Die soziale Revolution und der Anarchismus
I.
Schon öfter haben wir in Versammlungen die Frage aufwerfen hören, ob es wohl möglich sei, da die anarchistische Idee noch verhältnissmässig wenig Wurzel gefasst habe, durch die kommende Revolution eine anarchistische Gesellschaft zu gründen, oder ob man sich erst durch den Volksstaat hindurch zu winden haben werde?
Was das “Hindurchwinden” anbelangt, so kann dasselbe immer nur wieder ein gewaltsames sein, eben so wie wir uns des jetzt herrschenden Systems nur durch die Gewalt entledigen können; denn wie jeder andere Staat, so setzt auch der Volksstaat eine Regierung und zahlreiche andere Aemter voraus, welche natürlich — von den “Besten und Fähigsten” besetzt werden. Die Anarchisten werden also einer neuen Aristokratie gegenüberstehen, welche in ihnen, da sie das sich einmal gesteckte Ziel— nämlich: die Vernichtung jeder Autorität — ununterbrochen verfolgen werden und verfolgen müssen, ganz energische Feinde finden wird. Diese aber, einmal in ihrem langersehnten Lieblingsplätzchen angelangt, werden dasselbe nicht so ohne Weiteres aufgeben, sondern es mit allen Mitteln zu erhalten und ihre Feinde auszumerzen suchen. Sehen wir doch heute schon wie sie (die “Besten und Fähigsten”) von Ehrgeiz und Herrschsucht durchfressen, ihre Bannflüche schleudern gegen die Widerspenstigen, die es wagen, auf eigenen Füssen zu stehen, gegen diejenigen, welche endlich einmal die Drähte durchschneiden, an denen sie seither wie Puppen geleitet wurden.
Die Staatsconstruction an und für sich macht schon ein Büttelthum nöthig — denn was nützen Gesetze ohne die zu deren Handhabung nöthigen Wächter? — die Anarchisten haben somit mit einer Macht zu rechten, gegen welche sie eine neue Agitation entfalten und sich zu neuem Kampfe rüsten müssen.
Wir haben deshalb alle Anstrengungen zu machen, unsere Ideen durch den nächsten Kampf zu verwirklichen. Diese Handlungsweise allein stempelt uns auch nur zu Anarchisten, weil ja fast allen Sozialisten das Vernunftreich, wie es unsere Philosophen ausmalten, für die ferne Zukunft vorschwebt; sie halten aber die jetzt lebende Generation für unfähig eine freie Gesellschaft zu gründen und sind der irrigen Meinung, es könnten durch neue Gesetze und Regierungsformen freie Menschen herangebildet werden. Wir aber sind der Ansicht, dass nur auf einer freien Grundlage die Freiheit gedeihen kann, dass nur in der Freiheit die Menschen sich frei entwickeln können, während unter Regierungen, Gesetzen und Vorschriften, hervorgegangen aus Majoritätsbeschlüssen, die Menschen nie anders handeln lernen werden, als gesetz- und vorschriftsmässig, oder sich doch nur sehr mühsam und vereinzelt von den ihnen beigebrachten Vorurtheilen befreien und zu selbstständigem Denken und Handeln emporschwingen können.
In dem Streben nach der Verwirklichung unserer Ideen kommt uns aber die Volksmasse ganz unwillkürlich zu Hilfe; denn heute schon können wir bei den öfter vorkommenden Aufständen wahrnehmen, wie die Arbeiter Requisitionen von Lebensmitteln etc. vornehmen. Geschieht dies auch gewöhnlich noch in einer plumpen, unsystematischen und unzureichenden Weise, so ist es doch der erste Schritt auf dem Wege zur freien Consumtion; durch welche das Eigenthum abgeschafft und das Geld (das Ausbeutemittel) ausser Cours gesetzt wird. Wir haben sie daher in diesem Vorgehen zu unterstützen und ihnen die nöthigen Anleitungen zu geben. Es sollten sich nämlich Revolutionsheere bilden, welche den Lebensmittelverkehr zwischen Stadt und Land befördern, die Landprodukte für die Städte requiriren und den Landbewohnern alle nöthigen Industrieprodukte aus den Städten übermitteln. Am Platze selbst requirire Jeder, was er nöthig hat und behandle denjenigen, der ihm hierin hindernd entgegentritt, als Feind der Revolution.
Die Expropriation der Produktionsmittel, welche durch die freie Consumtion ihren anarchistischen Charakter erhält, d.h. dadurch dass man die durch dieselben erzeugten Produkte zur freien Verfügung der Gesellschaft stellt, wird dadurch vollzogen, dass man die Ausbeuter, als solche, über die Klinge springen lässt und für den nöthigen Bedarf der Produkte weiterproduzirt.
Soviel wir die Geschichte kennen, ging die Initiative, eine Exekutive einzusetzen, nie von der unteren Volksmasse aus, sondern es waren immer solche Individuen, welche entweder aus ihrem Eigenthumsinteresse, oder in der Hoffnung, selbst Aemter zu erhaschen, vorpredigten: Ihr habt einen Ausschuss oder eine Dictatur — und wie die Dinge alle heissen — nöthig; denn ohne stramme Disziplin würde Alles von unterst zu oberst gekehrt; schreitet schleunigst zur Wahl u.s.w. Wo der revolutionäre Geist einmal vollständig in der Masse erwacht war, wo sie von demselben durchdrungen waren, da handelten sie. Sie handelten individuell, wo dies am Platze war und in Masse, wo sie die Macht der Verhältnisse zusammendrängte; sobald sie sich aber unter Autoritäten stellten, legten sie sich den Hemmschuh an, welcher es der Reaktion ermöglichte, sie zu überholen und von Neuem in Ketten zu schlagen.
Wie es also unsere Aufgabe ist, die Masse zum Handeln aufzumuntern, so müssen wir auch alle Centralisations-Bestrebungen und Regierungsvorschläge aufs Energischste bekämpfen. An Stelle der Autorität, der Dictatur von oben, haben wir den Terrorismus von unten zu setzen. Wir können eine Dictatur ebensowenig anerkennen wie der Atheist die Unfehlbarkeit des Papstes, und wäre es nur aus dem einen Grunde, weil die Träger und Anhänger die Dictatur auch nach der Revolution aufrecht zu erhalten suchen würden, was die bereits oben angeführten Folgen nach sich zöge.
V.
II.
Die Behauptung, welche man fortwährend aufstellt: dass, um der Militärmacht wie sie uns heute gegenübersteht zu widerstehen, nur ein combinirtes Vorgehen (die centralistische Organisation) von Erfolg für uns sein könne, ist nicht stichhaltig; denn hätten wir wirklich den Kampf mit der ganzen Militärmacht aufzunehmen, so könnte uns die centralistische Organisation nicht allein nichts nützen, sondern sie würde im Gegentheil uns dem sichern Untergänge entgegenführen. Wollte man sich nämlich dem Feind in geschlossenen Colonnen gegenüberstellen, so könnten in erster Linie nur die zu solcher Kampfes weise am besten geeigneten Waffen ausschlaggebend sein. Da wir uns aber voraussichtlich dieselben nicht in genügender Weise verschaffen werden können, so wäre schon aus diesem Grunde der Gedanke an ein solches Vorgehen der reine Wahnsinn, weil man uns einfach wie die Hasen zusammenschiessen würde. Es wäre dann am allermeisten geboten autonom vorzugehen und nämlich so: dass jeder Arbeiter seinen Mann aus der herrschenden Klasse — für welche ja das Militär kämpfen soll — aufs Korn nähme, um dieselbe mit Stumpf und Stiel auszurotten und so den Militarismus unmöglich zu machen, ihn als blosse Illusion hinzustellen. Nun ist aber gar nicht anzunehmen, dass, solange das Militär auf Seiten der herrschenden Klasse steht, die Revolution überhaupt zum Ausbruch kommen kann; denn dann wäre der revolutionäre Geist noch nicht tief genug in die Volksmassen eingedrungen, weil ja die Soldaten nicht Fremdlinge sind, sondern Söhne des Volkes; sie leiden mit diesem unter demselben Druck, welcher für die Meisten durch ihre Dienstzeit noch unerträglicher wird. In Folge dessen müssen sie ebenfalls das revolutionäre Gift einsaugen und zuletzt auf Seiten des Volkes stehen.
In mehreren Ländern fehlt es heute schon nur noch an dem auf beiden Seiten zum Losschlagen nöthigen Vertrauen, was seinen Grund in dein Mangel an persönlichem Verkehr zwischen den aktiven Soldaten und dem Volke hat. Das Volk kennt nicht genau die Stimmung unter dem Militär und ebensowenig ist letzteres genau von der Stimmung des Volkes unterrichtet. Beide Theile können sich gegenseitig ihre Stimmung nur kundgeben und somit das gegenseitige Vertrauen herstellen durch Thaten.
Schafft das Volk einmal einen Ausbeuter um den andern, einen Büttel um den andern auf die Seite, so wird es das Vertrauen des Militärs gewinnen; ebenso wird das bisherige Misstrauen des Volkes gegen die Soldaten schwinden, wenn diese einen ihrer Befehlshaber nach dem andern hinwegfegen. Der Anfang in dieser Beziehung ist bereits gemacht, mögen die Fortsetzungen in kurzen Zwischenräumen folgen. Lassen wir aber das hier Gesagte ganz ausser Acht und nehmen wir an, die Centralgewalt liesse sich nach dem Kampf mit Leichtigkeit beseitigen. Wer bürgt uns dafür, dass sich nicht Verräther derselben, bemächtige, Kreaturen der herrschenden Klasse, welche, vielleicht im Besitz von strategischen Kenntnissen, um so leichter das Vertrauen der Massen gewinnen werden, um im gegebenen Moment die Revolution ans Messer zu liefern? Sehen wir doch, wie heute schon solche Kreaturen als Keile benutzt werden, um sie in unsere Reihen zu treiben; und wissen wir auch aus Erfahrung wie schwierig es ist sie zu entlarven.
Es ist einem Volke nie möglich immer gerade die Fähigsten herauszufinden und an die richtige Stelle zu setzen. Die Geschichte beweist uns leider nur zu oft das Gegentheil; sie zeigt uns auch, wie durch die Strebereien und Eifersüchteleien der "Prominenten," dadurch dass jeder "Hahn im Korbe" sein wollte, oft die gute Sache verloren ging. So scheiterte der Sklavenaufstand unter Spartakus, weil ihm ein Rivale erstand; so fielen die Hebertisten, deren Sturz mit dem Triumphe der Reaktion identisch war; so scheiterte die süddeutsche Mairevolution, wo Dummköpfe und Verräther in Gemeinschaft die Centralgewalt inne hatten.
So sehen wir wie der Centralismus nach allen Seiten hin seine tödtlichen Stacheln herausstreckt, an denen sich die Freiheit endlich verbluten muss.
Wenn wir übrigens die einfachen Worte Lieske’s: "Werft doch Dynamitbomben!" welche alles philosophiren in den Hintergrund stellen und welche uns auf unsere Kraft hinweisen, beherzigen und darnach handeln, so wird ein centralistisches Vorgehen zur Absurdität, mögen wir gegen Militär zu kämpfen haben oder nicht. Es wird somit einzelnen Individuen unmöglich, Armeen oder Nationen unter ihr Commando zu bekommen.
Wird dann auch nach dem Kampfe die ganze Gesellschaft nicht mit einem Male eine anarchistische werden, so wird doch wenigstens der Grundstein zu einer solchen gelegt; denn nur darin liegt die Quintessenz des Anarchismus, dass es einer jeden Gruppe oder Gemeinde überlassen bleibt, sich nach eigenem Gutdünken zu organisiren; was aber in einem Volksstaate undenkbar.
Y.