#title Die anarchistische Internationale und der Krieg #LISTtitle anarchistische Internationale und der Krieg #author Errico Malatesta, Emma Goldman, Alexander Berkman, Luigi Bertoni, u.a. #SORTauthors Malatesta, Errico; Goldman, Emma; Berkman, Alexander; Bertoni, Luigi; #SORTtopics Erster Weltkrieg, Antimilitarismus, Anarchie, Bellizismus, 1910-1919, #date Februar 1915 #source Entnommen aus: Hohmann, Andreas W. (Hg.) – Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale. Kapital braucht Kriege – wir nicht! Band 3. 2014, Edition AV, Lich/Hessen. #lang de #pubdate 2016-02-05T18:18:09 Europa steht in Flammen, zehn Millionen Männer kämpfen gegeneinander im schrecklichsten Gemetzel, das die Geschichte je gesehen hat, Millionen Frauen und Kinder weinen, das wirtschaftliche, geistige und sittliche Leben sieben großer Völker ist jäh zum Stillstand gelangt und jeden Tag droht neues, noch schlimmeres Unheil – das ist seit sieben Monaten das traurige, beängstigende, widerliche Schauspiel, das die zivilisierte Welt uns bietet. Allerdings ein vorhersehbares Schauspiel, zumindest für die Anarchisten, denn für sie gibt und gab es nie einen Zweifel – und die schrecklichen Ereignisse von heute bestätigen sie nur in dieser Gewissheit –, dass die bestehende Gesellschaftsordnung ständig mit dem Krieg schwanger geht und dass der bewaffnete Konflikt, ob begrenzt oder umfassend, in den Kolonien oder in Europa, die natürliche Konsequenz, die notwendige und zwangsläufige Folge eines Regimes ist, das auf der ökonomischen Ungleichheit der Bürger, auf dem schroffen Gegensatz der Interessen beruht, und in dem die Arbeiterschaft sich in strenger und schmerzlicher Abhängigkeit von einer kleinen Zahl von Parasiten befindet, die zugleich die politische und die wirtschaftliche Macht in ihren Händen halten. Der Krieg war unvermeidlich: egal aus welchem Anlass, er musste ausbrechen. Nicht umsonst häuft man seit einem halben Jahrhundert die gewaltigsten Waffenarsenale an, erhöht täglich die Budgets für den Tod. Wer ständig das Kriegsgerät perfektioniert, wer unaufhörlich versucht, die Gemüter und Meinungen auf eine bessere Organisation der Militärmaschine einzuschwören, der arbeitet nicht für den Frieden. Es ist auch naiv und kindisch, nach der Schaffung so vieler Gründe und Anlässe für Konflikte zu versuchen, die Schuld einer bestimmten Regierung zuzuschieben. Man kann nicht zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen unterscheiden. Im gegenwärtigen Konflikt haben sich die Regierungen in Berlin und Wien mit nicht weniger glaubwürdigen Dokumenten gerechtfertigt als die Regierungen von Paris, London oder Petrograd; und stünde, wer die unbestreitbarsten und maßgeblichsten Dokumente vorlegen könnte, um sein reines Gewissen zu beweisen und sich als mustergültiger Verteidiger von Recht und Freiheit auszugeben, an der Spitze der Zivilisation? Die Zivilisation? Wer verkörpert sie in diesem Augenblick? Der deutsche Staat mit seinem ungeheuer mächtigen Militarismus, der jede Revolte im Keim erstickt? Der russische Staat, dessen Überzeugungskraft allein in Knute, Galgen und Verbannung besteht? Der französische Staat mit Biribi[1], den blutigen Feldzügen in Tonkin[2], Madagaskar und Marokko, der Zwangsrekrutierung von schwarzen Truppen? Frankreich, in dessen Gefängnissen seit Jahren Genossen einsitzen, deren einzige Schuld darin besteht, sich mündlich oder schriftlich gegen den Krieg geäußert zu haben? Ist es England, dass die Bevölkerungen seines riesigen Kolonialreichs ausbeutet, spaltet, hungern lässt und unterdrückt? Nein, keine der Kriegsparteien hat ein Recht, sich auf die Zivilisation zu berufen, und keine darf für sich ein Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen. Die wahre Ursache der Kriege, desjenigen, der gegenwärtig die Regionen Europas mit Blut tränkt, wie aller vorherigen, liegt in der Existenz des Staates, der politischen Form des Privilegs. Der Staat ist militärischer Gewalt entsprungen, seine Entwicklung verdankt sich militärischer Gewalt und folgerichtig ist es wiederum militärische Gewalt, auf die er sich stützen muss, um seine Macht zu erhalten. Welche Form er auch annimmt, der Staat ist immer nur die organisierte Unterdrückung im Interesse einer privilegierten Minderheit. Der gegenwärtige Konflikt zeigt dies auf schlagende Weise: Alle Staatsformen beteiligen sich an diesem Krieg: der Absolutismus in der Gestalt Russlands; der mit parlamentarischen Elementen versetzte Absolutismus Deutschlands; der über Völker ganz unterschiedlicher Rassen herrschende Staat Österreichs; die konstitutionelle Demokratie Englands und die demokratische Republik Frankreichs. Es ist das Unglück der Völker, dass sie, obwohl zutiefst friedliebend, in den Staat mit seinen intriganten Diplomaten vertrauten, in die Demokratie und die politischen Parteien (selbst die oppositionellen des parlamentarischen Sozialismus), um den Krieg zu vermeiden. Dieses Vertrauen ist vorsätzlich missbraucht worden und wird weiterhin missbraucht, wenn die Regierungen mit Hilfe ihrer gesamten Presse ihre jeweiligen Bevölkerungen davon zu überzeugen versuchen, dass dieser Krieg ein Befreiungskrieg ist. Wir sind entschieden gegen jeden zwischenstaatlichen Krieg; und in neutralen Ländern wie Italien, wo die Regierenden beabsichtigen, neue Volksmassen ins Kriegsgetümmel zu werfen, stemmten und stemmen sich unsere Genossen mit aller Kraft gegen den Krieg und werden es immer tun. Die Rolle der Anarchisten, an welchem Ort und in welcher Lage innerhalb der derzeitigen Tragödie sie sich auch befinden, besteht darin, weiter zu verkünden, dass es in allen Ländern nur einen Befreiungskrieg gibt: denjenigen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter. Es ist unsere Rolle, die Sklaven zur Revolte gegen ihre Herrn aufzurufen. Die anarchistische Propaganda und Aktion müssen beharrlich darauf ausgerichtet sein, die verschiedenen Staaten zu schwächen und zu zersetzen, den Geist der Revolte zu kultivieren und die Unzufriedenheit in den Volksmassen und den Armeen zu schüren. Wir müssen alle Soldaten aller Länder, die überzeugt sind, für Gerechtigkeit und Freiheit zu kämpfen, erklären, dass ihr Heldenmut und ihre Tapferkeit nur dazu dienen, Hass, Tyrannei und Elend aufrechtzuerhalten. Es gilt, den Fabrikarbeitern ins Gedächtnis zu rufen, dass die Gewehre, die sich jetzt in Händen halten, in den Tagen des Streiks und der legitimen Revolte gegen sie verwendet wurden und später wieder gegen sie eingesetzt werden, um sie zu zwingen, sich der kapitalistischen Ausbeutung zu fügen. Den Bauern zu zeigen, dass sie sich nach dem Krieg wieder dem Joch beugen und das Land ihrer Herrn bestellen und die Reichen ernähren müssen. Allen Parias, dass sie ihre Waffen nicht abgeben dürfen, solange sie nicht mit ihren Unterdrückern abgerechnet und das Land und die Fabriken in ihren eigenen Besitz genommen haben. Zeigen wir den Müttern, den Töchtern, den Gefährtinnen, die an einem Übermaß an Elend und Entbehrung leiden, wer die wahren Verantwortlichen ihrer Schmerzen und des Mordes an ihren Vätern, Söhnen und Ehemännern sind. Wir müssen uns alle Regungen der Revolte, der Unzufriedenheit zunutze machen, um den Aufstand vorzubereiten, die Revolution zu organisieren, von der wir uns das Ende aller sozialen Ungerechtigkeiten erwarten. Kein Verzagen – selbst angesichts einer Katastrophe wie dem gegenwärtigen Krieg. Gerade in solch unruhigen Zeiten, in denen tausende Männer ihr Leben für eine Idee opfern, müssen wir diesen Männern die Vornehmheit, die Größe und Schönheit des anarchistischen Ideals verdeutlichen: die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit durch den freien Zusammenschluss der Produzenten; die endgültige Beseitigung von Krieg und Militarismus; die Eroberung der umfassenden Freiheit durch die vollständige Zerstörung des Staates und seiner Zwangsorgane. Es lebe die Anarchie! London, Februar 1915. – Léonard d’Abbot[3], Alexandre Berckman[4], L. Bertoni[5], L. Bersani, G. Bernard, A. Bemado, G. Barrett[6], E. Boudot[7], A. Gazitta, Joseph J. Cohen[8], Henri Combes[9], Nestor Ciek van Diepen, F.-W. Dünn[10], Ch. Frigerio[11], Emma Goldman[12], V. Garcia[13], Hippolyte Havel[14], T.-H. Keell[15], Harry Kelly[16], J. Lemarie, E. Malatesta[17], A. Marquez, F. Domela-Nieuwenhuis[18], Noël Paravich, E. Recchioni[19], G. Rijnders, I. Rochtchine, A. Savioli, A. Schapiro[20], William Shatoff[21], V.-J.-C. Schermerhom, G. Trombetti, P. Vallina[22], G. Vignati, L.-G. Wolf[23], S. Yanovsky[24]. [1] Biribi: Sammelbezeichnung für Straflager der französischen Armee in Nordafrika. Bekannt geworden durch den gleichnamigen Roman des anarchistischen Schriftstellers Georges Darien von 1890. [2] Tonkin oder Tongking, alte Bezeichnung für Nordvietnam. [3] Leonard D. Abbott (1878–1953), amerikanischer Anarchist und Pädagoge. [4] Alexander Berkman (1870–1936), in Russland geborener amerikanischer Anarchist und Schriftsteller. Bekannt als Verfasser des ABC des Anarchismus. [5] Luigi Bertoni (1872–1947), in der Schweiz aktiver italienischer Anarchist und Publizist. [6] George Barrett (d.i. George Ballard, 1883 oder 1888–1917), englischer Anarchist. [7] Edouard Boudot (1886-?), französischer Anarchist, der sich zu Kriegsbeginn nach England absetzte. [8] Joseph J. Cohen (1878–1953). jüdisch-amerikanischer Anarchist. [9] Henry Combes (1887–1925), französischer Anarchist. [10] Fred William Dünn (1884–1925), englischer Anarchist und Kriegsdienstverweigerung. Floh 1916 aus einem englischen Militärgefängnis in die USA. [11] Carlo Frigerio (1878–1966), italienisch-schweizerischer Anarchosyndikalist. [12] Emma Goldman (1869–1940), amerikanische Anarchistin, eine der „Leitfiguren“ des amerikanischen und internationalen Anarchismus im 20. Jahrhundert. [13] Vicente Garcia (1866–1930), spanischer Anarchist, lebte seit 1912 in London. [14] Hippolyte Havel (1871–1950), tschechisch-amerikanischer Anarchist. [15] Thomas Henry Keell (1866–1938), englischer Anarchist und zeitweiliger Herausgeber von Freedom. [16] Harry Kelly (1871–1953) amerikanischer Anarchist, vor allem in der Modern-School-Bewegung aktiv. [17] Errico Malatesta (1853–1932), Mitbegründer des Anarchismus in Italien und zu Lebzeiten eines der bekanntesten und populärsten Figuren des internationalen Anarchismus. [18] Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846–1919), holländischer Anarchist und Antimilitarist. [19] Emidio Recchioni (1864–1934), italienischer Anarchist, seit 1899 in London. [20] Alexander Schapiro (1882–1946) jüdisch-russischstämmiger Anarchist, aktiv in der internationalen anarchistischen Bewegung. [21] Wladimir Sergejevitsch Schatoff (auch William oder Bill Shatoff bzw. Shatov, 1887–1943), russischer Anarchosyndikalist. Emigrierte 1906 in die USA (kehrte 1917 nach Russland zurück). [22] Pedro Vallina Martinez (1879–1970), spanischer Arzt und Anarchist. [23] Lilian Gertrude Woolf (1875–1974), englische Anarchistin, Pazifistin und Feministin. [24] Saul Yanovsky (1864–1939), jüdisch-amerikanischer Anarchist, u.a. Herausgeber der Freien Arbeiter Stimme.