Die flammende Revolte vom November 2005 in Frankreich und die insurrektionelle Hypothese

September 2010

      Falsche Fragen

      Und einige Antworten

      Befriedung und Revolte in Frankreich

      Eine generalisierte Revolte der Banlieus?

      Eine gemeinsame Sprache: die Zerstörung

      Affinitätsgruppen und Brandstiftung

      Der November 2005 und die Frage der Insurrektion

«Früher wussten wir für kleine insurrektionelle Aufruhre zu sorgen – und wir haben es auch tatsächlich getan –, die nicht die geringste Chance auf Erfolg hatten. Aber dazumal waren wir wirklich ziemlich wenige, wir wollten die Leute zur Diskussion verpflichten und unsere insurrektionellen Versuche waren ganz einfach Mittel zur Propaganda. Heute geht es nicht mehr darum, sich aufzulehnen, um Propaganda zu machen. Heute, da wir siegen können – und da wir es folglich wollen –, unternehmen wir nur Versuche, wenn wir denken, dass sie eine Chance auf Erfolg haben. Selbstverständlich können wir uns täuschen und, je nach Temperament, glauben, dass die Frucht reif ist, obwohl sie noch immer grün ist. Doch gestehen wir uns ein: unser Vorzug gilt jenen, die zu schnell vorgehen wollen gegenüber den anderen, gegenüber jenen, die stets warten wollen, jenen, die selbst die besten Gelegenheiten vorbeiziehen lassen und aus Angst, eine noch nicht genug reife Frucht zu pflücken, alles verfaulen lassen.»

E. Malatesta, in Umanità Nova, 6. September 1921

Wenn eine soziale Revolte von völlig ungewohntem Ausmaß gleich neben uns ausbricht, wie dies im November 2005 geschah, ist es oft so, dass uns präzise Worte fehlen. Leicht geraten wir ins Schwanken zwischen einer vom Enthusiasmus oder vom Willen nach unmittelbarer Agitation geleiteten reinen Verherrlichung und einer von der Angst oder den historischen Erfahrungen (ehrlicher gesagt, den Niederlagen der Vergangenheit) geleiteten ultrakritischen Distanziertheit. Wir wollen angesichts der Versuchung, den Geschehnissen vorschnell einen Stempel aufzudrücken, daran erinnern, dass eine Realität zu benennen, bereits bedeutet, sie zu reduzieren, und dass sie zu reduzieren, schnell bedeutet, sie zu verraten. So haben Revolutionäre oft die Neigung, den laufenden Revolten ihre Verlangen und ihre eigene Projektualität aufzudrücken, auf gleiche Weise, wie der Staat zum Beispiel Akte oder Personen je nach Abhängigkeit seiner Interessen als „terroristisch“ definieren kann. Die Sprache ist nicht nur bestimmt nicht neutral, oft dient sie auch dazu, das zu verhüllen, worum es bei der im Raum stehenden Frage eigentlich geht.

Sicherlich, wenn der Staat Kategorien von Revoltierenden aufstellt, dann tut er das, um sie besser isolieren und niederschlagen zu können, während die Anti-Autoritären hingegen, wenn sie eine im Gang befindliche soziale Explosion zu analysieren versuchen, dies oft angetrieben vom Willen tun, die Subversion auszuweiten. Auch wenn die Vorgehensweisen dieser beiden unversöhnlichen Feinde einander völlig entgegengestellt sind – was sowohl Ziele wie Ehrlichkeit betrifft –, weist das Unterfangen, sollte sich das rhetorische Gefecht auf einen Streit um Definitionen reduzieren, in beiden Fällen einen politischen Charakter auf. Im einen wie im anderen Fall vergrößern diese Definitionen bloß die Trennung zwischen einem selbst und der Realität des sozialen Krieges. Sie machen die Revoltierenden zu „Abschaum“ oder zu „jungen Proletariern, die vom Weg abkamen“, zu „Verantwortungslosen“ oder zu „Verzweifelten“, zu „abzuschiebenden Migranten“ oder zu „post-kolonialen Opfern“, zu „Zerstörern von unschuldigen Autos und Schulen“ oder zu „Rebellen, von denen wir alles zu lernen haben“. Für uns geht es aber weder darum, Labels aufzustellen, noch uns blind ins Gefecht zu stürzen, und noch weniger darum, irgendeine revolutionäre Pflicht zu erfüllen. Wir denken bloß, dass wir viel mehr Chancen haben, zu begreifen, was da vor sich geht, wenn wir an der Konfliktualität teilnehmen – erst recht dann, wenn sie an Intensität gewinnt –, mit dem Ziel, darin unsere eigenen Perspektiven einer von jeglicher Herrschaft befreiten Welt voranzutragen. Die brennende Frage ist also nicht, „wer sind diese Leute?“ oder „welche Unterstützung brauchen sie?“, sondern, „welche Möglichkeiten bietet diese Revolte?“ und „welche Inhalte würden wir darin gerne entwickeln?“

Falsche Fragen

Als der November 2005 ausbrach, hinterließen die hitzigen Debatten unter Kameraden über die verschiedenen zu führenden Interventionen bei uns oft den Eindruck einer kollektiven Ohnmacht. Während man mühelos erkennen kann, was den Staat diesen Ereignissen unmittelbar feindlich gegenüberstehen lässt und wieso es für ihn erforderlich ist, im Namen der Bewahrung der Ordnung kräftig zuzuschlagen, sind wir schon etwas mehr verwirrt angesichts von Kameraden, die das, was gerade geschieht, bis ins kleinste Detail analysieren, bevor sie irgendetwas dazu beitragen. Wir könnten diese Ohnmacht leicht auf die Unmöglichkeit oder die Weigerung zurückführen, revolutionäre Hypothesen zu entwickeln – jenseits der Verherrlichung des Chaos und des Bürgerkrieges.Vielmehr aber war sie das Produkt des Gefühls, im Abseits zu stehen, mit dem sich damals das gesamte anti-autoritäre Milieu konfrontiert sah: ein Milieu, dessen Bezug zu den Unruhen eher spektakulär als praktisch war, und das einer bewegungsorientierten [frz.: mouvementist] Konzeption der Revolte[1] verhaftet war, das heißt, einer Suche nach Subjekten, denen man sich anschließen kann. Als ob eine Revolte in der Zeit festgeschrieben oder in ihren Formen und unmittelbaren Zielen erstarrt wäre, und vor allem, als ob sie nicht auch die Frucht all jener wäre, die sich entscheiden, sie zu nähren, fern von jeglichem Determinismus, der fast schon soziologisch wirkt. Und als ob sich die Komplizenschaften nicht ebenso unterwegs, im Innern der Konfliktualität knüpfen könnten.

Wieso ist es angesichts einer Situation sozialer Revolte, deren Ausmaß (durch Dauer, Breite oder Formen) ganz neue Möglichkeiten eröffnet, nicht vorstellbar, anstatt sie wie Insektenforscher untersuchen zu wollen (wer beteiligt sich, auf welchen Grundlagen, um was zu tun?), einfach das willkommen zu heißen, was uns darin anspricht, das, worin wir uns wiedererkennen? Nicht um uns unkritisch mit mystifizierten „Wütenden“ oder „Revoltierenden“ dort zusammenzutun, wo sie sich bereits befinden, sondern um den Bruch mit der Normalität dort zu verstärken und den Ausdruck davon dort zu vertiefen, wo wir uns befinden. Dies vorausgesetzt, was wollen wir wirklich (jenseits der klassischen Parolen), und was sind wir bereit dafür Nacht für Nacht und Tag für Tag zu tun? Wie können wir aus dem Innern der Revolte, wenn nicht gemeinsame Orte, so zumindest eine Dialektik entwickeln, die, unter denjenigen, die sie vorantragen, reich an Versprechen und Komplizenschaft ist? Dies sind einige der Überlegungen, die (abgesehen von begrenzten Affinitätsgruppen) nur allzu selten in die Diskussionen unter Gefährten vorgedrungen sind, selbst als es offensichtlich wurde, dass dieser riesige Brand nicht so bald erlöschen wird.

Nun, wenn wir nicht nach persönlichen Entschuldigungen suchen, um eine (theoretische, praktische oder emotionale) Bequemlichkeit zu wahren, sondern nach kollektiven Wegen, um die Gesamtheit dieser Welt zu untergraben; wenn es nicht mehr um Repräsentationsmechanismen innerhalb eines Milieus geht, sondern um einen Sprung ins Unbekannte der insurrektionellen Möglichkeit, dann werden wir nur auf einige Antwortansätze stoßen können, wenn wir uns all der falschen Fragen der aktivistischen Gewohnheit entledigen.

Und einige Antworten

«„Kontraproduktiv“ ist nicht, sein elendes Quartier abzufackeln, es ist, darin nichts anderes zu sehen, als Handlungen, denen es an „historischer Bedeutung“, „objektiven Bedingungen“ und anderen Blablas der Bequemlichkeits-Marxisten mangelt, kurzum, diese Ereignisse nur durch die mediale Brille oder ein veraltetes Analysemuster zu betrachten.»

Die Essenz der Revolte,

Flugblatt der Sektion Cosaques-Jabots de bois,

Nantes, 18. November 2005

Die drei Wochen (27. Oktober - 24. November), die überall in Frankreich Nacht für Nacht von einem sich rasch ausbreitenden Feuer erhellt wurden, wurden bald auf eine Art und Weise betrachtet, die allzu gut aufzeigt, von woher ihre Autoren sprachen.

Die gauchistischen[2] oder libertären Organisationen sahen in ihnen beispielsweise einstimmig eine „Abwesenheit von moralischem Bewusstsein“ (Lutte Ouvrière, 7. November), „unverantwortliche Verhaltensweisen“ (CNT-Vignoles d‘Aquitaine), eine Gewalt, die „wild um sich schlägt“ (Fédération anarchiste, 10. November), „Verzweiflungsakte“ (Ligue Communiste Révolutionnaire LCR, 7. November) oder „Selbstzerstörung“ (Coordination des groupes anarchistes, 9. November) verbunden mit einer „selbstmörderischen Logik“ (No Pasaran, 11. November). Die Fédération anarchiste tat sich außerdem am 13. November mit den linken (Grüne, PC, MJS) und linksextremen Parteien (LCR, LO) und mit den Gewerkschaften (CGT, UNEF, UNSA, Solidaires, Syndicat de la magistrature) zusammen, um einen gemeinsamen Aufruf zu unterzeichnen, der die Revolte genau in dem Moment zu rekuperieren versuchte, als sie zu stocken begann. All diese braven Gemüter werden ausführen, dass „die Beendigung der Gewalttaten, die schwer auf den legitimerweise nach Ruhe verlangenden Bevölkerungsschichten lasten, äußerst notwendig ist“. Für viele gauchistische oder libertäre Grüppchen soll es, wenn wir mal so tun, als ob wir vergessen hätten, dass sie in erster Linie von Angst und Unverständnis gegenüber dem unkontrollierten Charakter der Ereignisse beseelt waren, an einer politischen Klassendimension (das heißt, in ihrem dreckigen Mund, an „Bewusstsein“ und an „Organisation“) oder zumindest am Ansatz eines konstruktiven Willens (also an „Forderungen“) gemangelt haben. Es erstaunt also nicht, dass während langer Wochen kein einziger dieser Berufspolitiker Solidarität mit den Aufständischen zeigte. Einige beteiligten sich sogar an Bürgerrunden, um zwischen den Bullen und den Revoltierenden zu vermitteln, oder um gleich direkt das Privateigentum zu schützen, wie der historische Führer der LCR sich damit brüstete.

Zu einem späteren Zeitpunkt, als die Asche noch nicht einmal abgesunken war, beeilte sich diese ganze vornehme Gesellschaft (und auch andere), ihren üblichen anti-repressiven Betrug auszuüben, indem sie „Amnestie“ für die Aufständischen forderte. Somit erklärten viele jener, die sich bestenfalls als bloße Zuschauer – schlimmstenfalls als Beschwichtiger – an den Konflikten beteiligten, einstimmig das Ende der Feindlichkeiten (erinnern wir uns daran, dass die Amnestie jener Moment ist, der eine Niederlage bezeichnet, und dass sie vom Sieger in Form von Gnade im Tausch gegen die Anerkennung seiner Überlegenheit und Legitimität zugestanden wird). Dadurch, dass sie willentlich außer Acht ließen, dass das, was sich da gerade abspielte, bloß eine Episode in einem alltäglichen sozialen Krieg war, gewiss wärmer als üblich und Möglichkeiten öffnend, die sie zum gegebenen Zeitpunkt fein säuberlich verschmähten, hielten diese Kadaver einmal mehr daran fest, zu verdeutlichen, dass die Revoltierenden sie nur interessieren, wenn sie tot oder im Gefängnis sind.

Als das Gewitter gerade im Begriff war, vorbeizuziehen, stürzten sich auch einige Kameraden in die klassische aktivistische Unterstützung der Gefangenen, vielleicht aus Verdruss darüber, keine anderen Mittel gefunden zu haben, sich an der Revolte zu beteiligen, doch auch dabei hielten sie vor allem ihre Beziehung zu ihr als Außenstehende weiterhin aufrecht. Das „Komitee zur Unterstützung der Gefangenen“ von Toulouse, das „Kollektiv Ausnahmezustand“ von Lyon, Individuen in Grenoble oder die an der Bourse du Travail von Montreuil [Paris] stattfindende Versammlung begannen also, den Gerichtsverhandlungen beizusitzen. Abgesehen von sicherlich nützlichen materiellen Fragen, hatten sie oft nicht viel mehr zu sagen als: „die (eure) Revolte ist legitim“. Ein Text, der an der Versammlung von Montreuil verteilt wurde, die am 3. Dezember nach einer Demonstration durch die Siedlungen dieses Stadtteils stattfand, erläuterte beispielsweise folgende Kritik: „Ich denke, dass sich die Existenz der Versammlungen nicht auf den einzigen Leitspruch Befreiung der Gefangenen stützen kann, und sei es nur darum, weil dies die übliche und gut einstudierte Form von Solidarität ist, auf die wir in Ermangelung einer besseren zurückgreifen, nicht in dem Sinne, dass wir nichts besseres zu tun hätten, sondern vielmehr, weil es manchmal einfacher scheint, sich darauf zu einigen, die verhafteten Revoltierenden zu unterstützen, als gemeinsam darüber zu diskutieren, wie wir unserer Wut Ausdruck verleihen könnten. Meines Erachtens ist es eben diese Unterstützerposition, die schon von Beginn weg die Fragen eines Innerhalb und eines Außerhalb, zwischen einem „Sie“ und einem „Wir“ aufstellte... Wenn das, was wir teilen, die Wut ist, die sich ausdrückte, und das, wogegen sie sich ausdrückte, dann lasst uns die Frage aufwerfen, was wir damit in offensiver Hinsicht anfangen können.“

Der Staat hingegen mobilisierte einen Großteil seiner polizeilichen Mittel (unter anderem sieben mit den neuesten Technologien ausgerüstete Helikopter in Lille, Toulouse, Straßburg, Rennes und in der Pariser Umgebung) und erklärte den Ausnahmezustand, wobei er sich auf ein Gesetz berief, das im April 1955, zu Zeiten des Algerienkrieges gutgeheißen wurde. Nachdem er am 8. November vom Staatschef angekündigt wurde, tritt er am Folgetag mit einer Ausgangssperre in 25 Departements für zwölf Tage in Kraft. Am 21. November wird er nach einer Abstimmung im Parlament um drei Monate verlängert. Er wird schließlich erst am 4. Januar 2006 wieder aufgehoben.

Lasst uns daran erinnern, dass die Erklärung und Annahme des Ausnahmezustands in erster Linie eine Großzahl administrativer (das heißt, keine gerichtliche Prozeduren erfordernder) Polizeimaßnahmen autorisiert: nächtliche Hausdurchsuchungen, Aufenthaltsverbote oder Hausarrest für alle, die „auf irgendeine Weise versuchen, das Handeln der Behörden zu beeinträchtigen“, Verbot aller „so gearteten Versammlungen, dass sie Chaos hervorrufen oder fördern“, Schließung öffentlicher Räume (einschließlich Cafés, Restaurants, Vorstellungs- oder Diskussionssäle) und Verbot des Personen- oder Fahrzeugverkehrs an per Anordnung festgelegten Orten und Zeitpunkten. Der Rückgriff auf den Ausnahmezustand hat uns daran erinnert, dass die Macht im Falle anhaltender sozialer Unruhen nicht nur über ihre bewaffneten Truppen verfügt, sondern permanent über das gesamte demokratische Gesetzesarsenal, das es ermöglicht, jeden „verdächtigen“ Zivilisten in großem Maße mundtot zu machen, in Schranken zu weisen und... zu internieren. Während diese Maßnahmen nur selten außerhalb der Ausgangssperren angewendet wurden, lagen sie, angesichts der Entwicklung der Revolte, noch immer diesseits von dem, was zahlreiche Bürgermeister aller Färbungen forderten (wie der Sozialist Michel Pajon in Noisy-le-Grand oder der Kommunist André Guérin in Vénissieux), nämlich die direkte Intervention der gesamten Armee!

Ohne vorher auf den Rest seiner Dispositive weiter einzugehen, wollen wir noch verdeutlichen, dass der Staat wie gewöhnlich den Schlagstock mit allen anderen Vermittlungen vermischte und alles einsetzte, was ihm zur Verfügung stand: Aufrufe zur Ruhe, die ebenso sehr von Linksparteien wie von religiösen Autoritäten kamen (wie die Fatwa, die am 6. November von der Union der islamischen Organisationen Frankreichs gegen die Aufständischen ausgesprochen wurde), Überwachung der Quartiere durch Mittelsmänner der Gemeinde, große Brüder und andere Eltern-Bürger, Versprechung von Subventionserhöhungen für lokale Vereine, sogar Stellungnahmen von Fußballern oder Rappern, die die „Gründe der Revolte verstehen“, ihren Ausdruck selbst aber selbstverständlich verurteilen.

Was uns betrifft, so wollen wir heute, nach zahlreichen absichtlich schlaflosen Nächten und der manchmal verzweifelten Suche nach Komplizen, noch einmal auf diese Episode zurückkommen, nicht um sie zu idealisieren, sondern um zu versuchen, einige Erfahrungen aus ihr zu ziehen und ein paar Überlegungen über die viel erwähnte Möglichkeit zu wagen, die sich in diesem Moment öffnete, oder eben nicht.

Befriedung und Revolte in Frankreich

Vor allem in Gedanken an die Kameraden, die woanders in der Welt kämpfen, werden wir noch einmal kurz auf den französischen Kontext zurückkommen, in den sich diese Revolte eingeschrieben hat, und einige Aspekte dieser drei Wochen genauer darlegen. Aufgrund des Mangels an verfügbaren Informationen, aber auch angesichts der vom Fernseher sowie von gewissen erhältlichen Texten produzierten Verzerrungen[3], halten wir das für wichtig. Tatsächlich sind hier wenige Texte über den Moment selbst geschrieben worden, und auch im Nachhinein wurden, jedenfalls aus einer anti-autoritären Perspektive, nur sehr wenige Texte verfasst. Dies zeugt einerseits von einem recht allgemeinen Unvermögen, über die Kämpfe nachzudenken, an denen wir uns beteiligen, und manchmal auch von der Leichtigkeit, mit der wir uns in einer Art aktivistischen Raserei in den nächsten Kampf werfen – jenen gegen den Contrat Première Embauche [CPE], der im Frühjahr 2006 begann –, ohne uns Zeit zur Bilanz über unsere Aktivitäten und zur Vertiefung zu nehmen.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und einen kurzen Blick in den Rückspiegel werfend, kann man sagen, dass das Jahrzehnt nach 1968 in Frankreich eher konfliktreich war, auch wenn es nicht wie in Italien jene Generation kannte, die den Himmel erstürmen wollte. Denken wir beispielsweise an die Anti-AKW-Bewegung, an den nationalen Mietstreik in den Wohnheimen von Sonacotra von 1976 oder auch an jenen ganzen Teil des Proletariats, der sich weigerte, wie ihre Väter in die Fabrik zu gehen, und sich auf anderen Wegen über die Runden schlug. Dennoch müssen wir ebenfalls feststellen, dass dieses Jahrzehnt den verschiedenen soziokulturellen und ökologistischen Alternativen, wie so vielen anderen Mitteln der Integration, die Türen geöffnet hat, und dass ab 1981 mit dem Aufkommen von Linksregierungen eine neue herrschende Klasse an die Macht kam. Obwohl die wirtschaftliche Umstrukturierung, die während zwei Jahrzehnten erfolgte (Liquidierung der alten Industrien, wie die Stahl-, Textil-, und Schiffsbauindustrie; Erneuerung beispielsweise der Automobilindustrie und des öffentlichen Sektors), mit ihren Massenentlassungen und „neuen Armen“ gewiss nicht ohne Auseinandersetzungen verlief, legte sich eher ein Schleier von sozialer Befriedung über das Land. In diesem Kontext scheint die Feststellung interessant, dass neben den Konfliktherden einiger mittlerweile beseitigter (wie die Stahlarbeiter von Lothringen und Vireux) oder umstrukturierter Arbeitersektoren (wie die Eisenbahnstreiks von 1986 und 1995), die unruhe- und störungslastigen Episoden hauptsächlich aus bereits deklassierten Bevölkerungsschichten kamen.

«Vaulx-en-Velin: Unruhen. Neun Jahre nach Vénissieux ist die Krankheit der Banlieues noch immer nicht geheilt»

Le Progrès de Lyon, 8. Oktober 1990

Eine der ersten „Banlieue-Unruhen“, die sich nach einer standrechtlichen polizeilichen Hinrichtung ereignete, brach 1979 in Vaulx-en-Velin (cité de la Grappinière), in der Nähe von Lyon aus. Auf sie folgten dicht die Oktoberereignisse von 1980 in Marseille, bei welchen sich die Jugendlichen der Nordquartiere mit der Polizei konfrontierten und einen Teil der Innenstadt verwüsteten, nachdem einer von ihnen von einem CRS [Anti-Riot-Einheit] ermordet wurde. 1981 brach in Vénissieux (cité des Minguettes), ebenfalls in der Nähe von Lyon, jene Unruhe aus, die mit ihrer Kohorte von angezogenen Journalisten, die die Konfrontationen und brennende Autos filmten, den medialen Standard in diesem Genre bildete. Auch die 80er und 90er Jahre bleiben durch Aufruhre in diesen peripheren Zonen gezeichnet, oft als Folge auf andere polizeiliche Morde, auf diese bereits klassische Form der Territoriumverwaltung. In Bezug auf den zweiten Teil dieser Periode hebt die klassische Chronologie beispielsweise die Unruhen vom Oktober 1990, wieder in Vaulx-en-Velin, vom März 1991 in Sartrouville (Yvelines), vom Mai 1991 in Mantes-la-Jolie (Yvelines), von 1993 im 18. Arrondissement von Paris, von 1994 in Arles (Bouches-du-Rhône), vom Dezember 1997 in Dammarie-les-Lys, vom Dezember 1998 in Toulouse oder vom April 2000 in Lille hervor. Diese Unruhen dauerten oft einige Tage lang und nicht jeder polizeiliche Mord hat eine solche Antwort gefunden. Verdeutlichen wir auch, dass diejenigen, denen die strahlende Zukunft immer illusorischer schien, die man ihnen mit der Förderung in der Schule und der Integration durch Arbeit verspricht, ihrer Wut neben diesen spezifischen Bewegungen auch in anderen, von zahlreichen Konfrontationen, Brandstiftungen und Plünderungen gezeichneten Momenten Ausdruck verliehen: im Jahr 1986 unter dem Vorwand einer Universitätsreform oder 1994 gegen einen x-ten prekären Vertrag (in beiden Fällen haben sich besonders die technischen Gymnasien hervorgetan).

Mit diesen paar Beispielen, die die Realität gewiss nicht vollständig widerspiegeln, beabsichtigen wir nicht, die Offensichtlichkeit der Kontinuität des Klassenkampfes oder des sozialen Krieges aufzuzeigen, sondern die Tatsache, dass der französische Staat daran gewöhnt ist, Unruhen zu verwalten, die von den armen Banlieues und einem Teil der Jugend ausgehen. Es handelt sich hierbei um Protestformen, die, auch wenn sie „radikal“ sind, schon seit langem ein Teil der Regulierungsweise der sozialen Konfliktualität ausmachen. Die jüngste Geschichte der Konflikte der Arbeiter (und manchmal auch der Bauern), mit Geiselnahmen von Führungspersonen, Brandstiftungen und Verwüstungen von Warenlagern, Raufereien mit Bullen, Drohungen, die Fabrik mit Gasflaschen in die Luft zu sprengen, der Verwüstung einer Unterpräfektur und anderem, zeugt auf allgemeinere Weise davon. Man kann ebenfalls daran erinnern, dass es auch bereits zur Intervention der Armee gekommen ist, als der Konflikt drohte, das Land ernsthaft zu blockieren. So beispielsweise im Winter 1986, um den Streik der Pariser Metro und der RER [Schnellbahnnetz im Großraum Paris] zu brechen (indem sie die Fahrgäste in ihren Planwagen transportierte), oder 1992, um die Lastwagenfahrer, die die Landesökonomie lahmzulegen drohten, mit ihren Pioniergeräten von den von ihnen blockierten Mautstationen der Autobahnen zu räumen.

Nun, während einige vor Entzücken über die kollektiven Formen (Unruhen, Plünderungen, Blockaden, Sabotagen) außer sich geraten, die der soziale Protest hierzulande gelegentlich annehmen kann, würden wir sie schlichtweg gerne wieder in den Kontext von sozialen Verhältnissen stellen, in denen die Form a priori nichts über den Inhalt aussagt. Oft ist es nicht so sehr die Frage der Mittel, die eingesetzt werden, um seine Ziele zu erreichen, sondern sind es vielmehr diese Ziele selbst, die den Unterschied ausmachen.

Der informelle Syndikalismus (das „Recht auf“) oder der fordernde Aufruhr von „sozialen Bewegungen à la française“, ebenso wie der bewaffnete Reformismus in anderen Kontexten, sind schon immer auf die selben Riffe aufgelaufen. Indem sie sich den Staat zum Gesprächspartner machen, offerieren sie ihm einen Ausweg, um die Unruhen zu beenden und etwas auszuhandeln. Sie stellen sich vielmehr in eine Beziehung des Bittens als des Nehmens und, indem sie präzise Forderungen formulieren, sprechen sie bereits von Beginn an die Sprache der Macht. Es ist dann auch egal, ob sich diese Formen aus einem Zusammenspiel zwischen der Basis und den gewerkschaftlichen Apparaten ergeben, oder ob sie eher an einen Selbstorganisationsprozess gebunden sind, der über den Rahmen der professionellen Arbeitskraftmitverwalter hinausgeht (wie dies bei den berühmten Studenten-, Eisenbahner- und Krankenpfegerkoordinationen der Fall war). Das Kräfteverhältnis, das sich zwischen zwei Kontrahenten einrichtet, die sich gegenseitig anerkennen und gerne auf eine Übereinkunft kommen würden, beruht auf einer Logik, die sehr viel anders als die einer Bewegung aus Wut und Revolte ist, die durch ihre Ausweitung in einer Subversion der sozialen Verhältnisse münden könnte.

Lasst uns schließlich präzisieren, dass diese Bewegungen im Allgemeinen in Gang kamen, um sich gegen eine gewisse Maßnahme der Macht zu wehren, und nicht, um ein bisschen mehr als nur Krümel zu erheischen, oder sogar ganze Teile der sozialen Ordnung streitig zu machen (wie es 1968 der Fall sein konnte). Natürlich, die kollektiven Mobilisierungen gehen im Allgemeinen von einem Alltag, von einer konkreten materiellen Situation aus, und nicht unbedingt von großen Ideen über die Welt. Und natürlich, wir sprechen von einer Periode starker Umstrukturierungen, in der der fordistische Kompromiss der Nachkriegs- zeit zu Gunsten des Kapitals wieder stark in Frage gestellt wird, ein Kompromiss, der darin bestand, Verbesserungen (bezüglich Lohn, Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit oder Urlaub) im Tausch gegen den sozialen Frieden zu erhalten. Es ist also klar, dass die sozialen Bewegungen eher dazu neigen, zu versuchen, das zu retten, was es noch zu retten gibt, als etwas Besseres zu erobern. Diese unterschiedlichen Aspekte, die zugleich den überwiegend defensiven Charakter dieser Mobilisierungen und das Festhalten am Staat als illusorischen Vermittler des Kapital/Arbeit Konflikts erklären, dürften die (manchmal durchaus „radikale“) Form nicht für den Inhalt durchgehen lassen.

Die Explosionen in den Banlieues und die Aufruhre von Teilen der Jugend absichtlich neben die streik- und konfrontationslastigen Bewegungen von verschiedenen Lohnsektoren zu stellen, ermöglicht, die Vorstellung irgendeiner „radikalen“ Besonderheit, die einer bestimmten Kategorie von Protagonisten des sozialen Krieges vorbehalten sein soll, gleich vorweg vom Tisch zu räumen. Es ermöglicht aber vor allem, eine viel interessantere Spannung zu betonen: im Grunde hat sich neben dieser fordernden Bewegung von Lohnempfängern, die im Wesentlichen versucht, die eigenen Überlebensbedingungen vor einem kontinuierlichen Zerfall zu schützen, und die noch immer eine Verwaltung des Kapitalismus von Links anstrebt, eine andere, diffusere Bewegung entwickelt, der es auch gelang, erstere zu kreuzen.

Diese Bewegung ist ebenso sehr an eine Wut gegen ein endloses Elendsschicksal (das oft wiederaufkommende Bild des abwechselnd zur Arbeitslosigkeit und zu erniedrigenden und prekären Jobs vorbestimmten Sohns von Migranten aus der Banlieue oder von Arbeitern aus deindustrialisierten Zonen), wie im allgemeineren Sinne an eine Revolte gegen ein einengendes und gefängnisartiges Bestehendes gebunden. Einige haben nach und nach an eigener Haut erfahren, dass sie vor einem totalen Krieg stehen, der nicht mehr nur den einen oder andern Aspekt der Lebensbedingungen betrifft, Bedingungen, die man noch immer ändern oder reformieren könnte (Arbeitslosigkeit, Rassismus, Bildung, Polizei). Dass es mittlerweile die Tatsache selbst, zu existieren, ist, die angegriffen wird, die Tatsache, Teil von dieser Masse von Armen zu sein, die für den Produktionsprozess überflüssig und zur Verelendung an Ort und Stelle bestimmt sind.

Diese Bewegung ist ab den 90er Jahren wieder sichtbarer geworden und hat sich in den letzten Jahren oft bekräftigt, dennoch verläuft sie nicht ohne Antagonismus zwischen jenen, die noch immer etwas von der Macht erwarten (eine gute Arbeit und eine angemessene Ausbildung, eine respektvolle Polizei und eine faire Justiz) oder mit ihren Kategorien und Grenzen kämpfen (Forderungen, repräsentative Kollektive, Delegation), und den anderen. Ein Antagonismus, der genauso jedes Individuum durchdringt, und der, auch wenn die Wut immer anwesend bleibt, macht, dass sich die Revolte, je nach dem, gegen Krümel erkaufen lassen kann oder hinter Gitter führen kann.

«Die Zukunft schien dunkel und die Vorstellung lag fern, dass der Weckruf von den Studenten kommen würde. Diese Generation galt als frühzeitig besonnen und konformistisch, als festgesessen zwischen Technologie und Mode, als respektvoll gegenüber der Autorität und als die, die während den vergangenen Bewegungen mit besorgter Miene nach „mehr Bleistiften und mehr Aufsichtsführenden fragte, um unter guten Bedingungen studieren zu können“, ohne die Institutionen in Frage zu stellen. Wir müssen zugestehen, dass wir uns getäuscht haben. Die Studentenbewegung dauert nun bereits seit drei Monaten an

Faltblatt Alertez les bébés, Juni 2005

Man muss durchaus zugeben, dass sich mit dem November 2005 etwas verändert hat. Oder vielmehr, wie in einer Geschichte, die in Sprüngen vorangeht, dass sich gewisse Praktiken erneut verbreitet haben: wilde Beweglichkeit, sporadische Konfrontationen, die Verbreitung von Affinitätsgruppen, eine gewisse gegenseitige Ergänzung in den Arten zu demonstrieren. Als ob sich die Bewegung der Wütenden ausgeweitet hätte oder bereits einen Teil von jenen angesteckt hätte, die bis jetzt noch nicht bemerkten, dass nur sehr wenige ein Plätzchen an der Sonne abbekommen. Im Verlauf dieser Periode haben sich wieder Räume aufgetan, indem sie jenseits der spezifischen Formen eine neue Möglichkeit des Teilens boten: auf dass die gemeinsame Wut zur Revolte wird.

Bereits im Frühling 2005, nur einige Monate vor der Novemberrevolte, entwickelte die Studentenbewegung gegen das Fillon-Gesetz insgesamt Ausdrucksweisen, die weniger eingeschränkt waren (wilde Demonstrationen in kleinen Gruppen, bewegliche Blockaden von Verkehrsachsen und Bahnhöfen) und die vielen ermöglichten, sich selbst und sich in ihnen wiederzufinden, aber auch, eine Vielfalt an Praktiken zu kreieren, die über Unibesetzungen oder Plünderungen hinausgehen. Diese Zusammentreffen – oder eher, diese noch konfuse Kohabitation zwischen irgendeiner beliebigen Forderung und einer Wut, die nichts anderes sucht, als Chaos zu stiften – haben sich seither allgemeiner betrachtet gehäuft: zusätzlich zur Studentenbewegung vom Frühling 2005 könnte man auch die Frühlingsmonate von 2006 in zahlreichen Städten gegen eine x-te Bildungsreform oder die konfrontationsreichen Tage des Mai 2007 nach der Präsidentschaftswahl von Sarkozy erwähnen.

Wenn die Revolte vom November 2005 also mehr als zuvor die Wiedereröffnung neuer Möglichkeiten angedeutet hat, dann weniger im Hinblick auf eine insurrektionelle Perspektive (angesichts ihrer Begrenztheit in Zeit und Raum, ihrer Grenzen, was die Miteinbeziehung breiterer Kategorien anbelangt, und vor allem der Grenzen, die mit der Abwesenheit von positiven Perspektiven verbunden sind), als auf die Intensivierung des sozialen Krieges in einem bestimmten Kontext. Es wird Zeit, etwas mehr ins Detail zu gehen.

Eine generalisierte Revolte der Banlieus?

Alle erinnern sich vielleicht noch daran, dass die Revolte von der Pariser Peripherie ausging, von Clichy-sous-Bois, gefolgt auf den Tod von Zyed und Bouna (17 und 15 Jahre) am 26. Oktober 2005. Verfolgt von der Polizei sind sie in einen Elektrotransformator geflüchtet, wo sie elektrisiert wurden. Metin, der sich mit ihnen versteckte, ist trotz schwerer Verbrennungen lebendig herausgekommen. Dieses Ereignis ist nichts Außergewöhnliches in diesen Zonen, in denen überall Bullen patrouillieren, die nicht zögern, die Bevölkerung mit Erniedrigungen, Kontrollen, Durchsuchungen, Schlägen oder Flash-Ball-Schüssen zu bedrängen. Und die Reaktion darauf hätte sich auch abspielen können wie für gewöhnlich: niedergebrannte Autos und gegen die Bullen an der Ecke geworfene Steine, ein von den Nahestehenden organisierter und zwangsläufig ruhiger Umzug (es scheint, dass man die Toten respektiert, indem man schweigt... und nicht indem man sie lärmend rächt), ein eventuelles Treffen mit den Autoritäten, ein paar Versprechungen an die Familie (ein Job, eine Wohnung) im Tausch gegen einen Aufruf zur Ruhe. Und das abgeschobene Leben, das weiter geht, als ob nichts gewesen wäre.

Fast all dies hat auch stattgefunden, aber diesmal blieb die Geschichte nicht dabei. In den ersten drei Nächten stellen sich hunderte Personen aus Clichy mit Steinen und Feuerwerk den Bullen entgegen, während sie das Gemeindehaus und die Post, Autos und Bushaltestellen angreifen. In der zweiten Nacht werden sogar Schüsse auf die CRS abgegeben. In der vierten bereits stecken die Jugendlichen der Nachbarstadt Montfermeil aus Solidarität die Garage der Gemeindepolizei in Brand und bereits ab der fünften brennen Autos im ganzen Departement Seine St. Denis, während Konfrontationen mit den Bullen ausbrechen. Nach zehn Tagen zählen wir die Ban lieues gar nicht mehr, die sich in der ganzen Ile-de-France, dann im ganzen Land, vom Norden bis in den Süden (angefangen bei Bègles, Orléans, Rouen, Roubaix, Evreux, Perpignan), nach und nach der Bewegung anschließen. Diese geografische Ausweitung geht während dieser ganzen drei Wochen weiter. Der gewaltige Brand, der diese langen Nächte zerreißen wird, ging also deutlich von gewissen Banlieues in Form einer Spiralbewegung aus, die von Clichy in Richtung Nachbarstädte anfing, sich dann auf das Departement und die Region ausweitete, bevor sie schließlich andere Städte in Frankreich, und sogar Quartiere in Belgien und Deutschland erreichte. Dennoch wäre es ein Fehler, diese Bewegung schlicht auf eine „Revolte der Banlieues“ zu reduzieren, ein Fehler, der gewiss mit dem Eindruck verbunden ist, den die ersten fünfzehn Tage hinterließen.

Die Banlieue ist schlicht die generische Bezeichnung für die peripheren Quartiere der großen Städte. Sie schließt also auch die Banlieues der Reichen und zahlreiche Einfamilienhäuserzonen mit ein, die der Revolte nur am Fernseher nachgingen, oder manchmal auch auf der Straße, aber oft um dort Bürgerpatrouillen abzuhalten und die Ankunft von hypothetischen „Barbarenhorden“ zu verhindern. Lasst uns auch für die ausländischen Kameraden verdeutlichen, dass die Banlieues nicht immer wie jene des großen Pariser Kranz aussehen, mit seinen immensen Blöcken, die geographisch isoliert Mitten im Nirgendwo zehntausende Bewohner zusammenballen, eingesperrt zwischen Schnellstraßen, Autobahnen und Zuglinien. Einige Wütende konnten also von der Tatsache profitieren, dass gewisse Siedlungen eben nicht immer sehr weit von den Städten weggedrängt liegen, wie in Lille oder in Toulouse, und sich sogar in eine städtische Kontinuität einfügen können, die zahlreiche Möglichkeiten zur Brandstiftung bietet (wie im Norden oder in den nahen Banlieues von Paris).

Viele Banlieues von Armen hingegen haben sich nicht am Fest beteiligt. Was vor allem Fragen aufwirft, ist, dass Quartiere, die sonst regelmäßig in den Chroniken von sich reden machen, es nicht (oder fast nicht) für angebracht hielten, diese Revolte zu nähren, selbst in ihren intensivsten Momenten, und als deutlich war, dass sie andauern wird. Wir denken hierbei an die zweite Stadt des Landes, Marseille, zu einem Zeitpunkt, als viele andere regionale Metropolen bereits betroffen waren (Lille, Toulouse, Straßburg, Nîmes, Lyon, Pau, Grenoble,...), und an eine gewisse Anzahl Siedlungen in den Pariser Banlieus. Die Erklärungsversuche unterscheiden sich gewiss von Fall zu Fall, dennoch kann man grob die Gewichtung der mafiösen Beziehungen erwähnen, die an die Gemeindeverwaltung gebunden sind, oder verschiedene Formen von Illegalismen und wirkliche praktische Schwierigkeiten, wie in Paris intra-muros, wo sie wortwörtlich durch Bullen abgeschirmt waren. Ein weiterer Aspekt ist, dass es auch Zonen gibt, in denen die Aufrührer in einer Nachbarschaft, die sofort feindlich gesinnt ist, zu isoliert und zu bekannt waren, um sich voll in die Geschehnisse hineinzubegeben: auch wenn viele Anwohner trotz der berühmten in Flammen aufgehenden Autos deutlich solidarisch waren – ohne was die Revolte in vielen Orten nicht solange angedauert hätte –, reicht es nicht, arm zu sein, um ein Revoltierender zu sein oder schlicht die Praxis der vorsätzlichen Brandstiftung zu teilen, sonst wüssten wir das wohl schon lange.

Schließlich, und dies ist ein grundlegender Aspekt von dem, was sich im November 2005 abspielte, hat sich die Revolte über die Banlieues hinaus ausgeweitet. Die Zeitungen, die sich von den täglichen Berichten der Polizeipräfekturen sehr inspirieren ließen, hatten selbstverständlich ein Interesse daran, sich Tag für Tag auf diese Zonen zu konzentrieren, um die Monstrosität des Gegensatzes aufzuzeigen. Ein sich distanziert Halten, das durch die Figur des herbeiphantasierten Subjekts der Revolte möglich wurde, eine Art hyper-gewalttätiger Barbar, ohne Rationalität, migrantischer Herkunft und... Banlieusard. Dennoch findet man auch in ihren täglichen Bilanzen (vor allem in der regionalen Presse) Spuren von zahlreichen Brandstiftungen in Dörfern oder kleinen Städten ohne Banlieues. Ebenso sind die Kameraden, die in abgelegenen Orten nachtaktiv waren, im Laufe ihres Umherziehens nicht selten auf andere kleine Gruppen gestoßen.

Denn, letztendlich und angesichts der Tatsache, dass es stets nicht unbedingt erforderlich ist, eine Mütze zu tragen, um ein Feuerzeug zu bedienen, was wäre so komisch daran, dass sich ein Teil der Bevölkerung jene universelle Methode aneignet, seine Wut auszudrücken: das Feuer? Und da auch die Praxis der Sabotage an den Arbeitsplätzen eine traditionelle Waffe des Klassenkampfes ist oder gewisse Arbeiter (Moulinex, Cellatex, ACT,...) in der Vergangenheit nicht zögerten, die Produktionsmittel in Brand zu stecken (oder damit zu drohen, es zu tun), was ist so erstaunlich daran, dass ein Teil von ihnen seinerseits die Gelegenheit ergriff? Außerdem waren von den Personen, die unglücklicherweise für die Brandlegung an Unternehmen verurteilt wurden, mehrere bei diesen Unternehmen angestellt. Und vergessen wir auch nicht die ganzen persönlichen Rachen gegen den Bürgermeister des Dorfes, den Fascho von nebenan, oder die immer kärglicheren sozialen Dienste.

Schließlich wird deutlich, dass die beinahe 10‘300 niedergebrannten Autos (von denen viele öffentlichen Diensten gehörten, ganze Parkplätze voller Busse, Fahrzeuge von Unternehmen, Autovermietern und -verkäufern wurden abgefackelt) und die hunderten von betroffenen Gebäuden (davon 233 staatliche und 74 private Gebäude zerstört) in mehr als 300 Gemeinden, laut offiziellen Zahlen, die sicherlich klein gehaltenen wurden, weder ausschließlich Banlieues betroffen haben, noch die ausschließliche Tat von Brandstiftern waren, die in diesen Zonen leben. Wenn die Revolte dort ihren Anfang nahm, so begann sie sich ab der dritten Woche auf eine irgendwie interessante Weise um neue Komplizen zu bereichern.

Eine gemeinsame Sprache: die Zerstörung

«Es gab die Helikopter über unseren Köpfen in der Nacht, die Ausgangssperre und, wieso auch nicht, die Armee. Zur Beendigung des Krieges. Oder aber das Rüberschieben von Kohle an die ganze Vereinsclique, Handlangerjobs, um ruhig zu stellen. Doch wir betteln nicht um Arbeit, wir wollen das ganze Leben kosten.»

C7H16, einmalige Zeitschrift, 2006

Das Zurücklassen der traditionellenVermittlungen und die Abwesenheit von Forderungen in dieser Revolte hat die für das Sezieren der Worte anderer bezahlten Spezialisten offensichtlich ziemlich durcheinander gebracht. Natürlich haben die Mikros hie und da einen Clown gefunden, wenn möglich mit „Banlieue“ etikettiert, einen, der bereit war, seine Ideen über die allfälligen Motivationen hinter diesem Großbrand darzulegen, der weder Hand noch Fuß zu haben scheint. Ihre Antworten waren jedoch oft so lächerlich, dass ihnen niemand ernsthaft Glauben schenken konnte. Was all diesen der Worte beraubten Rekuperateuren entging, ist eben jene schleichende Bewegung, die seit zwei Jahrzehnten im Gang ist, genährt durch eine wachsende Anzahl Armer, die sich nicht nur keine Illusionen mehr darüber machen, was ihnen diese Welt anbieten kann – eine zwangsläufige Erfahrung –, sondern auch eine Wut und einen Widerwillen in sich tragen, die von keinem Wort ausreichend erfasst werden können.

Man hat uns erzählt, die Revoltierenden würden nicht sprechen, und dennoch breitete sich ihre Revolte innert wenigen Tagen wie ein Lauffeuer aus und legte tausende Kilometer zurück. Man hat uns erzählt, dass die Revoltierenden nichts hören und nichts verstehen würden, und dennoch gelang es ihnen, die Polizei von ganzen Städten Nacht für Nacht in Schach zu halten. Die Sprache des Feuers war also deutlicher als hundert Worte und wurde von zehntausenden Menschen verstanden. Der November 2005 hat deutlich gezeigt, dass es, um effektiv anzugreifen, nicht den geringsten Bedarf an Leitsätzen (auch nicht an einem konsenssuchenden und demagogischen „Sarko dégage!“ [„Sarkozy, hau ab!“]) oder an formellen kollektiven Organisationen gibt, wenn ein gemeinsames Gefühl vorhanden ist (wenn auch im Negativen), das an eine ähnliche Lebensbedingung gebunden ist: dieser November hat gezeigt, dass die Sprache sehr wohl auf Forderungen verzichten kann, um sich in Handlungen umzuwandeln, und sogar in sehr gezielte und in großem Ausmaß wieder aufgegriffene Handlungen.

Mangels Verständnis dafür, machten sich einige daran, nach den angeblichen Gründen der Revolte zu angeln – die Senkung der Vereinssubventionen an jenem Ort, die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten für Leute aus den Siedlungen in Randzonen, Schwierigkeiten bei der Cannabisversorgung, und so weiter –, ohne sich denken zu können, dass die von den Revoltierenden getroffenen Ziele sehr viel darüber aussagen: alle möglichen staatlichen Strukturen (Polizeiposten und Schulen, Gemeindehäuser und Finanzämter, kulturelle Zentren und Postbüros, Transportmittel und Arbeitsämter) und privaten Strukturen (Freihandelszonen und Warenlager, Kaufhäuser und Parteibüros) wurden immer wieder den Flammen übergeben.

Während dieser drei Wochen gab es etwas viel stärkeres als Forderungen: die soziale Bekräftigung, dass es in dieser Welt nichts mehr zu verbessern, nichts mehr zu reformieren, sondern alles zu zerstören gilt. Dass nichts von dem, was uns „angeboten“ wird (der Sportplatz sowie die Schule, der Betrieb sowie der Supermarkt), zu bewahren ist, zum Missfallen jener, die die Unterdrückung in den „öffentlichen Dienstleistungen“ des Staates beispielsweise nicht sehen wollen. Das soziale Verhältnis, das sich in diesem Moment materialisierte, könnte nicht deutlicher sein: während ihres Umherziehens haben die zehntausenden Revoltierenden nicht eine bestimmte Ungerechtigkeit oder Ungleichheit angegriffen (den Gefängnisurbanismus, die polizeilichen Morde oder den Rassismus und die Ausgrenzung gegenüber den Banlieusards), sondern alles, was ihre eigentliche Bedingung als überflüssige Individuen produziert, das heißt, die Gesamtheit einer Welt, die heute unter der Ordnung der Atomisierung und der Vermaßung steht.

Und wenn dieses Verhältnis radikal wirken konnte, insofern es nichts „im Positiven“ suchte (zumindest nicht während der kurzen Dauer dieser Revolte), dann lag das weder an seinem Grad an „Gewalt“ noch an seinen sozialen Konsequenzen. In einer auf der Gewalt der Ausbeutung und der Herrschaft basierenden Welt kann man nicht wirklich behaupten, dass der Grad an „Gewalt“ der Revoltierenden ein Maßstab für die Radikalität sei. Und was die sozialen Konsequenzen betrifft, ohne der Zukunft (das heißt, den erlangten Früchten und Begegnungen während dieser Erfahrung) vorzugreifen, so haben wir vielmehr gesehen, dass alle Revoltierenden des Novembers teilisoliert wurden. Es ist vielmehr die allgemeine Dimension, die sie hervorhob, die der Revolte den radikalen Charakter verlieh: eine gnadenlose Kritik dessen, was diese Welt ausmacht, eine auf der Zerstörung (und nicht beispielsweise auf der Selbstverwaltung) basierende Kritik, die von der reellen Lebensbedingung breiter Schichten der armen und desillusionierten Bevölkerung getragen wurde. Es ist im Übrigen auch das, was tausenden anderen ermöglichte, sich in ihr wiederzufinden, auch wenn ihre Zahl begrenzt blieb.

In diesem Sinne wird man auch feststellen, dass schlussendlich, trotz der zahlreichen Gelegenheiten, die sich boten, nur wenige Läden und Unternehmen geplündert wurden, obwohl das in der Normalität des täglichen Überlebens eine gewöhnliche Praxis sein mag. Die meisten wurden den Flammen übergeben. Uns davor hütend, dies durch die Ideologenbrille zu interpretieren, um darin etwas vorschnell eine offene Warenkritik zu sehen („le passage de la consommation à la consummation“ [„der Übergang von der Konsumption zur Vernichtung“], wie es der eine im Bezug auf die Unruhen von Watts 1965 nannte), ändert das jedoch nichts daran, dass diese Spannung zwischen Plünderung und Brandstiftung im Laufe dieser drei Wochen überwiegend zu zweiterem tendierte... Das bloße Bestehen dieser Spannung und die äußerst praxisbezogene, provisorische Schlussfolgerung daraus, sagt ziemlich viel über die in diesem Moment ohne Absprache, durch die Gesamtheit der Revoltierenden entwickelte soziale Kritik aus.

Affinitätsgruppen und Brandstiftung

Der letzte Punkt, auf den wir zu sprechen kommen wollen, sind die verschiedenen Selbstorganisationsformen innerhalb dieser Bewegung. Wenn wir hier von einer Revolte und nicht bloß von klassischen Unruhen sprechen, dann ist das zunächst, weil sie über eine bestimmte Zone und Bevölkerungsgruppe hinausging, und weiters, weil ihr Inhalt über die Opposition gegen einige begrenzte Aspekte der Herrschaft hinausging, um sich einer allgemeineren Bedingung anzunehmen. Aber auch, weil man, während sich die Unruhe traditionell durch kollektive Formen wie große Straßenschlachten mit den Bullen oder Massenplünderungen und -verwüstungen in einem bestimmten Gebiet ausdrückt, dieses Mal feststellen kann, dass eher andere Formen Überhand nahmen. Nicht ohne Grund gab es relativ wenig verletzte Bullen, etwa 224 auf die 11‘700 im Einsatz, aber dafür besonders viele Brandstiftungen. Und selbst dort, wo es zu solchen Konfrontationen kam (Clichy/Montfermeil, Toulouse, Gringy, Lyon, Aulnay,...), ging es nicht mehr so sehr darum, einen Ort zu halten, um die Stärke seines Quartiers gegenüber den anderen zu behaupten oder um Zeit zu gewinnen, um sich zu organisieren, sondern darum, eine „urbane Guerilla“ zu entwickeln, deren Hauptziel es war, so viele Blaue wie möglich zu verletzen (Hinterhalte, Schüsse mit Feuerwaffen). Das ergebnisreichste Beispiel davon wird sich zwei Jahre später in Villiers-le-Bel abspielen, als infolge auf zwei neue Tote (15 und 16 Jahre) 118 Bullen durch 81 Schüsse von Feuerwaffen in kaum zwei Nächten (25. bis 27. November 2007) verletzt werden.

Die Entwicklung dieser anderen Formen geschah einerseits, da sie sich an die spärlichen Möglichkeiten anpassten, die der Feind in den Quartieren selbst noch übrig ließ (das nächtliche Polizeiaufgebot und die permanente Besetzung zu Tage seit der Verkündigung der Ausgangssperre), und andererseits in Abhängigkeit vom Standort der Ziele, welche von den meisten Revoltierenden ausgesucht wurden. Nachdem einmal alles zerstört war, was unmittelbar möglich war (was nicht viel bedeutet in diesen Zonen), von Autos bis zu seltenen Geschäften und städtischen Einrichtungen, und weil man es nicht frontal mit den Uniformierten aufnehmen konnte, die Nacht für Nacht an Beweglichkeit sowie an zahlenmäßiger und materieller Überlegenheit gewannen, orientierte sich die kollektive Intelligenz spontan an der Mobilität und der Multiplizierung von autonomen Gruppen. Wenn wir bereits gesehen haben, inwiefern dies den Tenor der Konfrontationen ändern konnte, wenn sie sich abspielten, so war die wichtigste Konsequenz dieser Praktiken, dass die hunderten von Gruppen, die die quasi militärische und zentralisierte Verteidigung ihres Territoriums (in welches die Bullen sie treiben wollten) zurückließen und los zogen, um den Brand einige Kilometer von dort weiterzuverbreiten: in den von Warenlagern übersäten Industriezonen, in den Einkaufszonen, in den zugänglichen Teilen der kleinen Nachbarstädte und in den Verwaltungsbezirken.

Wenn diese Formen zwar selbstverständlich kollektiv blieben, so waren sie im Allgemeinen eher um kleine, verstreute Gruppen von beweglichen Individuen organisiert, als durch konzentrierte Wellen von Revoltierenden. Gruppen, die sich also logischerweise lieber aufgrund von Affinitäten (wie Nachbarschafts- oder Fußballkollegen) selbstorganisierten als, wie es das modische rassistische Klischee besagt, in „ethnischen Banden“.Wenn das Ziel war, einen Angriff weiter weg von „Zuhause“ durchzuführen, was oft Sache der älteren Revoltierenden war (die jüngeren übten sich hingegen darin, die Autobrandstiftungen und Sachschäden zu multiplizieren), überstiegen die auf Vertrauen, Freundschaft und gemeinsamen Erfahrungen basierenden Beziehungen schnell jene, die auf dem bloßen zwangsläufigen Nebeneinanderwohnen oder auf der falschen Zugehörigkeit zu irgendeiner Kategorie basieren. Dem möchten wir noch anfügen, dass andere, isoliertere oder schlicht andere Gebiete bewohnende Gruppen und Individuen unterschiedlichen Alters ihrerseits etwas überall die laufende Debatte nährten, indem sie in unerwartete Orte vorstießen (von Produktionsstätten – wie jenes Fernsehstudio in Asnières/Seine, welches das Dekor von TF1 beherbergt – bis zu jenen Polizeiautos in Bordeaux, die in Brand gesteckt wurden, obwohl sie innerhalb des abgeschlossenen Bereichs des Gerichtsgebäudes geparkt waren).

Mit ihrer Armada von CRS und Gendarmen um „das Terrain zu sättigen“, ihren administrativen Maßnahmen (Ausnahmezustand, Ausgangssperre für Minderjährige, Verbot des Detailhandels von Benzin oder des Tankens ohne Identitätskarte) und ihren mobilen Einheiten der BAC [Brigade Anti-Criminalité] um die Aufrührer beim Handeln zu erwischen, konnte die erste Repressionsbilanz nur schwerwiegend sein: im Oktober 2006 vermeldete der Innenminister, dass fast 4‘700 Personen „auf frischer Tat“ und weitere 1‘300 im Rahmen von juristischen Untersuchungen nach den Geschehnissen verhaftet wurden. Der Justizminister brüstet sich mit 1‘138 Einsperrungen (darunter 108 Minderjährige, weitere 494 wurden einem Jugendrichter vorgeführt).

Um ein paar Beispiele der Strafen, der Deliktarten und der Diversität der Städte zu geben, hier eine triste Liste, die für sich selbst spricht: 2 Monate Haft plus 6 auf Bewährung für geworfene Projektile in Bobigny am 31. Oktober, 8 Monate Haft für geworfene Projektile in Toulouse am 7. November, mehrere Verurteilungen von 8 bis 12 Monaten Haft für vorsätzliche Gewalt in Evreux am 7. November, zwei Verurteilungen zu 8 Monaten und 1 Jahr Haft für das Überreichen von Benzin an Minderjährige in Nanterre am 8. November, zwei Verurteilungen zu 4 Monaten Haft für Brandstiftung an einem Auto in Nanterre am 8. November, zwei Verurteilungen zu 3 und 4 Monaten Haft für die Herstellung und den Transport eines Molotowcocktails in Nantes am 8. November, 13 Monate Haft für einen gegen einen Tram geworfenen Brandsatz in Grenoble am 10. November, 1 Jahr Haft für die Brandstiftung eines Elektrizitätstransformators von EDF in Vallauris am 10. November, 2 Jahre Haft und zwei Mal 18 Monate Haft für drei Brandstifter eines öffentlichen Gebäudes in Caen am 14. November, 4 Jahre Haft für die Brandstiftung von zwei großen Läden (But und St. Maclou) in Arras am 15. November, 3 Jahre Haft für die Zerstörung mit Molotovs von drei Bussen in Vienne am 17. November, 2 Jahre Haft und 1 Jahr auf Bewährung für die Brandstiftung von dreizehn Autos in Cholet am 18. November. Andere, oft noch schwerwiegendere Prozesse im Zusammenhang mit der Novemberrevolte 2005 spielten sich mehrere Jahre danach ab. Einer der sinnbildlichsten Fälle unter den anschließend in der allgemeinen Gleichgültigkeit verteilten Strafen ist vielleicht derjenige der Aufrührer vom Pontanézen Quartier in Brest. Beim Urteilsspruch vom 31. März wurden drei von ihnen zu 6 Jahren, 2 Jahren und 18 Monaten verurteilt, mit der Anschuldigung, am 7. November auf Bullen geschossen zu haben. Ein vierter, der sich auf der Flucht befindet, erhielt im selben Prozess 4 Jahre Haft für die Brandstiftung einer staatlichen Vorschule.

Was die berühmten Ausländer betrifft, denen Sarkozy am 9. November im Falle einer Verhaftung mit der Ausweisung drohte, so sind es 83, die eingesperrt wurden (also dieselbe Proportion, die sie in der Bevölkerung ausmachen: 6%), und einige enden als geknebeltes und gefesseltes Exempel hinten in einem Flugzeug, darunter ein 22-jähriger Malier am 3. Februar 2006 und ein 20-jähriger Beniner am 25. Februar. Dies wird die ganze Propaganda nicht daran hindern, weiterhin zu wettern, indem sie bereitwillig auf verschiedene, absichtlich kreierte Kategorien von inneren Feinden setzt, um weiterhin „Racaille“ mit Banlieusard, Banlieusard mit Migrant, und, um den Kreis zu schließen, Migrant mit potenziellem Terroristen gleichzusetzen.

Der November 2005 und die Frage der Insurrektion

«Wenn uns die Gewalt alleine dazu dienen sollte, Gewalt abzuwehren, wenn wir ihr keine positiven Zwecke zuweisen dürften, dann könnten wir ebenso gut darauf verzichten, als Anarchisten an der sozialen Bewegung teilzunehmen, dann könnten wir uns ebenso gut der Belehrungsarbeit hingeben oder den autoritären Prinzipien einer Übergangsperiode verschreiben. Denn ich vermische die anarchistische Gewalt nicht mit der öffentlichen Gewalt. Die anarchistische Gewalt rechtfertigt sich nicht durch ein Recht; sie stellt keine Gesetze auf, sie verurteilt nicht juristisch; sie hat keine regulären Repräsentanten; sie wird weder von Beamten noch von Kommissaren ausgeübt, und wären sie auch vom Volke; sie setzt sich weder in Schulen noch durch Gerichte durch; sie richtet sich nicht ein, sie entfesselt sich; sie stoppt nicht die Revolution, sie macht, dass sie unaufhörlich weitergeht; sie verteidigt nicht die Gesellschaft gegen die Angriffe des Individuums: sie ist die Handlung des Individuums, das sein Wille bekräftigt, in Wohlstand und Freiheit zu leben.»

La revue anarchiste, 1922

Angesichts all dieser Aspekte drängt sich eine Feststellung auf: diese Bewegung der Revolte entspricht nicht mehr der alten Arbeiterbewegung und dem alten Bild der Insurrektion. In unseren anarchistischen Klassikern hatten wir einerseits die Theorie einer Klasse, die sich bekräftigen musste, um sich dem Kapital gegenüberzustellen, und gleichzeitig gezwungen war, sich selbst als solche zu negieren, um es abzuschaffen, und andererseits Individuen, die sich im Innern dieser Klasse organisierten, um Insurrektionen zu lancieren, indem sie von weniger ungünstigen Kräfteverhältnissen profitierten und darauf zählten, dies durch das Geben eines Beispiels und das Teilen ihrer Ziele zu erreichen. Die Sprache spielte dabei eine wichtige Rolle (mündliche und schriftliche Propaganda, bewaffnet oder nicht), und die Terrains, die sich anboten, um zu einem Bruchpunkt zu gelangen, blieben vielseitig: Radikalisierung der Arbeiterforderungen, Agitation rund um die hohen Lebenshaltungskosten, Verbrüderungen von Soldaten mit den Revoltierenden, Eroberung von Gebieten,... Nun, heute, da die Revolten, die wir hier erleben, und die einen radikalen Inhalt (und nicht nur radikale Formen) haben, eher von einer Wut oder einem Widerwillen, in einem Wort, von einer Negativität angetrieben werden, als von einem gemeinsamen Streben (wir sprechen hier selbstverständlich nicht vom Gräuel eines Programms), das aus der Zerstörung der alten Welt einen Moment der Öffnung machen würde, können wir diese Revolten noch immer auf dieselbe Weise analysieren?

Wenn wir dem Definitionsentwurf aus der Einleitung zum Dossier dieser Ausgabe folgen, wäre das, was eine generalisierte Revolte von einer Insurrektion unterscheidet, vor allem die Tatsache, einen „revolutionären Traum“, den Traum einer anderen Welt zu haben, eine soziale Kritik zu entwickeln, die die Keime der künftigen Gesellschaft enthält. Wenn wir beispielsweise einen kurzen Blick auf die Aufständischen von 1848, auf jene der Pariser Kommune 1871, auf die Spanier von 1936 und davor, auf die Partisanen der Jahre 1944/45 in zahlreichen Ländern, oder auch auf die Aufständischen von Budapest 1956 werfen, dann erkennen wir deutlich, dass sie auch im Positiven kämpften: für eine Welt der Gleichheit und der Freiheit, des Teilens und der Gerechtigkeit, um ihre Worte wiederaufzugreifen. Was sich seit damals verändert hat, ist gewiss nicht die Herrschaft, die im Namen des Profits einiger weniger weiterhin in allen Ecken der Welt Elend und Tod sät. Ihre jüngsten techno-industriellen Entwicklungen haben gar dazu geführt, dass sie bis ins Innere unserer Körper eindringt und die Erde auf unumkehrbare Weise verwüstet, während sie gleichzeitig die permanente Bedrohung einer großen Katastrophe über unseren Köpfen schweben lässt, wie beispielsweise mit der Häufung von nuklearen Einrichtungen.

Also dann? Was sich in den Warenparadiesen der westlichen Demokratien verändert hat, ist nicht nur der Grad an Entfremdung und Übereinstimmung mit diesem System, der für eine relative soziale Befriedung sorgt, es ist vor allem die Schwierigkeit, sich eine andere Welt zu denken: es gibt beispielsweise keine Bauern- oder Arbeiterklassengemeinschaften mehr, es gibt kein Gemeinsames mehr, das ihr eine Grundlage bieten könnte. Es bleibt nur noch das Negative, die Opposition gegen die Gemeinschaft des Kapitals ausgehend von ihr selbst, das heißt, all das zu zerstören, was uns zu Ausgebeuteten macht. Als Ausdruck dieses Negativen am Werk zeigte uns die Bewegung des November 2005 zugleich dessen Grenzen und dessen Möglichkeiten. Wenn sie nämlich keine klassische Banlieue Bewegung war, auch wenn sie als solche begann, so war sie ebenso wenig eine vorinsurrektionelle Bewegung.Vielmehr war sie eine weit verbreitete, soziale Revolte, der mangels Teilnehmender, Zeit und Raum die Luft ausging.

Ihre kurze Dauer hat offenbar zu vielen Leuten weder ermöglicht, sich der Revolte anzuschließen, noch, darin andere Formen zu entwickeln als die nächtliche Zerstörung durch Brandstiftung. Ein Übersteigen ihrer anfänglichen sozialen Komponenten (Jugendliche aus städtischen Peripherien, Arbeitslose, Revoltierende) war sicher am sprießen, doch ein paar Wochen scheinen deutlich eine noch zu kurze Zeitspanne zu sein, damit sich ein Teil von jenen, die die Gründe der Revolte teilen konnten, entschließt, zu ihr beizutragen. Handkehrum stieß diese selbe Grenze – die offenbar nicht den Revoltierenden zu verschulden war – all jenen vor den Kopf, die, während sie sich dieses Mal nicht in den im November entwickelten Formen wiederfanden, es nicht schafften, mit anderen Mitteln Beiträge zu liefern (Demonstrationen, Streiks, Besetzungen, Sabotagen, Störungen). Was schließlich nur besonders deutlich die Tiefe des Desasters von der Atomisierung (mit wem Initiativen ergreifen?) und vom Autonomieverlust (wie etwas organisieren, und was?) widerspiegelt, die eines der Zeichen unserer Enteignung sind.

Diese zeitliche Dimension bringt auch einen zweiten Aspekt mit sich, der nicht direkt auf die Dauer zurückzuführen ist: die Verwandlung der gesellschaftlichen Zeit in einen Moment des Bruchs, auf dass sie nicht mehr nur die Zeit der Konkurrenz, derVerpflichtungen und der Langeweile ist, sondern – wenn auch nur vorübergehend – zu jener einer Freiheit wird, die dem praktischen Vorstellungsvermögen und dem projektuellen Enthusiasmus, der Diskussion und der Selbstorganisation Platz verschafft. Um über diese andere Zeit verfügen zu können, muss sie den gesellschaftlichen Pflichten entrissen werden. Ohne den wilden Generalstreik noch immer für eine notwendige Grundbedingung zu halten, kann man beispielsweise nicht außer Acht lassen, dass er im Mai 1968, volens nolens, Millionen von Menschen ermöglicht hat, mit der Routine des Überlebens zu brechen und anzufangen, „über sich selbst zu stehen“. Wenn wir davon sprechen, den Lauf der Normalität zu durchbrechen, um diese notwendige Zeit zu kreieren, so bedeutet das zunächst, einen Bruch mit dem alltäglichen Rhythmus des Kapitals, jenem der Lohnarbeit, der Schule oder des Fernsehens herbeizuführen.

Die mit dem Fortschritt der Domestizierung verbundenen Veränderungen und Umstrukturierungen des Produktionsapparates rücken die Möglichkeiten einer, wenn auch nur partiellen Lähmung durch den unbefristeten Generalstreik immer weiter in die Ferne. Angesichts der Tatsache, dass hier die Massen von Armen nicht mehr so sehr durch ihre Zusammenpferchung in großen Industrieanlagen oder deren angrenzenten Gebieten verbunden sind, erstaunt es jedoch nicht, dass das Mittel der Blockade (von Bahnhöfen und Hauptverkehrsachsen der Städte oder Randzonen) in Kämpfen etwas überall auf der Welt wiederentdeckt wird, von den argentinischen Piqueteros bis zu den griechischen Bauern. Wenn nur wenige der Revoltierenden vom November 2005 die Warenzirkulation und die dafür notwendigen Infrastrukturen angegriffen haben, werden wir dafür diese Praxis gleich danach in der Bewegung vom Frühling 2006 aufleben sehen, bei welcher die Blockierung der Ökonomie ein Angelpunkt des Kampfes wurde.

Ein weiterer entscheidender Aspekt, der dieser Revolte fehlte, um ihre Flügel vollständig entfalten zu können, war das Aufkommen eines neuen sozialen Raumes. Denn nur dadurch kann mit dem Durchbrechen der Trennungen, der Rollen und der Hierarchien begonnen werden. Es wäre sinnlos, eine jener Grenzen dieses Novembermonats 2005 zu verhüllen, nämlich die Reproduktion der sozialen Rollen. Natürlich sympathisierte ein großer Teil der betroffenen Gebiete mit der Revolte (um den Aufrührern Schutz, Versorgung und Mobilität anzubieten), doch dies geschah, ohne dass beispielsweise die Rollen von Mann/Frau, Eltern/Kind oder großer/kleiner Bruder besonders in Frage gestellt wurden. Gleichermaßen wurden auch die künstlichen Trennungen selten überwunden, die zwischen den Ausgebeuteten kreiert, genährt und reproduziert wurden, was der Macht reichlich Möglichkeiten bot, die Anfangsprotagonisten der Revolte zu isolieren, indem mit allen möglichen Klischees und Ängsten gespielt wurde. Dies hielt vor allem viele kritische Ausgebeutete, trotz der Deutlichkeit der getroffenen Ziele, davon ab, sich in dieser Revolte wiederzuerkennen.

Das Aufbrechen eines neuen sozialen Raumes, verstanden als Terrain für Experimente und unerwartete Begegnungen und nicht bloß als ein an eine Befreiung von Gebieten gebundener physischer Raum, ist von entscheidender Bedeutung. Denn, wenn man vom vorhergehenden Befund des „Negativen“ ausgeht, wonach die einzige verbleibende Gemeinschaft jene des Kapitals ist, dann bestünde das Zeichen für jeden möglichen Beginn einer tatsächlichen Emanzipation im Ansatz einer Umwälzung dieser Rollen und Trennungen, das heißt, in der Subversion der sozialen Beziehungen. Auch wenn jeder gezwungenermaßen von dem ausgeht, was er ist, erfordert die Ausweitung der Revolte nicht nur, dass es viele gibt, die sich jenseits der Kategorien in ihr wiedererkennen, sondern auch, dass eine wirkliche Dialektik unter diesen verschiedenen Revoltierenden entsteht. Und damit diese letztere in Gang kommen kann, besteht, jenseits der entrissenen Zeit, welche Selbstorganisation und ein Ansatz von Projektualität ermöglicht, die Notwendigkeit von einem Raum für Konfrontation.Wenn wir oft hörten, dass der Angriff auf einen der Knotenpunkte einer totalisierenden Welt darauf hinausläuft, die Gesamtheit zu bekämpfen, dann bietet das Durchbrechen des normalen Laufs der Dinge ein weiteres Beispiel dafür: die Blockierung der Straßen- und Eisenbahntransporte oder die Störung der Stromzuleitungen (von Läden, Verwaltungsgebäuden, Unternehmen), Digital- oder Funkübertragungen (von Radaranlagen, Telefon, Radio/Fernsehen) bietet den Aufständischen schon von Beginn der Revolte an die Möglichkeit, die historische Zeit zu beschleunigen und die Öffnung jenes Raumes herbeizuführen, der dafür lebenswichtig ist.

In einer Welt, die ohne Unterlass in Richtung Bürgerkrieg drängt, klammert sich noch immer ein großer Teil der Bevölkerung am Staat fest, in der Hoffnung, jenes Bisschen zu bewahren, das ihnen noch bleibt. Im November 2005 haben die Begegnungen nur wenig stattgefunden, die durch die Intensivierung des sozialen Krieges möglich wurden und die zu einer generalisierten Revolte führen könnten. Im Dezember 2008 in Griechenland haben sie sich gesucht. In beiden Fällen erlebten wir eine Explosion der Wut, die zur Revolte wurde, doch die soziale Ausbreitung dieser letzteren stieß beide Male auf denselben Mangel an Zeit und an Raum, diesem unentbehrlichen Sauerstoff für eine Subversion der sozialen Beziehungen. Was vielleicht in beiden Fällen fehlte, ist jenes kleine Nichts, das trotz der Menge an Brandstiftungen kaum Verfechter fand: der Bruch mit der Routine der Ausbeutung für einen Großteil der Bevölkerung durch die konsequente Sabotage von Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen.

Eine Frage bleibt noch aus: der Übergang von generalisierten Revolten zur Insurrektion, das heißt, die Überwindung des rein Negativen gegenüber gewissen Aspekten der Herrschaft hin zum „Traum von einer anderen Welt“.

Abgesehen von einigen spezifischen Kontexten, in denen eine Kontinuität der revolutionären Bewegung und eine besondere Geschichte von Kämpfen jenes Bestreben möglicherweise noch immer verbreitet halten, scheinen heute die einzigen kritischen Projekte „im Positiven“ eher von der Seite der Reaktion zu kommen: die Rückkehr zu einem goldenen Zeitalter (verkörpert durch präkoloniale oder präkapitalistische Gemeinschaftsformen, die noch nie einen sehr ausgesprochenen Geschmack für die Freiheit des Individuums hatten), oder eine Wiedereinrichtung der religiösen Pest (gefördert durch gewisse protestantische Sekten, sowie durch die Anhänger eines radikalen Islams).

Dem entgegen könnten sich einige damit beruhigen, dass sie sich sagen, das Problem der Novemberrevolte 2005 habe eher ihre Generalisierung als ihren (durchaus begrenzten) Inhalt betroffen, und man müsse folglich in diese Richtung arbeiten, um ein gemeinsames und emanzipatorisches „Positives“ zu suchen. Man kann jedoch nicht behaupten, dass wir uns in Frankreich in einer Periode intensiver Konfliktualität befänden – die 70er Jahre liegen fern – und diese Revolte bleibt zu dieser Stunde noch immer ein ziemlicher Ausnahmefall. Man kann wohl auch sagen, dass eine der aufzuwerfenden Fragen weniger „wieso ist das ausgebrochen?“, sondern „wieso bricht das nicht öfters aus?“ lautet. Bleibt noch zu sagen, dass die Herrschaft dem Antagonismus immer mehr vorauseilt, was ihr beispielsweise erlaubt, die präventiven Maßnahmen zu vervielfachen (Ausweitung der Videoüberwachung, immer diversifiziertere und massentauglichere Formen der Einsperrung, härtere Bestrafung von „unzivilisiertem Verhalten“ und Kreierung neuer Delikte, stetige Häufung der Hüter des sozialen Friedens, Vorbereitung auf gemeinsame Interventionen von Polizei und Militär). Dazu kommt – die historische Erfahrung und das Bewusstsein über die zeitgenössischen Wutausdrücke drängen es auf –, dass wohl bekannt ist, dass die Spannung Bürgerkrieg/sozialer Krieg die gesamte Gesellschaft, aber auch jedes Individuum durchdringt: in einer Aufruhrsituation kann das Beste wie das Schlimmste geschehen und, je nach Momenten und Situationen, kann ein und dieselbe Person das eine wie das andere begehen.

Die Revolte vom November 2005 in Frankreich lässt uns dennoch nicht völlig als Waisen zurück, selbst wenn die aufmerksame Betrachtung der Konfliktualität – zumindest in Europa – eher eine Verbreitung von Unruhen vermuten lässt, das heißt, eines Antagonismus ohne Projektualität, der in eine beliebige Richtung ausbrechen kann. Sie bietet sogar den pessimistischsten Analysten der Wirklichkeit eine wertvolle Hypothese: das Negative der Revolte wurde nicht vollständig von dem eingeholt, was einige auf den Nihilismus der Herrschaft beschränken. Besser noch, wenn die Explosion vom November nicht die Ausnahme war, die die Regel bestätigt, sondern der noch stockende Ausdruck der Rückkehr einer radikalen sozialen Kritik aller Aspekte des Bestehenden (jedoch ohne Traum), dann können wir, zumindest hier, noch immer ernsthaft in Betracht ziehen, im Innern des Negativen zu wirken, die Erhaltung und das Teilen unserer Träume in Aussicht. Es ist nicht die Rückkehr der Kosaken, aber ein Horizont, der erreichbar bleibt: eine verbreitete Revolte, die sich vielleicht in eine noch nie da gewesene Form von Insurrektion verwandeln könnte, wenn es ihr gelingt, auf ausreichend Raum und Zeit zu stoßen. Ein Raum und eine Zeit, zu deren Vertiefung die Anarchisten sicherlich beitragen können, wenn sie weder ihrer individuellen Ethik gegenüber den immer vielschichtigeren Situationen der Revolte, noch ihrer Projektualität im Namen der Komplexität der gegenwärtigen Formen der Herrschaft entsagen.

[1] Der französische Begriff mouvementiste verweist auf die Haltung, im Allgemeinen auf soziale Bewegungen zu warten, ihnen hinterher zu laufen, um sie irgendwie zu radikalisieren. Die Aktivität in den Perioden zwischen diesen sozialen Bewegungen fällt dann meistens ziemlich niedrig aus.

[2] gauchistisch ist in Frankreich eine Bezeichnung für linksradikale Bewegungen (links von der Kommunistischen Partei).

[3] Es gab gewiss einen Mangel an Informationen, aber die Verzerrungen, die sowohl durch den Fernseher, wie durch gewisse erhältliche Texte erzeugt wurden, hat dem nicht abgeholfen. Wir denken insbesondere an Spanien mit den Fantasmen von Miguel Amorós (La cólera del suburbio in Golpes y contragolpes, Edition Pitas de calabaza & oxigeno, Logroño, Dezember 2005, S. 83-95) und an Deutschland mit den journalistisch-soziologischen Dummheiten, die erschienen in Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei, Assoziation A, Berlin/Hamburg, September 2009, 280 S.


Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 3, Juni 2011. Teil des Dossier "Insurrektion".