Titel: Im Zentrum des Vulkans
Thema: Zivilisation
Datum: Mai 2000
Bemerkungen: Publiziert in Diavolo in corpo, Nr. 2, Turin (Italien). Deutsche Erstveröffentlichung in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 3, Juni 2011.

Wir gehen mit der Laterne unseres mehr oder weniger kritischen Bewusstseins umher, im vergeblichen Versuch, die schwarze Nacht zu erhellen, die uns heute umhüllt. All die Texte, die wir bisher gelesen haben, erwiesen sich als unzureichend, als unfähig, uns einen Faden zu liefern, der uns helfen könnte, aus diesem Labyrinth heraus zu finden. Wenn sich die täglichen Ereignisse vor unseren Augen abspielen, sind wir nicht mehr in der Lage, sie zu entziffern. Rund um die Welt brechen weiterhin Revolten aus, aber unsere Handbücher weisen keine Spuren von ihrem Ausdruck auf.


Eine Überzeugung bleibt fest im Geiste der Menschheit verankert, obwohl sie durch die zahlreichen Katastrophen, die über dem Menschen niederschlagen, hart auf die Probe gestellt wird: die Überzeugung, dass die ganze Geschichte, wenn nicht gleichmäßig, so zumindest konstant einem progressiven Lauf folge. Falls es wahr ist – und so scheint es durchaus –, dass wir es geschafft haben, im Weltall herum zu kurven, nachdem wir einst Höhlen bewohnten, so kann die Evolution nicht auf eine simple Ansichtssache reduziert werden. Heute ist es besser, als gestern – und schlechter, als morgen. Aber was war der Ausgangspunkt dieses unaufhaltsamen Laufs? In seinen Studien über die Evolution des menschlichen Fortschritts vom wilden Zustand zur Zivilisation teilt einer der Väter der Kulturanthropologie, L.H. Morgan, die Geschichte der Menschheit in drei Stadien ein: das primitive Stadium, das Stadium der Barbarei und das der Zivilisation. Morgan vertritt die Ansicht, dass das Stadium der Zivilisation mit der Erfindung eines phonetischen Alphabets und der Verbreitung der Schrift seinen Anfang nahm. „Am Anfang war das Wort“, heißt es in der Bibel. Die Sprache war es, die den Weg des Menschen einfacher machte, indem sie ihm gestattete, zu mutmaßen, zu argumentieren, zu widerlegen, zu diskutieren, sich zu einigen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Ohne die Sprache hätte der Turm von Babel der menschlichen Gemeinschaft niemals gebaut werden können. Und durch die Überzeugungskraft des Wortes manifestiert sich die Vernunft. Diese wird folglich zur Technik der Erschaffung und Regierung der Welt, indem sie dafür sorgt, dass sich die Menschen nicht bei jeder Gelegenheit gegenseitig die Köpfe einschlagen, sondern sich auf jene Art und Weise einigen, die ihnen am besten scheint. Wie es ein weiser Römer einst sagte: „die Vernunft ist das einzige, was uns von den Tieren unterscheidet“.

Dante benutzte dasselbe Vokabular, um nicht-rationale Tiere zu beschreiben, ob es sich nun um wilde Tiere oder um Menschen handelt: „Es ist offensichtlich, dass als Tier – und mit „als Tier“ meine ich wie Wilde – zu leben, bedeutet, zu fühlen, und dass als Mensch zu leben, bedeutet, die Vernunft zu gebrauchen“. Tatsächlich können sich also auch die Menschen wie „Wilde“ verhalten, wenn sie darauf verzichten, jenen Vorrechten zu folgen, die laut dem toskanischen Dichter dem menschlichen Wesen eigen sind und seine Größe ausmachen, nämlich dem freien Willen und der Vernunft. Tatsächlich lehrt uns die ganze Philosophie, dass sich der Mensch vom Tier unterscheidet, weil er mit Vernunft begabt ist. Würde er sich nämlich auf die Befriedigung seiner physiologischen Bedürfnisse beschränken, dann würde ihn nichts vom Rest der Fauna unterscheiden und das Leben auf diesem Planeten wäre im prähistorischen Zustand verblieben. Das ist jedoch nicht der Fall und sein Wandel, also der evolutionäre Prozess, wurde als Aufstieg betrachtet. Heute geht der Mensch aufrecht und fordert den Himmel heraus, während die meisten Tiere weiterhin auf dem Boden umher streifen. Das ist der Grund, warum angenommen wird, dass die Tiere vom Instinkt geleitet werden – der sie dazu antreibt, sich zu erhalten und das zu suchen, was ihnen unmittelbar zu Gute kommt –, der auf der Tiefe des Bauches verortet wird. Wohingegen die Menschen von der Vernunft geleitet werden – die sie antreibt, das Gerechte und Nützliche zu verfolgen –, deren Sitz auf der Höhe des Kopfes ist.

Die Vernunft, so sagten die alten Griechen, ist allen gemeinsam und universell. Die Vernunft ist folglich Eine. Aber wer besitzt sie? Und überhaupt, was geschieht, wenn jemand darauf beharrt, ihr nicht folgen zu wollen, weil er andere Gründe [ital.: ragioni][1] hat, auf die er nicht verzichten will? Wenn sich die Vernunft über die Sprache manifestiert, was geschieht dann, wenn uns die Worte fehlen, um das auszudrücken, was uns antreibt? Die Welt, in der wir leben, ist ein dermaßen in sich selbst geschlossenes Universum, welches nur akzeptieren kann, was sich in ihre kognitiven und normativen Schemen einfügt, dass sie das, was ihrem Griff entgeht, nicht tolerieren kann, und es in den Bereich des Wahnsinns, der Barbarei oder der irrationalen Utopie verbannt.

Auch die soziale Kritik – nicht nur in ihren theoretischen Ausdrücken, sondern auch in ihren praktischen Umsetzungen verstanden – hat ihre eigene Brutalität gekannt, kannte ein Stadium, in dem der Kampf gegen die soziale Ordnung, der durch die Unzufriedenheit über die eigenen miserablen Lebensumstände hervorgerufen wurde, sich nicht auf artikulierte Weise, entlang einer projektuellen Handlung manifestierte und stattdessen vielmehr die Form von sporadischen Revolten annahm, die keine theoretischen Motivationen hatten und einzig auf eine unmittelbare Zufriedenstellung ausgerichtet waren. Mit anderen Worten: wenn das Fass überlief, entfesselte sich eine blinde Wut, die, auch wenn es ihr gelang, den Feind zu identifizieren, den es zu treffen galt, nicht in der Lage war, ihre eigenen Gründe auszudrücken. Es ist auch dieser Tatsache geschuldet, dass die Situation, kaum war die Wut verflogen, wieder zur Normalität zurückkehrte. Und wie beim Menschen, so kann man auch bei der sozialen Kritik einen Moment feststellen, von dem an der Instinkt der Vernunft Platz macht.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts können wir der letzten großen „sinnlosen“ Revolte (dem Luddismus) und dem Auftauchen jenes politischen Projektes beiwohnen, das, obwohl es berühmte Vorgänger hatte, die Intervention von Marx und Engels benötigte, um sich vollständig zu entfalten. 1848 war nicht nur das Jahr der großen sozialen Umwälzungen in ganz Europa, sondern auch das Jahr, in dem das Manifest der kommunistischen Partei das Licht der Welt erblickte. Das Verlangen, die Welt zu verändern, verließ die Höhlen und warf viele seiner mystischen und idealistischen Konnotationen ab – die typisch waren für die Millenaristen und die utopischen Sozialisten –, um eine eigene Rationalität zu entwickeln und zu einer Sozialwissenschaft zu werden. Nicht per Zufall definiert Engels im Vorwort, das er 1888 für die englische Ausgabe des Manifests geschrieben hatte, die radikalen sozialen Bewegungen, die dem Jahr 1848 vorangingen, als Anhänger einer „noch rohen, unbehauenen, rein instinktiven Art von Kommunismus“.

Der Kampf für die Freiheit, überzeugt von der Vergeblichkeit der unbesonnenen Wutausbrüche, erarbeitet ein eigenes Programm, eine eigene Strategie und beginnt, für die Subversion der gesamten Gesellschaft und ihren Neuaufbau auf anderen Grundlagen zu kämpfen. Es ist dies die Geburt des wissenschaftlichen Kommunismus, mit all seinen Variationen, und auch die Geburt der anarchistischen Bewegung. Während eineinhalb Jahrhunderten haben autoritäre Kommunisten und Anarchisten in der Bewusstwerdung die Grundbedingung für jegliche soziale Veränderung gesehen. Während die Autoritären beabsichtigten, das Bewusstsein von oben herab mit ihren politischen Organisationen einem Proletariat aufzustülpen, dem es daran mangelte, versuchten die Anarchisten dieses von selbst entstehen zu lassen, mittels der Propaganda oder durch das Exempel. Mit diesem Ziel wurden Millionen von Texten verbreitet – in Form von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Broschüren, Flugblättern, Plakaten –, wurden Konferenzen, Demonstrationen und Initiativen organisiert, wurden Komitees und Vereinigungen geschaffen. Geschweige denn von all den sozialen Kämpfen und individuellen oder kollektiven Aktionen gegen die Institutionen. Im Herzen eines jeden Revolutionärs schlug viel mehr als bloß Hoffnung. Es bestand die Gewissheit, dass all diese Aktivitäten, früher oder später, zum Erwachen jenes Bewusstseins unter den Ausgebeuteten führen würden, welches die Revolution letztendlich möglich machen würde. Die Vernunft der Freiheit – auch sie verstanden als Eine, die allen gemeinsam und universell ist – hatte also die Vernunft der Macht ersetzt, welche ihre Legitimität zu Unrecht für sich beanspruchte.

Heute wissen wir, dass dieser deterministische Prozess lediglich eine Illusion war. Die Geschichte bewegt sich nicht unweigerlich in irgendeine Richtung. Und, wie dem auch sei, die Macht schaute nicht tatenlos zu. Wenn es einmal eine Zeit gab, in der sich die Ausgebeuteten angesprochen fühlten, wenn sie das Wort „Streik“ nur hörten; wenn sie sich in jeder Stadt, in jedem Dorf, in jeder Fabrik und jedem Viertel versammelten, weil das Leben selbst ein kollektives Leben als Klasse war; wenn das Leben der Unterdrückten über Jahre hinweg täglich Diskussionen über die Lebensbedingungen und den Kampf beinhaltete; wenn überall und trotz der Heterogenität dieses Klassenbewusstseins über die Notwendigkeit diskutiert wurde, den Kapitalismus zu zerstören und eine neue Gesellschaft ohne Ausgebeutete und ohne Ausbeuter aufzubauen, so ist all dies unbestreitbar im Laufe der letzten Jahrzehnte verschwunden, gemeinsam mit dem so gefürchteten „Proletariat“ – verstanden als Klasse und als Vision einer dem Kapital entgegengestellten Welt.

Dies ist kein Zufall. Das Kapital hat sich darum bemüht, eine ideale Gesellschaft aufzubauen, in der es den Feind nicht mehr gibt. Eine Gesellschaft, einzig bevölkert von braven, produktiven Bürgern und, wenn möglich, menschlichen Robotern, die dazu in der Lage sind, die Gesellschaft zu reproduzieren, ohne Fragen zu stellen. Angesichts der Gefahr, die die revolutionäre Vernunft darstellt, hat sich eine Schar von Speichelleckern – Philosophen, Künstler, Schriftsteller, Soziologen, Psychoanalytiker, Historiker – daran gemacht, jeglichen Sinn zu zersetzen. Das „Ende der Geschichte“ lehrt uns, dass es keine Zukunft mehr gibt, auf die wir Einfluss haben könnten; der Moment, diese künstliche, abstrakte und aus der Dauer herausgetrennte Regung, wurde zur höchsten Instanz erhoben. In einer Zeit ohne Substanz unterliegt die Sache dem Schein, tritt der Inhalt hinter die Leere der Form, ergibt sich die Wahl dem Automatismus, verzichtet das Individuum auf seine eigene Autonomie. So stehen wir da, uns in der aufdringlichen Leere der Werbeplakate suhlend, welche die Abwesenheit zu etwas attraktivem machen. Die einzige Vernunft, die bleibt, um verteidigt und verwaltet zu werden, ist die Staatsräson [ital.: ragione di Stato], die einzige, die die Schergen des Postmodernismus niemals in Frage zu stellen erträumten.

Auf diesem Wege versuchte die Herrschaft, die Gründe der Revoltierenden präventiv auszulöschen. Und nicht nur die großen Gründe – den Kommunismus oder die Anarchie –, sondern auch die kleineren und einfacheren, jene, die das tägliche Leben aller Ausgebeuteten kennzeichneten und ihnen gestatteten, nicht zu vergessen, was sie wollten und weshalb sie es wollten, die sie dazu befähigten, den Reichen vom Armen, den Polizisten vom Häftling, die Gewalt des Staates von der Gewalt des Rebellen, die Almosen von der Solidarität zu unterscheiden. Aber falls die Absicht war, den Rebellionen ein für alle Mal ein Ende zu setzen, dann ist irgendetwas schief gelaufen. Die Revolten brechen weiterhin aus. Was sie charakterisiert, ist, dass ihrem Ausbruch kein sichtbarer quantitativer Zuwachs vorausgeht, dass das Maß bis zum Rand vollläuft, ohne große Teilkämpfe, die dem vorangehen. Ihr Auslöser ist nicht das Versprechen einer künftigen Freiheit, sondern das Bewusstsein über ein aktuelles – wenn nicht ökonomisches, so zumindest emotionales – Elend. Die Revolte hat heute keine voranzustellenden Gründe mehr, keine zu erfüllenden Forderungen mehr, sie hat kein präzises und eindeutiges Ziel und entwickelt selten etwas pro-positives[2]. Ihr Ausgangspunkt ist eine allgemeine Negation, worin sich ökonomische, politische, soziale und alltägliche Aspekte vermischen. Die Revolte zeichnet sich heute durch das gewaltsame und entschlossene Verhalten der Aufständischen aus, die sich die Straßen nehmen und sich gewaltsam mit allen Organen des Staates, aber auch untereinander konfrontieren. Wir befinden uns an der Schwelle zum Bürgerkrieg, ja, wir befinden uns bereits in ihm.

Die Tatsache, dass die Revolte die Form einer nicht vorhersehbaren Explosion annehmen kann, verschafft ihr eine bedeutende Stärke: den Überraschungseffekt. Das alte reformistische, sozialdemokratische Arsenal ist wehrlos gegenüber dem Vorgehen der Aufständischen. Sogar der Syndikalismus sieht sich völlig unfähig, eine Antwort darauf zu geben und die Gewalt einzudämmen. Die Sozialarbeiter und generell alle staatlichen Vermittlungsbeamten zeigen sich völlig überfordert. Die Abwesenheit von präzisen Forderungen macht ihre Arbeit, die Rekuperation, noch schwieriger, und all diesen Leuten bleibt nichts anderes übrig, als das zu missbilligen, was sie ohne Zögern als den „Autismus der Aufständischen“ bezeichnen. Doch die Berater des Königs sind nicht die einzigen, die fassungslos sind. Auch die Revolutionäre finden sich außerhalb, ohnmächtig und überrumpelt, nachdem sie sich jahrelang daran gewöhnt haben, zu wiederholen und sich selbst zu wiederholen, dass die Revolution „mit der Explosion eines Pulverfasses nichts zu tun hat“. Wie argumentieren mit jemandem, der keine Gründe hat? Wie diskutieren mit jemandem, der keine Worte findet? Die Revolte kann brutal sein, denn sie ist nicht in der Lage, die Unterscheidungen zu machen, die eine Analyse erfordern würden. Jeder von uns könnte sich an der Stelle jenes Lastwagenfahrers wiederfinden, der während der Revolte in Los Angeles 1992 verprügelt, mit Steinen beworfen und erschossen wurde.

«Der Hahn in der Enge des Stalls, umgeben von Pferden und ohne einen anderen Platz in Aussicht, sah sich gezwungen, sich einen prekären Ruheplatz auf dem gefährlichen Fußboden zu suchen; mit stampfenden Pferden um sich herum und seinem zerbrechlichen Leben, das sich ernsthaft in Gefahr befand, warf der Hahn mit Bedacht folgende Bitte in den Raum: „Ich bitte Sie, meine Herren, versuchen wir doch, uns gerade auf den Beinen zu halten; andernfalls fürchte ich, dass wir uns noch gegenseitig zertrampeln.“»

Wir schwenken die Laterne unseres mehr oder weniger kritischen Bewusstseins umher, im vergeblichen Versuch, die schwarze Nacht zu erhellen, die uns heute umhüllt. All die Texte, die wir bisher gelesen haben, erwiesen sich als unzureichend, als unfähig, uns einen Faden zu liefern, der uns helfen könnte, aus diesem Labyrinth heraus zu finden. Wenn sich die täglichen Ereignisse vor unseren Augen abspielen, sind wir nicht mehr in der Lage, sie zu entziffern. Rund um die Welt brechen weiterhin Revolten aus, aber unsere Handbücher weisen keine Spuren von ihrem Ausdruck auf. Wenn wir also über die böse Insurrektion von Albanien (1997) lästern, um dann der guten Revolte von Seattle (1999) zu applaudieren, während wir dem Rat einer mit Bücherkenntnis vollgestopften Vernunft folgen, dann verhalten wir uns nicht viel anders, als der Hahn in der Fabel: wir raten allen, sich schön gerade zu halten. Endlich eine Revolte, wie es sich gehört! Auf dass sich alle Aufständischen dieser Welt daran ein Beispiel nehmen!

Indem wir dies tun, beweisen wir einmal mehr, wie sehr der Anspruch, der von den Revolutionären im Laufe der Geschichte vorgebracht wurde, schon immer beinahe ausschließlich ein logischer, also ein normativer war. Und die Norm – die Vernunft, die mit sich selbst im Einklang ist – setzt alles daran, die Realität dazu zu zwingen, sich ihr anzupassen. Aber die Realität entzieht sich diesem Anspruch, denn keine Ideologie ist fähig, sie gänzlich zu erschöpfen. Trotz all unserer besten Absichten garantiert uns nichts, dass die Revolte von Seattle zu einem Modell wird. In Wirklichkeit sieht es eher so aus, als ob der Wind aus einer ganz anderen Richtung bläst.

Jahrelang haben wir die Tugend der Vernunft als einzigen Leitfaden unserer Taten hochgehalten und nun stehen wir da, mit leeren oder fast leeren Händen. Auf der Suche nach einem Ausweg aus der Absurdität, die unsere Existenz bedroht, ist es schwierig, der Versuchung zu widerstehen, den Kurs zu drehen und unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was üblicherweise als Gegensatz der Vernunft betrachtet wird: die Leidenschaft. Schließlich gab es bereits Personen, die aus der Wiederentdeckung der Leidenschaften eine der gefährlichsten Waffen im Angriff gegen die Welt der Autorität und des Geldes gemacht haben. Wir können in unseren Bibliotheken die alten Texte von Bakunin und Coeurderoy abstauben, derjenigen Anarchisten, die im vergangenen Jahrhundert die „Entfesselung der bösen Leidenschaften“ und die „Revolution durch die Kosaken“ gerühmt haben.

Lauschen wir der explosiven Stimme von Coeurderoy: „Sagen wir es laut als anarchistische Revolutionäre: wir haben nur in der menschlichen Sündflut Hoffnung, nur im Chaos eine Zukunft; wir haben einen Ausweg nur in einem allgemeinen Krieg, der alle Rassen vermischt und mit allen etablierten Verhältnissen bricht und so den Händen der herrschenden Klassen die Unterdrückungswerkzeuge entzieht, mit denen sie die Freiheiten verletzen, die zu blutigem Preise errungen wurden. Führen wir die Revolution in die Tatsachen ein, flössen wir sie den Einrichtungen ein; möge sie mit dem Schwert dem Organismus der Gesellschaften eingeimpft werden, damit sie ihnen nicht mehr geraubt werden kann! Möge das menschliche Meer steigen und über die Ufer treten! Wenn alle Benachteiligten vom Hunger betroffen sind, wird das Eigentum keine heilige Sache mehr sein; im Getöse der Waffen wird das Eisen lauter ertönen als das Silber; wenn jeder für seine eigene Sache kämpfen würde, bräuchte niemand repräsentiert zu werden; inmitten des Durcheinanders der Sprachen werden die Anwälte, Journalisten und Meinungsdiktierer ihre Worte verlieren. Zwischen ihren stählernen Fingern zerreißt die Revolution alle gordischen Knoten; sie ist ohne Verständnis für das Privileg; ohne Erbarmen für die Heuchelei, ohne Angst in den Schlachten, ohne Zügel in den Leidenschaften, glühend mit ihren Liebhabern, unversöhnlich mit ihren Gegnern. Bei Gott! Lassen wir sie also machen und singen wir ihre Loblieder, so wie der Matrose die großen Launen des Meeres besingt, seiner Geliebten!“

Das Chaos fordern, nachdem wir jahrelang unnütz versucht haben, für Ordnung zu sorgen. Die Barbarei preisen, nachdem wir sie so lange mit dem Kapitalismus gleichgesetzt haben. Das mag widersprüchlich erscheinen, aber fühlen wir uns dem Ziel auf diese Weise vielleicht nicht viel näher?

Trotzdem, wenn wir richtig darüber nachdenken, mutet es seltsam an, dass wir, um die These aufzustellen, die in der Barbarei nicht nur das sieht, was uns am meisten mit Furcht erfüllt, sondern auch eine Möglichkeit, auf die es zu setzen gilt, auf derlei Vorläufer zurückgreifen müssten. Als würden wir uns im Unrecht fühlen und daher das Bedürfnis verspüren, neue Rechtfertigungen zu finden, hinter denen wir unsere Zweifel und Unsicherheiten verstecken können. Aber was hat es uns dann gebracht, die tief greifenden Veränderungen der sozialen Struktur zu analysieren, die technologische Umstrukturierung des Kapitals darzulegen, die Aufsplitterung des Produktionsapparats vor Augen zu führen, das Ende der großen Ideologien zur Kenntnis zu nehmen, den Zerfall der Bedeutung einzudämmen, über die Reduktion der Sprache zu weinen, etc. etc.? Argument für Argument, Analyse für Analyse, Zitat für Zitat haben wir vielleicht nichts anderes getan, als eine x–te unüberwindbare Mauer zu errichten, die uns beschützen kann – wenn nicht vor der Realität da draußen, so zumindest vor uns selbst.  

Wenn die Vernunft ein Kompass ist,

dann sind die Leidenschaften der Wind.

Alexander Pope

Wenn wir uns die Thesen eines Bakunin und eines Coeurderoy aneignen, um den Schmerz zu lindern, den uns die Enttäuschung über den Zusammenbruch aller großen sozialen Projekte zugefügt hat, dann sind wir in Wirklichkeit Opfer einer großen Täuschung, die wir uns selbst ausgedacht haben. Wir halten uns nicht genügend bewusst, dass diese Anarchisten nicht unsere Zeitgenossen sind, dass sie nicht dem Fall der Berliner Mauer beigewohnt und dass sie auch nicht in der Ära des Internets gelebt haben. Wir schlagen erneut ihre Ideen vor, aber wir vermeiden es, über die Gründe nachzudenken, die sie – in einem historischen Kontext, der völlig anders war als der unsere – veranlasst haben, ihre Hoffnung auf eine radikale soziale Veränderung nicht in die Zustimmung gegenüber einem idealen Programm, sondern in den wilden Ausbruch der dunkelsten Kräfte des menschlichen Wesens zu legen. So brauchen wir uns nicht allzu viele Fragen darüber zu stellen, wieso – wie Coeurderoy sagte – „die soziale Revolution nicht mehr durch eine partielle Initiative, entlang eines einfachen Wegs, entlang des Guten durchgeführt werden kann. Es ist notwendig, dass sich die Menschheit durch eine allgemeine Revolte, durch einen Gegenschlag, durch das Böse befreit.“

Lieber die alten Bestimmtheiten in neue Gewänder kleiden, anstatt sich ihrer zu entledigen. Lieber sich selbst im Spiegel betrachten, der das Bild eines zivilisierten Individuums zeigt, und denken, dass in seinem Innern jedoch ein freier und wilder Barbar schlummert, der nur auf den richtigen Moment wartet, um auszubrechen. Wenn man der Tugend des Fortschritts nicht mehr trauen kann, dann lieber auf die wahre, unverfälschte und wilde Natur des Individuums schwören, dem die Zivilisation im Laufe der Jahrhunderte ihre vulgären Gesellschaftsverträge aufgezwungen hat. Aber ist nicht auch das wieder eine ideologische Projektion, eine Art aktualisierte Version der strahlenden Sonne der Zukunft, die, früher oder später, wie durch Zauberhand hinter dem Gebirge auftauchen wird? Und die Frage lautet nicht nur, ob es noch eine menschliche Natur gibt, die vom Fernseher unverseucht ist und die wiederentdeckt werden könnte, oder ob das menschliche Unterbewusstsein von den Vergiftungen des Kapitals geheilt werden kann.

Allem Anschein zum Trotz sind die Thesen von Bakunin und Coeurderoy tatsächlich das Ergebnis einer völlig logischen Überlegung. Das zu erreichende Ziel bestimmt die zu verwendenden Mittel. Wenn unser Ziel darin bestünde, die Karten des Spiels neu zu verteilen, ließen sich die anzuwendenden Mittel leicht auf rationale Argumente stützen. Jede Runde würde jemand anderes die Bank verwalten. Wenn unser Ziel aber darin besteht, das Spiel selbst platzen zu lassen, mitsamt all seinen Regeln, seinen Karten und seinen teilnehmenden Spielern, dann sieht die Sache ganz anders aus. Mit anderen Worten, wenn sich unsere Verlangen darauf beschränken würden, eine herrschende Klasse zu ersetzen, die brachliegenden Wirtschaftssektoren wieder herzurichten, die Preise zu senken, die Zinssätze zu reduzieren, die Gefängniszellen besser zu belüften und dergleichen mehr, dann würden wir auf dem Terrain der vernünftigen Möglichkeiten bleiben. Wenn wir aber dieser Welt, so wie wir sie kennen, ein Ende bereiten und folglich in eine noch gänzlich zu erdenkende, fantastische Welt eintreten wollen, dann stehen wir vor einem Projekt, das als unmöglich, außergewöhnlich und übermenschlich betrachtet wird, und folglich unmögliche, außergewöhnliche und übermenschliche Mittel benötigt, um realisiert zu werden. Eine Revolte, die auf die Waage der Annehmlichkeit gelegt wird, die Augen nach jedem ihrer Schritte aufmerksam auf die Pros und Kontras gerichtet, hat von Anfang an verloren, da sie nur bis an einen bestimmten Punkt gelangen kann und dann zum Stillstand kommt. Unter dem Gesichtspunkt der Logik ist es immer vorzuziehen, einen Kompromiss zu finden, anstatt zu kämpfen. Es ist nicht vernünftig, dass sich ein Ausgebeuteter gegen die Gesellschaft auflehnt, denn sie wird ihn zermalmen. Die Barrikade mag durchaus ihren Charme haben, doch es wäre sinnlos, zu verhüllen, dass viele dort ihren Tod finden werden. Und niemand weiß im Voraus, in wessen Brust die Kugel schlussendlich landen wird.

Die einzigen Verbündeten, die dann noch übrig bleiben, sind die Leidenschaften, diese bösen Leidenschaften, mit denen alles möglich wird – selbst das Unmögliche. Bakunin und Coeurderoy hatten das verstanden. Die Revolution lässt sich nicht mit gesundem Menschenverstand machen. Nur die Leidenschaft ist imstande, den menschlichen Geist mit sich fort zu reißen, ihn zu unvorstellbaren Zielen zu bringen und ihn mit einer unbesiegbaren Kraft auszurüsten. Nur Individuen, die „den Kopf verloren haben“, über die die Vernunft also keine Kontrolle mehr ausübt, sind imstande, die außergewöhnlichen Handlungen auszuführen, die für die Demolierung einer jahrhundertealten Autorität vonnöten sind. Wie wir sehen, geht es also nicht darum, so viele Menschen wie möglich zu einem Ideal zu bekehren, das wir für richtig halten, sondern darum, sie zu entflammen. Denn – wie ein alter Anarchist immer gerne wiederholt hat – „es ist üblich, dass das Volk ähnliche Eigenschaften aufweist wie die Kohle: eine lästige und schmutzige Masse, wenn sie erloschen ist; leuchtend und glühend aber, wenn sie entfacht.“

Doch der Eifer der Leidenschaften ist nicht von langer Dauer, er ist nur vorübergehend, genauso wie die heutigen Revolten. Er ist ein Rausch, der uns über uns selbst hinaus trägt, am nächsten Morgen aber bereits wieder verflogen ist. Daraus lässt sich folgern, dass, wenn die Vernunft alleine nicht in der Lage ist, uns in die Freiheit zu führen, die Leidenschaft alleine dies ebensowenig kann. Im Übrigen hat das auch nie jemand behauptet. Wir stehen hier vor den Folgen eines Missverständnisses, das auftaucht, wenn man einer angeblich irrationalen Leidenschaft eine angeblich kalte Vernunft gegenüberstellt, und somit eine Antithese kreiert, die in Wirklichkeit nicht existiert. Denn die Leidenschaft – fern davon, überstürzt und unüberlegt zu sein – ist sehr wohl imstande, sich Zeit zu nehmen und eine Perspektive auszuarbeiten, um ihr Ziel zu erreichen. Gleichermaßen dienen die Kunstgriffe der Vernunft oftmals bloß dazu, die Früchte unserer Leidenschaften a posteriori zu rechtfertigen. Das Werk von de Sade, mit seiner kontinuierlichen Verflechtung von orgiastischen Szenen und philosophischen Gedankengängen, ist vielleicht das beste Beispiel dafür, dass Logik und Leidenschaft sich gegenseitig ergänzen, durchdringen und enthalten. Der Kompass und der Wind sind beide unerlässlich. Ungeachtet der Reise, die man unternehmen will, kann man weder auf das eine noch auf das andere verzichten. Deshalb hat Bakunin zwar zur Wut aufgerufen, aber gleichzeitig von der Notwendigkeit eines „unsichtbaren Steuermanns“ gesprochen. Momentan stellt sich eher das Problem, dass man einen Sturm nicht steuern kann. Man kann ihn nur überstehen.  

Die gewaltsame Revolution, die wir seit einigen Jahren heranwachsen spürten, und die ich mir selbst so sehr gewünscht habe, zog unter meinen Fenstern, unter meinen Augen vorbei. Ich war orientierungslos, skeptisch. [...] Die ersten drei Monate waren die schlimmsten. Wie viele andere war ich gequält von diesem schrecklichen Verlust an Kontrolle. Ich, der sich mit aller Kraft die Subversion, den Umsturz der bestehenden Ordnung gewünscht hat, gerade ich, jetzt, im Zentrum des Vulkans, hatte Angst... Ich verabscheute die gängigen Hinrichtungen, die Plünderungen, jeden Akt des Banditentums... Ich war wie immer zerrissen zwischen der theoretischen und emotionalen Anziehung zum Chaos und dem grundlegenden Bedürfnis nach Ordnung und Frieden.

Luis Buñuel

Gegen den Sturm, gegen das Chaos und die Urkräfte der Barbarei sträubt sich nicht nur der politische und ökonomische Mensch, der besorgt ist über die Stabilität der Wahlen und der Waren, sondern vor allem auch der ethische Mensch. Die Tatsache, gegen die sozialen Normen zu verstoßen und sich den Instinkten hinzugeben, bedeutet für ihn, ins Dunkel der Bestialität zurückzufallen, die Schrecken der primitiven Horde wieder zu beleben. Zivilisation kann für ihn nur Vernunft, Ordnung und Gesetz bedeuten, und dabei nicht zwangsweise solche, die vom Staat verordnet werden. Bakunins Gefährten in Lyon versäumten nicht, ihm genau das vorzuhalten. Einer von ihnen erinnerte sich daran, wie damals Unstimmigkeiten zwischen ihnen ausgebrochen sind, „deren Hauptursache die große Theorie von Bakunin über die Notwendigkeit war, alle Leidenschaften, alle Lüste und alle Wutausbrüche des revoltierenden Volkes sich frei ausdrücken und toben zu lassen, entfesselt und ohne Maulkorb.“ Insbesondere einen Gefährten gab es, der „dieser möglichen Flut von Gewalttaten des menschlichen Tieres sehr skeptisch gegenüberstand“ und „jede Art von Verbrechen und Gräuel verurteilte, die der Revolution eine düstere Mine verleihen und die Größe der Idee unter der Brutalität der Instinkte verschütten würde, indem sie sich gegen all jene aufrichte, denen die Liebe zu den großen Dingen am Herzen liegt und deren Gewissen ein Gespür für das Richtige und Gute hat.“ Wie ist es möglich – fragte er sich –, „dass Menschen, die die Idee der Zukunft repräsentieren, das Recht haben, sie mit den ältesten Barbareien zu beschmutzen, die selbst die einfachsten Zivilisationen zu zähmen versuchten?“

Die Ansichten dieses Gefährten Bakunins konnten sich deutlich besser durchsetzen, als die Thesen des russischen Revolutionärs. Der Beweis dafür ist das Vergessen, in das sie gemeinsam mit jenen von Coeurderoy verbannt wurden. Die Barbarei kann unmöglich das Tor zur Freiheit öffnen, wiederholten diese ethischen Menschen, die größtenteils dieselben waren, wie jene, die bei anderen Gelegenheiten behaupteten, dass der Krieg zum Frieden führe, dass der Reiche für den Armen sorge, dass die Gewalt die Gleichheit garantiere. Aber was kann dann das Tor zur Freiheit öffnen? Etwa das Wachstum der Märkte? Eine steigende Anzahl von Parteien? Die Verstärkung der Ordnungskräfte? Eine bessere Bildung? Der Generalstreik? Eine revolutionäre Organisation mit Millionen von Mitgliedern? Die Entwicklung der Produktivkräfte? Warum auch nicht, wenn man sich im Grunde wünscht, diesen deterministischen Mechanismus zu respektieren, der als Motor der Geschichte betrachtet wird? Es ist eine Mystifizierung, eine Situation der Anomie – also eine Abwesenheit oder starke Aufhebung der Normen, die das Verhalten der Individuen regulieren – mit den schwärzesten Farben auszumalen. Die Behauptung, dass sich in den Individuen von Natur aus ein Monster verbirgt, das bereit ist, Unschuldige zu massakrieren, muss erst noch bewiesen werden. In Wirklichkeit handelt es sich dabei bloß um eine Hypothese – die durch die historische Erfahrung genauso bestätigt, wie dementiert wurde –, die zu Gunsten jener verbreitet wurde, die die Regeln vorschreiben und durchsetzen. Und selbst wenn dies der Fall wäre, kann man etwa a priori festlegen, welche Richtung eine Situation der Anomie einschlagen wird?

Ein Matrose, der die „Launen des Meeres“ besingt, wird wahrscheinlich nicht die Schönheit des Schiffbruchs verherrlichen, der dazu gehört. Ebenso bedeutet die Tatsache, die bedeutende Rolle anzuerkennen, die die Leidenschaften – selbst die dunkelsten – in jedem Prozess von sozialer Umwälzung spielten, nicht, die Vergewaltigung, das Blutbad oder die Lynchung zu verherrlichen. Jede Revolution hat ihre Exzesse gekannt, es wäre sinnlos, dies zu verbergen. Das bedeutet allerdings weder, aus Angst, das es zu solchen kommt, auf eine Revolution zu verzichten, wie es die sogenannten Schöngeister stets gedachten, noch sich heiter an ihnen zu beteiligen. Wenn das Volk auch seine bösen Leidenschaften entfesseln wird, die allzu lange zurückgehalten wurden, werden ihnen die Revolutionäre schwerlich bei Seite stehen. Wir nehmen eigentlich an, dass diese mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein werden, als sich zu Hause zu verschanzen oder sich inmitten der schreienden Menge zu verlieren. Selbst mitten im Sturm hat der Matrose, der weiß, wo er hin will, stets ein Auge auf dem Kompass und eine Hand am Lenkrad. Er behält die Hoffnung im Herzen, die Kraft der Wogen möglichst gut ausnutzen zu können, um das Ziel zu erreichen, und sein Boot gut genug vorbereitet zu haben, dass es dem Aufschlagen der Wellen standhält. Selbstverständlich ohne die Gewissheit, heil herauszukommen, aber auch ohne im Voraus davon abzusehen .

Die Überlegungen von Bakunin und Coeurderoy – die einige als metahistorisch bezeichnen würden und die, wie wir schon gesehen haben, unter den Revolutionären keinen großen Rückhalt fanden – haben eine ungewohnte Unterstützung in den Schlussfolgerungen gefunden, auf die einige Erforscher des menschlichen Verhaltens kamen. Wenn Bakunin von der Revolution spricht, wie von einem Fest, dessen Teilnehmer der Trunkenheit anheimfielen („die einen von wilder Angst, die anderen von wilder Ekstase gepackt“) und in dem es scheint, „dass die ganze Welt auf den Kopf gestellt wurde; das Unglaubliche wurde vertraut, das Unmögliche möglich, das Mögliche und Vertraute sinnlos“, dann muss das wörtlich genommen werden.

In seinem Essay über die Bedeutung von Festen in den verschiedenen menschlichen Gesellschaften spricht Roger Caillois beispielsweise von der „Ansteckung einer Überschwänglichkeit... die dazu anspornt, sich unkontrolliert den irrationalsten Impulsen hinzugeben“. Es als eine „periodische Explosion“ beschreibend, erklärt der französische Studierte, wie das Fest „dem Individuum wie eine andere Welt vorkommt, in der es sich durch Kräfte gestützt und verwandelt fühlt, die es übersteigen.“ Sein Zweck ist es, „die Erschaffung der Welt von neuem zu beginnen.“ „Der Kosmos ging aus dem Chaos hervor“, schreibt Caillois, wonach der Mensch nostalgisch auf eine Welt zurückblickt, die die strenge Notwendigkeit zur Arbeit nicht kannte, und in der die Wünsche verwirklicht werden konnten, ohne von irgendeinem sozialen Verbot verstümmelt zu werden. Das Goldene Zeitalter erfüllt diese Vorstellung einer Welt ohne Krieg und ohne Markt, ohne Sklaverei und ohne Privateigentum. „Aber diese Welt des Lichts, der unbeschwerten Freude, des einfachen und glücklichen Lebens – präzisiert Caillois weiter – ist gleichzeitig eine Welt der Finsternis und des Schreckens... das Zeitalter der üppigen und wirren Schöpfungen, der abscheulichen und exzessiven Erscheinungen.“

Die Aktualität der Barbarei, wenn wir sie denn so nennen wollen, liegt darin, dass sie uns weder dazu einlädt, zu massakrieren, zu foltern oder abzustechen, noch, uns eine egalitäre und glückliche Gesellschaft vorzustellen. Mit der Explosion ihres Zorns schlägt die Barbarei uns vor, uns mutig dem gefährlichen Teil von uns selbst anzunehmen, einschließlich dem unannehmbaren und anti-sozialen. Seit unserer Geburt wurden wir in ein ethisch-chirurgisches Gesellschaftssystem getaucht, das darauf abzielt, ein Maximum an Amputationen an uns vorzunehmen, um ein Maximum an Ordnung zu erreichen. Indem wir uns der Barbarei stellen, tun wir nichts anderes, als die grundlegende Frage nach unserer Fülle zu beantworten.

Wir sollten uns nicht mehr auf Vergebungen und besondere Gunst verlassen. Man kann dem Chef des Fegefeuers kein Lösegeld mehr zahlen und auch dem Höllenwärter nicht mehr die Hände einölen; es gibt kein Paradies mehr, in dem wir im Voraus Plätze reservieren können.

René Daumal

Die Welt, in der wir leben, ist ein Gefängnis, dessen Sektoren Arbeit, Geld und Ware genannt werden und dessen Hofgang die Sommerferien sind. In dieser Gefängniswelt wurden wir geboren und haben wir schon immer gelebt. Sie ist folglich das einzige, was wir kennen. Sie ist gleichzeitig unser Albtraum und unsere Sicherheit. Und trotzdem. Wie jeder Gefangene weiß, hat unser Herz schon zigtausend Mal die Schritte gezählt, die uns von der Umfassungsmauer trennen, um dann die Anzahl Ziegelsteine zu zählen, die erklettert werden müssen. Wie jeder Gefangene weiß, spähte unser Blick schon zigtausend Mal nach jener subtilen Horizontlinie, die den Stacheldraht vom Himmel abgrenzt, um dann über die Formen und Farben zu fantasieren, die sich dort erahnen lassen. Aber was dort ist, jenseits dieser Umfassungsmauer, das wissen wir nicht. Vielleicht eine wunderbare Landschaft. Vielleicht ein gefährlicher Dschungel. Vielleicht beides. Jede Mutmaßung diesbezüglich kann nur ein Schwindel sein. Sicher gibt es dort die Freiheit, was auch immer sie sein mag. Einmal erobert, liegt es an uns, sie zu erhalten und zu genießen. Genauso liegt es an uns, wenn wir es vorziehen, sie wieder aufzugeben, aber erst, nachdem wir sie gekostet haben.

Heute ist mehr denn je die Zeit der Verachtung. Der Gedanke, dem alltäglichen Leben entfliehen zu können, ist Irrsinn. Und zudem würde doch ein einsamer Entflohener schlussendlich ein tristes Leben fristen. Der Wille, das Gefängnis wirklich zu zerstören, um alle zu befreien, ist Barbarei. Mit welchem Recht mischen wir uns in das Leben anderer ein? Und trotzdem. Trotzdem gibt es einen Punkt, wo die Verzweiflung und die Angst ins Schleudern geraten, da sie nur unvollständige und provisorische Perspektiven bieten. Sie schlagen in die Entschlossenheit um, sich selbst zu sein, als Individuum, ohne Verzögerung; Mittel und Ziele auf die gleiche Ebene zu stellen und die Souveränität der Revolte auf Nichts zu begründen. Wenn wir diesen Punkt erreichen – falls das nicht bereits der Fall ist –, werden wir dann wissen, was zu tun ist? Oder werden wir einfach kehrt machen, um zu dem zurück zu laufen, was wir nur allzu gut kennen?

 

[1] Das italienische Wort ragione kann zugleich Grund und Vernunft bedeuten. ragionare kann nachdenken sowie argumentieren bedeuten. Diese mehrdeutige Lesart, mit der in diesem Text oft gespielt wird, geht in der deutschen Übersetzung leider verloren.

[2] Im Italienischen eine Anspielung auf proposito (Vorhaben, Projekt).