob es sinnvoll ist, sich in den Niederlanden zu stellen, was so oder so ein Öffentlichmachen des Fluchtlandes bedeutet hätte. Durch den Artikel wurde im voraus eine Öffentlichkeit hergestellt, denn ohne diese hätte ich mir ein Stellen überhaupt nicht vorstellen können. Desweiteren wurde eine wichtige Grundlage für die Soliarbeit geschaffen, falls ich überraschend durch die Bullen abgegriffen worden wäre. Als letztes will ich noch hinzufügen, daß sie laut der Akten, die ich inzwischen einsehen konnte, schon seit den Durchsuchungen vom 19.12.95 aufgrund von gefundenen Unterlagen davon ausgegangen sind, daß ich mich in den Niederlanden aufgehalten habe. Aufgrund dieser Tatsache kann nicht mehr ernsthaft behauptet werden, ich hätte ein Fluchtland preisgegeben! Es kann niemand mehr auf den Gedanken kommen, daß dadurch den Bullen Tür und Tor geöffnet wurde, um Ermittlungen fortführen zu können. Mir war es in dieser Situation natürlich auch wichtig, in die Offensive zu gehen. Ihnen einfach zu sagen: 'Na und, was wollt ihr?! Ich bin in den Niederlanden und da bleibe ich, solange wie ich Lust habe, und ich kehre dann zurück, wenn ich es will.' Das ist in meinen Augen auch ganz gut gelaufen. Dem gegenüber stand das Risiko, dadurch die Aufmerksamkeit der deutschen Bullen auf sich zu ziehen und sich und sein Umfeld stärker zu gefährden, was wir aber in Abwägung in Kauf genommen haben. Vielleicht muß ich noch ergänzen, daß sich die Leute, die mich unterstützt haben, auch durchaus des Risikos bewußt waren. Die Entscheidung ist gemeinsam gelaufen und deshalb muß ich eigentlich von 'unserer' und nicht 'meiner' Entscheidung sprechen.

kassiber: In der Soliszene wird immer noch gern der Begriff 'Exil' für die Situation in der Du Dich - wie auch die im Juni 1996 Wiederauf- getauchten - befunden hast, benutzt. Was stört Dich daran?


<strong>Matthes:</strong> Am Anfang habe ich den Begriff selbst verwendet. (Dazu ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß 'Exil' sich schon in der Zeit vor meinem Abtauchen in den Köpfen eingeprägt hatte - durch verschiedene andere Begebenheiten, wie das Abtauchen der drei, die wegen K.O.M.I.T.E.E gesucht werden, und das Wiederauftauchen von Leuten aus dem Kaindl-Verfahren.) Mit dieser subjektivistischen Sicht fühlte ich mich aber ab einem bestimmten Punkt nicht mehr wohl. Mir kam es überzogen vor, meine Situation zu vergleichen mit der von Leuten, die das Exil benutzen als einen Ort, um auf die Situation ihres Landes aufmerksam zu machen. Jemanden, der sich seit Jahren in der autonomen Szene bewegt, sollte es eigentlich klar sein, warum sie ihn verfolgen, da die sich ja bekanntlich gegen das Projekt Deutschland und alles, was damit zusammenhängt, richtet. Die Repression ist in anderen Regimen viel härter als in der BRD. Dort sind ganze Schichten betroffen, Künstler können nicht mehr ihren Ideen nachgehen, politische GegnerInnen werden auf offener Straße umgebracht. Es herrscht eine für große Bevölkerungsteile erfahrbare Unterdrückung. Aus diesem Grund versuchen Menschen dann, in anderen Ländern eine Chance wahrzunehmen, um diese Zustände zu vermitteln. Ich hätte natürlich auch was zu dem Projekt Deutschland sagen können, aber dann hätte ich auch nicht zu den Niederlanden schweigen können, weil es eben doch das gleiche gesellschaftliche Modell und ähnlich strukturiert ist. Dies fiel mir erst später auf, um so länger ich darüber nachdachte. Dann ist mit dem Begriff 'Exil' auch ein Status verbunden. Dieser Status beinhaltet ein begrenztes oder längeres Aufenthaltsrecht. Wenn dieser erlangt ist, kann eigentlich erst die politische Arbeit beginnen, weil es sonst sehr schwer ist, sich öffentlich zu artikulieren. Um es kurz zu sagen: Ich verbinde mit dem Begriff Exil einen legalen Status. Den hatte ich nicht und er wäre mir und auch den anderen, die wegen Kaindl oder dem K.O.M.I.T.E.E gesucht werden und wurden, niemals in der westlichen Hemisphäre gewährt worden. Somit ist die Griffigkeit des Begriffs 'Exil' sehr schön, geht aber an der Situation vorbei.

kassiber: Wie sah denn Dein Leben in den Niederlanden aus? Gab es es nach einer gewissen Eingewöhnungszeit wieder so etwas wie einen 'normalen Alltag'?


<strong>Matthes:</strong> Für die erste Zeit kann ich von einem 'normalen Alltag' nicht sprechen. Meine Situation war sehr heftig wegen der Unsicherheit darüber, was eigentlich passiert ist und wie es weitergehen wird. Zum Glück hatte ich sehr schnell eine sichere Unterkunft und konnte mich ein wenig sammeln. Das einzige, was einem in dieser Situation immer wieder einfällt, ist die Frage 'Was mach' ich denn nun?'. Darauf konzentriert sich alles, mein ganzes Verhalten war davon bestimmt. Mensch kann sich nicht mehr 'zurückziehen'. Du lebst in einer Ausnahmesituation und diese konnte ich eigentlich bis zum Auftauchen nicht ablegen. Und auch heute taucht das Gefühl an verschiedenen Punkten immermal wieder auf. Es ist einfach kein 'normaler' Zustand. Schon bevor ich abtauchte, lebte ich in einer recht sensiblen Situation. Aus den Akten geht hervor, daß ich seit geraumer Zeit überwacht wurde. Die Überwachung ging vom Abhören des WG-Telefons über eine Kamera, die auf die Haustür gerichtet war, Observationen von Urlaubsfahrten bis hin zu Wanzen im Auto. Dies blieb natürlich nicht alles völlig unbemerkt. Aber das war dann mit einemmal vorbei. Einerseits konnte ich mich zurücklehnen und versuchen zu entspannen. Das habe ich dann auch ausgiebig gemacht. Die Phase der Anpassung dauerte nur eine kurze Zeit und dann merkste: Dir sieht ja sowieso niemand an, wer oder was du bist und auch nicht, daß du aus Deutschland kommst. Danach ging es ein wenig besser. Das Leben normalisierte sich auf einem beständigen Spannungsniveau. Es begann auch Spaß zu machen. Das hing stark mit meinem Umfeld zusammen. Es war spannend, Leute gleich 'von Null auf Hundert' kennenzulernen. Nicht die lange Phase des Kennenlernens zu durchstreifen, sondern meine Story lag auf der Hand und das interessierte die Leute - und mich interessierten natürlich ihre Stories. Ich wollte ja von dem Land und den Leuten was mitbekommen und das lief dann auch recht gut. Das hört sich jetzt alles ein wenig romantisiert an. Es gab auch sehr beschissene und einsame Tage. Meine Ansprüche reduzierten sich auch auf einige wenige Sachen und ich mußte mir Neues suchen. Das dauerte aber einige Monate, bis sich das dann realisiert hat. Manchmal war ich auch einfach zu träge und habe meinen Arsch nicht hochgekriegt.

kassiber: Wie schätzt Du als interessierter Leser linksradikaler Zeitungen die Bedeutung der radikal heute ein - auch im Vergleich zu anderen (halb-)legalen, auf jeden Fall nicht allzu klandestin produzierten und vertriebenen Publikationen? Kann es sein, daß die ehemalige 'Bewegungszeitung' heute im wesentlichen nur noch von ihrem Mythos des 'Radikalen', des 'Gefährlichen' oder von - auch werbewirksamen - Kriminalisierungsaktionen wie am 13.6.95 und danach lebt?

Quo vadis hat in einem Diskussionspapier (1) quasi die Existenzfrage gestellt: 'Die Zeiten haben sich geändert und die 'radikal' auch. Die 'radikal' war in den letzten Jahren kein Sprachrohr der Szene, kein Feld kontroverser und fruchtbarer Auseinandersetzung, kein Blatt, das sich sonderlich für die Diskussion feministischer Positionen interessiert hat, keine Provokation, nur beschränkt ein Medium unterdrückter Nachrichten, keine Orientierung in der theoretischen Diskussion.


<strong>Matthes:</strong> Der Schlag am 13.6.95 ist ein Einschnitt gewesen, durch dessen propagandistische Wirkung die radikal aber an Bedeutung gewonnen hat. Vorher war sie sicher eine Zeitung des linksradikalen Spektrum, die eine große, überregionale Reichweite hatte und dadurch auch in einigen Diskussionen richtungsweisend war. Sie erscheint kontinuierlich seit 20 Jahren und spiegelt im Grunde die Bewegung wider, was mensch auch so bewerten kann, daß sie in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat. Sicher war es auch ein Verlust, daß 1992 einige Gruppen aus der radi ausgestiegen sind (2), wodurch explizit Artikel von Frauen abgenommen haben. Das war, im Nachhinein gesehen, bestimmt eine ungünstige Entwicklung. Die andere Seite dieses Konflikts war bestimmt, daß sich die Arbeit auf weniger Gruppen verteilte, was sich immer auch auf Inhalte und Arbeitsweisen auswirkt. Dennoch gab es inhaltliche Anstrengungen wie 'Gegen das Vergessen' (GDV) oder die ausführliche Auseinandersetzung über die Organisierungsdebatte in bezug auf die AABO oder auch die OLGA. Die radi hat aber auch noch eine andere Bedeutung, die über bloße Zeitungsmachen hinausgeht. Sie ist eine bundesweite Struktur und versucht dies auch auszudrücken, mit allen Fehlern und Schwächen. Sicher kann mensch die Kritik aus dem Quo-vadis-Papier nachvollziehen. Aber diese Kritik beruht auf einem Verständnis, daß der radi eine Art Avantgardefunktion zuschreibt. Die hatte und hat sie nicht, auch wenn sich vielleicht einige gerne darin sähen und der sog. Mythos radikal weit verbreitet ist. Für mich war die radi immer nur eine Zeitung, die Diskussionen dokumentiert, nach neuen Ansätzen sucht und an die LeserInnen vermittelt. Das ist ihr ab und zu gelungen. Sie ist nunmal ein Medium für eine diffuse linksradikale Szene - ein ingroup-Medium. Im Unterschied zu anderen Zeitungen, wie Arranca, 17° C oder auch dem Kassiber, bei denen es eine Redaktionsgruppe gibt, wurde bei der radi versucht, durch verschiedene Gruppen mit verschiedenen Schwerpunkten eine Offenheit, was die Themen angeht, zu erreichen. Durch die verschiedenen Gruppen, die die Inhalte zusammenstellen, sie produzieren und verteilen, kommt auch nicht die 'inhaltliche Strömung' zum Ausdruck und kann sich durchsetzen. Von außen betrachtet ist es eben ein heterogener Haufen. Die einen versuchen eher durch Theorie Zusammen- hänge zu vermitteln, wie im GDV. In der OLGA hat sich scheinbar eine praxisorientiertere Gruppe zusammengesetzt, wo dann neben längeren Artikeln auch Berichte von besetzten Häusern oder Demos ihren Raum finden. Aber auch kleinere militante Aktionen haben ihren Platz, wie z.B. die allseitsbeliebte Wagensportliga. Dazwischen erscheinen dann wieder Texte zu Rassismus und Flüchtlingen von anderen Gruppen. Das alles drückt sich in der radi aus und macht sie auch spannend. Ich hatte beim Lesen der radi zumindest das Gefühl, daß sie versucht, verschiedene Herangehensweisen und Positionen zum Ausdruck zu bringen. Dies kann Gruppen, die zu einem bestimmten Thema arbeiten, wie z.B. zu Feminismus, zu wenig sein. Oder auch den Leuten von Quo vadis, die versuchen, ihren Frust an den Schwächen der radi abzulassen. Wenn sie mit der gleichen Schärfe ihren Artikel mal hinterfragen würden, dann würden sie sicher einige Kriterien, die sie benennen, bei ihrer eigenen Organisierung wiederfinden. Ich würde mit ihnen mal gern darüber zu diskutieren. Den Versuch, eine repräsentative Entwicklung in der radikalen Linken zu vermitteln, hat die radi in meinen Augen erfüllt. Das außer acht zu lassen, ist eine Oberflächlichkeit, die ich dem Quo-vadis-Artikel und auch dem Text der Lesben im ID-Archiv (3) unterstellen würde. So werden einige Sachen rausgepickt und dann daran eine Analyse entwickelt. Aufgefallen ist mir z.B., daß die radi sich bisher in keiner Äußerung, die ich gelesen habe, selbst als feministische Zeitung definiert hat. Es war eine Patriarchatskritik enthalten und manchmal gab es auch ausdrücklich feministische Texte. Außerdem wird eine Analyse, ohne den geschichtlichen Hintergrund zu beachten, verzerrt oder fällt ganz einfach falsch aus. Um auf die Frage zurückzukommen: Der Bekanntheitsgrad ist natürlich durch die letzte Aktion immens gestiegen. Dadurch hat sie jetzt die Möglichkeit, auf einer neuen Basis weiterzumachen: Die beiden letzten Nummern hatten ja auch schon einen anderen Lesewert als die Ausgaben vor dem 13.6.95. Sie hat in meinen Augen auch inhaltlich gewonnen. Andererseits ist der Versuch, jetzt mal zu gucken, was eine bundesweite linksradikale Zeitung für eine Bedeutung hat, sicher noch spannend.

kassiber: Die radikal hat als Sprachrohr einer sich möglichst radikal gerierenden Szene immer ein für militante Politik zweifelsohne unabdingbares klandestines Verhalten propagiert. Nun legen die Auswertungen der der Staatsanwaltschaft vorliegenden Akten nahe, daß das tatsächliche Verhalten einer ganzen Reihe von Leuten ein anderes war. Wir können hier natürlich nur über den Wahrheitsgehalt dieser Akten spekulieren, aber könntest Du Dir Gründe für mögliche politische (und auch persönliche) Katastrophen vorstellen?


<strong>Matthes:</strong> Zu dem, was die radikal darstellt, habe ich gerade schon was gesagt. Sie bezieht sich auf linksradikale Politik, sucht Verbindungen zu den verschiedenen Ansätzen linksradikaler Politik, nicht nur der Militant im herkömmlichen Sinne, sondern auch zu anderen - vielfältigen - Widerstandsformen sowie Auseinandersetzungen auf der theoretischen Ebene. Ein Teil davon ist auch die Propagierung klandestinen Verhaltens, das zweifelsfrei wichtig ist. Auf der anderen Seite erscheint die radikal seit 20 Jahren kontinuierlich, trotz andauernder Repression. Das und daß sie immer als Teil bzw. Spiegel der Bewegung anzusehen war, hat auch zu dem Mythos beigetragen. Wenn das jetzt konsequent weitergedacht und damit vom Sockel geholt wird, kann jede und jeder sich die Frage selber beantworten. Erstens gibt es keine Organisierung, die perfekt ist, was jede/r für sich nachvollziehen kann, und dabei kommt es nicht auf die Art der Organisierung an. Es bestehen zwar eindeutige Regeln, aber in der Praxis gibt es immer Gründe, warum diese nicht eingehalten werden. Das passiert selbst bei der kleinsten Aktion. Gleichzeitig ist es aber auch so, daß durch diese Fehler die Organisation lebt. Ihre Mitglieder lernen durch persönliche Betroffenheit und es gibt gleichzeitig eine Weiterentwicklung der Organisationsform. So gesehen sind radikal und die durch die Durchsuchungen und Observationen aufgedeckten Fehler und Funde (vorausgesetzt, daß sie sich das nicht alles aus den Fingern gesogen haben) nix besonderes. Es gab in der Geschichte immer wieder solche Begebenheiten: RAF, ETA, Widerstand im Nationalsozialismus sind einige Beispiele dafür. Durch diese Argumentation sollen aber nicht die gemachten Fehler entschuldigt werden. Es soll nur dazu beitragen, den Mythos, den mensch der Zeitung gegenüber aufgebaut hat, aus dem eigenen Kopf zu kriegen. Die Zeitung an sich hebt sich nicht von der übrigen Bewegung ab, sondern ist ein Teil von ihr und sollte deshalb auch so verstanden und unterstützt werden. Zum anderen ist da noch die subjektive bzw. persönliche Ebene: Wie mensch damit umgeht, wenn aufgrund von persönlichem Verhalten z.B. andere beschuldigt werden. Auch diese Situation kann jede/r nachvollziehen, denn wer war noch nicht in einer Situation, in der er/sie einen Fehler gemacht hat. Es ist zwar so, daß das Umfeld oder die Bewegung bis zu einem bestimmten Maße solidarisch damit umgehen muß, aber trotzdem müssen die Personen im Endeffekt allein damit klarkommen. Wie sie sich darin verhalten, liegt dann in den persönlichen Entscheidungen und Beziehungen: Ob eine Aufarbeitung innerhalb des jeweiligen Umfelds geschieht, ob sie sich der Verantwortung stellen und mit den Beteiligten darüber reden oder aber sie sich dem Ganzen entziehen oder sich in Arbeiten stürzen, um das zu kompensieren und z.T. auch unheimlich auf die Wurst hauen. Das ganze ist dann natürlich mit Konsequenzen verbunden. Für eine Solibewegung ist dies eine schwierige Phase. Eine Gratwanderung: Einerseits die Solidarität weiterhin aufrecht zu erhalten und andererseits eine Ebene zu finden, mit den Leuten umzugehen, die das offensichtliche Fehlverhalten gezeigt haben. Das ist nicht immer leicht. <strong>kassiber: Danke für das Interview.</strong> Die Fragen stellte Willi Leow. Anmerkungen: (1) Quo vadis, Entenvieh macht auch Mist, in: kassiber 29, September 1996, S. 26ff. (2) Vgl. 20 Jahre radikal. Geschichte und Perspektiven autonomer Medien; Hamburg: Libertäre Assoziation, Münster: Unrast, Berlin: Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße, Berlin: Edition ID-Archiv, 1996. (3) Einige Lesben aus dem ID [Bremen], Zensur in der Linken? Feministische Inhalte in der radikal, sowie: dies., Worte als Waffen? Lesben/Frauen, linke Presse und politische Zensur; beide in: kassiber 28, Februar 1996, S. 12ff.


Gedanken zur Rückkehr dreier im radikal-Verfahren!
Am 13.6. sind Frank, Jutta und Ulli wieder aufgetaucht und haben sich in Bremen den Behörden gestellt. Sie waren seit einem Jahr untergetaucht, um sich der Verhaftung zu entziehen. Ihnen, wie weiteren fünf Menschen, wird vorgeworfen, die Zeitung `radikal´ hergestellt zu haben. Jutta und Ulli wurden nach kurzer Zeit auf Kaution (20000 DM) und mit scharfen Auflagen freigelassen. Frank sitzt seit dem in Untersuchungshaft, z.Z. JVA Köln. Wir finden es natürlich legitim zurück zu kommen, und freuen uns darüber, daß Jutta und Ulli wieder zurück sind in ihren Zusammenhängen. Wir können Eure persönlichen Gründe sehr gut nachvollziehen, hätten es aber notwendig gefunden, innerhalb der Soli-Struktur über das Warum und Wie genauer zu diskutieren. Es war zwar klar, daß es nach der Haftaussetzung von Ralf, Andreas, Werner und Rainer darum geht Bedingungen zu schaffen unter denen die anderen vier zurückkommen können. Zum einen war es wichtig, daß die AnwältInnen sich über die Bedingungen für das Wiederauftauchen mit der BAW auseinandergesetzt hat, die sich aber ihrerseits auf keine Gespräche dazu einließ. Zum anderem ging es darum, daß wir als Soli-Bewegung den politischen Rahmen (Öffentlichkeitsarbeit, Plakataktion wie es die Frauen/Lesben Zusammenhänge gemacht haben, etc.) hätten schaffen müssen, in denen eine Rückkehr eingebettet gewesen wäre. Tatsache war aber, daß nach der Entlassung der Vier die Luft raus war und die Umsetzung der Aufgaben nur halbherzig bis gar nicht geschah. In dieser Situation wäre eine intensive Diskussion zwischen den Untergetauchten und der Soli-Struktur notwendig gewesen. Dabei hätten die Soli-Gruppen z.B. solche Überlegungen mitkriegen können, daß es den Untergetauchten wichtig war, daß ihr Prozeß nicht von den anderen abgetrennt wird und daraus eine höhere Dringlichkeit entwickelte, schnell zu handeln. Ergebnis dieser Situation war, daß nur wenige aus der Soli-Struktur das Auftauchen organisierten und inhaltlich bestimmten. Außerdem gab es bei der Pressekonferenz noch nicht mal eine gemeinsame Erklärung der bundesweiten Soli-Struktur zum Wiederauftauchen und der politischen Einschätzung des Angriffes vom 13.6.. Strukturen, in denen so etwas abgesprochen werden kann, sind vorhanden. Wir müssen sie in Zukunft besser nutzen! Schließlich ist Matthes weiterhin abgetaucht ( auch K.O.M.I.T.T.E.)! Matthes wie geht´s dir eigentlich in deiner jetzigen Situation? Bremen 13.6.96 Nach einer Pressekonferenz begleiteten 400 FreundInnen und GenossInnen die drei zum Gerichtsgebäude. Dieses freiwillige "Abliefern" von GenossInnen bei den Behörden, die sie ja erst zum Abtauchen gezwungen hatten, finden wir eine katastrophale Symbolik. Den Wunsch der Drei , nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen zu wollen und auf eine evtl. Festnahme zu warten, können wir nachvollziehen. Trotz alledem finden wir es politisch fragwürdig, sich selbst, und dazu auch noch in Begleitung von mehreren Hundert DemonstrantInnen den Behörden zu stellen und damit eine selbstbestimmten offensiven Umgang mit der Situation aus der Hand zu geben. Auch können einige von uns nicht verstehen, warum die Stimmung bei den 400 Leuten so gut war, daß Mensch denken könnte, da werden Leute aus dem Knast abgeholt und nicht abgeliefert. Wir denken, daß die Art des Auftauchens einer politischen Bankrotterklärung nahe kommt. Als machbares Szenario wäre denkbar gewesen, daß die Drei besser in einem öffentlichem Raum (Büro IG-Medien oder ein Fraktionsbüro einer Partei) aufgetaucht wären Dort hätte eine Pressekonferenz stattfinden und in Ruhe die Verhandlungen der Rechtsanwälte mit dem Gericht abgewartet werden können. Die UnterstützerInnen hätten eine zusätzliche Schutzfunktion gehabt. Durch dieses Vorgehen wäre der politische Preis einer Festnahme und damit verbundener Einbuchtung h&oml;her gewesen als beim jetzigen Vorgehen. Soli-Gruppe Kiel Moin, moin! Matthes taucht auf

Bremen, den 25.11.1996

Heute tauche ich nach ca. anderthalb Jahren wieder in Bremen auf. Noch ist es nicht deutlich was mich erwartet, ob ich in Bremen bleiben kann oder ob ich erst in den Knast muß. Bis vor kurzem lief noch ein Ermittlungsverfahren wegen der AIZ gegen mich, was nun eingestellt wurde. Dies erfreut mich und beschleunigte mein Auftauchen. Das andere Verfahren ist ja sicher bekannt: Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Herstellung der 'radikal'.

Also muß ich mich mit der Situation auseinandersetzen ein halbes Jahr abzugehen oder überhaupt nicht. Falls ich dann auf freien Fuß gesetzt werde, müssen 20.000 DM aufgetrieben worden sein und als weiteres werde ich mich wahrscheinlich drei Mal in der Woche bei den Bullen melden müssen und bekomme noch ausgestellt, daß ich mich mit einer bestimmten Zahl von Leuten nicht treffen darf - also Kontaktverbot. Darauf lasse ich mich ein, wenn ich zurückgehe.

Dem stand die Möglichkeit gegenüber in den Niederlanden zu bleiben. Seit mehr als einem Jahr bin ich nun weg. Die Zeit war nicht immer einfach. Viele Konflikte verharmlosten sich, andere taten sich auf. Dennoch überwog häufig das Gefühl, ihnen ein Schnippchen geschlagen zu haben. Das war auch in der ersten Zeit ein gutes Gefühl - einfach zu sehen, daß ihr Apparat doch nicht vollständig funktioniert. Ihre Trefferquote betrug am 13.6.95 schlicht 50% und bedenkt mensch: an dieser Aktion waren 2000 Bullen, aller erdenklichen Einheiten, beteiligt.

Nach außen sah diese ganze Sache bombastisch aus, trotzdem zeigten sich die ersten Fragezeichen, als diese Aktion nur einen Tag Interesse fand in der bürgerlichen Öffentlichkeit. - Mit diesem Gefühl also abgetaucht und diesen Schlag verarbeiten.

In einigen Städten bekam die Szene eine neue Beschäftigung - Antirepressionsarbeit. Die Aktion 'Wasserschlag' ist in aller Munde, zumindest gibt es niemanden, der nicht schon mal davon gehört hat. Die klassischen linken und feministischen Reaktionen stellen sich ein. Veranstaltungen wurden organisiert, Plakate wurden verklebt, Sprüche gesprüht, kleinere Demos fanden statt. Dann gab es auch eine Demo mit 5000 Leuten in Hamburg und eine Extra-Zeitung kam auf den Markt, Soli-Partys ohne Ende und das sprengt den üblichen Rahmen!: auch zwei neue radis wurden den LeserInnen nicht vorenthalten und mensch munkelt, sie sollen jetzt sogar gelesen werden (von der Alt-Szene), die Jüngeren hatten darauf ja immer schon Bock. - Aber zurück zum Thema!

Für mich war die Anfangszeit davon geprägt, zu gucken was sich in der BRD so tut. Viele Leute rödelten und ich saß hier fest und konnte nur registrieren. Lesen war eine Hauptbeschäftigung, aber was weitaus wichtiger war, daß ich Leute fand, mit denen ich reden konnte.

Danach begann das Zuhören. Ich wußte nicht soviel von Holland. Sicher habe ich schon gehört, daß mensch hier Coffeeshops hat, daß es hier liberaler zugehen soll und überhaupt viel schöner ist als Kaltland. Aber mit dieser Oberfläche hier zu leben ist unmöglich. Die Leute sind auch scheiße, die Gesetzgebung ist auch repressiv - natürlich nicht so hart wie in der BRD , die koloniale Geschichte wird sehr zurückhaltend behandelt und die Marktwirtschaft, sprich Kapitalismus, ist hier auf höchstem Niveau entwickelt. Es gibt hier auch zig SprecherInnen, die links für tot erklärt haben, sich distanzieren und ihre Hauptaufgabe darin sehen, linke Ideen zurückzudrängen.

Dennoch auf der anderen Seite gibt es noch immer viele 'kraaks', z.B. in Amsterdam, Arnheim, Nijmwegen und Utrecht etc. Aber auch gegen den 'koppelingswet' finden Demos und Veranstaltungen statt. Dieses eben benannte Gesetz schreibt die Behandlung von illegalen Flüchtlingen vor, wie sie aus Krankenkassen, Sozialhilfe, Schulversorgung usw. ausgeschlossen werden sollen. Aber ich will jetzt nicht alles aufzählen, was ich hier so mitbekommen habe. Im großen und ganzen ist es vergleichbar mit der BRD. Dennoch will ich einen Unterschied nicht unerwähnt lassen. Soziale Bewegungen werden als Ansprechpartner akzeptiert. Dies wird deutlich, wenn mensch die Berichterstattung betrachtet zu Faschisten, zu Durchsuchungen bei der Ravage oder auch über politische Kampagnen, wie die Erweiterung des Flughafens Schiphol.

Dennoch kommt nach einiger Zeit das Gefühl zurück, was mache ich hier eigentlich. Natürlich bin ich beschäftigt, mit der hiesigen Geschichte und Realität, aber die Entwicklungen um das Verfahren in der BRD holen mich immer wieder ein. Mensch macht sich Hoffnungen, weil z.B. vier Leute mit einer ähnlichen Anklage aus dem Knast kommen oder ist überrascht, daß am 13.6.96 nur einer in der Kiste bleibt und zwei weitere wieder gehen können. Das sind Geschichten, wo es klar wird, die Zeit hier wird mehr und mehr zu einem Übergang. Es setzt sozusagen ein Doppelleben ein. Mensch denkt dauernd an Deutschland, lebt hier aber einigermaßen holländisch - spricht die Sprache, liest die Zeitung usw. Um so länger ich wegbleibe, um so mehr Zeit muß ich dafür aufwenden mein Leben in Holland zu organisieren. Da ich das dann nach meinen Vorstellungen realisieren will, bedeutet dies zwangsläufig die Kontakte nach Deutschland zu beschränken. Mit diesem Doppelleben klarzukommen, war nicht einfach. Das machte sich auch an Beziehungen bemerkbar, daß mensch z.B. oft mit seinen Gedanken woanders war.

In meiner Situation war es wichtig, nicht die Realität aus den Augen zu verlieren. - Was läuft nun in der BRD? Wie ist der Stand des Verfahrens? Wie entwickeln sich Diskussionen? usw. - Dies mußte ich im Kopf behalten. Denn Verdrängen führt dazu sich mehr und mehr zu entziehen, d.h. einem ist das Risiko nicht mehr bewußt, doch mal abgegriffen zu werden. Mensch lebt also in einer Art Spannung, die mal mehr - mal weniger auftaucht. Diese Spannung drückt sich aber nicht nur in bezug zur Repression aus. Sie ist auch besonders spürbar, wenn mir Konflikte zu Ohren kommen. In solchen Situationen kam es sehr stark auf die Vermittlung an, damit ich überhaupt reagieren konnte. Oft kam es mir dabei hoch - mal auf den Tisch zu hauen , aber meistens war die Auseinandersetzung dann schon wieder an einem anderen Punkt. Sich in Diskussionen eingebunden fühlen, war schwierig. Dieses Gefühl tauchte eher selten auf. Wenn ich mich dann mal äußerte, kam es falsch an und ich wurde mit Interpretationen konfrontiert, die mit meiner Situation nur wenig zu tun hatten. Dies entschuldigte ich oft damit, daß die Leute in der BRD unheimlich beschäftigt sind und meine Realität einfach nicht wahrnehmen können. Natürlich könnten sie, wenn sie wollten, aber als Abgetauchter ist mensch weit weg... .

An dieser Stelle will ich nochmal nachdrücklich betonen, das ich abgetaucht war und nicht im Exil. Exil ist natürlich der einfachere, griffigere Begriff und ich habe ihn auch verwendet. Aber nach mehreren Diskussionen schien sich dieser Begriff 'Exil' eher auf viele kleine und größere Fluchtbewegungen zu beziehen. Wie z.B. im Deutschen Reich 33-45, wo sehr viele Menschen betroffen waren von Flucht. Viele bekamen in europäischen Ländern, aber nicht nur dort, Aufenthaltsrechte, viele blieben Illegal - abgetaucht. Andere konnten Öffentlichkeit schaffen über die Zustände im Faschismus aufgrund ihrer Anerkennung als Flüchtlinge, was zum Beispiel sichtbar wurde in der Exilliteratur, im Exiltheater usw.

Dies konnte auch bei dem Militärputsch in Chile beobachtet werden. Hier nahm z.B. die ehemalige DDR viele Menschen auf und sie konnten dem sicheren Tod entkommen, konnten selbst Ausbildungen beginnen und eine neue Lebensperspektive entwickeln. Aber nicht nur in Chile der siebziger Jahre kam es zu großen Fluchtbewegungen.

Auch bei dem Putsch in der Türkei 1980 waren viele Menschen gezwungen, sich den faschistischen Häschern zu entziehen. Dies war ihnen in vielen europäischen Staaten möglich. Auch hier gab es wieder Leute, die sich legal äußern konnten, und ein anderer Teil rettete sich, indem sie ein verdecktes Leben begannen. Ganz aktuell ist es immer noch bei der Situation in Kurdistan, was von der türkischen Kolonialmacht besetzt ist. Diese Reihe könnte noch fortgesetzt werden mit Ungarn, Südafrika, Uruguay, El Salvador und vielen anderen Ländern.

Wer oder Welche sich diese kurzen Beispiele nochmal vor Augen führt, merkt: In der BRD ist keine so extreme Situation, wo massenweise Menschen aus ökonomischen oder politischen Gründen flüchten müssen. So war es auch nicht am 13.6.95. Ich hätte auch in den Niederlanden niemals um politisches Asyl fragen können, weil ich aus einem sicheren Drittstaat komme und weil die niederländischen Autoritäten meinen, daß die Rechtsgarantie in Deutschland hoch entwickelt sei. Somit wäre es auch falsch zu analysieren: solange in Holland zu bleiben bis sich die Zustände in der BRD grundsätzlich verändern. Mit dieser Perspektive hätte ich nämlich auch nicht in Holland bleiben können, weil es sich, wie oben schon erwähnt, in rechtlicher, ökonomischer und politischer Ausrichtung nicht viel von der BRD unterscheidet. Aus diesem Grunde lebte ich abgetaucht in den Niederlanden.

Noch einen Unterschied will ich nicht unter den Tisch fallen lassen. Ich war nicht in der Situation, daß ich mich in der BRD gegen ein besonders repressives Regime wehre, wie z.B. dem Hitler-Faschismus, dem Chile der siebziger Jahre oder auch nicht mit der heutigen kurdischen Situation konfrontiert war. Umso länger ich mich mit dem Thema 'Exil' beschäftigte, erschien es mir als falsch, mich als Exilierten zu definieren. Besonders wichtig war dabei, daß ich nicht mit dem TOD bedroht war. Knast ist natürlich auch keine feine Sache, aber ich kann mich so einigermaßen darauf verlassen, daß ich nicht gefoltert werde. Daß dies in der BRD geschieht und auch weiter geschehen kann, will ich damit keinesfalls ausschließen. Aber es ist ein Unterschied 5, 10, 15 oder 20 Jahre eingeknastet zu werden oder eben mit einem halben Jahr zu rechnen, was schon lang genug ist.

Somit ordne ich meine abgetauchte Zeit ein, als ein entziehen vor der BRD-Justiz und das ich es in der Hand habe, wann und wo ich mich in ihre Fänge begebe. Ich bin froh, daß ich nicht in der Situation bin, wie die Leute die wegen Aktionen des Komitees gesucht werden. Da ist die Möglichkeit zu wählen auf Null gesunken, weil der Knast einfach über allem hängt. Von hier aus will ich einen schönen Gruß an euch senden, Bernd, Thomas und Peter. Oft waren meine Gedanken bei euch und ich hoffe ihr konntet ein neues Leben nach euerem Sinn beginnen. Viel Kraft noch! Und auch besonders den Leuten, die euch bisher halfen, daß ihr nicht gepackt werden konntet!

Ich hoffe es ist deutlich geworden, daß ich die Möglichkeit zu wählen hatte.

Eine weitere Überlegung nun wieder aufzutauchen war, daß es hilfreich sein kann, bei dem Prozeß mit acht Angeklagten aufzutreten. Mittlerweile ist das nicht mehr so aktuell, weil es sein kann, daß mehrere Prozesse stattfinden. Was aber weiterhin stimmt, daß dann jede und jeder seine/ihre eigene Stimme hat und sich entsprechend zu anstehenden Diskussionen verhalten kann. Wie ich oben andeutete, ist dies häufiger schon in mir aufgekommen. Als besonderes Beispiel fällt mir ein Artikel in der 'Trouw', einer überregionalen holländischen Tageszeitung ein, wo es u. a. um das Auftauchen am 13.6.96 ging und eben meinen Verbleib in Holland. Dieser umstrittene Artikel erzeugte mehr Diskussionen und Reaktionen in Bezug auf die Abgetauchten, als je zuvor. In der Soli-Szene wurde es heiß diskutiert.

Auch an der Diskussion, warum Erkenntnisse aus den Akten so spät veröffentlicht wurden, wäre ich gerne beteiligt gewesen. Sicher gäbe es noch mehr Punkte zu benennen, wo ich gerne Teil der Diskussion gewesen wäre, aber das würde den Rahmen hier einfach sprengen.

So das wars!

Matthes


Erklärung von Werner auf der Pressekonferenz  anläßlich der Rückkehr eines vermeintlichen radikal-Mitarbeiters
<em>aus radikale Zeiten Nr. 7, Dezember 1996</em> Ich heiße Werner Konnerth, geboren am 25.1.62 in Sibiu, Rumänien, wohnhaft in Berlin. Ich habe weiße Socken und eine schwarze Seele. Während der Razzien am 13.6.95 wurde ich verhaftet und für Jahr in den Knast gesteckt. Ich soll seit 12 Jahren bei der radikal mitgemacht haben. Im nächsten Jahr wird uns zu viert oder zu neunt der Prozeß gemacht. Ich werde meine Mitarbeit hier weder bestätigen noch dementieren, aber ich stehe hinter den Zielen und dem Organisationsprinzip der radikal. Da in der Öffentlichkeit weitestgehend die BAW definiert hat, was darunter zu verstehen ist, möchte ich hier eine andere Version schildern, beginnend mit der Auslegung des Namens: der Duden übersetzt radikal nicht mit terroristisch, sondern mit "an die Wurzel gehen". Die radikal wurde 1976 als sozialistische Zeitung für Westberlin gegründet, kann also auf eine 20-jährige Geschichte zurück- blicken. Anfang der 80er Jahre wurde sie zum Organ der Besetzer-Bewegung und der Autonomen, und seit dieser Zeit hat sie eine Ausstrahlung weit über Berlin hinaus. Schon damals vertrat und veröffentlichte die radikal systemkritische Positionen, und sie verfügte über eine relativ starke Basis in den Bewegungen. Schon damals wurde sie verfolgt. Ab 1982 observierte der Staatsschutz vermeintliche Beteiligte und durchsuchte mehrmals das radikal-Büro und Wohnungen. 1984 wurden die beiden angeblichen radikal-Mitarbeiter Benny Härlin und Michael Klöckner zu je 2 Jahren Knast ohne Bewährung verurteilt. Dieser Prozeß erfuhr eine relativ große Solidarität. Nicht nur von Seiten der Bewegung, sondern auch liberal Gesinnte, Schriftstellerinnen und bürgerliche Medien protestierten gegen den staatlichen Angriff auf die Pressefreiheit. Beispielsweise hielt die taz eine Redaktionskonferenz auf offener Straße vor dem Kammergericht in Berlin ab, und hunderte Prominente und Funktionäre erklärten sich öffentlich zu Mitherausgeberinnen der radikal. Ein deutliches Zeichen gegen das Urteil setzten auch die Grünen, als sie die Verurteilten zu ihren Vertretern im Europaparlament wählten, so daß sie Immunität genossen und sich der Haftstrafe entziehen konnten. Später verabschiedete das Europaparlament eine Resolution, die das Vorgehen der deutschen Justiz verurteilte. 6 Jahre später hob der Bundesgerichtshof das Berliner Urteil auf. In der Zwischenzeit, seit 1984, war die radikal verdeckt organisiert worden. Es gab kein Büro mehr, der Kontakt zu den Lesern wurde über wechselnde Adressen im Ausland hergestellt, und die Mitarbeiterinnen blieben auch in der linken Szene unbekannt, um sich den Verfolgungsorganen zu entziehen. Diese Konsequenz ergab sich nicht nur aus der eigenen Erfahrung mit der Repression. In den 80er Jahren wurden die meisten autonomen und alternativen Stadtzeitungen zum Teil systematisch verfolgt und mit Verfahren eingedeckt, bis sie nicht zuletzt aus finanziellen Gründen aufgeben mußten. In einigen Fällen wurde ihnen Werbung für sogenannte terroristische Vereinigungen vorgeworfen, weil sie beispielsweise Texte veröffentlichten, die die Zusammenlegung der politischen Gefangenen forderten. Damals stießen auch Gruppen in anderen Bereichen mit fundamental oppositioneller Politik an die Grenzen der Legalität, was sich bis heute nicht geändert hat. Aus dieser Entwicklung zog die radikal den Schluß, daß es zumindest eine Zeitschrift geben muß, die einen neuen Weg unabhängig staatlicher Einflüsse geht. Der von der Repression erzeugten Schere im Kopf sollte vorgebeugt und weiterhin das geschrieben und veröffentlicht werden, was der eigenen Überzeugung entspricht. Die freie politische Kommunikation und Diskussion konnte nur eine verdeckt organisierte Struktur gewährleisten. Nachdem die Mitarbeiter der radikal nicht mehr zu kriegen waren, kriminalisierten die Verfolgungsorgane den Vertrieb. 1986 fanden bundesweit über 100 Razzien in Buchläden und bei Handverkäuferinnen statt, weil sie über den Verkauf der Zeitschrift terroristische Vereinigungen unterstützt hätten. Von 200 Ermittlungsverfahren nach Par.129a endeten einige mit Verurteilungen, in einem Fall mit Haftstrafe. Die meisten Buchläden zogen sich daraufhin aus dem Vertrieb der radikal zurück, da ihnen die Sache zu heiß wurde, und weil sie sich deutlich Mehr mit deren Inhalten identifizieren mußten. Daraufhin wurde auch der Vertrieb verdeckt organisiert. Die radikal stellte der Linken und ihren LeserInnen die Frage, ob sie bereit wären, die Zeitschrift nicht nur zu lesen, sondern auch für ihre Verteilung zu sorgen. Sie verknüpfte ihre Zukunft und Daseinsberechtigung mit der Antwort auf diese Frage. Die radikal sollte nicht nur eine Zeitschrift FÜR, sondern auch VON den LeserInnen und der Linken sein, und sie konnte nicht mehr relativ passiv konsumiert werden wie andere Presseerzeugnisse. Es dauerte Jahre, aber die Antwort war positiv. Die Zeitschrift ging von Hand zu Hand, sie wurde in Eigenverantwortung weitgehend über autonome Netze verteilt: in kleinen und großen Städten und auch im benachbarten Ausland, der Schweiz, in Österreich, Holland und Dänemark. Es gab regelrechte Verteil-Aktionen, bei denen maskierte Leute die radikal auf Veranstaltungen und in Kneipen verkauften, was auf ihre spezielle Situation aufmerksam machte und großen Anklang fand. Die Auflage stabilisierte sich auf dem Stand vor den Repressionswellen, obwohl immer wieder einzelne Buchhändler und Handverkäuferinnen verfolgt wurden. Sie blieb die auflagenstärkste Zeitschrift der radikalen Linken. Nachdem sowohl die Redaktionen wie auch der Vertrieb dem direkten Zugriff der Repressionsorgane entzogen waren, blieb und bleibt als wunder Punkt nur noch die Bezugs- und Kontaktadresse der radikal im Ausland. Sie hat eine besondere Bedeutung, denn sie stellt die einzige Kommunikationsmöglichkeit mit Leserinnen und Unterstützern dar. Sie ist die sensibelste Schnittstelle der illegalen Struktur zur Öffentlichkeit, worauf Medien generell nicht verzichten können, erst recht nicht eine verdeckt organisierte Zeitschrift, die eh schon unter dem Druck steht, ganz in die Illegalität abgedrängt zu werden. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Zustände in Deutschland, daß eine Zeitschrift ins Ausland emigrieren muß. Ich gebe mich allerdings nicht der Illusion hin, daß sie im Zuge der Angleichung der europäischen Rechtssysteme dort auf ewig in Ruhe gelassen wird. Anfang der 90er kam es innerhalb der radikal zum Konflikt, der 1993 mit dem Ausstieg einer Fraktion endete. Diejenigen, die weitermachten, erklärten öffentlich, daß sie vor großen Problemen stünden, aber trotzdem eine Reorganisation der Struktur in Angriff nehmen wollen. Wenige Monate später, im September 93 wurde ein vermeintliches Treffen eines angeblichen Teils der radikal-Struktur abgehört: ein Zufallstreffer, denn die Verwanzung des Hauses in Baar-Wanderath wurde mit Ermittlungen gegen die R.A.F. begründet. Es folgte einer der größten bekannt gewordenen politischen Observations- und Überwachungseinsätze in der Geschichte der BRD, der sich über fast 2 Jahre hinzog, und an dem BKA und die LKAs mehrerer Bundesländer beteiligt waren. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Sollten die Annahmen der Bundesanwaltschaft zutreffen, wurde die radikal in einer Phase der Neuorientierung und Instabilität getroffen. Aber auch heute konnte nicht erreicht werden, daß sie von der Bildfläche verschwindet, denn bereits 3 Monate nach den Razzien und Verhaftungen erschien eine neue Ausgabe und am Jahrestag der Razzien die nächste. Auch die den Razzien zugrundeliegende Annahme, daß die radikal organisatorische Verbindungen zu sogenannten terroristischen Vereinigungen habe - das heißt zu militant und bewaffnet kämpfenden Gruppen - mußte von der BAW zurückgezogen werden. Das Verfahren wurde an untergeordnete Länderinstanzen abgegeben. Nach dieser groben und an der Repression orientierten Darstellung, möchte ich ein paar Worte zum politischen Hintergrund der Geschichte sagen. Auf den ersten Blick läßt sich nicht erklären, warum derart kontinuierlich und massiv gegen wenige Gruppen vorgegangen wird, deren Verbrechen in der Herausgabe einer Zeitschrift bestehen soll. Zum einen handelt es sich um den Angriff auf eine Struktur, die sich der staatlichen Kontrolle entzogen hatte und auch durch den Einsatz von Undercover-Agenten und Spitzeln nicht geknackt werden konnte. Eine solche Struktur birgt die permanente Möglichkeit, daß sich daraus etwas entwickelt, was sich jenseits der staatlichen Toleranzgrenze befindet, also gefährlich werden kann. Zum anderen handelt es sich bei der radikal nicht um eine selbstbezogene Sekte, sondern um eine Zeitschrift mit Aufklärungs- Mobilisierungs- und Außenwirkung. Ihre Inhalte lassen sich nicht von der verdeckten Struktur trennen, sie sind geradezu der Grund für diese Form der Organisation. Es ist hier nicht möglich, auf diese politischen Inhalte im Detail einzugehen. Deshalb will ich im folgenden nur sehr grob das politische Weltbild skizzieren, das ihnen zugrunde liegt: Die herrschenden Eliten sind korrupt und machtbesessen. Die Arroganz der Macht brachte ihr Bundeskanzler Kohl zum Ausdruck, als er angesprochen auf die Demonstrationen Hunderttausender gegen die Aufrüstung der NATO sagte: "Die demonstrieren, wir regieren". Diese Wirtschaftsform ist menschen- und naturfeindlich. Ihre soziale Komponente kann auch in den Metropolen kaum noch verdecken, daß es allein um Profit geht. Heute steigen die Profitraten, während die Sozialausgaben und Löhne fallen. Der Reichtum der Wohlstandsgesellschaften speist sich aus der Ausbeutung und Unterdrückung armer Völker, wobei sich seit der Kolonialzeit höchstens die Methoden und die Offensichtlichkeit der Brutalität geändert haben. Heute wird weniger geschossen und massakriert, denn Neue Technologien, Hunger und das große Geld der Konzerne erfüllen dieselben Zwecke wesentlich geräuschloser. Auch diese Gesellschaftsform ist zutiefst unsolidarisch. Die meisten Menschen verhalten sich entsprechend ihrer Vorbilder in der Politik und in den Chefetagen, das heißt enstprechend der Logik des kapitalistischen Systems. Si treten nach unten und nach außen, sie stehen im permanenten Konkurrenzkampf der Ellenbogengesellschaft und scheren sich einen Dreck darum, woher ihr relativer Wohlstand tatsächlich kommt. Viele der geschriebenen Gesetze in diesem Land entsprechen nicht dem Gerechtigkeitsgefühl, erst recht nicht derer, die in Knäste, Psychatrien und Abschiebelager ausgesondert werden. Sie bevorzugen einseitig die Besitzenden, die Mächtigen und Privilegierten, und sie degradieren Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer Herkunft zu Menschen zweiter Klasse. Diese Gesetze sind von den Eliten für die Eliten gemacht und werden nach Gusto geändert. Wie beispielsweise das Asylgesetz, das in der Verfassung keinem Gesetzesvorbehalt unterlag, also nicht und niemals geändert werden durfte. Oder der große Lauschangriff, der auch ohne Baar-Wanderath gängige Praxis der Polizei und Geheimdienste war, und wo die Gesetzgebung erst jetzt der Praxis angepaßt wurde. Das zuletzt Gesagte bitte ich als meinen politischen Standpunkt zu verstehen, aber ich meine, daß er so allgemein einem linksradikalen enspricht und auch nicht weit entfernt vom politischen Hintergrund der radikal ist. Ich will damit sagen, daß es meines Erachtens in diesem Verfahren weniger um beschuldigte Personen oder eine kleine Zeitschrift geht, sondern um das, wofür sie steht. Und die radikal steht in ihren Inhalten und mit ihrer Organisationsform für die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols und für eine Moral und Politik, die sich im ausdrücklichen Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen befindet. Nun ist es nicht verwunderlich, wenn diejenigen, die an der Macht sind, all jene verfolgen, die sie infrage stellen oder bekämpfen. Das geschieht auf der ganzen Welt, zu jeder Zeit und Epoche. Unterschiede bestehen lediglich in der Definition dessen, was den Staat gefährdet und deshalb illegal ist, und was als Protestform bei der sogenannten demokratischen Willensbildung als hinnehmbar erscheint. Je fester die Eliten im Sattel sitzen, desto gelassener können sie auf Kritik und auch Widerstand reagieren. Wollen sie Widerstand präventiv ausschließen oder fürchten zurecht fundamentale Kritik, weil sie ihren Verlust an Legitimität spüren, kämpfen sie mit allen nötigen Mitteln, auch wenn sie deshalb die eigenen Gesetze übergehen oder ändern müssen. Sie richten sich gegen eine Zeitschrift, Haus- oder Platzbesetzerinnen, gegen antifaschistische Gruppen wie die Antifa (M) aus Göttingen, gegen Flüchtlinge oder ganze ethnische Gruppen wie aktuell die Kurden. Die radikal lebt seit vielen Jahren mit der Repression. Sie ist weder überrascht noch empört darüber. Sie beruft sich nicht auf Gesetze oder auf verfassungsmäßig garantierte Rechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit, denn sie gelten offensichtlich nicht für diese Art von Presse und Meinung. Die radikale Linke allgemein erwartet vom Staat nichts anderes als Repression gegen eine Politik, die nicht nur Ausuferungen, sondern Grundsätze kritisiert. Auf Dauer muß man sich beugen und aufgeben, oder sich eben so organisieren, daß man die Angriffsmöglicheiten auf die eigene politische Identität weitestgehend ausschließt. Abschließend möchte ich auf einen Aspekt eingehen, mit dem die Verfolgung der radikal am meisten begründet wird. Es heißt, sie würde beispielsweise durch den Abdruck von Aktions-Erklärungen für sogenannte terroristische Vereinigungen werben, sie würde zu Gewalt aufrufen, diese billigen, und so weiter. Diese Vorwürfe gründen auf dem geschilderten Verfolgungsinteresse gegenüber radikaler Politik und sind ansonsten Interpretationssache. Es versteht sich von selbst, daß eine staatlicherseits und von den Massenmedien gefertigte Interpretation wesentlich mehr Gewicht erhält als die einer Minderheit, erst recht wenn diese an der Artikulation ihrer Position gehindert wird. Desinformationspolitik gründet auf der einseitigen Füllung komplexer Thematiken und auf deren Wiederholung, bis die andere Sichtweise totpropagiert ist. Was die Definition von Gewalt angeht ist, die staatliche und mediale Auslegung dieses Begriffes schon längst gesellschaftliche Wahrheit geworden. Wenn jemand Terrorismus und Gewalt verurteilt, sollte man annehmen, daß er selber Pazifist ist oder zumindest eine saubere Weste hat. Das ist aber nicht der Fall. Staatlicherseits werden terroristische Regime und Gruppen unterstützt, wann immer es opportun erscheint. Also wenn es Marktvorteile bringt, strategischen Interessen dient, oder wenn die Rüstungsindustrie davon profitiert. Staatlicherseits wird täglich Gewalt angewendet. Und zwar nicht nur in ihrer körperlichen oder militärischen, sondern auch in struktureller Form. Beispielsweise über Gesetze und Verordnungen, wie dem Asylrecht, das diesen Namen nicht verdient, oder bei den neuen Ausländergesetzen. Was der Staat bei der radikalen Linken als Gewalt diffamiert, nenne ich Militanz. Militanz ist eine Haltung, eine Einstellung, die auf die radikale, das heißt grundlegende Kritik an den herrschenden Zuständen folgt. Sie kritisiert nicht nur oder protestiert, sondern sie enthält das praktische Element, sich mit den Zuständen nicht zufrieden zu geben. Ulrike Meinhof hat gesagt: "Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das was mir nicht paßt nicht länger geschieht". Militante Aktionen sind nur eine, aber eine wesentliche Ausdrucksform einer militanten Einstellung. Auch die radikal definiert Militanz nicht nur über Molotow-Cocktails und Bomben. Sie enthält Analysen und Diskussionen, die diese Aktionsform sowohl infrage stellen, wie auch den Hintergrund militanter Einstellungen beschreiben und füllen. Das sind beispielsweise Artikel, die sich mit der deutschen Geschichte seit der Weimarer Republik befassen oder mit dem Selbstverständnis von Frauen, die in der Sexindustrie arbeiten. Oder Diskussionen zum Faschismusbegriff und zu den Kriterien von Aktionen. Aktions-Erklärungen stehen also auf dem Hintergrund einer politischen Theorie, die oft auch nur sich selbst und nicht die Aktion zum Ziel hat. Deshalb kann der Inhalt der radikal nicht allein auf die militante und bewaffnete Form reduziert werden. Ich möchte zwei Beispiele nennen von in meinen Augen gerechtfertigten militanten Aktionen, die ich der herrschenden Auslegung des Gewaltbegriffs gegenüberstelle. Dieser eben gesagte Satz ist nach geltender Rechtssprechung strafbar. Denn diese Aktionen werden als terroristisch eingestuft, und jede nicht eindeutig distanzierte Meinung dazu kann als Werbung für sogenannte terroristische Vereinigungen oder Billigung von Gewalttaten ausgelegt werden. Ein Beispiel sind die mit Wurfankern gestoppten Intercity-Züge, Aktionen die im Zusammenhang des Widerstandes gegen die Castor-Transporte stehen. Ein anderes Beispiel sind zwei Aktionen des KOMITEE: Das KOMITEE war eine militante Gruppe, die einen Brandanschlag auf eine Kaserne der Bundeswehr durchführte. Auch durch diese Aktion wurde niemand verletzt. Sie richtete sich gegen die militärische Aufrüstung der Türkei aus deutschen Waffen- und Panzerbe- ständen, gegen die Ausbildung türkischer Todesschwadrone durch die GSG 9, gegen die Zahlung von Millionenbeträgen an das türkische Regime, die für weitere Waffenkäufe genutzt wurden. Der deutsche Staat ist Kriegspartei in Kurdistan. Dort wird täglich eine Dimension von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ausgeübt, gegen die die Aktion des KOMITEE wie eine Spielerei erscheint. Diese Erklärung wurde in der radikal veröffentlicht. Seit April 95 werden 3 Genossen wegen dieser und einer weiteren, nicht stattgefundenen Aktion des KOMITEE gesucht. Ich kenne sie persönlich, mit zwei hab ich zusammengewohnt. Sie werden aus ihrem Exil nicht so einfach auftauchen können wie Matthes und andere Beschuldigte im radikal- Verfahren, weil sie nicht mit Monaten, sondern mit vielen Jahren hinter Gittern rechnen müssen. Die zweite und letzte Aktion des KOMITEE richtete sich gegen einen in Bau befindlichen Abschiebeknast. Aber Terroristen sind die, die Abschiebeknäste bauen lassen und nicht die, die sich mit Flüchtlingen solidarisieren. Terroristen sind die, die Menschen in Not in den Sudan, in die Türkei und andere Folterregime ausliefern, die den Tod von Flüchtlingen in der Oder, in Abschiebeknästen und in ihren Herkunftsländern zu verantworten haben. Ich spreche diesen Leuten jegliche Legitimation ab, über Gewalt auch nur zu reden. Und ich spreche jedem Gericht die Legitimation ab, über diesen oder andere Inhalte der radikal zu urteilen. Denn anders wie Staatsanwaltschaft und Justiz differenziert sie und interessiert sich für die Gründe, mit denen Leute militante Aktionen durchführen und dabei bewußt erhebliche persönliche Risiken eingehen. <strong>Danke für Ihre Aufmerksamkeit.</strong>