Anonym

Unsere Forderungen

Oktober 1883

Anarchie ist Ohn-Herrschaft – Herrschaftslosigkeit, im Gegensatz zur Monarchie, Ein-Herrschaft, wo der Will eines Einzelnen maßgebend ist für alle Uebrigen; im Gegensatz zur Oligarchie, der Herrschaft weniger, wie wir sie beispielsweise in den meisten Republiken finden, wie sie in Deutschland im Patrizierregiment der meisten freien Reichsfürste zu Tage trat; im Gegensatz endlich zur Omniarchie, der Herrschaft Aller, die unter der gebräuchlicheren Bezeichnung von „Demokratie“ das unerreichbare, weil an innerem Widerspruche leidende, Ideal der meisten vorgeschrittenen politischen Parteien bildet.

Wir Anarchisten wollen demnach vollständige Beseitigung jeder Herrschaft, in welcher Form dieselbe sich auch hüllen möge, durch welche Mittel immer dieselbe ihren Einfluß ausübe.

Wir wollen keinen Staat, weil der Staat eine Regierung voraussetzt. Wo Regierung ist, müssen Regierte sein. Regieren, heißt: beherrschen, knechten, tyrannisiren, heißt zum mindesten, die Freiheit seiner Mimenschen beeinträchtigen. Sich regieren lassen, heißt: sich blindlings dem Willen Anderer unterwerfen, knechtische Gesinnung hegen, Sklave sein, heißt zum mindesten, sich keiner individuellen Freiheit begeben. Regieren heißt: Tausende, Millionen Menschen zwingen das zu thun, was die Regierer, d.h. eine kleine Handvoll Menschen, in ihrem herschsüchtigen, oft kranken Hirn ausgebrütet haben. Sich regieren lassen, heißt: gutwillig, ohne ernstlichen Widerstand, auch das Unsinnigste, was die Regierer, die Herrscher, ausgeheckt haben, als Recht anerkennen, es ausführen, kurz, ihm gesellschaftliche Lebensfähigkeit verleihen; es heißt, sich seines heiligsten Rechtes berauben lassen, des Rechtes, über sich selbst zu verfügen wie es einem Jeden gutdünkt.

Während sich bei den Regierern der Autoritätenwahn, der Drang zu befehlen, zu herrschen, stufenweise steigert bis zur krankhaften Einmischungssucht, zur grausamsten Tyrannei, entwickelt sich andererseits bei den Regierten der Sinn der Unterwürfigkeit, der Personenkultus, gesteigert bis zur unwürdigsten Speichelleckerei, in einem Wort, der Autoritätenglauge.

Wir wollen keine Autorität, d.h. wir wollen nicht, daß irgend Jemand verpflichtet sei, etwas von vornherein als Recht und als richtig anzuerkennen, was ein Anderer erdacht; wir wollen, daß es jedem Individuum überlassen bleibe alle Ideen selbst zu prüfen, sich denjenigen zuzuwenden die es für die richtigen erkannt, daß es das unantastbare Recht habe, auch ihnen gemäß zu leben; wir wollen andererseits, daß es keinerlei Schranken für irgend Jemand gebe, abweichende Anschauungen auf jede Weise frei und ungeindert zum Ausdruck zu bringen, dafür vermittelst überzeugender Propaganda Anhänger zu gewinnen. Wir wollen in keiner der gesellschaftlichen Organisationen, welche die Zukkunft nothwendig machen wird, bindende Bestimmungen, die einer Autorität Rechte einräumen für gewisse Handlungen, welche die Freiheit des Individuums benachtheiligen. Man sagt uns: „Schon der geistig Ueberlegene ist eine Autorität, die Ihr nicht beseitigen könnt.“ Dies hat nichts zu sagen, denn wir heben die Einrichtungen auf, in welchen diese Autorität zu tyrannischer Macht gelangt; die gesetzlich privilegierte Autorität heben wir auf, welche zur Anerkennung ihrer Lehren zwingt. Den rein persönlichen Einfluß der überredenden Ueberzeugung, und den daraus resultirenden freien Vertrag der Individuen, wollen auch wir nicht abschaffen, es ist dies vielmehr einer der Grundpfeiler einer freiheitlich organisirten Gesellschaft, wie wir sie anstreben.

Wir wollen keine Gesetze. Wo es etwas Gesetzliches gibt, muß es auch etwas Ungesetzliches geben: dieser Begriff ist aber ganz unnatürlich, thatsächlich gibt es ja in der Natur nichts Ungesetzliches, alles vollzieht sich nach natürlichen Gesetzen: bestimmte Ursachen müssen bestimmte Wirkungen zur Folge haben. Dasselbe ist im gesellschaftlichen Leben der Fall. Gesetze, d.h. Erlasse und Vorschriften irgend einer Körperschaft können die Vollziehung dieses naturgemäßen Laufes der Dinge nicht hindern; dies sehen wir ja jetzt, wo die hunderttausende von bestehenden Gesetzen nicht im Stande sind ein einziges „Verbrechen“ zu verhindern. Aufgabe einer vernünftig organisirten Gesellschaft kann es also nicht sein, ohnmächtige Gesetze zu erlassen, mit zwecklosen „Strafen“ gegen die „Verbrecher“ vorzugehen, sondern die Aufgabe muß darin bestehen, die Ursachen zu beseitigen, welche zu den schädlichen Erscheinungen im gesellschaftlichen Leben führen.

Außerdem aber sind gemachte „Gesetze“ auch um deßwillen ein Unding, weil der Begriff von Recht und Unrecht ja fortwährenden Veränderungen unterliegt, je nach dem Standpunkte der Entwickelung der Gesellschaft. Wo soll der Respekt vor Gesetzen herkommen, die heute für Recht erklären, was gestern Unrecht war, und morgen für Unrecht, was heute Recht. Deßhalb kann kein Gesetz, keine Strafe, den Menschen von der Verübung unsittlicher und gemeinschädlicher Handlungen abhalten, dies zu bewerkstelligen ist nur einer auf vollkommenster Freiheit gegründeten sittlichen Erziehung möglich, die freilich eine auf unsittlichen Principien beruhende Gesellschaft, wie es die heutige ist, nicht gewähren kann. Darum sagen wir: fort mit dem Gesetz.

Wir wollen kein Eigenthum. Alles, was auf der Erde vorhanden ist, muß zur Befriedigung der Bedürfnisse Aller dienen. Die Aneignung derjenigen Dinge, – des Grund und Bodens, der Bergwerke, Maschinen, wie im Allgemeinen aller zur Erzeugung der Bedürfnisse der Menschen dienenden Gegenstände, – welche der Gesamtheit nützen sollen, welche nur durch das Zusammenwirken aller arbeitenden Kräfte der Menschheit hergestellt werden können, die Aneignung dieser Dinge als „Eigenthum“ Einzelner oder gewisser Gruppen ist Vorenthaltung derselben gegenüber dem rechtmäßige Besitzer – der Gesammtheit, ist – Diebstahl, begangen an letzterer. Diesen wollen wir beseitigt wissen. Sind die gesammten Produktionsmittel einmal in den Besitz der Gesammtheit zurückgekehrt, so wird diese letztere durch eine vernunftgemäße Organisation der Herstellung der Bedürfnißgegenstände dafür sorgen, daß einerseits alle arbeitsfähigen Menschen auch wirklich nützlich sich beschäftigen, daß andererseits Jedermann die zu einem menschenwürdigen Dasein nothwendigen Mittel zu seiner Verfügung habe.

Damit fallen dann zugleich jene unzähligen „Vergehen und Verbrechen“ fort, die heute gegen das Eigenthum gerichtet sind und die Errichtung von immer mehr und größeren Gefängnissen mit sich führen.

Mit dem Privateigenthum verschwindet dann aber auch zugleich der Hauptpfeiler aller staatlichen Autorität. Denn nur auf der Rangordnung, welche der Privatbesitz erzeugt, konnte dieses Instrument der Unterdrückung des Volkes, welches man Staat nennt, sich aufbauen.

Es ist selbstverständlich, daß mit dem Verschwinden des Eigenthums, der Ursache so vieler „Verbrechen“, mit der Vernichtung des Staates und der Autorität, mit dem Aufhören der Wirksamkeit von, Gesetzen die „Wächter des Gesetzes“ – Polizei, Rechtsverdreher &c. – überflüssig werden. In einer wirklich freien Gesellschaft wird Jedermann bemüht sein, sein Möglichstes zur Sicherung der allgemeinen Ruhe zu thun, sei es, indem er sich selbst hütet dieselbe zu stören, sei es, indem er lästige Ruhestörer auf dem geeigneten Wege in die nöthigen Schranken weist. Der Polizeibüttel, mit seiner Sucht sich in Alles und Jedes einzumengen, mit seinem aufdringlichen Wesen, seiner Gesetzesübertretungs-Riecherei, seinem anmaßenden, oft rohen Auftreten gegenüber Denen, zu deren Sicherheit und Schutz er angeblich angestellt ist, die ihn bezahlen im Schweiße ihres Angesichts, er wird verschwinden vom Erdboden, wie so vieles andere Ungeziefer, das sich am Körper der Gesellschaft jetzt eingenistet hat, ihm häufig die heftigsten Schmerzen verursachend.

Wir wollen keine Religion, am allerwenigsten eine Staatsreligion, die dem Menschen aufgezwungen wird, wenn er sich noch in einem Zustande vollkommener Unfähigkeit zu Beurtheilung befindet.

Wir sind Atheisten, d.h. Gottesleugner, Gottlose. Wir erkennen nur die sinnliche Welt an, von der wir einen Bestandtheil bilden, die von uns erkannt und untersucht werden kann. Alles was übersinnlich, außerweltlich ist, ist Einbildung, die allerdings durch Verbot, durch Anwendung von Gewalt nicht aus der Welt geschafft werden kann, die aber auch kein Recht hat, sich Anderen mit Gewalt aufzudrängen, wie es die Religion unter den verschiedenen Formen seit Jahrtausenden gethan hat.

Die Religion ist von jeher von den Herrschsüchtigen als Mittel zur Unterdrückung des Volkes benutzt worden, diese Rolle spielt sie noch heute im Völkerleben. Das Volk, dem von frühester Jugend auf der Glaube an einen „unsichtbaren Herrn“ eingeprägt wird, der in seiner Allmacht – welche freilich jederzeit den Schutz eines armseligen Polizeibüttels nöthig hatte – jeden Ungehorsam gegen seine Gebote straft, diesem Volke ist der Glaube an die von Gott eingesetzte Obrigkeit, an die irdische „Majestät“, ja zu natürlich, als daß es sich nicht demuthsvoll auch deren Machtgebot unterwerfen sollte. Deßhalb ist auch das Losungswort aller Regierungen: „Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben.“

Je mehr abaer unsere Gegner sich auf die Lüge der Religion stützen, zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft und der Ausbeutung des Volkes, um so mehr ist es unsere Pflicht, dieselbe zu vernichten durch Bekämpfung der Idee und durch die Vernichtung allen Einflusses, den dieselbe auf das öffentliche Leben gewonnen hat. Also auch hier, wie beim Eigenthum und beim Staate: Propaganda durch Wort, Schrift und That.

Ein Gehen-Lassen der Dinge in dieser Beziehung wäre zum mindesten ebenso naiv, wie ein Gewähren-Lassen des Privatbesitzes und der Staatsidee. Diese Dreieinigkeit, die von jeher vereint mit allen Mitteln das Volk unterdrückt hat, muß auch von uns vereint mit allen Mitteln bekämpft werden.

Krieg also dem Staate in seinen verschiedenen Formen, Krieg den Fürsten wie den Präsidenten der Republiken, Krieg den gesetzgebenden Versammlungen, Krieg dem Beamtenthume, der Polizei: Nieder mit den Herrschern aller Art!

Krieg dem Privateigenthum, ob bewegliches oder unbewegliches, ob in Grund und Boden, in Bergwerken, in Fabriken oder in Baargeld bestehend: Nieder mit den Ausbeutern!

Krieg der Religion, welcher Art auch immer sie sei, ob unfehlbares Papstthum, ob Protestantenthum oder sonst eine der unzähligen christlichen Sekten, ob Judenthum, ob Muhamedanismus, ob sonst irgend ein sogenanntes „Heidenthum“; Pfaff ist Pfaff und Religion ist Lug und Trug. Nieder mit dem „göttlichen“ Schwindel!

Hoch die Freiheit jedes Einzelnen in der freien Gesellschaft! Hoch die Gleichheit Aller in der kommunistischen Gesellschaft! Hoch die Brüderlichkeit in dem der Erde wiedergegebenen, von übersinnlichem Blendwerke befreiten, wahren Menschenthume!

Hoch mit einem Worte die Anarchie, d.h. die Herrschaftslosigkeit.


Aus: Der Rebell. Organ der Anarchisten deutscher Sprache. No.2, Oktober 1883.