Titel: Die soziale Gesetzgebung
Datum: 1924
Bemerkungen: Aus: Die Internationale. Organ der Internationalen Arbeiter-Assoziation. 1. Jahrg. Juni 1924 Nr.2. S.18-23

Als Saverio Merlino auf dem so übel beleumundeten sozialistischen Kongresse in Paris 1889 frank und frei der Meinung Ausdruck gab, daß die Tatsache, daß auf der Tagesordnung „Die Arbeitergesetzgebung" als Thema figuriere, ein Zeichen dafür sei, daß der Kongreß kein sozialistischer sei, waren es die Magnaten der internationalen Sozialdemokratie, die Bebel, Lafargue, Vaillant, Iglerias, Mesa, Adler, Anseele, die zum Himmel aufschrien und bei den niederträchtigsten Beleidigungen gegen unsern Kameraden anlangten. Aber seine Behauptungen bleiben bestehen und überall dort, wo wirklich revolutionäres Leben sich zeigt, ist die soziale Gesetzgebung verdammt als Antisozialismus. Auf diesem selben Kongreß, der im Zeichen des Triumphes der Sozialdemokratie stand, eines Triumphes, der 1896 in London mit endgültigem Ausschluß der Anarchisten von den Kongressen des gesetzlichen und parlamentarischen Sozialismus gekrönt wurde, führte William Morris den Delegierten das Beispiel der englischen Bourgeoisie vor Augen, die es versuchte, der anschwellenden revolutionären Gefahr durch das sichere Werk à la Bismarck und einer neuen Form von Produktionsgenossenschaften zu begegnen, die die ersten entschieden revolutionären Genossenschaften ersetzen sollten. Dennoch: der Kampf für die Arbeitergesetzgebung wurde auf diesem Kongresse angenommen, auf dem unter andern auch die Stimme eines Domela Nieuwenhuis gegen die Lügen des Parlamentarismus und die Illusion des Reformismus sich hören ließ.

Eine Tat, wie die soziale Gesetzgebung, die einen Bismarck zum Vater hatte, eine Tat, die die Bourgeoisie aller Länder gegen die Arbeiterklasse anwendete und in der die Regierungen im allgemeinen wetteiferten, um vermittels ihrer gesetzlichen Mittel das Glück der Arbeiterschaft zu errichten, eine derartige Tat hätte den Reformisten, die vorgaben, im Namen des Sozialismus zu sprechen die Augen öffnen sollen. Das war aber nicht so. Die Stimme der Antiautoritären ist durch die Wahlerfolge der Sozialdemokratie und durch die Regierungsreaktion für einige Zeit unterdrückt worden. Und wenn es auch wahr ist, daß sie in keinem Lande ganz verstummte, so ist es ebenso wahr, daß ein großer Teil der Arbeiterschaft sich von Abenteuern parlamentarischer Kämpfe und jenem unglücklichen Glauben an ein Glück ins Schlepptau nehmen ließen, das von Staatswegen her diktiert werden sollte. Die sozialdemokratische Taktik und Ideologie hat zur Einschläferung und Passivität der arbeitenden Massen mehr beigetragen als alle ausdenkbaren Unterdrückungsmittel der Reaktion. Wieviel bittere Erfahrungen hätten vermieden werden können, wenn man im Jahre 1889 auf die kategorische Forderung Merlinos gehört hätte!

Man könnte annehmen, daß die Arbeiter aus vierzig Jahren Parlamentarismus der Arbeiterschaft etwas gelernt hätten und nun endlich diesem falschen Weg den Rücken kehren würden. Aber wir sehen im Gegenteil, daß in allen Ländern Sozialdemokraten und reformistische Führer in höchste Regierungsstellen hineingelangen und in ihren Händen das Steuer des kapitalistischen Staates halten, trotzdem aber nicht das Vertrauen der Arbeiterschaft verlieren. Die Geschichte selbst bietet der Welt zahlreiche Beispiele dafür, wie berechtigt unsere Befürchtungen gewesen sind. Wir und unsere Vorkämpfer haben von jeher die Reaktion in der Autorität gekennzeichnet, gleichgültig in welcher Form oder unter welchem Namen sie auftritt; wir haben auf die Gefahr des autoritären Sozialismus hingewiesen und haben gezeigt, daß er sich kaum von den bestehenden Systemen der Reaktion und des Konservativismus unterscheidet; die Reformen und Schutzgesetze für die Arbeiterschaft haben wir entlarvt als das, was sie sind: Ausdruck der Sklaverei des Staates und der Habsucht der bürgerlichen Klasse.

Ueberall sehen wir dasselbe Beispiel; in Rußland, Deutschland, Dänemark, England usw. haben Regierungsmänner im Namen des Sozialismus und der Arbeiterschaft in schändlicherer Weise gewirkt, das Elend des Proletariats wie seine Sklaverei aufrecht zu erhalten und die Privilegien der herrschenden und besitzenden Klasse zu restaurieren und zu festigen als selbst die Staatsmänner des alten Regimes.

Man sollte meinen, daß das Proletariat doch nun endlich verstünde, wo die Gefahr liegt, denn es ist offenbar, daß die Reaktion dieselbe, daß die Ursache des Uebels dieselbe und die gleiche ist unter jeder Regierungsform: diese Ursache ist die Autorität, diese Ursache ist der Staat. Dennoch: das hat man noch immer nicht verstanden. So wie die Völker, die während des Weltkrieges einander niedermachten im Interesse ihrer industriellen und politischen Cliquen, ihre tragischen Erfahrungen vergessen haben und wenn man sie aufrufen würde, morgen in ein neues Morden hineinrasten, in derselben Weise schließen sie die Augen gegenüber den Lektionen einer so bezeichnenden Realität und horchen mit großer Aufmerksamkeit auf alle Lügen, die nur den Zweck haben, alle Dinge und Ereignisse zu verschleiern.

Die russischen Diktatoren waren einmal die Unschuldigen während der Blockade und dieses Schlagwort wurde in geradezu religiöser Weise von dem unterdrückten Volke hingenommen; wem die Kommunisten heute die Schuld an dem Elend und der Knechtschaft der russischen Arbeiter zuschieben, wissen wir nicht. Die deutschen Sozialdemokraten schoben die Schuld an der elenden Lage des Landes auf Poincaré und das Volk hoffte geduldig auf die von den Nachfolgern der Hohenzollern verheißene Zeit – und folgte den Befehlen seiner Gewerkschaftsführer und Parlamentarier. Und so kann man sagen, je mehr die Staatsgewalt sich in den Händen autoritärer Sozialisten befindet, um so mehr enthüllt sich eine alte Wahrheit, die ausschließlich von Anarchisten und Syndikalisten proklamiert wurde: Es ist kein wesentlicher Unterschied zwischen einem Staat der Linken oder einem Staat der Rechten. Autorität bleibt immer Autorität und ruft hervor Sklaverei und Elend, Privilegierte und Enterbte, und die Enterbten sind immer die Arbeiter.

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit das zum ersten Male ausgesprochen wurde, und zwar nicht ohne tiefe Kenntnis der Tatsachen. Was fehlte, war die brutale Realisation, die dem Kriege nachfolgte. Trotz allem: große Massen der Opfer schleppten passiver- oder atkiverweise, stillschweigend oder nachdrücklichst den Triumph wagen der Despoten und erhofften Jahrhunderte hindurch, daß Freiheit und Wohlstand ihnen vom Himmel des Staates in den Schoß fallen sollten wie seinerzeit das biblische Manna.

Es wird immer ersichtlicher, daß im gesellschaftlichen und historisehen Leben zwei entgegengesetzte Pole existieren, die je nach den Umstünden eine größere oder geringere Anzahl menschlicher Wesen anziehen: Die Autorität und die Freiheit. Einen Mittelweg suchen zu wollen oder danach trachten, etwas zu erreichen, das weder dem einen noch dem andern Pole zugehört, bedeutet die Quadratur des Zirkels suchen. Auch ist es gewiß, daß die Revolution nur vermittels der Freiheit möglich ist und Autorität die Revolution immer erdrücken und strangulieren muß. Mit diesem historischen Fatalismus rechnen wir, auch der größte aller Optimisten würde ihn nicht außer acht lassen können. Seit langem schon gibt es Anhänger der Freiheit und Anhänger der Autorität; die ersteren sind Revolutionäre, die anderen sind es nicht, auch wenn sie guten Willens sind. Und hier wäre ein Propagandawerk ersten Ranges: Klärung der Lügen und Sophismen der autoritären revolutionären Gebärde. Viele, sehr sehr viele Arbeiter sind von einem Geist des Kampfes und von revolutionären Wünschen beseelt, aber sie ahnen nicht, daß sie auf dem Wege der Autorität nur dahin gelangen, die Sklavenketten immer aufs neue zu schmieden!

Wenn es unserer Propaganda gelingt, sie zu überzeugen, daß Staat, Freiheit und Wohlstand der Arbeiterschaft so wenig zusammen passen, wie Wasser und Feuer, daß oder Sozialismus, den man als autoritär bezeichnet, kein Sozialismus ist, sondern Reaktion, dann können wir den Endkampf gegen die alte Gesellschaftsordnung für gewonnen betrachten.

Wir sprechen von Reaktion in demselben Sinne wie Bakunin, als er die Gefahr für die Zukunft im Bismarckismus und Marxismus aufdeckte, denn für uns bedeutet Reaktion nichts anderes als eine Stärkung jener Ideen, die die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen stärken und erhalten. Und in diesem Sinne betrachten wir die soziale Gesetzgebung, die in Ländern wie Deutschland und die Schweiz so fest begründet und in der Sowjetrepublik so geschätzt ist, gleicherweise reaktionär und antisozialistisch wie den faschistischen Terror, oder für reaktionärer, denn der faschistische Terror stützt sich auf Furcht, die soziale Gesetzgebung aber ist nur mit Hilfe der Arbeitermassen durchzuführen und pflegt von denselben betrachtet zu werden als ein direkter Vorteil, ja als in gewisser Weise revolutionär. Hieraus erklärt sich, warum die autoritären Sozialisten noch immer Millionen Anhänger haben, die so den Reformismus unterstützen; sie glauben, daß Reformismus der Reaktion entgegengesetzt sei und argwöhnen gar nicht, daß die Bourgeoisie und die Regierungen aller Länder nichts anderes zu tun wünschen, als Reformen und soziale Gesetzgebungen à la Bismarck zu erlassen, um so die Revolution hinzuhalten.

Eine ernsthafte Studie über die reaktionäre Bedeutung der sozialen Gesetzgebung bringt uns ganz von selbst dazu, zu wiederholen, was seit Bismarck bis zum heutigen Tage schon soundsoviele Male ausgeführt wurde über Parlamentarismus, über die Illusion der Demokratie und die Lüge einer Regierung aus dem Volke für das Volk. Dieses Thema erforderte viel Platz und könnte in einem Artikel den, noch nicht erschöpft werden; begnügen wir uns mit einem praktischen Beispiel, von unserm Gesichtspunkte aus gesehen.

In Argentinien, einem Lande, in dem die Allheilmittel marxistischer Ideologen niemals großen Anklang gefunden hatten, erhob sich vor einigen Monaten eine gewaltige Bewegung gegen das Projekt einer Arbeiter-Altersversicherungsgesetzgebung. In Buenos Aires erklärten verschiedene Zweige der Industrie den Streik, 20 000 Arbeiter protestierten gegen jenes Gesetz. Die Regierung, die die Ausbreitung des in der Hauptstadt ausgebrochenen Streikes vermeiden wollte, vertagte das Gesetz um 70 Tage mit der Vorgabe, verschiedene Aenderungen aufzunehmen, wie zum Beispiel die Berechtigung für Ausländer, das in die Altersversicherung eingezahlte Geld bei der Rückkehr in ihre Heimat wieder ausgezahlt zu bekommen. Aber die Arbeiterklasse Argentiniens, inspiriert von einem traditionellen freiheitlichen Geist, wandte sich gegen die Anerkennung besagten Gesetzes wie sie sich dagegen wendete, freien Menschen neue Ketten anzulegen. Beinahe spontan brach in allen Teilen des Landes der Generalstreik aus. Die Arbeiter lehnten die soziale Gesetzgebung ab und die Regierung bestand darauf, sie einzuführen. Das Resultat dieses gegenwärtigen Kampfes mag ausfallen, wie immer es sei. Eines ist gewiß, das Gesetz der Arbeiteraltersversicherung wie jede andere versklavende Reform wird immer den lebendigsten Widerstand im Proletariat dieses Landes finden. Hier sehen wir eine geistige Einstellung, die sich sehr unterscheidet von dem, was die Propaganda des autoritären Sozialismus in den meisten Ländern Europas hervorrief. Während in Deutschland und Rußland beispielsweise derartige Gesetze von breiten Massen als Vorteil betrachtet werden und Sozialdemokraten und Kommunisten sie als ein Ideal hinstellen, lehnen die Arbeiter Argentiniens sie ab, bekämpfen dieselben mit allen Waffen der direkten Aktion und bringen alle Mittel in Anwendung, die Regierung zu veranlassen, solche Gesetze zurückzunehmen, genau mit derselben Entschlossenheit und demselben revolutionären Geiste, mit dem sie im Jahre 1910 den Erlaß von Ausnahmegesetzen gegen anarchistische Propaganda bekämpften. Alle, die ihre Augen nicht verschließen wollen, können in dem Beispiel Argentiniens wie auch an dem vielleicht schon vergessenen Beispiele Bismarcks eine Enthüllung des Wesens der sozialen Gesetzgebung erblicken: die Arbeiter lehnen sie ab und bekämpfen sie. Die Regierung bemüht sich, sie einzuführen. Ist es möglich, zu glauben, daß dann, wenn die soziale Gesetzgebung nicht vorteilhaft für die bestehende Gesellschaftsordnung wäre, die argentinische Regierung ein Interesse daran hätte, dieselbe gewaltsam mit allen polizeilichen Unterdrückungsmaßnahmen einzuführen? Ist es möglich, sich auszudenken, daß die Regierung für das Wohlergehen der Arbeiterschaft sich einsetzen würde und Gewalt anwendete, um diesen ihren humanen Zweck zu erreichen? – Nein! Die argentinische Regierung, die sich unter dem Druck ihrer internationalen Gläubiger in einer kritischen finanziellen Lage befindet, sucht in dem Gesetz der Arbeiteraltersversicherung eine Einnahmequelle, die viele dringende Schwierigkeiten zu lösen imstande ist. Daher kommt ihr Interesse, ein solches Gesetz einzuführen. Die soziale Gesetzgebung à la Bismarck hatte ebenfalls dem deutschen Staate eine laufende Rente verschafft. Vielleicht war es dieses Beispiel, an das die argentinischen Gesetzgeber dachten, um so der Gefahr des drohenden Bankerottes begegnen zu können.

Sind wir gegen praktische sofortige Verbesserungen? Durchaus nicht! Wir dürfen sagen, daß wir, trotzdem wir gegen den gesetzgeberischen Schwindel und die Sophismen sozialer Gesetzgebung sind, die einzigen sind, die neben dem Kampf für das Wesentliche der Revolution für sofortige Verbesserungen eintreten. Frisch im Gedächtnis ist der Verlust des Achtstundentages, dieses immer vorgeschobenen Ruhmes der Sozialdemokratie, dessen Verlust nun von derselben Sozialdemokratie sanktioniert wurde. Die IAA. hat von Zeit zu Zeit ihren Alarmruf für die Verteidigung des Achtstundentages hören lassen, weder Amsterdam noch Moskau gaben Antwort. Und in jenen Ländern, in denen die autoritären Sozialisten Millionen von Anhängern zählen, in denen das Staatssteuer sich in ihren Händen befindet, wurde der Achtstundentag dem Ehrgeiz der großen Kapitalisten als Brandopfer gebracht. Und Kämpfe, die in verschiedenen Orten Deutschlands von unsern Kameraden für den Achtstundentag eingeleitet wurden, wurden von Arbeiterorganisationen sabotiert, die gehorsam auf die Stimme jener Führer horchten, die immer die Eroberung praktischer Vorteile gepredigt und uns als Utopisten, Träumer und Romantiker einer fernen Zukunft hingestellt hatten. Ja, wir erstreben eine Zukunft (sei sie weit oder nah) der Freiheit und Gleichheit, aber wir leben und kämpfen in der alltäglichen Wirklichkeit. Würden wir auf eine Wage legen können, was das Proletariat an praktischen Tageserfolgen den autoritären Sozialisten verdankt, die sich damit beschäftigten, Gesetze zu erlassen oder Gesetzesprojekte auszudenken und auf der anderen Seite das, was unseren Aktionen zu verdanken ist, so müßten wir konstatieren, daß nicht in den Parlamenten, sondern in den revolutionären Kämpfen die kleinen Vorteile errungen wurden, die das Proletariat dem Mittelalter gegenüber besitzt. Ja, auch wir kämpfen für sofortige Verbesserungen, aber wir schätzen jene Mittel nicht, die bezeichnend sind durch Aufgabe der Initiative der arbeitenden Massen selbst, die Aufgabe der eigenen Aktion und die Aufgabe der Zukunft für bloße Reformen, die wesentlich nichts an der Lage der Produzenten ändern. Die soziale Gesetzgebung ist ein wunderbares Mittel, die Arbeiter in ständiger Lethargie zu halten und die Arbeiter Argentiniens haben recht, daß sie sich genau wie damals gegen das Ausnahmegesetz gegen revolutionäre Propaganda, mit aller Macht gegen die Einführung einer derartigen Gesetzgebung stemmen. Der Tag wird kommen, an dem auch die deutsche Arbeiterschaft einsehen wird, daß aus demselben Grunde, aus dem sie 1920 Kapp und Lüttwitz durch den Generalstreik bezwang, eine bismarckianische und marxistische Gesetzgebung, die sich soziale und Arbeitergesetzgebung nennt, niederzuringen ist. Und dieser Kampf bedeutet gleichzeitig Kampf gegen die Verteidiger solcher Gesetzgebung, welche immer die Regierungsmänner sind, die einen Wall gegen die Revolution aufbauen wollen: es bedeutet den Endkampf gegen den Staat an sich, gegen das Prinzip der Autorität.