Errico Malatesta

Die beiden Wege: Reformen oder Revolution? Freiheit oder Diktatur?

1920

Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse können nicht ewig dauern – nunmehr kann man sagen, dass sie nicht mehr lange dauern können.

Darüber sind sich alle einig – zumindest alle, die nachdenken. Konservative im wirklichen Sinne des Wortes gibt es nicht mehr.

Es gibt jedoch solche, die vom Augenblick profitieren wollen, die vor allem solange wie möglich im Genuss ihrer Privilegien bleiben wollen und sich nicht darum kümmern, ob nach ihnen die Sintflut kommt. Und es gibt auch üble Reaktionäre, die die Entwicklung der Welt nach rückwärts lenken, jeden Befreiungsversuch im Blut ersäufen und die Massen der Herrschaft des Schwertes unterwerfen wollen. Aber es ist alles vergeblich. Die Reaktion kann lediglich die aufsteigende Morgenröte mit blutigerem Rot färben, aber es wird ihr nicht gelingen, die drohende Katastrophe zu verhindern.

Die Massen wollen sich nicht mehr unterwerfen.

Solange man glaubte, dass Leiden eine von Gott auferlegte Strafe oder Prüfung seien und dass man in einer anderen Welt reichlich für alles auf dieser Welt erlittene Unglück entlohnt werden würde, war die Errichtung und Aufrechterhaltung eines ungerechten Systems möglich, in dem Wenige anderen ihren Willen aufzwingen und sie nach ihrem Belieben ausbeuten und unterdrücken.

Aber dieser Glaube, der zudem niemals sehr wirksam war, da er nie verhindern konnte, dass sich die Menschen um ihre irdischen Interessen kümmern (weshalb es der Religion nicht gelungen ist, Rebellionen zu verhindern und den Fortschritt vollständig zu unterdrücken), dieser Glaube, behaupte ich, hat stark nachgelassen und ist dabei zu verschwinden. Selbst die Priester sehen sich gezwungen – um die Religion und mit dieser auch sich selbst zu retten – so zu tun, als wollten sie die soziale Frage lösen und das Leiden der Arbeiter mildern.

Sobald die Arbeiter ihre gesellschaftliche Situation begreifen, ist es unmöglich, dass sie für alle Zeiten bereit sind, zu arbeiten, zu leiden und ihr ganzes Leben lang für die Unternehmer zu produzieren, mit nichts weiter vor sich als der düsteren Aussicht auf ein Alter ohne gesichertes Heim und ohne gesicherte Nahrung, Es ist unmöglich, dass sie, die die Produzenten jeglichen Reichtums sind und wissen, dass sie genug produzieren können, um die Bedürfnisse aller reichlich zu befriedigen, sich für alle Zeiten mit einem armseligen Leben abfinden, das ständig vom Gespenst der Arbeitslosigkeit und des Hungers bedroht ist. Sie, die über eine bessere Ausbildung verfügen, sich in der Berührung mit einer – wenn auch zum Nutzen anderer geschaffenen – Kultur gebildet haben und bereits die Stärke, die ihnen Einheit und Kühnheit verleihen können, erfahren haben, können sich unmöglich damit zufrieden geben, die untere und verachtete Klasse zu bleiben und nicht zu einem großen Teil die Freuden des Lebens für sich zu fordern. Wer heute Proletarier ist, weiß, dass er in der Regel dazu verurteilt ist, sein ganzes Leben Proletarier zu bleiben, es sei denn, es käme zu einer allgemeinen Änderung der gesellschaftlichen Ordnung. Er weiß, dass diese Änderung nicht ohne die Mitwirkung der anderen Proletarier zustande kommen kann und sucht daher die zu ihrer Durchsetzung erforderliche Stärke in der Einheit aller Proletarier.

Die Bourgeoisie und die Regierenden, die diese vertreten und schützen, sind sich dieser Tatsache bewusst und sehen die Notwendigkeit, auf die eine oder andere Weise Vorkehrungen zu treffen, um nicht von einer schrecklichen gesellschaftlichen Katastrophe überrollt zu werden, umso mehr, als es nicht an klugen Bourgeois fehlt, die begreifen, dass der gegenwärtige Aufbau der Gesellschaft unhaltbar und im Grunde genommen auch für seine Nutznießer selbst verhängnisvoll ist.

Daher ist früher oder später eine plötzliche oder schrittweise Änderung notwendig.

Aber wie wird diese Veränderung beschaffen sein und wie weit wird sie gehen?

Die jetzige Gesellschaft ist in Besitzende und Proletarier geteilt. Sie kann geändert werden, indem die Daseinsbedingung des Proletariers abgeschafft wird und alle zu Mitbesitzern des gesellschaftlichen Reichtums werden. Sie kann aber auch geändert werden, indem diese grundsätzliche Bedingung aufrechterhalten wird, den Arbeitern jedoch eine bessere Behandlung zuteil wird. Im ersten Fall wären die Menschen frei und sozial gleich, sie würden das gesellschaftliche Leben entsprechend den Wünschen eines jeden organisieren und sämtliche Möglichkeiten der menschlichen Natur könnten sich unbegrenzt entfalten. Im zweiten Fall wären die Proletarier wohlgenährte Lasttiere und in der Lage von Sklaven, die mit ihren gütigen Herren zufrieden sind.

Freiheit oder Sklaverei: Anarchie oder Knechtschaft.

Aus diesen beiden möglichen Lösungen ergeben sich zwei divergierende Richtungen, die am konsequentesten auf der einen Seite von den Anarchisten und auf der anderen von den sogenannten reformistischen Sozialisten vertreten werden. Der Unterschied ist folgender: während die Anarchisten wissen und sagen was sie wollen, nämlich die Zerstörung des Staates und die freie Organisation der Gesellschaft auf der Grundlage ökonomischer Gleichheit, befinden sich die Reformisten im Widerspruch zu sich selbst, da sie sich als Sozialisten bezeichnen, während sie in Taten darauf abzielen, das kapitalistische System zu humanisieren und es dadurch zu verewigen und somit den Sozialismus negieren, der vor allem Aufhebung der Teilung der Menschen in Proletarier und Besitzende bedeutet.

Aufgabe der Anarchisten – und wir würden sagen aller wahren Sozialisten – ist es, sich dieser Tendenz zur Knechtschaft zu widersetzen, einer Tendenz zu einem Zustand gemäßigter Sklaverei, der die Menschheit ihrer besten Eigenschaften und die fortschreitende Zivilisation ihrer höchsten Errungenschaften berauben würde, unterdessen aber auch die elende Lage und die Erniedrigung, in der die Massen leben, aufrechterhält, indem ihnen gepredigt wird, Geduld zu haben und alle Hoffnung in die Fürsorge des Staates und die Güte und Klugheit der Unternehmer zu setzen.

Die ganze sogenannte Sozialgesetzgebung, die ganzen staatlichen Maßnahmen, die die Arbeit »schützen« und den Arbeitern ein Minimum an Wohlstand und Sicherheit garantieren sollen, sind, ebenso wie die ganzen von klugen Kapitalisten angewandten Methoden, den Arbeiter mit Prämien, Renten und anderen Vergünstigungen an die Fabrik zu binden, wenn nicht eine Lüge und eine Falle, so doch ein Schritt zu dieser Knechtschaft, die die Emanzipation der Arbeiter und den Fortschritt der Menschheit bedroht.

Gesetzlich festgesetzte Mindestlöhne, gesetzliche Begrenzung des Arbeitstages, obligatorisches Schlichtungsverfahren, rechtsverbindliche Tarifverträge, Rechtspersönlichkeit der Arbeitervereinigungen, von der Regierung vorgeschriebene Hygienemaßnahmen in den Fabriken, staatliche Kranken-, Arbeitslosen-, Unfallversicherungen, Altersrenten, Gewinnbeteiligung usw. usw. sind allesamt Maßnahmen dafür, dass die Proletarier ewig Proletarier und die Besitzenden ewig Besitzende bleiben, Maßnahmen, die den Arbeitern (wenn überhaupt) ein wenig mehr Wohlstand und Sicherheit verschaffen, sie jedoch ihrer ohnehin geringen Freiheit berauben und die Teilung der Menschen in Herren und Knechte verewigen.

Es ist sicher richtig, dass die Arbeiter in Erwartung der Revolution – die dadurch auch einfacher wird – die Forderung erheben, mehr zu verdienen und weniger und unter besseren Bedingungen zu arbeiten; es ist gut, dass die Arbeitslosen nicht vor Hunger sterben, dass die Kranken und Alten nicht ihrem Schicksal überlassen werden. Aber das und anderes können und müssen die Arbeiter von sich aus erreichen, durch den direkten Kampf gegen die Unternehmer, mit Hilfe ihrer Organisationen, mit individuellen und kollektiven Aktionen, die in jedem Individuum das Gefühl persönlicher Würde und das Bewusstsein seiner Rechte entwickeln.

Geschenke des Staates, Geschenke der Unternehmer sind vergiftete Früchte, die den Samen der Knechtschaft in sich tragen. Sie müssen zurückgewiesen werden.

***

Hat man einmal erkannt, dass alle Reformen, die die Teilung der Menschen in Besitzende und Proletarier und damit das Recht einiger weniger, von der Arbeit der anderen zu leben, unangetastet lassen, Reformen, die als wohltätige Zugeständnisse des Staates und der Unternehmer erreicht und akzeptiert werden, nur die Rebellion der Unterdrückten gegen die Unterdrücker abschwächen und einen Zustand der Knechtschaft herbeiführen können, in dem die Menschheit endgültig in herrschende und beherrschte Klassen geteilt wäre, dann bleibt keine andere Lösung als die Revolution: eine radikale Revolution, die den ganzen Staatsorganismus zerschlägt, die Besitzer des gesellschaftlichen Reichtums enteignet und alle Menschen ökonomisch und politisch gleichstellt.

Diese Revolution muss notwendigerweise gewaltsam sein, obwohl Gewalt an sich ein Übel ist. Sie muss gewaltsam sein, weil es Torheit wäre zu hoffen, dass die Privilegierten die Schädlichkeit und Ungerechtigkeit ihrer Privilegien einsehen und sich entschließen, freiwillig auf sie zu verzichten. Sie muss gewaltsam sein, weil die vorübergehende revolutionäre Gewalt das einzige Mittel ist, der größeren, fortwährenden Gewalt ein Ende zu bereiten, die die breite Masse der Menschen in einem Zustand der Sklaverei hält. Man mag auch Reformen durchfuhren, wenn sie möglich sind. Sie können dann momentan von Vorteil sein und bewirken, dass die Massen zu immer größeren Ansprüchen und zu immer weitergehenden Forderungen angespornt werden, wenn die Proletarier sich das Bewusstsein dafür bewahren, dass Unternehmer und Regierende ihre Feinde sind, dass alle ihre Zugeständnisse ihnen mit Gewalt oder durch die Angst vor Gewalt entrissen wurden und schnell wieder zurückgenommen würden, wenn diese Angst nicht mehr bestünde. Kämen die Reformen dagegen durch Vereinbarungen und Zusammenarbeit zwischen Herrschenden und Beherrschten zustande, würden sie nur noch die Ketten verstärken, mit denen die Arbeiter vor den Karren der Parasiten gespannt sind.

Im Übrigen scheint die Gefahr heute überwunden zu sein, dass Reformen die Massen besänftigen und zu einer Festigung und Verewigung des bürgerlichen Systems fuhren. Nur durch bewussten Verrat jener, denen es mit sozialistischer Propaganda gelungen ist, das Vertrauen der Arbeiter zu erwerben, könnte diesen Reformen ein Wert zuerkannt werden.

Die Blindheit der herrschenden Klasse und die durch den Krieg beschleunigte naturwüchsige Entwicklung des kapitalistischen Systems haben zur Folge, dass jede für die Besitzenden annehmbare Reform unfähig ist, die Krise zu beenden, die das Land erschüttert.

Daher ist die Revolution zwingend, daher wird die Revolution kommen.

Aber wie muss diese Revolution durchgeführt werden, wie muss sie vor sich gehen?

Am Anfang muss natürlich die Erhebung stehen, die das materielle Hindernis, die bewaffneten Kräfte der Regierung, die sich jeder gesellschaftlichen Veränderung widersetzen – hinwegfegt. Da wir uns in einer Monarchie befinden, ist es wünschenswert und vielleicht unerlässlich, dass an der Erhebung sämtliche antimonarchistischen Kräfte beteiligt sind.[1] Darauf muss man sich moralisch und materiell so gut es nur irgend geht vorbereiten und vor allem von allen spontanen Unruhen im Volk profitieren und versuchen, sie auszudehnen und in entscheidende Bewegungen zu verwandeln, damit die Gefahr vermieden wird, dass, während die Parteien sich vorbereiten, die Kräfte des Volkes in isolierten Aktionen verbraucht werden.

Aber was muss nach der siegreichen Erhebung, nach dem Fall der Regierung getan werden?

Wir, die Anarchisten, wollen, dass in jedem Ort die Arbeiter oder genauer derjenige Teil der Arbeiter mit dem größeren Bewusstsein und dem größeren Initiativgeist, alle Arbeitswerkzeuge, allen Reichtum, Grund und Boden, Rohstoffe, Häuser, Maschinen, Lebensmittel usw. in Besitz nehmen und auf bestmögliche Weise die neue Form des gesellschaftlichen Lebens organisieren. Wir wollen, dass die Landarbeiter, die heute für Landbesitzer arbeiten, die Rechte der Besitzenden nicht mehr akzeptieren, die Arbeit zum eigenen Nutzen weiterfuhren und intensivieren und für den Austausch der Produkte mit den Industrie- und Transportarbeitern in Verbindung treten; dass die Industriearbeiter, Ingenieure und Techniker eingeschlossen, die Fabriken in Besitz nehmen, die Arbeit zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der Gesamtheit weiterführen und intensivieren und sofort die Produktion aller Fabriken, die heute unnütze oder schädliche Erzeugnisse herstellen, auf die Produktion der für die Bedürfnisse der Öffentlichkeit am dringendsten erforderlichen Erzeugnisse umstellen; dass die Eisenbahner weiterhin für den Betrieb der Eisenbahnen sorgen, aber im Dienst der Gesamtheit; dass Komitees von Freiwilligen oder von der Bevölkerung Gewählten unter direkter Kontrolle der Masse von allen verfügbaren Wohnungen Besitz ergreifen, um, so gut es der Augenblick erlaubt, die Bedürftigsten zu beherbergen; dass weitere Komitees ebenfalls unter direkter Kontrolle der Masse die Versorgung und Verteilung der Lebensmittel übernehmen; dass sämtliche Angehörige der jetzigen Bourgeoisie gezwungen werden, in der Masse der bisherigen Proletarier aufzugehen und wie die anderen zu arbeiten, um dieselben Vorteile wie die anderen zu genießen. Und all dies sofort, noch am Tag der siegreichen Erhebung oder am folgenden Morgen, ohne auf Befehl eines Zentralkomitees oder irgendeiner anderen Autorität zu warten.

Das ist es, was die Anarchisten wollen und das würde auch spontan geschehen, wenn die Revolution wirklich eine soziale Revolution und nicht nur einfach eine politische Änderung sein soll, die nach einigen Umwälzungen wieder die früheren Verhältnisse einführen würde.

Denn entweder nimmt man der Bourgeoisie sofort die ökonomische Macht, oder sie ergreift in kurzer Zeit auch wieder die politische Macht, die ihr durch die Erhebung entrissen wurde. Und um der Bourgeoisie die ökonomische Macht nehmen zu können, muss sofort eine neue ökonomische Ordnung auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Gleichheit organisiert werden. Die ökonomischen Bedürfnisse, zumindest die grundlegendsten, gestatten keinen Aufschub und müssen sofort zufriedengestellt werden. Die »zentralen Komitees« tun nichts oder aber werden erst dann aktiv, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.

***

Im Gegensatz zu den Anarchisten gibt es viele Revolutionäre, die kein Vertrauen in den schöpferischen Geist der Massen haben, die glauben, dass sie das unfehlbare Rezept für das universale Glück besitzen, die mögliche Reaktion, vielleicht mehr noch die Konkurrenz anderer Parteien und gesellschaftsreformerischer Schulen fürchten und daher die Macht ergreifen und die heutige »demokratische« Regierung durch eine diktatorische Regierung ersetzen wollen.

Also eine Diktatur: aber wer werden die Diktatoren sein? Sie meinen natürlich die Führer ihrer Partei. Weil sie es so gewohnt sind oder aus dem bewussten Wunsch heraus, klare Erklärungen zu vermeiden, sagen sie auch Diktatur des Proletariats, aber diese hat sich nunmehr endgültig als Farce erwiesen.

Lenin (oder jemand an seiner Stelle) drückt sich folgendermaßen aus (siehe Avanti vom 20. Juli 1920[2]):

»Die Diktatur bedeutet Zerschlagung der Bourgeoisie durch eine revolutionäre Avantgarde (das ist die Revolution und nicht schon die Diktatur), im Gegensatz zu der Auffassung, dass es vor allem notwendig sei, bei den Wahlen eine Mehrheit zu erringen. Die Mehrheit erlangt man durch die Diktatur und nicht etwa die Diktatur durch die Mehrheit.« (Das ist richtig, aber wenn eine Minderheit die Macht ergriffen hat und dann die Mehrheit erringen muss, ist es eine Lüge, von der Diktatur des Proletariats zu sprechen. Das Proletariat ist ganz offensichtlich die Mehrheit). »Die Diktatur bedeutet Anwendung von Gewalt und Terror.« (Durch wen und gegen wen? Da angenommen wird, dass sich die Mehrheit ablehnend verhält und da sich die Anhänger der Diktatur nicht vorstellen können, dass die Massen ihre Ketten abwerfen und die öffentlichen Angelegenheiten selbst in die Hände nehmen, müssen offenbar Gewalt und Terror gegen alle angewandt werden, die sich dem Willen der Diktatoren nicht unterwerfen, und zwar mit Hilfe von Schergen, die im Dienste dieser Diktatoren stehen).

»Die Zulassung der Presse- und Versammlungsfreiheit hieße der Bourgeoisie gestatten, die öffentliche Meinung zu vergiften.« (Nach Errichtung der Diktatur des »Proletariats«, das aus der Gesamtheit der Arbeiter bestehen müsste, gibt es also noch eine Bourgeoisie, die, statt zu arbeiten, in der Lage sein wird, die »öffentliche Meinung« zu vergiften, eine öffentliche Meinung, die nichts mit jenen Proletariern zu tun hat, die die Diktatur bilden sollen? Es wird also allmächtige Zensoren geben, die entscheiden werden, was gedruckt werden darf und was nicht und Polizeipräsidenten, die man um Erlaubnis bitten muss, wenn man eine Versammlung abhalten will. Unnötig zu sagen, wie die Freiheit aussehen würde, die man denen lässt, die den jeweils Herrschenden nicht gehorchen).

»Erst nach der Expropriation der Expropriateure, nach dem Sieg, wird das Proletariat die Massen der Bevölkerung für sich gewinnen, die zuvor der Bourgeoisie folgten.« (Aber noch einmal: was ist das für ein Proletariat, das nicht die arbeitende Masse ist? Proletarier heißt also nicht, wer kein Eigentum hat, sondern wer bestimmte Ideen hat und einer bestimmten Partei angehört?) Lassen wir also diesen irrigen Begriff der Diktatur des Proletariats, der Anlass zu zahlreichen Missverständnissen ist, beiseite und befassen wir uns damit, was Diktatur wirklich bedeutet, nämlich absolute Herrschaft einer oder mehrerer Personen, die mit Unterstützung einer Partei oder einer Armee die gesellschaftliche Macht ergreifen und ihren Willen mit »Gewalt und Terror« durchsetzen.

Wie dieser Wille beschaffen sein wird, hängt davon ab, welchen Menschen es in der konkreten Situation gelingen wird, in den Besitz der Macht zu gelangen. In unserem Fall nehmen wir an, dass es der Wille der Kommunisten sein wird, ein Wille also, der von dem Wunsch beseelt ist, das Wohl aller zu verwirklichen.

Dies ist schon deshalb sehr zweifelhaft, weil diejenigen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten am ehesten in der Lage sind, die Macht zu ergreifen, im allgemeinen nicht die Aufrichtigsten sind, die sich der Sache der Öffentlichkeit am meisten verpflichtet fühlen; und wenn man den Massen die Notwendigkeit der Unterwerfung unter eine neue Regierung predigt, ebnet man damit nur den Weg für Intriganten und ehrgeizige Streber.

Aber nehmen wir einmal an, dass die neuen Regierungen, die Diktatoren, welche die Ziele der Revolution verwirklichen sollen, wahre Kommunisten sind, voll Eifer und überzeugt, dass von ihrem Werk, von ihrer Energie das Glück der Menschheit abhängt. Es wären Menschen von der Art eines Torquemada[3] oder Robespierre[4], die für einen guten Zweck und im Namen des privaten oder öffentlichen Wohls jeden Widerspruch ersticken und jeden Ansatz freien und spontanen Lebens zerstören würden: unfähig, die praktischen Probleme zu lösen, die sie der Zuständigkeit der Betroffenen entzogen haben, müssten sie dann im guten oder im bösen ihren Platz den Restauratoren der Vergangenheit überlassen.

Prinzipiell gerechtfertigt wird die Diktatur mit der Unfähigkeit der Massen und der Notwendigkeit, die Revolution vor reaktionären Angriffen zu schützen.

Wären die Massen wirklich diese wilde Herde, die unfähig ist, ohne den Hirtenstab zu leben, gäbe es nicht schon eine ausreichend große und bewusste Minderheit, die fähig ist, die Massen durch Propaganda und Beispiele mitzureißen, dann würden wir schon eher die Reformisten verstehen, die die Volkserhebung fürchten und die Illusion haben, sie könnten allmählich, durch kleine Reformen, die nichts als Flickwerk sind, den bürgerlichen Staat untergraben und den Weg zum Sozialismus ebnen; wir würden diese Erzieher besser verstehen, die den Einfluss der Umwelt nicht genügend in Betracht ziehen und daher hoffen, die Gesellschaft verändern zu können, indem sie zuerst alle Individuen ändern; jedoch könnten wir keinesfalls die Anhänger der Diktatur verstehen, die die Massen »mit Gewalt und Terror« erziehen und bessern wollen und somit Gendarmen und Zensoren zu den obersten Instanzen dieser Erziehung machen müssten.

In Wirklichkeit könnte niemand die revolutionäre Diktatur errichten, wenn nicht zuvor das Volk die Revolution gemacht und so durch Taten bewiesen hätte, dass es fähig ist, sie zu machen; und in diesem Fall würde sich die Diktatur nur der Revolution aufpfropfen, sie irreleiten, ersticken und abtöten.

Bei einer politischen Revolution, deren ganzes Ziel ist, die Regierung zu Fall zu bringen während die ganze herrschende gesellschaftliche Organisation unangetastet bleibt, ist es möglich, ein diktatorisches Regime zu errichten, das seine Anhänger an die Stelle der verjagten Beamten setzt und von oben her die neue Herrschaft organisiert.

Bei einer sozialen Revolution jedoch, in der sämtliche Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens umgewälzt werden, in der die absolut notwendige Produktion sofort zum Nutzen und Vorteil der Arbeiter wiederaufgenommen werden muss, in der die Verteilung unverzüglich nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit geregelt werden muss, hätte eine Diktatur keinerlei Funktion. Entweder würde das Volk in den verschiedenen Gemeinden und Industrien selbst alles in die Hand nehmen oder aber die Revolution wäre gescheitert.

Im Grunde genommen wünschen die Anhänger der Diktatur (und einige geben es bereits offen zu) für sofort vielleicht nur eine politische Revolution, das heißt sie wollen ohne weiteres die Macht ergreifen und dann die Gesellschaft schrittweise durch Gesetze und Verordnungen verändern. In diesem Fall würden sie wahrscheinlich die Überraschung erleben, ganz andere an der Macht zu sehen als sich selbst; aber in jedem Fall müssten sie als erstes für die Organisation der bewaffneten Gewalt (die Polizisten) sorgen, die notwendig ist, um die Einhaltung ihrer Gesetze zu erzwingen. Unterdessen würde die Bourgeoisie, die im wesentlichen Besitzerin des Reichtums geblieben wäre, nach Überwindung der kritischen Phase des Volkszorns die Reaktion vorbereiten, die Reihen der Polizei mit eigenen Agenten füllen, das Unbehagen und die Enttäuschung jener ausbeuten, die die sofortige Verwirklichung des Paradieses auf Erden erwartet hatten... und wieder die Macht ergreifen, indem sie entweder die Diktatoren für sich gewinnt oder sie durch ihre eigenen Leute ersetzt.

Die Angst vor der Reaktion, die als Rechtfertigung für die Diktatur dient, entsteht gerade dadurch, dass man vorgibt, die Revolution zu machen und gleichzeitig noch eine privilegierte Klasse bestehen lässt, die in der Lage ist, erneut die Macht ergreifen zu können.

Wenn man dagegen mit der vollständigen Enteignung beginnt, dann wird es keine Bourgeoisie mehr geben und alle Lebenskräfte des Proletariats, alle vorhandenen Fähigkeiten, können für den Wiederaufbau der Gesellschaft eingesetzt werden.

Im Übrigen könnte in einem Land wie Italien (um das bereits Gesagte auf das Land anzuwenden, in dem sich unsere Aktivitäten abspielen), in einem Land, in dem die Massen von libertären und rebellischen Gedanken erfüllt sind, in dem die Anarchisten – weniger durch ihre Organisation als durch den Einfluss, den sie ausüben können – eine beträchtliche Kraft darstellen, der Versuch, eine Diktatur zu errichten, nur den Bürgerkrieg zwischen Arbeitern und Arbeitern entfesseln und nur mit Hilfe der grausamsten Gewaltherrschaft erfolgreich sein.

Dann gute Nacht Kommunismus!

Es gibt nur einen möglichen Weg der Rettung: die Freiheit

[1] In diese Richtung hatte Malatesta schon in seiner Broschüre Contro la Monarchia (1899) argumentiert, in der er für ein anti-monarchistisches Zweckbündnis zum Sturz der Monarchie warb: »Wir laden all die Feinde der Monarchie ein, die ernsthaft anstreben diese zu beenden, sich mit dieser Arbeit der praktischen Vorbereitung zu beschäftigen.« (Against the Monarchy (Appeal to all forward-looking men) (1899), in: Davide Turcato (Hg.): The Method of Freedom. Oakland: AK Press, 2014: 269–276. Hier: S.276)

[2] Der angesprochene Artikel ist mit »Geselle« gezeichnet und wurde unter dem Titel »Come Lenin rinunzia alia Dittatura del Proletario« (»Wie Lenin auf die Diktatur des Proletariats verzichtet«) in der Zeitschrift Avanti, dem Organ der Sozialistischen Partei Italiens veröffentlicht. Die Ausführungen Geselles wandten sich gegen eine, so meinte er, in sozialdemokratischen Kreisen geborene Legende, wonach Lenin und die Bolschewiki ihre Theorien verwässert hätten, um die Anziehungskraft der gerade erst gegründeten Dritten Internationale zu vergrößern. Geselle listet – wohl um die anti-opportunistische Linienfestigkeit Lenins zu demonstrieren – dagegen zehn Punkte, über Notwendigkeit und Charakter der Diktatur des Proletariats auf, welche zu akzeptieren, für alle Kandidaten zur Pflicht gemacht wurde, die in die Dritte Internationale aufgenommen werden wollten.

[3] Thomás de Torquemada (1420–1498): Erster Großinquisitor Spaniens, führend im Aufbau der spanischen Inqisition.

[4] Maximilien de Robespierre (1758–1794): Führender Jakobiner während der Französischen Revolution und Synonym für die tugendterroristische Politik des Wohlfahrtsausschusses 1793/94.


Aus: Errico Malatesta: Anarchistische Interventionen – Ausgewählte Schriften (1892–1931) S. 125
Zuerst veröffentlicht unter dem Titel »Le due vie: Riforme o rivoluzione? Libertà o dittatura?«, in: Umanità Nova (Mailand) Nummer 136 (5. August 1920), Nummer 142 (12. August 1920) und Nummer 145 (15. August 1920). Die Übersetzung aus dem Italienischen stammt von Elke Wehr und findet sich in: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 1. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1977: 126–135.