Ein Freund von Ludd

In freier Luft

Notizen über die Repression und ihre Konturen

September 2004

      Ein unbewohnbares Haus

      Ins Herz der Gelegenheit springen

      Sag nicht, dass wir wenige sind...

      Das grosse Spiel

«wir müssen alle Modelle verlassen
und unsere Möglichkeiten studieren.»

E.A.Poe

Folgende Notizen entstanden aus einem Verlangen: Jenem, gemeinsam über die aktuelle Situation nachzudenken, um so den Faden für eine mögliche Perspektive zu finden.

Sie sind das Ergebnis vieler Diskussionen, in denen sich die kritische Bilanz aus vergangenen Erfahrungen, die Unzufriedenheit über laufende Kampfinitiativen und die Hoffnung, was bestehende Möglichkeiten anbelangt vermischt haben. Sie repräsentieren weder die Linie einer Gruppe, die mit anderen konkurriert, noch liegt ihnen der Anspruch und die Illusion zugrunde, die Leere – an Leben und an projektbezogenen Leidenschaften – mit der mehr oder weniger formellen Einigung über gewisse Thesen zu füllen. Falls diese Notizen unangenehme Kritik enthalten, dann nicht aufgrund des blossen Gefallens daran, diese zu formulieren, sondern viel mehr, weil ich es für dringend erachte, auch über die unangenehmen Dinge zu sprechen. Wie alle Worte der Welt, werden auch diese nur bei denjenigen auf Anklang stossen, die ein ähnliches Verlangen verspühren. Sie sollen, kurzum, eine kleine Diskussionsgrundlage sein, um zu verstehen, was wir tun können und mit wem.

Aus Erfahrungen wissen wir, dass eine der grössten Stärken der Repression darin besteht, Konfusion und Misstrauen gegenüber den Anderen, sowie gegenüber sich selbst zu säen. Sie produziert identitäre Einschliessungen und mehr oder weniger lähmende Verdächtigungen. In diesem Sinne: je früher bestimmte Probleme vertieft werden, desto besser. Es stehen schwierige Jahre bevor, die nicht wenige unserer praktischen und mentalen Gewohnheiten erschüttern werden. Wenn es stimmt, dass das gefährlichste Vorurteil dasjenige ist, zu glauben, selbst keine zu haben, so würde es mich trotzdem freuen, wenn diese Notizen ohne voreingenommene Lektüre aufgrund dessen kritisiert werden, was sie aussagen. Ein solcher Wunsch erklärt sowohl den Ton als auch den Stil.

Ein unbewohnbares Haus

Die Situation, in der wir uns befinden, scheint mir wie die von jemandem, der sich inmitten von vier Mauern verbarrikadiert, um Räume zu verteidigen, in denen er keine Lust hat zu leben.

All die Diskussionen über Öffnung, Verbreiterung und Bündnisse verbergen die Tatsache, dass wir ein zerfallenes Haus in einem unbewohnbaren Viertel verteidigen. Mir scheint der einzige Ausweg, die Stellungen in Brand zu setzen und an die freie Luft zu gehen, um sich den Schimmelgestank abzuschütteln. Aber was soll das heissen, jenseits der Metapher?

Die Zeit, in der wir leben, ist so verschwenderisch mit Umwälzungen, dass unsere Fähigkeit, die Ereignisse zu interpretieren, und viel mehr noch, sie vorauszusehen, unter den Trümmern begraben liegt oder zerfällt. Insofern letzteres für alle Revolutionäre gilt, so sind daraus auch besonders üble, auf autoritären und quantitativen Modellen basierende Vorstellungen der Welt und des Lebens hervorgekommen. Die Verwalter der Kämpfe von anderen, verwalten nichts als unnütze, politische Repräsentationen von bereits pazifizierten Konflikten; während sich jene Kämpfe, die die Pazifizierung durchbrechen, immer schwieriger verwalten lassen. Die Illusion der Partei – in all ihren Formen – ist nun der Kadaver einer Illusion.

Die Anordnung, Ausrichtung und Auflösung der Kräfte auf dem Feld wird bei kleinen sowie bei grossen sozialen Konflikten immer mysteriöser. Das, was stets eines unserer Unterscheidungsmerkmale war – eine nicht homogene oder kumulative Vorstellung von Stärke, eine Ablehnung gegenüber der Diktatur der Zahl –, antwortet teilweise auf die aktuellen sozialen Verhältnisse und die unvorhersehbaren Möglichkeiten eines Bruchs, die sie verbergen. Aus dem Wandel der Herrschaft selbst – mit ihrem Geflecht aus Strukturen, Technologien und Wissen – und aus spezifischen Gegebenheiten wie der Guerilla im Irak können wir einige Lehren ziehen. Es scheint sich deutlich abzuzeichnen, dass sich die Gefechte immer weniger im Sinne einer Konfrontation zwischen zwei Armeen oder Fronten ereignen, sondern viel mehr im Sinne einer Myriade von diffusen und unkontrollierbaren Praktiken. Eine Herrschaft, die sich aus tausend Lebensnerven zusammensetzt, drängt seine Feinde dazu, möglichst unberechenbar zu werden. Die Aktionen und Beziehungen auf eine nicht zentralisierte Art und Weise zu denken, ist also nicht nur libertärer, sondern auch effizienter gegen das Netz der Kontrolle. Selbst wenn wir uns dessen auf theoretischer Ebene bewusst sind, gelingt es nicht immer, es auch in Anbetracht der praktischen Vorschlägen zu bleiben. Einerseits betonen wir, dass die Macht kein Hauptquartier ist (sondern eine soziale Beziehung), andererseits schlagen wir aber Initiativen vor, die sie als ein solches darstellen. Ich glaube wir müssen jene Aktionsformen suchen, die unseren Charakteristiken und unseren (quantitativen sowie qualitativen) Stärken am meisten entsprechen. Leider denken viele von uns noch immer, dass mit wenigen zu handeln zwangsweise auch bedeutet, isoliert zu handeln. Deshalb taucht bei Verhaftungen von Gefährten und, generell, angesichts der Verschärfung der Repression immer derselbe Vorschlag auf: eine Kundgebung, eine Demonstration... Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum, diese Protestformen als solche, sondern die Mentalität, die meistens mit ihnen einhergeht zu kritisieren. In gewissen – momentan vor allem lokalen – Kontexten, eingebettet in eine Reihe von Initiativen, kann auch eine Demonstration oder eine Kundgebung ihren Sinn haben. Wenn aber dieses Geflecht zwischen den Aktionsformen fehlt und, vor allem, wenn man nur im engen Kreis von Gefährten denkt, dann glaube ich, dass die Wiederholung bestimmter Modelle letztendlich ein Ohnmachtsgefühl hervorruft und den bekannten Mechanismus von mehr oder weniger militanten Terminen reproduziert. Auch hier wird frische Luft benötigt. Wenn wir wollen können wir uns auch zu hundert organisieren, um während mehr oder weniger grossen Kundgebungen auf eine interessante Weise zu intervenieren. Aber wenn wir zu hundert sind, und nicht mehr, wieso dann eine Demonstration organisieren? Was können hundert Gefährten in einer Stadt tun, deren neuralgische Punkte sie kennen? Was lehren uns all die Kämpfe, die auf globaler Ebene den leidenschaftlichen und potenziell subversiven Gebrauch der Blockade wiederentdeckten?

Viele sind sich darüber im Klaren, dass das Problem der Repression nicht auf das revolutionäre Umfeld reduziert werden kann. Die Repression – die direkte sowie die indirekte – trifft immer breitere Teile der Bevölkerung. Sie ist die Antwort einer Herrschaft, die spührt, wie der Boden unter ihren Füssen wegrutscht, und sich der Kluft bewusst ist, die sich zwischen der allgemeinen Unzufriedenheit und der Rekuperationsfähigkeit ihrer historischen Diener – den Parteien und Syndikaten – vertieft. Ohne hier die Gründe dafür weiter auszulegen, genügt es, zu sagen, dass Subversive so viel vom Gefängnis sprechen, weil es immer einfacher wird, dort drin zu landen. Gleichzeitig verspühren sie die Notwendigkeit, sich, angesichts der allgemeinen Verschärfung der Situation, nicht auf die Verteidigung ihrer verhafteten Gefährten zu beschränken. Hier beginnen die Probleme. Wenn es nicht gelingt, der Repression unabhängig von den Individuen, auf die sie niederschlägt entgegenzutreten, dann wird jeder seine eigenen Freunde und Gefährten verteidigen, diejenigen, mit denen er Ideen, Leidenschaften und Projekte teilt – und es ist unvermeidbar, dass es so geschieht. Wenn die Repression bei Revolutionären zuschlägt, zu denen wir überhaupt keine Affinität haben, muss die Solidarität gegen diese Repression deutlich von der Unterstützung politischer Projekte, die wir nicht teilen oder die unserem eigenen antipolitischen Verlangen geradezu entgegengestellt sind getrennt werden.

Nun, je mehr sich der Kreis der Initiative auf Revolutionäre beschränkt, desto eher riskieren wir auch, der Wiederbelebung von autoritären Hypothesen die Hand zu reichen, die glücklicherweise in Trümmern liegen. Umgekehrt sind die beiden Ebenen (Solidarität gegen und Solidarität mit, also Komplizenschaft) umso besser voneinander zu unterscheiden, je breiter dieser Kreis wird. Wenn wir uns über die soziale und universelle Tragweite des repressiven Schlagstocks bewusst sind, wirkt es dann eher überraschend, dass von verschiedenen Seiten die Einheitsaktion zwischen den... revolutionären Komponenten, als “Lösung” vorgeschlagen wird.

Auf diese Weise isolieren wir uns nicht nur vom Rest der Ausgebeuteten, die wie wir die Last der sozialen Kontrolle und der Bullen verspühren, sondern machen uns auch Illusionen über einen nicht unwichtigen Aspekt: eine solche “Aktionseinheit” hat seinen Preis (vielleicht nicht unmittelbar, falls die Kräfteverhältnisse günstig sind, aber auf lange Sicht schon). Wenn wir anstatt hundert Anarchisten bei einer Initiative hundertfünfzig sind, weil sich uns fünfzig Marxisten-Leninisten angeschlossen haben, und wir dafür Plakate und Flugblätten unterzeichnen müssen, die in einer mehr oder weniger undurchdringlichen Sprache geschrieben wurden, handelt es sich dann etwa um eine “Verbreiterung”? Wäre es vielleicht nicht sinnvoller, auch wenn wir nur zu zehnt sind, eine Initiative zu organisieren, mit der wir die von vielen gefühlten Probleme ansprechen und Inhalte ausdrücken, die unserer Art zu denken und zu fühlen näher stehen? Was die spezifische Solidarität mit eingesperrten Gefährten betrifft, da gibt es ganz andere Formen...

Ich würde nicht wollen, dass diese Haltung als “ideologische Abgeschlossenheit”, oder als Suche nach Hegemonie über andere Gruppen gelesen wird. Und eben weil ich nicht mit Kennzeichen oder Formalisierungen argumentiere, wäre es besser, wenn die Vorschläge breit und klar sind, und nicht bestimmte politische Gruppen zum Gesprächspartner haben, sondern all jene, die sich betroffen fühlen: diejenigen also, die sich als Gleiche unter Gleichen beteiligen wollen, sind die, die willkommen sind. Falls andere Revolutionäre dieselbe Methode anwenden werden, würde es allen zu Gute kommen. Es liegen mehr oder weniger konventionelle Bündnisse in der Luft, die mir nicht einatembar scheinen. Die Einheitsfronten und die Aktionseinheit unter revolutionären Kräften – weit jenseits von einem spezifischen Kampfziel, innerhalb dessen man sich mit all jenen auseinandersetzt, die sich dafür interessieren, ob sie nun Gefährten sind oder nicht – sind für mich Teil der Verteidigung eines unbewohnbaren Hauses. Und dies unabhängig davon, wie viele Leute nett, korrekt und sympatisch sind; es geht um eine Frage der Perspektiven.

Als er Bordiga antwortete, sagte Malatesta einmal in etwa: « Aber wenn, wie die Marxisten behaupten, die Unterschiede zwischen ihnen und uns nicht so grundlegend sind, wieso wollen sie uns dann dazu bringen, ihren Komitees beizutreten, anstatt an unsere zu kommen? ».

Also, nur noch unter Anarchisten Sachen machen? Nicht im Geringsten. Auf klaren Grundlagen agieren, wenn auch mit wenigen, sich aber an alle Ausgebeuteten wenden, an alle, die mit dieser sozialen, lebenslänglichen Freiheitsstrafe unzufrieden sind. Und innerhalb dessen, was wir sagen und tun – egal ob es sich um den Kampf gegen eine Müllverbrennungsanlage, gegen Abschiebungen oder für ein Haus handelt –, das Problem des Gefängnisses (und unserer eingesperrten Gefährten) miteinbinden. Nicht indem wir die “Gefängnisfrage” nebenanstellen oder dazuhängen, sondern indem wir die wirklichen Zusammenhänge auf Grund von gemeinsamen Erfahrungen entlarven. Jeglicher autonome Kampf trifft früher oder später auf Repression (sei es bei der offenen Konfrontation oder beim Rückzug, um ihr zu entgehen). Auch Hausbesetzungen werfen das Problem der Polizei, der Interessen, die sie verteidigen, der Kontrolle in den Vierteln, der Ghettos und der Knäste auf. Die soziale Selbstorganisation ist immer auch eine Selbstverteidigung gegen die Repression.

Ins Herz der Gelegenheit springen

Was gewisse Aspekte betrifft, so stehen wir vor einer historischen Gelegenheit: Jene, ohne Mediation in die – gegenwärtigen und zukünftigen – sozialen Konflikte zu intervenieren. Falls die Epigonen der autoritären Kräfte, die schon so viel subversiven Elan erstickt haben, zahlenmässig und projektmässig in schlechtem Zustand sind, wieso sollten wir ihnen dann helfen, aus ihrer Misere zu kommen? Wieso sich mit den Mumien aufhalten, während der Wind stark weht? Sie machen politische Berechnungen, wir nicht. In der praktischen Erfahrung wird sich zeigen, wer wirklich für die Selbstorganisierung ist. Stützen wir uns auf diese.

Mit dem allgemeinen, reformistischen Rückzug erscheinen die wenigen Gegebenheiten, die auf anti-kapitalistischen und anti-institutionellen Positionen beruhen, wie ein Feuer in der Nacht – die Versuchung ist also stark, diesseits bestimmter Barrikaden zusammenzurücken. Aber unsere Kraft liegt nicht dort. Fourier sagte, dass eine Leidenschaft revolutionär ist, wenn sie einen unmittelbaren Anstieg der Lebensfreude mit sich bringt. Mir scheint dies das zuverlässigste Kriterium. Ich weiss aus Erfahrung, dass sich viele Jugendliche irgendwelchen anarchistischen Zusammenhängen angenähert haben, weil sie entdeckt haben, dass man in Solidarität und mit dem Mut der eigenen Ideen besser lebt. Wieso? Weil die Last der Waren und der Arbeit weniger schwer ist, wenn wir ihr gemeinsam entgegentreten, weil die aussergesetzlichen Verhaltensweisen für diejenigen ansteckend sind, die die Freiheit lieben, weil die Liebesbeziehungen ohne Zügel ehrlicher und befriedigender sein können, weil sich in der Einheit von Denken und Handeln, wie Simone Weil sagte, der Pakt des Geistes mit dem Universum erneuert. Dies ist also, was der Enthusiasmus – jener, der bedachten Leichtigkeit und nicht jener, der entmutigenden Leichtfertigkeit – unseren Praktiken unterrichten sollte.

Weil es aufregend ist, “die Panik an die Oberfläche der Dinge zu bringen”. Weil es keine Fete gibt, ohne einen Bruch mit der Normalität. Lasst uns die Ausdrucksformen von tristen Aktivisten Anderen überlassen und den Modellen entfliehen, die die Macht kennt und erwartet.

Aus der Furt, in der wir uns momentan befinden, werden wir nicht durch ein paar Initiativen herauskommen, selbst wenn sie erfolgreich wären. Wir müssen uns eingestehen, dass die Zeiten eher länger sein werden. Wirkliche Affinitäten entdecken, mit artikulierten und fantasievollen, kollektiven Aktionsformen experimentieren, die Polizeikontrollen zum Narren halten; das sind alles Möglichkeiten, die wir inmitten von tausend Hindernissen wieder erfinden müssen. « Schön und Gut, aber unterdessen sitzen unsere Gefährten drinnen und die Repression steigt an » – könnte man uns erwidern. Aber ist das Beste, was wir für die gefangenen Gefährten unternehmen können nicht, jenen Lebensanspruch, wofür sie weggeschlossen wurden, sozial gefährlich werden zu lassen? In diesem Sinne ist es unnütz, sich in politischen Spiegeln zu betrachten, die einem sagen, dass man nicht nackt ist. Lieber eine selbstbewusste Nacktheit, als ein paar aus Illusionen gewobene Kleider. Lieber wieder bei Null anfangen, fern vom Gestank der Kadaver und dem ideologischen Kram, der für die Unerwünschten dieser Welt unverständlich ist.

Aufgrund all dieser Aspekte ist ein starker Ruck von Nöten, der unerhörte Verhaltensweisen in die individuellen Beziehungen und auf den öffentlichen Platz trägt. Nicht im Sinne eines schauspielerischen oder selbstprofilierenden Geschmacks aus einer Art künstlerischer Laune – die bekannterweise totenbleich ist –, sondern im Sinne eines neuen Lebensanspruchs, der sich selbst unverschämt bekräftigt. Es ist ein Klassenhass von Nöten, der nicht weiss, was er mit dem alten Gejammer anfangen soll und die tausend Knoten der alltäglichen Ausbeutung angreift. Eine ethische Spannung, die niemals die Unterdrücker mit den Unterdrückten verwechselt und ihren Atem gegen die Diener der Macht erschöpft – denn sie strebt danach, sich, auch mit Gewalt, von ihnen zu befreien, aber um über sie hinaus zu gehen. Es ist eine neue Gutmütigkeit von Nöten, bewaffnet und entschlossen, fähig, die Buchhalterberechnungen unserer Zeitgenossen durcheinanderzubringen, fähig, aus der Verachtung des Geldes ein individuelles und soziales Verhalten zu machen. Es ist schliesslich von Nöten, dass die Unerträglichkeit dieser Welt – ihrer Arbeit, sowie ihrer Häuser, ihrer Konsumgüter, wie auch ihrer Moral – unbändig, konstant und täglich ihren Ausdruck findet. Unser Leben ist der Ort, wo sich der soziale Krieg abspielt, denn in unserem alltäglichen Leben flechtet das Kapital sein Netz aus Entfremdungen, Abhängigkeiten, kleineren und grösseren Kapitulationen. Dort liegt das Alpha und Omega jeglicher sozialen Subversion.

Sag nicht, dass wir wenige sind...

Sag nur, dass wir sind. So begann ein bekannter anti-militaristischer Aufkleber vor einigen Jahren.

Darauf folgend besagte er, dass ein paar schwarze Wolken ausreichen, um den Himmel zu verdunkeln. Dabei handelt es sich nicht bloss um eine optimistische Raffinesse, sondern auch um eine wirkliche Erfahrung.

Die sozialen Konflikte und die mehr oder weniger bedeutenden Formen von Selbstorganisation unter den Ausgebeuteten fanden in der anarchistischen Bewegung der direkten Aktion (um uns richtig zu verstehen: jene Bewegung, die unabhängig von der anarchistischen Föderation und dem Syndikalismus existiert) während vieler Jahre – mindestens fünfzehn – im Allgemeinen nur wenig Beachtung. Neben den historischen Gründen dafür (die grosse Pazifizierung der achtziger Jahre), war dies auch einem Problem der Mentalität verschuldet.

Viele Gefährten, die von Aufstand sprachen – ein zweifellos soziales Ereignis –, nahmen die Gesellschaft als einen Ort wahr, der fast ausschliesslich von Dienern und Resignierten bewohnt wird. Mit einer solchen Vorstellung blieben sie zwischen den Prinzipienerklärungen und ihren effektiven Erfahrungen stecken: unentschlossen zu einer einsamen offenen Revolte und zu träge, um ihre Tür für kollektive Möglichkeiten zu öffnen. (Wer weiss, vielleicht kommt daher dieser gewisse Groll, der anschliessend in eine Polemik unter Gefährten überschlug). Neben diesem Mangel an Sensibilität für Kämpfe, die mit der Vermassung brechen – aber dennoch aus dieser Vermassung kommen –, hat sich eine gewisse Fähigkeit zur autonomen Intervention entwickelt, die mit einer bedeutenden Verbreitung von Praktiken des Angriffs gegen die Strukturen der Herrschaft (von der Atomkraft bis zum Militär, gegen Banken, Kontrolldispositive oder Tierversuchslabore) verbunden war. Nun, irgendetwas ist sich am verändern, als ob ein konfuses, individuelles Bedürfnis auf neue soziale Bedingungen trifft – und siehe da, plötzlich sprechen Gefährten vom Klassenkampf und entlehnen dem Marxismus gelegentlich Lesestoff und Jargon. Jenseits der Rhetorik auf den Flugblättern ist die Betrachtung der Gesellschaft jedoch oft dieselbe geblieben: Um uns herum gibt es letztendlich nichts als Komplizen der Macht. Ich glaube, dass bei all dem oft die fehlenden Erfahrungen von direkt erlebten und anregenden sozialen Kämpfen mitspielt. Es gab und gibt ein paar lokale Versuche, ohne jedoch jene lehrreiche Schwierigkeit zu erreichen, die breiteren Konflikten innewohnt. Und schon stehen wir wieder auf einer Sandbank. Einige praktische Überlegungen sind aufgrund von verschiedenen Blockaden entstanden, die Arbeiter oder Andere durchführten 1. Zahlreich haben wir uns in sie gestürzt, während wir von diesen Kämpfen viel mehr verlangten, als das, was sie ausdrücken konnten – nur um unter Geklage über die Unterwürfigkeit der Ausgebeuteten wieder zurückzukehren.

Es wird nicht an anderen Gelegenheiten mangeln, und vielleicht auch nicht an einer grösseren Aufmerksamkeit unsererseits. Aber das reicht nicht.

Ich denke, dass nun weniger den je der Zeitpunkt ist, um auf den Geschmack für direkte Aktionen zu verzichten, auch wenn wir wenige sind. Bloss sollten sie mehr mit dem sozialen Kontext, mit den wahrnehmbaren Unzufriedenheiten verbunden sein. Wie viele Gelegenheiten haben wir verpasst (nach Genua, während der Blockaden gegen die Todeszüge [womit Waffen und italienische Truppen in den Irak befördert wurden], nach Nassiriya [Wo im November 2003 im Irak auf einen Schlag 19 Carabinieri durch eine Explosion starben], während der Tragödie vom Cap Anamur [ein Flüchtlingsboot, das die italienische Marine vor der Küste untergehen liess], usw.)?

Die Zeit ist das Element, in dem die Menschen leben und die Revolte ist aus Gelegenheiten gemacht. Wir werden unsere Möglichkeiten besser studieren müssen, anstatt uns so oft im Kreis zu drehen. Selbstverständlich gab es einige wertvolle Ausnahmen (diverse Aktionen nach Genua, andere gegen die Biotechnologie oder die Abschiebungsmaschinerie, einige Sabotageakte gegen den Krieg, usw.), doch diese waren sporadisch und von einem Wirbel umgeben, der von einer unnötigen Rhetorik, von in den Wind gerufenen Proklamationen und einer praktischen (und ethischen) Unterscheidung – die alles andere als klar darüber war, wer die Feinde sind – hervorgerufen wurde.

Gerade zu einer Zeit, in der eine solche Deutlichkeit, angesichts der ziellosen Gewalt, die sich der Widerstands- und Befreiungsinstanzen der Verdammten dieser Erde immer öfters bemächtigt notwendig wäre. Vor allem seitens derjenigen, die ständig wiederholen, dass die Praxis die beste Theorie sei, aber anschliessend vieles von dem, was sie tun, dem Zufall überlassen. Mag sein, dass wir, von den Spezialeffekten des Spekatels geblendet, zunächst wenig an die Auswirkung unserer Aktionen glauben (uns ins Ungefähre gehen lassend), oder ihre Tragweite überschätzen (uns von der medialen Illusion einnehmen lassend). Es gibt Auswirkungen, die noch immer Ursachen hervorbringen.

Das grosse Spiel

Mir scheint das grosse Spiel liegt in der Fähigkeit, eine gewisse Dosis von alltäglichem Nonkonformismus (überall wo es möglich ist, die soziale Normalität zu stören, von den Bürgerdebatten bis zu den Konsummessen und der kulturellen Verdummung, von der Arbeit bis hin zum Kontrollwahn) mit der Handlungsbereitschaft bei günstigen Gelegenheiten zu verbinden.

Damit die anonyme und zerstörerische Aktion die Konstruktion eines Lebens ausdrückt, das nicht anonym ist. Zu vage? Sicher, und es könnte nicht anders sein. Es handelt sich um das ernsthafteste aller Spiele, es liegt an jedem selbst, seine Partie zu spielen. In Anbetracht des zunehmenden Verlustes von Räumen der Autonomie, tragisch erodiert durch das herrschende soziale System und seinen tausend technologischen Betäubungsmitteln existieren die Schwierigkeiten, und zwar enorm. Und doch liegen die Grenzen oft vor allem in unserer Entschlossenheit und in unserer Fantasie, beladen wie wir sind, durch die Last der Gewohnheit in unseren Gesten, Worten und Beziehungen. Ein breiteres Aufeinandertreffen zwischen verschiedenen lokalen Realitäten wird aus den Wegen der Autonomie im Denken und im Kampf entstehen, und nicht durch das Zusammenzählen von Kräften, die durch die Dringlichkeit diktiert wurden.

So werden die Diskussionen kein starres Ballet von Klischeevorstellung sein, sondern die Gelegenheit, voneinander zu lernen, die Lebensweisen, oder besser, die gegenseitigen Welten, endlich untereinander mitzuteilen. So werden wir das Vertrauen und den Enthusiasmus zurückfinden und so etwas wie eine gemeinsame Erfahrung kann geboren werden.

Die Revolte ist auch das Treffen zwischen
Leichtigkeit und Strenge.

Ein Freund von Ludd


Entnommen aus: In offener Feindschaft mit dem Bestehenden, seinen Verteidigern und seinen falschen Kritikern & andere Texte. Frühling 2010.
Italienischer Originaltitel: All‘aria aperta. Note su repressione e dintorni, par Un amico di Ludd, September 2004