Die kommende Empörung
Seit einigen Monaten bereits kann man die Bewegung der sogenannten „Empörten“ oder „echten Demokratie“ in mehreren Ländern Europas aufkommen sehen.
Hier wie sonstwo gab sie Anlass für diverse konditionierte Reflexe, Fallen und Hürden, die die „sozialen Bewegungen“ im Allgemeinen betreffen: zunächst der Fetischismus der Praktiken (wie die Platzbesetzung, das Sit-In, die Happenings oder die Kundgebung, und nun der Marsch[1]…) und die strikte Beschränkung der Bewegung auf diese Praktiken, dann die demokratische Grundhaltung (der religiöse Respekt und der Vorrang, der den kollektiven Entscheidungen gegeben wird, die in Versammlungen getroffen werden, welche “die Bewegung repräsentieren”), der „bürgerliche Nihilismus“ (bornierter Respekt vor den Gesetzen, der Abstimmung, den vom Staat gegebenen „Rechten“ und den von ihm verlangten Pflichten) und die dogmatische “Gewaltlosigkeit” (die soweit geht, dass sogar Polizeigewalt gegen jene, die sich diesem Dogma widersetzen, verteidigt wird) und folglich die hegemonistische Haltung (die Kontrollergreifung der Bewegung durch eine ihrer Fraktionen) und vor allem: die Abwesenheit einer revolutionären Perspektive und die Einkapselung in abstrakten und reformistischen Forderungen. Weit fern davon, eine revolutionäre Aufwallung oder eine authentische spontane Revolte darzustellen, ist diese Bewegung der Empörten vielmehr Teil der Befriedung jeglicher wirklichen Auflehnung (daher die Zurückweisung der direkten Aktion), der Militarisierung des Staates (die im Ausland geführten Kriege und die Verstärkung der Repression im Innern, deren Verschweigung durch die „Empörten“ mehr als suspekt ist) und des Anwachsens des Faschismus in der Gesellschaft, insbesondere durch ebendiese Bewegung.
Die Krise als Befriedung
Die europäischen Regierungen, all ihre Tendenzen bunt durchmischt, von der sozialdemokratischen Linken bis zur reaktionärsten Rechten, benutzen das Argument der Krise schon seit mehreren Jahren, um jegliche Anwandlung von Protest zu betäuben. Auf der einen Seite gibt es die Erklärung der Regierungen, die jene des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ist: die Krise sei eine Art metaphysisches Phänomen, das sich selbst die Ökonomen nicht erklären können, eine Art Naturkatastrophe, die es mit Hilfe von Reformpolitik und Sparplänen einzudämmen und zu bekämpfen gilt. Als ob diese Krise nichts mit ebendieser Politik zu tun hätte, als ob sie das Resultat göttlicher Vorsehung wäre. Diese Argumentationsweise hat tatsächlich zum Ziel, die vom kapitalistischen System und seinen Staaten ausgelöste Krise zu benutzen, um die Sparpolitik durchgehen zu lassen, die ebendiese Krise impliziert, mit der einzigen Absicht, den Kapitalismus einmal mehr zurechtzubiegen. Die „Empörten“ hingegen, in ihrer großen Mehrheit bar jeglicher Klassenanalyse und jeglicher Kapitalismuskritik, betrachten die Krise und die Sparpolitik im Allgemeinen als Resultat einer Kaste von „Parasiten-Bankiers“ und eines „tentakelartigen Finanzimperiums“ oder einer „Neuen Weltordnung“, die die Kassen geleert haben sollen, als niemand hinschaute. Kurz: unnötig, sich über allzu komplizierte „politische Konzepte“ den Kopf zu zerbrechen: „Nieder mit der NWO [New World Order]“ ist viel mehr in, viel smarter und es fasst alles zusammen, ohne dass man überlegen müsste…
In beiden Fällen, und von der Bewegung der Empörten über Sarkozy bis zur neuen extremen Rechten, sie alle denunzieren schliesslich das „Scheitern der Banken“, von dem das kleine Volk gerettet werden müsse, ein „Finanzkapitalismus“, der verrückt geworden sei und den es zu regulieren oder zu „säubern“ gilt, und die Mittelklasse als „Opfer der Krise“. Der Grund dieser Bankanalyse ist simpel: die soziale Zusammensetzung dieser Bewegung ist eben jene der geheiligten Mittelklasse (die sowohl von Sarkozy, den Sozialdemokraten als auch von den neuen Faschisten à la Soral umschmeichelt wird). Eine Klasse, die die Auswirkungen „der Krise“ noch kaum wahrnimmt, während die Mehrheit der Ausgebeuteten die Logik und die Lebensbedingungen des Kapitalismus seit jeher erfahren, die durch die Krise nur noch schlimmer wurden. Daher auch der Widerspruch zwischen dem “Pro-Revolutions”-Diskurs der Empörten bezüglich der arabischen Welt – wo, wie in Tunesien, die effektive Praxis, die vorherrschte, der Angriff auf die Symbole der Macht, die Konfrontationen mit der Polizei, die Plünderung von Supermärkten, Gefängnisaufstände und -brände und eine ganze Serie von Tatsachen waren, die von einer wahren Logik des Klassenkrieges und der revolutionären Guerilla zeugen, und eine Agitation, die, wenn sie auch als Erklärung dafür nicht ausreicht, im Fall mehrerer Regime eine unbestreitbare Rolle spielte, ebenso wie im Sinneswandel der Armee oder der Polizei, die den Boden unter ihren Füssen beben spürten – und dem Verhalten der selben „Empörten“ hier, die eine Sprayerei oder ein kleines eingeschlagenes Schaufenster eines Ladens oder einer Bank als „Gewalt“ betrachten.
Hinter der Kritik des Finanzkapitalismus: linker Populismus und Antisemitismus
Eben diese partielle Kritik der Banken, nicht als ein Zahnrad des kapitalistischen Systems, sondern als ein „Nest von Parasiten“, die eine phantasmenhafte „Realwirtschaft“ zerstört haben, und die die Banken als zentrales Problem betrachtet, öffnet dem alten antisemitischen Hirngespinst den Raum, jenem einer Verschwörung, die vermeintlich versucht, die Welt zu kontrollieren. Denn durch den Versuch, das System der Banken und der Macht der großen multinationalen Konzerne zu kritisieren, wenn auch nur teilweise, bläst die Bewegung der Empörten in einen typisch reaktionären und populistischen Diskurs und somit völlig an einer Kritik des Kapitalismus vorbei, sie festigt ihn sogar, indem sie die Rolle spielt, die man von ihr verlangt: diejenige eines strikt gewaltlosen Protestes, bar jeglicher kritischen Substanz, der schon durch seine Form selbst eine wirkliche Bewegung verhindert (in Form eines Generalstreiks oder eines Aufstands) und der die Debatte in der grossen Falle der „Bürgerdebatte“ nach rechts verlegt. Durch ihren selbst proklamierten „a-politischen“ Charakter völlig harmlos geworden, beteiligt sich die Bewegung der Empörten in Tat und Wahrheit an der Aufrechterhaltung der Ordnung durch ein Spektakel des Protestes in einer vagen „Anti-System“-Front, welche das Feld für liberale, populistische oder gar faschistische Vereinnahmungen frei lässt. Die obsessive Anprangerung der „Neuen Weltordnung“ wiederholt letztendlich den neuen Diskurs der extremen Rechten über die “vaterlandslose” Verschwörung gegen „die Völker und die Nationen“. Und dieser Diskurs, abgesehen davon, dass er nach Niederlage stinkt, ist schlichtweg faschistisch da nationalistisch und antisemitisch. Lassen wir uns nicht über’s Ohr hauen: wo die wirkliche Auflehnung verschwindet, schreiten die Reaktionäre voran.
EMPÖRUNG REICHT NICHT!
Es ist also kein Zufall, dass man in Frankreich unter den Organisatoren der „Bewegung der Empörten“ etliche Verschwörungstheoretiker findet, die in Verbindung mit rechtsextremen Bewegungen stehen, welche den Antisemitismus durch ihre Pseudo-Kritik an der Finanz theoretisieren. Das Konzept selbst des „Finanzkapitalismus“ war eines der zentralen Themen in der Propaganda der Nazipartei in Deutschland und der Faschismen in Europa, um einen inneren Feind zu konstruieren und das Nationalgefühl anzuregen. Auch das Thema der „Bürgerschaft“, das von den Empörten hoch gehalten wird, erneuert gleichermassen diesen konstanten Ordnungsruf, welcher die Anweisung bedeutet, nicht zu revoltieren, sondern höflich seine Empörung zu zeigen. Es ruht auf jener edelmütigen Hypothese, dass die Unterdrücker schliesslich aufgeben würden in Angesicht der Vernunft, die „vom Volk“ öffentlich und friedlich ausgedrückt wird. Dieses saint-simonistische Märchen schliesst jedoch all diejenigen aus, die eben nicht als Bürger betrachtet werden: die Sans-Papiers, die „Kriminellen“ und all diejenigen, die ausserhalb der bürgerlichen Legalität und Legitimät agieren. All die Unerwünschten, ausgebeutet per definitionem. Während sie behauptet, eine „echte Demokratie“ kreieren zu wollen, zentralisiert die Bewegung einzig die Entscheidungsmacht durch die Platzbesetzungsversammlungen und deren Auswüchse (wie die Kommissionen der „accampadas“ in Spanien), in der Hoffnung, die Revolutionen im Machrek und im Maghreb nachzuspielen (indem sie ohne tatsächliche Notwendigkeit und auf fetischistische Weise die sozialen Netzwerke wie Facebook benutzten). Die Empörten haben also nichts als einen Staat im Staat kreiert, einen Ersatz repräsentativer Demokratie und bürgerlichen Parlementarismus, in dem jeglicher Wille, sich basisorientiert zu organisieren und lokal zu handeln, schlichtweg verunmöglicht wurde, insbesondere als in Barcelona der Wille zur Spaltung während der Besetzung, für den zwar mehrheitlich gestimmt wurde, vom Podium der Besetzung zensiert oder als jegliche Debatte, die den gegebenen Rahmen verliess, schlichtweg sabotiert wurde. Oder wie in Athen, wo die Empörten dazu aufriefen, die Täter von „Gewaltakten“ zu denunzieren und sie der Polizei zu überliefern: womit sie staatliche Repression im Namen der Gewaltlosigkeit unterstützen! Indem sie in einer hohlen a-politischen Rhetorik, in einer autoritären und bürokratischen Entscheidungsfindung, in einem abstrakten Pazifismus und einer dogmatischen Gewaltlosigkeit gefangen bleiben, beteiligen sich die Empörten an der Aufrechterhaltung des Status Quo, während sie jegliche Teilnahme von Revoltierenden oder Revolutionären schikanieren und stattdessen den reaktionären Kräften den Weg öffnen, die bis anhin auf den öffentlichen Plätzen nichts zu sagen hatten. Die revolutionäre Perspektive zu Gunsten einer „Empörung in Bewegung“ aufzugeben, bedeutet den Strick zu flechten, an dem man uns aufhängen will.
Sich auf diese befriedete Empörung zu beschränken und sich auf „die Bankiers“ zu fokussieren (auch wenn diese letzteren, ebenso wie andere, ihre Verantwortung für die Ausbeutung und die miserablen Lebensbedingungen der Mehrheit der Menschheit tragen), bedeutet, nicht zu sehen, dass sich seit dem Beginn der „Wirtschaftskrise“ überall auf der Welt Revolten, Aufstände und revolutionäre Situationen ausbrachen, nicht nur gegen die Banken, sondern gegen den Kapitalismus, den Staat, die Regierungen, ihre herrschenden Klassen und ihre Bullen, ihre Gesetze, ihre Gerichte, ihre Gefängnisse und ihre Armeen. Es bedeutet, nicht zu sehen, dass die Sparpläne und die „Reformen des Steuersystems und des Bankensystems“ die Politik der selben Regierungen und der selben Bourgeoisie sind, die behauptet, Opfer der „Krise“ zu sein und tatsächlich am meisten davon profitiert, um ihre Wirtschaft und ihre Privilegien zu retten.
Die Wut muss in Handlung umgewandelt werden! Gegen den Kapitalismus, gegen den Staat: ES LEBE DIE SOZIALE REVOLUTION! Die Wirtschaft ist krank? SOLL SIE KREPIEREN!
Einige AnarchistInnen
[1] frz.: marche – Ausdruck für eine gewaltlose Demonstration, die darauf abzielt, die Aufmerksamkeit der Autoritäten auf ein Problem oder auf eine bestimmte Forderung zu ziehen.