Carol Ehrlich

Sozialismus, Anarchismus und Feminismus

1977

      Radikaler Feminismus und anarchistischer Feminismus

      Über die Praxis

      Situationismus und Anarcha-Feminismus

      Frauen und die Warenwirtschaft

      Frauen und das Schauspiel

Du bist eine Frau, die in einer kapitalistischen Gesellschaft lebt Dein Job, die offenen Kredite, dein Ehemann, die Schule deiner Kinder, die Hausarbeiten, die Aufwendungen, um hübsch zu sein und Beachtung zu finden - das alles widert dich an! Wenn du über diese Dinge nachdenkst, was sie miteinander verbindet und wie sie geändert werden können, wirst du irgendwann unweigerlich auf den sozialistischen Feminismus stoßen.[1]

Von den unzähligen Vorschlägen, die zur Lösung des sexistischen Problems gemacht wurden, scheinen viele Frauen den sozialistischen Feminismus als eine der erfolgversprechendsten Lösungen anzusehen. Der Sozialismus in seiner erstaunlichen Vielfalt übt heute auf viele Menschen eine starke Wirkung aus. Sein Programmangebot reicht von der Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung und einem durchdachten System revolutionärer Theorien bis hin zu den Beispielen der Industrieländer, die eine andere Gesellschaftsstruktur haben als die der USA und ihrer Satelitenstaaten.

Für viele Feministinnen liegt die Anziehung des Sozialismus in seinem Versprechen, die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen der arbeitenden Frau und dem arbeitenden Mann zu beenden. All den Frauen, die der Meinung sind, daß eine ausschließlich feministische Analyse nicht in der Lage ist, die bestehenden Ungleichheiten der Gesellschaft zu erfassen, bietet der Sozialismus darüber hinaus eine radikale Erweiterung ihrer Perspektive.

Es gibt gute Gründe, warum Frauen darüber nach- denken, ob der feministische Sozialismus als eine politische Theorie brauchbar ist. Sozialistische Feministinnen sind anscheinend sowohl vernünftig als auch radikal. Die meisten von ihnen haben eine grosse Abneigung gegen den Reformismus und Individualismus, wie er sich zunehmend unter einer großen Anzahl von Frauen breitmacht.

Die Vorstellung von einer Nation der Amazonen, die mit ihren Heerscharen kampferfüllter Frauen dem Sonnenuntergang entgegenreiten, ist für uns, die wir nicht so romantisch sind, wirklichkeitsfremd, aber immer noch harmlos. Ernster dagegen betrachten wir die religiöse Besessenheit, die unter vielen Frauen um sich greift und so sonderbare psychische Phänomene wie den Glauben an die „Große Göttin’*, die Magie und den Hexenkult hervorgebracht hat. Als eine Feministin, die sich mit der Veränderung der Gesellschaftsstruktur beschäftigt, finde ich das alles andere als harmlos.

  1. Beispiel: Mehr als vierzehnhundert Frauen nahmen im April 1976 in Boston an einem spiritualistischen Kongreß teil, der sich größtenteils mit den erwähnten Themen beschäftigte. Hätte die Energie, die dort in endlosen Diskussionen über Hexenkult, Geisterbeschwörung und Menstruationsriten aufgebracht wurde, nicht besser für feministische Zwecke verwendet werden können?

  2. Beispiel: Laut Berichten in wenigstens einer feministischen Zeitung versuchte eine Gruppe von Hexen, Susan Saxe durch Zauberei aus dem Gefängnis zu befreien. (Schwebenderweise sollte sie in die Freiheit gelangen!) Wenn diese Frauen wirklich geglaubt haben, Susan so befreien zu können, dann zeigt das nur, daß ihnen jedes Verständnis der patriarchalischen Unterdrückung fehlte. War dagegen nur ein fröhlicher Scherz beabsichtigt, warum lacht denn keiner!

Der Reformismus ist eine weitaus größere Gefahr für die Interessen der Frauen als diese bizarren Psychospiele. Die Bezeichnung „reformistisch” kann auf verschiedene Weise verwendet werden — jedoch erweist sich der Begriff in den meisten Fällen weder als zutreffend noch als nützlich. Häufig verbirgt sich hinter dem Begriff nur der eigene politische Puritanismus oder die Ablehnung der politischen Arbeit an sich. Als Antwort darauf haben einige Feministinnen versucht zu zeigen, daß durch eine bestimmte Art von Reformen eine radikale Bewegung geschaffen werden kann.[2]

Aber es gibt auch reformistische Strategien, die die Energie der Frauen sinnlos vergeuden, indem sie trügerische Hoffnungen auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft wecken, ohne jedoch Lösungen anzubieten, die zu deren Realisierung führen. Das beste Beispiel dafür ist die Wahlpolitik. Sie findet Anhänger unter den Sozialisten, die von der Idee des stufenweisen Fortschritts überzeugt sind. Die Anarchisten sind da anderer Meinung. Du kannst dich nicht durch autoritäre Methoden befreien. Indem du Frauen als deine Interessenvertreterinnen in die Politik wählst, änderst du nichts an den alten korrupten Institutionen des Patriarchats. Du unterliegst weiterhin ihrer „Herr”-schaft. Wenn also Organisationen wie die NOW die Frauen aufrufen, ihnen in die Revolution zu folgen, indem sie sie wählen, heißt das nichts anderes, als die Dinge so zu belassen, wie sie sind.

Die Wahlpolitik ist ganz offensichtlich eine Sackgasse; selbst ein Großteil nicht-radikaler Frauen hat inzwischen gelernt, sie zu umgehen. Nicht so offensichtlich dagegen ist das Problem des Kapitalismus, wie er versteckt hinter der Maske feministischer Wirtschaftsunternehmen aufblüht. Betrachten wir zum Beispiel die Feminist Economic Network (FEN) — eine der vielen feministischen Wirtschaftsorganisationen. Ursprünglich handelte es sich dabei um eine Vereinigung von feministischen Alternativ- Unternehmen, die durch die Entwicklung eigener wirtschaftlicher Unabhängigkeit den Kapitalismus von innen her auszuhöhlen versuchten. Zugegeben, die Idee ist reizvoll. Das erste große Projekt der FEN startete im April 1976 in Detroit. Für einen Jahresbeitrag von 100 Dollar konnten Frauen, die Mitglieder der FEN waren, in einem privaten Swimmingpool baden, Drinks in einer Privatbar zu sich nehmen und in einigen Boutiquen billig einkaufen. Ihren weiblichen Angestellten zahlte die FEN 2.50 Dollar pro Stunde. Laura Brown, die Direktorin, nannte das Unternehmen den Beginn der feministischen Wirtschaftsrevolution.[3]

Wenn zwei der alten Herrschaftsspiele — die Wahlpolitik und der Kapitalismus — als Revolution ausgegeben werden, dann heißt das, daß der Begriff Revolution völlig auf den Kopf gestellt wurde. Es ist daher nicht überraschend, daß all den Frauen, die weder Hexen, reitende Amazonen, Ministerinnen oder Kleinkapitalistinnen sein wollen, sondern denen es um die Abschaffung des Sexismus durch Gesellschaftsveränderung geht, der sozialistische Feminismus als eine Quelle revolutionärer Geistesgesundheit erscheint. Der anarchistische Feminismus könnte dafür ein bedeutungsvolles theoretisches Gerüst bieten. Aber die meisten Feministinnen haben entweder noch nie etwas von ihm gehört oder sie mißverstehen ihn als eine Art weiblicher Variante der männlichen Bombenwerfer.

Der sozialistische Feminismus umfaßt eine Vielzahl von politischen Standpunkten. Auf der einen Seite finden wir die verstaubten Sektentempel der alten Linken, wie z.B. die Revolutionäre Kommunistische Partei (RCP), die Oktoberliga oder die Internationale Arbeiterpartei. Es gibt wenig Frauen, die sich in ihnen heimisch fühlen. Auf der anderen Seite gibt es eine beträchtliche Anzahl von Frauen, die den rapide emporschießenden kirchlichen Einrichtungen der neuen Linken wie z.B. der Neuen Amerikanischen Bewegung oder anderen autonomen Frauenvereinigungen beitreten.

Die sozialistischen Feministinnen innerhalb der neuen Linken haben sich recht energisch und erfolgreich in der Anwerbung neuer Genossinnen hervorgetan. In den verknöcherten Organisationen der ,alten Linken’ war man dagegen schon von der bloßen Idee entsetzt, daß Lesben, Beparatistinnen und andere unberechenbare Feministinnen mit den edlen Erben von Marx, Trotzki, Stalin und Mao Zusammenarbeiten könnten. Vielen von ihnen war schon der Gedanke einer autonomen Frauenbewegung, die sich ausschließlich um die Belange von Frauen kümmert, unerträglich. Frauen, die entschlossen sind, ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, werden von ihnen mit dem Vorwurf „die Arbeiterklasse zu spalten” als bürgerlich abgestempelt. Einige von ihnen haben darüber hinaus eine hysterische Abneigung gegen Lesben. Die dafür wohl bekanntesten Gruppen sind die Oktoberliga und die Revolutionäre Kommunistische Partei, aber sie sind nicht die einzigen! Wie in so vielem ist auch die anti-lesbische Politik, die sie vertreten, nichts anderes als ein getreuer Abklatsch der Politik der kommunistischen Staaten. Bezeichnend dafür ist ein Bericht, der von der RCP in den frühen siebziger Jahren herausgegeben wurde. In ihm heißt es über die Homosexuellen, daß sie „im Schmutz der bürgerlichen Dekadenz gefangen sind”, und die „Gay-Liberation” (Homosexuelle Befreiungsbewegung) wird dort als „konterrevolutionär” und als „Gegner der Arbeiterklasse” abgekanzelt. Daß Frauen überhaupt außerhalb des Proletariats unterdrückt werden, scheint in die Köpfe dieser „Revolutionäre” nicht hineinzugehen. Der Begriff der Arbeiterklasse ist natürlich ein hervorragend flexibler Begriff. In den gegenwärtigen Debatten der Linken reicht er vom einfachen Industriearbeiter bis hinzu der riesigen Gruppe all derjenigen, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkaufen oder sonstwie von jemand ökonomisch abhängig sind. Nun, das sind wir fast alle — und Papa Marx muß sich fragen lassen, warum, wenn neunzig Prozent der Bevölkerung der USA zur revolutionären Avantgarde gehören, wir noch keine Revolution hatten!

Die sozialistischen Feministinnen der neuen linken haben auf vielerlei einfallsreiche Arten versucht, einen Kern an marxistisch-leninistischem Gedankengut zu bewahren, zu aktualisieren und mit dem gegenwärtigen radikalen Feminismus zu verknüpfen. Die Resultate sind oft sehr merkwürdig. Im Juni 1975 hielten die Frauen der „Neuen Amerikanischen Bewegung" und Frauen anderer autonomer Gruppen die erste nationale Konferenz zum Thema „Sozialistischer Feminismus” ab. Obwohl die Konferenz vorher nicht sonderlich angekündigt worden war, kamen über sechzehnhundert Frauen, um das Wochenende der ersten Juliwoche in Yellow Springs/Ohio zu verbringen.

Wenn man die Reden dieser Konferenz und die ausführlichen Kommentare über sie liest, die in der feministischen Presse veröffentlicht wurden4, dann wird einem keineswegs klar, was die Organisatorin- nen der Konferenz mit dem Begriff „Sozialistischer Feminismus” überhaupt zum Ausdruck bringen wollten. Die Grundsätze, die zu Beginn der Konferenz aufgestellt wurden, beinhalten unter anderem zwei Punkte, die wesentlich mehr mit dem radikalen Feminismus gemein hatten als mit der herkömmlichen sozialistischen Perspektive. Der erste Grundsatz besagte: „Wir sehen die Notwendigkeit und unterstützen' die Existenz einer autonomen Frauenbewegung durch den revolutionären Prozeß”. Im zweiten Grundsatz hieß es: „Wir teilen die gemeinsame Überzeugung, daß alle Arten der Unterdrükkung, ob sie nun die Rasse, das Geschlecht, die Klasse oder die lesbische Liebe betreffen, nicht voneinander zu trennen sind. Wir, die Unterdrückten, müssen den Kampf um unsere Befreiung gemeinsam und gleichzeitig führen " Im dritten Grundsatz wurde lediglich die Feststellung getroffen, „daß der sozialistische Feminismus eine Strategie zur Revolution sei”. Im vierten Grundsatz wurde dazu aufgerufen, „die Diskussionen innerhalb der Frauenbewegung im Geiste des Kampfes und der Einheit zu führen“.

Das ist natürlich ein enormes Angebot an verlok- kenden Grundsätzen — es findet sich praktisch für jeden Geschmack etwas. Wenn die sozialistischen Feministinnen jedoch mit der Aussage, daß die Klassenunterdrückung nur eine von vielen Arten der Unterdrückung sei, in ihrem Programm die autonome Frauenbewegung als Trumpf präsentieren, dann kann nach marxistischem Verständnis von Sozialismus hier wohl kaum noch die Rede sein. Doch ziehen die sozialistischen Feministinnen aus den Ansatzpunkten, die sie mit den radikalen Feministinnen verbinden, keine Konsequenzen. Wären sie kon- seqüent, würden sie in ihr Programm den Grundsatz mit aufnehmen, daß nicht-hierarchische Strukturen für die feministische Bewegung lebenswichtig sind. Das ist natürlich eine Forderung, die kein orthodoxer Sozialist akzeptieren kann, denn daraus ergibt sich zwangsläufig, daß der radikale Feminismus wesentlich besser mit einer Art des Anarchismus harmoniert als mit den dominierenden Erscheinungsformen des Sozialismus. Diese Art des Anarchismus wird gewöhnlich als sozialer oder auch kommunistischer Anarchismus bezeichnet. (Die individualistischen und „anarcho-kapitalistischen” Spielarten sind hier für uns nicht von Interesse.)

Feministinnen, denen die anarchistischen Grundsätze bekannt sind, wird dies nichts Neues sein. Das ist aber selten der Fall, und daß dem nicht so ist, ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man sich die Vorurteile und Zerrbilder betrachtet, die über den Anarchismus bestehen. Ware den Feministinnen der Anarchismus besser bekannt, so würden sie nicht versuchen, im Sozialismus ein Allheilmittel zur Beendigung der sexistischen Unterdrückung zu sehen. Was die Feministinnen lernen müssen ist, gegenüber jeder Theorie, die eine Struktur von Führern und Anhängern hervorbringt, skeptisch zu sein. Der demokratische Anspruch, den diese zentralistischen Strukturen für sich erheben, ändert nichts an der Tatsache, daß einige Frauen mehr zu sagen haben als andere. Zu lange haben wir Frauen aller Rassen und Gesellschaftsschichten die patriarchalische Herrschaft erdulden müssen, als daß wir sie jetzt durch eine neue, matriarchalische ersetzen wollen.

Einige zeitgenössische Anarcha-Feministinnen haben auf die enge Beziehung zwischen dem sozialen Anarchismus und dem radikalen Feminismus hingewiesen. Lynne Farrow bemerkte dazu, daß „der Feminismus das praktiziert, was der Anarchismus predigt”. Peggy Komegger ist der Meinung, daß „die Feministinnen seit Jahren unbewußte Anarchistinnen gewesen sind - sowohl in der Theorie als auch in der Praxis”. Marian Leighton bemerkte zu diesem Punkt, daß „der feine Unterschied von der radikalen zur anarchistischen Feministin nur ein Schritt in der theoretischen Weiterentwicklung des Selbstbewußtseins ist”.[5]



Wir errichten die Unabhängigkeit

denn sie ist der wachsende Prozeß

zur Einheit aller Lebewesen,

 

Wir verbreiten

Spontaneität und Kreativität,

und

wir erlernen

die Freuden der Gleichheit

zwischen uns Schwestem in Beziehungen ohne Herrschaft.

 

Wir zerstören die Unterdrückung

in all ihren Formen.

Dieses Gedicht erschien in der radikalen feministischen Zeitschrift ,,It ain’t me Babe[6] (Nicht mit mir, Junge), in deren Impressum die Forderung zu lesen war: „Zerstört jede Herrschaft”! Obwohl die Herausgeberinnen der Zeitschrift sich weder als anarchistisch, noch als anarcha-feministisch bezeichnen so ist sie doch ein deutlicher Ausdruck der engen Beziehung zwischen dem radikalen Feminismus und dem anarchistischen Feminismus, wie er sich in der neuen Frauenbewegung entwickelt hat. Die freiheitlichen Ansätze der letzten Jahre sind durch Entwicklungen wie dem „sozialistischen Feminismus”, der neuen, weiblichen Mystik und dem Traum vom Lesbenstaat gefährdet, da sie in den Frauen den Wunsch nach neuen Herrschaftsformen wecken.

Radikaler Feminismus und anarchistischer Feminismus

Es gibt eine Reihe allgemeiner Punkte, an denen die radikalen Feministinnen und die sozial-anarchistischen Feministinnen ein gemeinsames Interesse haben. Dazu gehören: die Kontrolle über den eigenen Körper, die Entwicklung von Alternativen zur Kleinfamilie und zur Heterosexualität, das Suchen nach neuen Methoden einer befreienden Kinderbetreuung, die ökonomische Unabhängigkeit, die Zerstörung der geschlechtsspezifischen Rollen in der Erziehung, den Medien und am Arbeitsplatz, die Abschaffung repressiver Gesetze und die Beendigung der männlichen Autorität und Besitzherrschaft über die Frau, die Beschaffung und Bereitstellung von Mitteln, die es den Frauen ermöglichen, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, die Überwindung von Gefühlsbeziehungen mit Unterdrückungscharakter.

Es gibt noch viele weitere Punkte, in denen radikale Feministinnen und anarchistische Feministinnen miteinander übereinstimmen. Aber den anarchistischen Feministinnen geht es um weit mehr als um die Zerstörung der offensichtlichen, patriarchalischen Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Als Anarchistinnen streben sie danach, jedes Machtverhältnis und jede Situation zu beenden, in der Menschen andere unterdrücken. Im Gegensatz zu einigen nicht-anarchistischen, radikalen Feministinnen glauben sie nicht, daß die Eroberung der Macht durch die Frauen zu einer Gesellschaft ohne Zwänge fuhren würde. Und im Gegensatz zu den meisten sozialistischen Feministinnen glauben sie nicht, daß aus einer Massenbewegung unter der Führung einer Elite irgendetwas Gutes entstehen würde. Zusammenfassend betrachtet sind die anarchistischen Feministinnen der Meinung, daß weder der Arbeiterstaat, noch das Matriarchat der allgemeinen Unterdrückung ein Ende bereiten wird. Im Gegensatz zu den Sozialisten streben sie nicht nach einer Eroberung der Macht, sondern ihr Ziel ist die Abschaffung der Macht.

Ungeachtet der darüber vorherrschenden, gegensätzlichen Meinung sind alle Sozial-Anarchisten ebenfalls Sozialisten, wenn auch Sozialisten, die sehr wenig mit den bisher geschilderten Sozialisten gemein habea Sie sind Sozialisten, weü sie den Wohlstand den Händen weniger entreißen wollen, um ihn unter allen Mitgliedern der Gesellschaft gerecht zu verteilen. Und sie sind der Meinung, daß die Menschen miteinander in gemeinschaftlicher Beziehung leben sollten, anstatt als Individuen dahinzukümmern. Trotz alledem sind die zentralen Themen für die Anarchisten noch immer die Macht und die soziale Hierarchie in der Gesellschaft. Solange noch ein Staat existiert — selbst einer, der vorgibt, die Interessen der Arbeiter zu vertreten — wird dieser Staat danach trachten, die Formen seiner Herrschaft zu festigen und zu erneuern. Weiterhin wird es Menschen geben, die in Unfreiheit leben. Menschen sind nicht frei, nur weil ihre Existenz ökonomisch und sozial abgesichert ist. Als frei können sie sich erst dann betrachten, wenn sie die Macht und die Kontrolle über ihr eigenes Leben haben, und diese Frage ist für Frauen von weitaus größerer Bedeutung als für die Männer. Frauen haben zum Großteil recht wenig Macht über ihr eigenes Leben. Diese Eroberung der Selbständigkeit und der Kampf darum ist das Hauptziel der anarchistischen Feministinnen.



Keine Macht für niemand

oder

Alle Macht für Jeden.

 

Alle Macht

über das eigene Leben

aber

keine Macht

über das Leben anderer.[7]

 

Über die Praxis

Im vorangegangenen haben wir die Theorie betrachtet. Aber wie steht es mit der Praxis? Wieder einmal haben die radikalen Feministinnen und die anarchistischen Feministinnen miteinander mehr gemeinsam, als jede der Genannten mit den sozialistischen Feministinnen.8 Beide beschäftigen sich mit dem Aufbau alternativer Organisationsstrukturen und beide nehmen die „Politik des Persönlichen“ (politics of the personal) sehr ernst. Die sozialistischen Feministinnen betrachten weder das eine, noch das andere als besonders wichtig für die revolutionäre Praxis.

Was aber ist unter der Entwicklung alternativer Organisationsformen zu verstehen? In der Praxis bedeutet es, daß sich Frauen für die Errichtung von Selbsthilfekliniken einsetzen sollten, anstatt darum zu kämpfen, eine ihrer Radikalen in den Vorstand des Krankenhauses zu bringen. Es bedeutet, daß Frauen ihre eigenen Videogruppen und Zeitungen gründen sollten, anstatt ihre Leute in die kommerziellen Medien zu schleusen. Es bedeutet, daß Frauen sich zu Wohnkollektiven zusammenschließen sollten, anstatt in Kleinfamilien zu leben. Die Entwicklung alternativer Organisationsformen umfaßt unter anderem Zufluchts- und Beratungsstellen für Vergewaltigte, Lebensmittel-Kooperativen, elternbeaufsichtigte Kinderläden, freie Schulen, Druckereikollektive und alternative Radiostationen.

Viele der radikalen Feministinnen haben früh erkannt, daß mit der Schaffung alternativer Modelle noch sehr wenig erreicht ist, wenn diese in ihren Strukturen den kapitalistischen und autoritären Organisationsmodellen nachgebildet sind. In Selbsterfahrungsgruppen versuchten sie daher, neue Methoden zu finden, um zu einem neuen Verständnis über sich und die Welt zu gelangen. In kleinen, führerlosen Gruppen strebten sie danach, neue Formen der Zusammenarbeit und zwischenmenschlichen Beziehungen zu entwickeln. Das Rotationsprinzip bei der Aufgabenverteilung erwies sich dabei am vorteilhaftesten, dä es das Wissen und die Fähigkeiten aller Mitglieder beinhaltete und förderte. Das Wissen um Theorie und Organisationsformen des Anarchismus wäre ihnen bei dem Versuch „gleichzeitig sich und die Gesellschaft zu verändern“ eine entscheidende Hilfe gewesen; viele Fehler und Schwierigkeiten hätten dadurch vermieden werden können.

Das Problem, wie es häufig durch dominierende Frauen innerhalb der Bewegung entsteht, ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Die Haltung der radikalen Feministinnen zu diesem Problem läßt sich so zusammenfassen:

  1. Frauen werden unterdrückt, weil sie voneinander isoliert sind und mit Männern in einem Herr- schafts- und Unterdrückungsverhältnis leben.

  2. Die Männer werden die Frauen nicht befreien. Die Befreiung der Frau kann nur das Werk der Frauen selber sein. Eine individuelle Befreiung der Frau ist nicht möglich; daher müssen wir Frauen ein Modell der gegenseitigen Hilfe entwickeln.

  3. Die „Schwesternschaft” ist eine mächtige Kraft, aber die Frauen können sich nicht als Schwestern bezeichnen, solange sie die männlichen Muster von Beherrschung und Unterdrückung nachahmen.

  4. Es müssen neue Organisationsformen geschaffen werden. Die Grundeinheit dieser Organisationsformen ist die kleine, führerlose Gruppe, die auf der Gleichheit, gegenseitigen Hilfe und dem Austausch von Wissen und Fähigkeiten basiert.

Selbst wenn viele Frauen diese Forderungen akzeptierten, die Mehrheit der Frauen täte es wohl nicht.

Einige Frauen waren von Anfang an gegen dieses Konzept. Andere Frauen betonten dagegen die Schwierigkeiten, die sie in der praktischen Verwirklichung sahen, mit dem bedauernden Kommentar daß solch schöner Idealismus in der Praxis nie funktionieren würde. Ideologische Unterstützung erhielten all diejenigen, die diese Grundsätze der „unbewußten Anarchisten” ablehnten, durch zwei Dokumente, die in der feministischen Bewegung auftauchten. Das erste Dokument war eine Rede von Anselma dell’ Olio, die sie vor dem Zweiten Kongreß der Frauenvereinigung im Mai 1970 in New York hielt. In ihrer Rede, die den Titel „Die Zersplitterung und Selbstzerstörung der Frauenbewegung — ein Brief der Resignation” trug, legte sie die Gründe dar, die dazu führten, daß sie sich von der Frauenbewegung trennte. Das zweite Dokument „Die Tyrannei der Strukturlosigkeit” von Joreen erschien 1972 in der feministischen Zeitschrift „The Second Wave”. Beide Dokumente warfen Probleme der organisatorischen und persönlichen Praxis auf, die von ihrer Bedeutung heute noch nichts verloren haben.

Ich bin gekommen, um den Schwanengesang auf die Frauenbewegung anzustimmen . . . ich bin am Ende . . . die bittere Lektion, die ich lernte, war: die Frauenbewegung ist in sich zerstritten, zersplittert und von ohnmächtiger Wut gelähmt. Ich hätte es mir nicht träumen lassen, daß ich einmal den Tag miterleben müßte, an dem Konformismus und Anti-Intellektualismus dazu führen, daß der gemeinsame Kampf gegen den Sexismus zu einem Kampf der Frauen untereinander ausartet. Wenn ich hier von einem Kampf untereinander rede, dann meine ich die offenen Angriffe und Intrigen, wie sie innerhalb der Bewegung aufgetreten sind und sich gegen die Frauen unter uns richteten, die in ihrer Arbeit erfolgreich waren. Opportunistische Verhaltensweisen, das Streben nach Macht, elitäres Denken und Rassismus wurden ihnen vorgeworfen. Die wohl schlimmste Schmähung, die ihnen vorgeworfen wurde, gipfelte in der Beschuldigung, die Identifikation mit dem Mann anzustreben.[9]

Diese verärgerte Absage an die Frauenbewegung bewirkte zweierlei: Einerseits warf sie die Frage auf, wie Frauen die ungleichen Machtverhältnisse untereinander auf eine konstruktive Art überwinden können. Andererseits gab sie all den Frauen in den Führungspositionen der Bewegung eine billige Rechtfertigung ihres unschwesterlichen Verhaltens. Jede Frau, die damals an der Frauenbewegung beteiligt war, weiß, daß die Erklärung dell’ Olios verwandt worden ist, sich im Licht tragisch-mißverstandenen Heldentums darzustellen. Das Mitleid der Bewegung war ihnen sicher. Diese für die Frauenbewegung selbstmörderischen Verhaltensweisen hätten durch ein Wissen um die anarchistische Theorie vermieden werden können.

Es ist nicht ganz ohne Ironie, daß der Ursprung dieser Fehler in der radikalen feministischen Abneigung gegen jede Art von Macht und Nötigung über andere Menschen begründet liegt.

Wenn radikale Feministinnen und Anarcha-Feministinnen von der Abschaffung der Macht sprechen, dann meinen sie die Befreiung des Menschen von allen Institutionen und allen Formen der autoritären Sozialisation. Eines der Hauptprobleme für die Frauenbewegung war die Definition des Zwanges. Es entstand die „Feindseligkeit” gegenüber den „starken Frauen”, da sie wenigstens potentiell dazu fähig waren, andere Frauen zu nötigen, die nicht so offen und selbstbewußt waren wie sie. Nötigung ist gewöhnlich viel subtiler als physische Gewalt oder ökonomische Zwangsmaßnahmen. Eine Person kann eine andere nötigen, ohne ihr den Job wegzunehmen, sie zu schlagen oder ins Gefängnis zu stecken.

Die „starken Frauen” hatten von Anfang an einen großen Vorsprung. Oft hatten sie ein größeres Wissen als die anderen Frauen. Zumeist hatten sie schon lange die lähmende Sozialisation überwunden, die uns passiv und konformistisch gemacht hatte, die uns lehrte zu lachen, wenn wir gar nicht amüsiert waren, zu flüstern, wenn wir schreien wollten, und die Augen niederzuschlagen, wenn man uns aggressiv anstarrte. Die „starken Frauen” hatten keine Angst, in der Öffentlichkeit zu sprechen; sie fü[r]chteten sich nicht davor, „männliche” Aufgaben zu übernehmen oder etwas Neues zu versuchen.

Bringe eine „starke Frau” in einer kleinen Gruppe zusammen mit „schwachen Frauen”, und sie wird zu einem Problem: Wie wird sie es vermeiden, den anderen gegenüber eine dominierende Stellung einzunehmen? Wie wird sie ihre „schwer verdienten” Fähigkeiten und ihr Selbstvertrauen mit ihren Schwestern teilen? Und auf der anderen Seite: Wie wird die „schwache Frau” es lernen, sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen? Wie kann von „gegenseitiger Hilfe” und von „Schwesternsein” die Rede sein, wenn in der Gruppe das „schwache Mitglied” sich dem „starken” nicht gleichwertig fühlt?

Das sind schwierige Fragen ohne einfache Antworten. Der Lösung am nähesten kommt vielleicht der anarchistische Slogan: ein starkes Volk braucht keine Führer. Diejenigen unter uns, die gelernt haben zu überleben, indem sie über andere herrschen, aber auch diejenigen unter uns, die gelernt haben, durch die Duldung dieser Herrschaft zu überleben, müssen sich dahingehend resozialisieren, daß sie lernen, stark zu sein, ohne zugleich in das Spiel von Herrschaft und Unterdrückung zu verfallen. Wir müssen die Kontrolle darüber erlangen, was mit uns geschieht, ohne jedoch dabei andere zu kontrollieren. Das werden wir nicht durch die Wahl der richtigen Leute für die richtigen Ämter und Posten erreichen und auch nicht, indem wir die richtige Parteilinie verfolgen. Wir werden auch nichts erreichen, wenn wir nur herumsitzen und über unsere Sünden nachgrübeln. Uns und die Welt können wir nur durch unsere Aktivität erneuern, nur durch Teilerfolge, Mißerfolge und wieder Teilerfolge kommen wir unserem Ziel näher. Und in diesem Prozeß werden wir zunehmend stärker und selbstbewußter.

Kritisierte Anselma delHDlio die persönliche Praxis der radikalen Feministinnen, so warf Joreen einige heikle Fragen über die organisatorischen Strukturen auf. In ihrer Rede über „die Tyrannei der Strukturlosigkeit”[10] zeigte sie auf, daß es so etwas wie „strukturlose Gruppen’' nicht gibt, und daß diejenigen, die das bestreiten, sich nur selbst betrügen. Alle Gruppen haben eine Struktur, der Unterschied liegt darin, ob die Struktur offensichtlich ist oder nicht. Ist es eine versteckte Struktur, so gibt es sicher auch versteckte Eliten, die die Gruppe kontrollieren. Die „Führer” werden die Existenz dieser Struktur bestreiten, und die Geführten werden über sie verwirrt sein. Um die „Tyrannei der Strukturlosigkeit” zu überwinden, müssen die Gruppen offene und leicht ersichtliche Strukturen errichten, die der allgemeinen Kontrolle der Mitglieder unterliegen.

Ich glaube, daß jede anarchistische Feministin bis hierher mit ihrer Analyse übereinstimmen würde — aber auch nicht weiter. Denn Joreen behauptet weitergehend, daß die sogenannte „führer- und strukturlose Gruppe” nicht fähig ist, vom gesprochenen Wort zur tatsächlichen Aktion überzugehen. Nicht nur ihr Mangel an einer offenen Struktur, so meint sie, sondern auch ihre kleine Größe und ihr Verharren auf der Entwicklung des Selbstbewußtseins würden sie zur Erfolglosigkeit verurteüen. Joreen sagte nicht, daß Frauengruppen hierarchisch strukturiert sein sollten. Nein, sie forderte sogar eine Führung, die ,,breitangelegt, flexibel, offen und vorübergehend” sein sollte. Sie sprach sich für Organisationsformen aus, in denen die Verantwortung und die Macht unter der Mehrheit ihrer Mitglieder verteilt sein sollten, in denen die Aufgaben wechseln, die Fähigkeiten und Informationen ausgetauscht und die Mittel allen zugänglich gemacht werden sollten. Für sich genommen sind das alles gute sozial-anarchistische Organisationsgrundsätze! Aber ihre Verächtlichmachung der Entwicklung des Selbstbewußtseins und ihre Vorliebe für große regionale und nationale Verbände waren genau ein Teil der alten Handlungsweise und beinhalten versteckt die Fortführung hierarchischer Strukturen.

Große Gruppen sind so organisiert, daß die Macht und Entscheidungsfähigkeit in den Händen von Wenigen liegen; es sei denn, man spricht von einem horizontal angelegten Netz kleiner Kollektive; dieses aber meinte Joreen nicht. Wie kann zum Beispiel eine Gruppe wie die NOW mit ihren 16 000 Mitgliedern (Mitgliederstand 1975) Aufgaben rotieren lassen, den Austausch der Fähigkeiten ihrer Mitglieder fördern und gewährleisten, daß alle Informationen und Mittel jedem zugänglich sind? Sie kann es natürlich nicht. Derartige Organisationen haben einen Präsidenten, ein Direktorium, ein nationales Büro und eine Mitgliederschaft, die zum Teil in Ortsgruppen organisiert ist, oder sich aus isolierten Einzelpersonen zusammensetzt. In solchen Organisationen und Gruppen gibt es sehr wenig Demokratie, und es gibt nicht viele Gruppen, in denen die Mitglieder die Möglichkeit haben, neue Formen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Beziehung zueinander zu entwickeln.

Die unglückliche Wirkung der „Tyrannei der Strukturlosigkeit” bestand darin, daß sie eine große Organisation mit einer formalen Struktur und dem erfolgreichen Mittel der direkten Aktion verknüpfte; eine Kombination, die vielen Frauen sinnvoll erschien. Viele Frauen waren der Meinung, daß zur Bekämpfung der gesellschaftlichen Unterdrückung eine große Organisation notwendig sei —je größer, desto besser. Die damit verbundene Vorstellung hieß: Gewalt gegen Gewalt; oder: Man kann einen Elefanten nicht mit einem Luftgewehr töten —und kann den patriarchalischen Staat nicht mit einer kleinen Gruppe stürzen. Diejenigen Frauen, die davon überzeugt sind, daß eine größere Gruppe mit besseren Wirkungen gekoppelt ist, sehen ihre organisatorischen Möglichkeiten ausschließlich in großen liberalen Gruppen wie der NOW oder in den sozialistischen Massenorganisationen verwirklicht.

Wie bei so vielen Dingen, die oberflächlich betrachtet einen Sinn ergeben, ist auch hier die Logik nur ein Trugschluß. Der Begriff „gesellschaftliche Unterdrückung” ist eine aufgeblasene, künstliche Einheit, die hauptsächlich darin groß erscheint, daß viele von uns die gleiche Form der Unterdrückung erleiden. Aber die Unterdrückung, ungeachtet dessen, wie vorherrschend und voraussagbar sie ist, geht immer von einer Person aus — auch wenn sie als Beauftragter des Staates handelt oder als Mitglied der herrschenden Rasse, eines Geschlechts oder einer Schicht. Die massiven Polizeiangriffe auf unsere vereinten Kräfte sind sehr selten, und auch der Polizeibeamte, der Chef oder Ehemann, der seine ihm zugewiesene, autoritäre oder geschlechtliche Rolle spielt, kreuzt unseren Weg nur an einem bestimmten Punkt in unserem Alltag. Die institutionalisierte Unterdrückung existiert im großen Umfang, aber nur selten muß (bzw. kann) sie von einer großen Gruppe angegriffen werden. Die Guerillataktik einer kleinen Gruppe — zeitweise auch einer einzelnen Person — kann recht empfindliche Vergeltungsschläge ausführen.

Eine weitere unglückliche Wirkung der Mentalität, die direkt aus der „Tyrannei der Strukturlosigkeit” resultiert, bestand darin, daß sie die Leute mit den Stereotypen des Anarchisten fütterte. (Man schluckt natürlich nichts, wenn man nicht auch Hunger hat.) Die sozialen Anarchisten sind nicht gegen jede Struktur, sie haben auch nichts gegen eine Führung, solange sie nur zeitweilig begrenzt und aufgabenorientiert ist und keine Belohnung oder ein Privileg beinhaltet. Aber die Anarchisten, die die hierarchische Struktur beseitigen wollen, werden fast immer von vornherein darauf festgelegt, daß sie überhaupt keine Strukturen wollen. Unglücklicherweise fand das klischeehafte Zerrbild von schnatternden, unorganisierten, anarchistischen Frauen, die ziellos umhertreiben, allgemein einen großen Anklang in der Frauenbewegung. Im Jahre 1976 veröffentlichte die Zeitschrift Quest ein Interview, das Charlotte Bunchund Beverly Fisher 1972 in Feminist Radio Network[11] gegeben hatten. Das Interessanteste an dem neu veröffentlichten Interview war vielleicht, daß die Herausgeberinnen von Quest glaubten, daß die Themen des Interviews auch noch 1976 eine Aktualität besitzen würden. Und das las sich dann so: „Wir erleben (heute) dieselbe Verächtlichmachung der Führer und die Verherrlichung der Strukturlosigkeit wie vor fünf Jahren.” Was Bunch jedoch damals zu sagen hatte, war auch äußerst interessant: Sie erklärte in ihrem Interview, daß die Betonung der Struktur — und Führungsprobleme „ein starkes anarchistisches Bedürfnis“ wäre, „sicher ein positives Bedürfnis, aber dennoch ein unrealistisches“.

Anarchisten, die es gewohnt sind, als „unrealistisch” bezeichnet zu werden, werden bemerken, daß das „Unrealistische”, worauf Bunch anspielte, anscheinend in den Problemen lag, die in der Organisation der Frauenbewegung lagen. Gemeint war also das Problem der versteckten Führung, das Problem, daß uns „Führer” von den Medien aufgezwungen wurden, die Schwierigkeit, Frauen außerhalb der Bewegung zu erreichen, die mit uns sympathisierten, sich aber nicht festlegen wollten, die erhebliche Überrepräsentation von Frauen aus der Mittelschicht, die Formlosigkeit der Bewegung, der Mangel an speziellen Aufgabengruppen, denen Frauen beitreten konnten, und die Feindseligkeit, die gegen die Frauen aufkam, die sich durch Führungskraft und Initiative hervortaten. Zugegeben, das ist eine schwere Anklage! Aber diese wirklich brennenden Probleme sind weder durch den Anarchismus verursacht worden, noch werden sie durch eine kräftige Dosis von Führung und Reformismus gelöst werden können. Indem diese Organisationsschwierigkeiten als „anarchistisch” bezeichnet werden, ignorieren die Feministinnen eine reiche anarchistische Tradition. Ironischerweise bieten sie andererseits Lösungen an, die anarchistisch sind, die sie aber anscheinend als solche nicht erkennen können. So entwickelten Bunch und Fisher zum Beispiel ein Führungsmodell, in dem jeder am Entwicklungsprozeß der Gruppe beteiligt, die Führung zeitlich begrenzt und auf besondere Situationen beschränkt sein sollte. Fisher kritisierte die NOW wegen ihrer „hierarchischen Führung”, die sich nicht vor ihren Mitgliedern zu verantworten hat; und Bunch bemerkte dazu, „Führung, das heißt, daß die Menschen die Initiative ergreifen, daß sie Handlungen ausführen und Ideen und Vorstellungen darüber besitzen, wie etwas durchgeführt werden kann, und daß sie besondere Fähigkeiten auf verschiedenen Gebieten zeigen”.

Was aber schlagen Bunch und Fisher vor, um eine Knebelung der Frauen unter einem falschverstandenen „Ideal der Gleichheit aller” zu verhindern? „Frauen werden nur dann aufhören, Frauen, die stark sind zu unterdrücken, wenn sie selbst stark sind.“ Mit anderen Worten also dasselbe, was die Anarchisten vorschlagen. „Ein starkes Volk braucht keine Führer. ” — Na also!

 

Situationismus und Anarcha-Feminismus

Die Welt und sein Leben zu verändern, ist ein und dieselbe Handlung.[12]

Das Persönliche ist das Politische.[13]

Anarchisten sind den Vorwurf gewohnt, daß sie keine Theorie für den Aufbau einer neuen Gesellschaft vorweisen könnten. Im besten Fall, behaupten die Kritiker herablassend, sagt uns der Anarchismus, was wir nicht tun sollen. Wehre dich gegen Bürokratie und hierarchische Autorität, treffe deine Entscheidungen selbst, bevormunde niemanden. So betrachtet gibt es überhaupt keine anarchistische Theorie, sondern nur eine Sammlung idealistischer und anachronistischer Vorstellungen.

Obwohl an dieser Kritik mehr als ein Körnchen Wahrheit ist, gibt es eine Vielzahl anarchistischer Theorien, die einen Rahmen für die Analyse und Veränderung der Welt ergeben. Eine dieser Theorien ist der Situationismus. Für uns radikale Feministin- nen, die diesen „Schritt in der theoretischen Entwicklung des Selbstbewußtseins“[14] machen wollen, bietet der Situationismus vielleicht eine der größten Möglichkeiten.

Der Wert des Situationismus für Anarcha-Feministinnen besteht darin, daß er eine sozialistische Analyse der kapitalistischen Unterdrückung mit der Notwendigkeit verbindet, das gesamte öffentliche und private Leben zu verändern. Trotz der Bedeutung einer ökonomischen Analyse des Systems betonen die Anarchisten, daß die Menschen auch in allen anderen Lebensbereichen unterdrückt werden; im Gegensatz zu den Marxisten bestehen sie darauf, daß die Menschen ihre Lebensbedingungen selbst ändern müssen — keiner kann ihnen diese Arbeit abnehmen, weder eine Partei noch eine Gewerkschaft.

Zwei der Grundbegriffe des Situationismus sind die Ware und das Schauspiel Der Kapitalismus hat alle zwischenmenschlichen Beziehungen vermarktet. Die Menschen sind nicht nur Produzenten und Konsumenten im engen wirtschaftlichen Sinn, sondern auch ihr tägliches Leben wird von ökonomischen Gesichtspunkten bestimmt. Alle sozialen Beziehungen und Strukturen in der Gesellschaft sind von der Warenwirtschaft festgelegt.[15] Dadurch sind die Menschen nicht nur von ihrer Arbeit sondern von ihrem ganzen Leben entfremdet. Durch den Konsum aller sozialen Beziehungen ist der Mensch zum passiven Beobachter seines Lebens geworden.

Das Schauspiel ist die Kultur der Warenwirtschaft — die Bühne ist aufgebaut, die Handlung läuft, wir applaudieren, wenn wir uns freuen, wir gähnen, wenn wir uns langweüen, aber wir können die Show nicht verlassen, da es keine Welt außerhalb des Theaters gibt.

Seit einiger Zeit kann man jedoch an der gesellschaftlichen Bühne Zerfallserscheinungen beobachten. Dadurch haben wir die Möglichkeit, außerhalb des Theaters eine neue Welt aufzubauen, an welcher jeder von uns direkt als Subjekt und nicht als Objekt teilhaben kann. Die Situationisten nennen dies die Neuschöpfung des Alltags.

Wie können wir das alltägliche Leben neugestalten? Indem wir Situationen schaffen, welche die scheinbar natürliche Ordnung erschüttern — Situationen, die die Menschen aus ihren gewohnten Denk- und Verhaltensweisen herausreißen. Nur wenn diese Voraussetzung gegeben ist, können wir das herrschende Schauspiel und die Warenwirtschaft, das heißt den Kapitalismus in allen seinen Formen, beseitigen, nur dann können wir wirklich frei und unabhängig leben.

Die Übereinstimmung dieser sozial-anarchistischen Theorie mit dem radikalen Feminismus ist beeindruckend. Die Verwendung der Begriffe Ware und Schauspiel ist besonders treffend, wenn man sie auf das Leben der Frauen bezieht. Tatsächlich haben viele radikale Feministinnen ihr Leben mit diesen Begriffen beschrieben, ohne daß sie den Situationismus kannten.[16] Indem man die Situation der Frau als einen organischen Teil der ganzen Gesellschaft auffaßt, erkennt man, daß die Unterdrückung der Frau Teü der allumfassenden Unterdrückung des Menschen durch die kapitalistische Wirtschaft ist. Um diese Unterdrückung zu spüren, muß die Frau nicht einer bestimmten Klasse oder Schicht angehören. Frauen aller Schichten und Klassen sind Objekte der Warenwirtschaft, sie alle sind passive Zuschauer des Schauspiels. Natürlich kann man nicht behaupten, daß alle Frauen in gleichem Maße unterdrückt werden, aber es gibt keine Frau, die wirklich frei ist.

Frauen und die Warenwirtschaft

Die Frauen treten in der Warenwirtschaft sowohl als Konsumenten als auch als Konsumierte auf. Als Hausfrauen sind sie Konsumenten von Haushaltsartikeln, die sie nicht von ihrem eigenen Geld kaufen, da sie es nicht „verdient” haben. Dadurch haben sie zwar eine gewisse Kaufkraft, aber keinerlei Macht über ihr Leben. Als ledige heterosexuelle Frauen kaufen sie Dinge, die ihnen auf dem Heiratsmarkt einen hohen Preis bringen sollen. Bei anderen Frauen dagegen, zum Beispiel Lesben, älteren Frauen oder den unabhängigen Karrieretypen, ist die Rolle als weiblicher Konsument nicht so fest Umrissen.

Ist die Vorstellung, die die Frau als eine passive Konsumentin, als ein willenloses Objekt der Medienmanipulation darstellt, die von schicken Männern beschützt über die Madison Avenue geführt wird, nicht ein überholtes Klischee der Frauenbewegung? In der situationistischen Analyse ist der Konsum von Wirtschaftsgütern eng mit dem Konsum von Ideologien verknüpft. Und die Schlußfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, daß wir völlig neue Aktionsformen entwickeln müssen, um den Sozialisationsprozeß der Integrierung und Anerkennung zu zerstören. Hört auf, nach Schuld zu suchen, — übt keine Kritik an Frauen, die die allgemeine Konsumentenhaltung „gekauft” haben. Sie wurde ihnen von frühester Kindheit als der einzige Weg des Lebens anerzogen. Kauf dies: es wird dich schön und liebenswert machen. Kauf das: es wird deine Familie gesund erhalten. Fühlen sie sich deprimiert? Leisten sie sich einen Nachmittag in einem Schönheitssalon oder ein neues Kleid.

Schuldgefühle fuhren zu Trägheit. Nur wenn wir versuchen, das alltägliche Leben neu zu gestalten, werden wir die sozialen Beziehungen verändern.

Das Geschenk



In der Annahme, SIE wäre das Geschenk

wurde ES von ihnen schon frühzeitig verpackt

 

Es bekam das Lächeln poliert,

die Augen gesenkt

und die Ohren mit dem Telefon verknüpft

 

Es bekam die Haare gewellt

die Zähne gerichtet

und es mußte die eigenen Wünsche begraben.

 

Es bekam den Hals mit Honig gefüllt,

lernte – OH JA – Ja zu sagen

und die Hände still zu halten.

 

„Auf dieser Schachtel steht mein Name”,

sagte der Mann - „das ist meins”.

 

Nein, sie waren nicht überrascht.

Sie warfen ihre Kußhändchen

und winkten, als er es nach Hause trug.

 

Er stellte es daheim auf einen Tisch,

damit es seine Freunde begutachten konnten.

 

Er sagte „tanze”und stöhnte „schneller”

und riß die Verpackung auf,

um seinen Namen tief im Innern einzubrennen.

 

Später hob er es auf eine Bühne

in das Rampenlicht

und er sagte „drücke”, fluchte „kräftiger”

 

Er stammelte lachend,

,genau was ich haben wollte,

Du hast mir einen Sohn geschenktI”[17]

In der Warenwirtschaft sind die Frauen nicht nur Konsumenten. Sie werden auch als Waren konsumiert. Davon ist in dem Gedicht von Carol Öles die Rede und Meredith Tax bezeichnet diesen Zustand als die „weibliche Schizophrenie”. In einem inneren Monolog zeigt Tax auf, was den Warencharakter der Frau verursacht: „Wenn ich allein bin, dann bin ich nichts. In mir ist nichts. Das einzige, was ich weiß ist, daß ich nur deshalb existiere, weil ich von jemandem gebraucht werde, der wirklich ist, von meinem Mann und meinen Kindern.”[18]

Wenn Feministinnen beschreiben, wie die Frau zur Frau gemacht wird, wenn sie die Verhaltensformen darstellen, die den Mädchen anerzogen werden, wie emotionale Abhängigkeit, Furchtsamkeit, Passivität usw., dann reden sie eigentlich von nichts anderem als von der sorgfältigen Herstellung einer Ware. Wenn sie die Frau als sexuelles Objekt beschreiben, das Leben in der Kleinfamilie, das Dasein als Supermutter und die Arbeit in schlechten und unterbezahlten Jobs, dann beschreiben sie die Frau ebenfalls als eine Ware. Frauen werden von Männern konsumiert, die sie als sexuelle Objekte behandeln; als „Supermutter” werden sie von ihren Kindern konsumiert; sie werden von ihren autoritären Ehemännern als unterwürfige Dienerinnen benutzt. Medizinische Forscher probieren an ihnen neue und unsichere Verhütungsmittel aus. Männer können ihren Körper auf der Straße kaufen. Staat und Kirche verlangen von ihnen, die nächste Generation zum Ruhme Gottes und des Staates zu erzeugen. Politische und soziale Organisationen erwarten von ihnen, daß sie ihre Zeit und Energie „freiwillig” für fremdbestimmte Ziele aufbringen. Die Frauen besitzen kein Selbstwertgefuhl mehr, da sie ihre Individualität an Männer verkaufen mußten.

Frauen und das Schauspiel

Es ist schwierig, Menschen auszubeuten, die den Kampf aufgenommen haben und sich gegen die Ausnutzung ihres Körpers und ihres Verstandes wehren, doch die meisten können es nicht mehr. Das, was sie unfähig zum Widerstand macht, ist unsere Kultur.

Die Situationisten nennen unsere Kultur ein Schauspiel. In diesem Schauspiel sind wir alle passive Zuschauer unseres eigenen Lebens. Das Schauspiel erfaßt alles: Wir werden hineingeboren, wir gehen in ihm zur Schule, arbeiten und erholen uns dort, und in ihm finden wir unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Selbst die Revolte ist nur ein Teil des Schauspiels. Ist jemand imstande, die Zahl der sensiblen Jungen zu schätzen, die sich vor einer Generation das Verhalten von James Dean in dem Film . . . denn sie wissen nicht, was sie tun (Rebel without a cause) zum Vorbild nahmen? Rebellische Aktionen richten sich zwar häufig gegen das Schauspiel, können es aber selten völlig überwinden. Meist sind rebellische Verhaltensformen von der Gesellschaft schon vorprogrammiert. Frauen haben eine Reihe von festgelegten Verhaltensformen, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu geben, indem sie einfach das Gegenteü von dem tun, was man von ihnen als Frau erwartet. Gleichzeitig aber sind diese Verhaltensformen bloße Sicherheitsventile des Systems oder Klischees von Rebellionen, die das Theater, in dem sich unser Leben abspielt, nicht verändern. Welche Formen der Rebellion stehen der Frau in diesem Theater zu? Wir können sie alle nennen — sie stehen in jeder Zeitung und erscheinen zur Hauptsendezeit im Fernsehen, sie sind auf der Bestsellerliste zu finden und natürlich auch im Alltag. In dem Schauspiel „Die perfekte Hausfrau” kann die Frau eine Schlampe sein. In einer Subkultur, in der die große Familie geachtet wird, kann die Frau es ablehnen, Kinder zu haben. Sie kann sich der sexuellen Moral für Verheiratete widersetzen, indem sie eine oder mehrere Affären hat. Sie kann zur Flasche greifen, einen Nervenzusammenbruch haben, oder — wenn sie ein junges Mädchen ist — ausflippen, indem sie auf Trebe geht und mit vielen Männern schläft.

Eine jede dieser Handlungen könnte das Leben der einzelnen Frau erträglicher machen (oft jedoch ist das Gegenteil der Fall), und alle haben die Eigenschaft — in den Augen der Konservativen — unsere Gesellschaft zu untergraben. Doch alle diese aufgeführten Rebellionen haben die Gesellschaft noch nicht zugrunde gerichtet, und sie werden es wohl auch nicht schaffen. Eine Veränderung der Gesellschaft ist nur möglich durch die direkte Aktion gegen alle unsere uns einengenden Lebensverhältnisse. Wenn Frauen von der Abschaffung der destruktiven, geschlechtsspezifischen Rollensozialisation der Frau sprechen, dann wählen sie zumeist eine von den möglichen Lösungen:

  1. Die Mädchen sollten so ähnlich wie die Jungen erzogen werden, damit sie später als Frau unabhängiger, konkurrenzfähiger, aggressiver usw. werden. Zusammengefaßt lautet die Aussage dieses Lösungsvorschlages: da wir in einer Männerwelt leben, muß eine Frau, die sich behaupten will, so eine Art „Mann” werden.

  2. Wir sollten auf unsere weibliche Rolle stolz sein und erkennen, daß das, was wir Schwäche nannten, in Wirklichkeit Stärke ist. Wir können darauf stolz sein, daß wir mütterlich, fürsorglich, feinfühlig und emotional sind.

  3. Die einzig wirklich gesunde Person ist der Zwitter. Wir müssen daran arbeiten, die künstliche Unterteilung der Menschheit in „männlich” und „weiblich” auszurotten, und beiden Geschlechtern helfen, eine Mischung ihrer jeweils besten Charakterzüge zu werden.

Innerhalb dieser drei Lösungsmodelle bilden die persönlichen Lösungen der geschlechtsspezifischen Unterdrückung ein weites Feld. Bleib ledig! Lebe in Gemeinschaft mit Männern und Frauen oder nur mit Frauen! Schaff dir keine Kinder an! Schaff dir keine männlichen Kinder an! Bekomme die Kinder, die du willst, aber fordere Kindergärten, die von den Eltern und den Mitarbeitern kontrolliert werden! Such dir einen Job, such dir eine bessere Tätigkeit! Fordere eine sinnvolle Arbeit! Sei ein informierter Konsument! Reiche Klagen bei den Gerichten ein! Lerne Selbstverteidigung! Trainiere dein Selbstbewußtsein! Entdecke das Lesbische in dir! Entwickle deine proletarische Identität!

All diese Vorschläge sind für bestimmte Frauen in bestimmten Situationen sinnvoll. Aber sie sind nur Teillösungen, die wieder neue Probleme schaffen, und keiner von ihnen beinhaltet eine qualitativ neue Sicht der Welt.

Wir kommen nun von den speziellen zu den mehr allgemeinen Lösungen. Vernichtet den Kapitalismus! Beendet das Patriarchat! Zerschlagt den Heterosexismus!

Das sind alles offensichtlich wichtige Aufgaben für die Errichtung einer neuen humanen Welt. Marxisten und andere Sozialisten, soziale Anarchisten und Feministinnen würden diese Forderungen zumeist bedenkenlos unterschreiben. Aber was die Sozialisten und sogar einige Feministinnen vergessen ist, daß wir alle Formen der Herrschaft zerstören müssen. Diese Forderung ist nicht nur ein bloßer Slogan, sondern sie ist auch die größte Aufgabe, die vor uns liegt. Diese Aufgabe beinhaltet, daß wir lernen, das Schauspiel zu durchschauen. Sie beinhaltet die Zerstörung der Bühnenbilder aus dem Wissen und dem Bewußtsein heraus, daß es anders gemacht werden kann. Sie beinhaltet, daß wir in Zukunft mehr tun müssen, als uns nur in vorprogrammierten Rebellionen abzureagieren. — Wir müssen anfangen zu handeln. Wir müssen unsere Aktionen koordinieren und dabei dennoch als selbstbewußte Individuen handeln. Diese Vorgehensweise ist kein Widerspruch — wie ihr so oft vorgeworfen wurde — aber ihre Durchführung wird sehr schwer sein. Das Individuum kann keine großen Veränderungen hervor- rufen, aus diesem Grund müssen wir unsere Anstrengungen vereinigen. Aber diese Arbeit muß ohne die uns bekannten „Führer” geschehen, und ohne daß wir die Kontrolle über das, was wir aufbauen wollen, aufgeben oder sie an andere übertragen.


Sind dazu die Sozialisten in der Lage? Oder die Anhängerinnen des Matriarchats? Oder die Geisterseherinnen? Die Antwort darauf weißt du. Arbeite dort mit ihnen zusammen, wo es sinnvoll ist, aber gebe nichts von deiner Persönlichkeit auf. Unterwerfe dich weder ihnen noch irgendwelchen anderen.



Nur wenn wir sie zwingen

wird uns die Vergangenheit

zu uns selber führen

 

andernfalls

wirs sie uns schlucken

in ihrem Asyl ohne Türen

 

wir machen Geschichte

oder

wir werden von ihr eingemacht.[19]

 

[1] Barbara Ehrenreich, What is Socialist Feminism?, WIN Magazine, June 3, 1976, p. 4.

[2] Die besten Argumente, die ich dazu finden konnte, sind Socialist Feminism: A Strategy for the Women’s Movement, Hyde Park Chapter, Chicago Women’s Liberation Union, 1972; u. Charlotte Bunch, The Reform Tool Kit, Quest, Vol. 1, No. 1, 1974, pp. 37-51.

[3] Berichte von Polly Anna, Kana Trueblood, C. Corday und S. Tufts, The „Revolution” failed: FEN and its Club shut down, The Fifth Estate, 1976, pp. 13-16.

[5] Lynne Farrow, Feminism as Anarchism, Aurora No. 4, 1974, p. 9; Peggy Kornegger, Anarchism: The Feminist Connection, 1975, dt.: Der Anarchismus und seine Verbindung zum Feminismus, (vgl. S. 21-69, S. 50: Marian Leighton, Anarcho-Feminism and Loise Michel, 1974, dt.: Der Anarcho-Feminismus und Luise Michel, Luise Michel, Karin Kramer Verlag, Berlin 1976, S. 26.

[6] It Aint me Babe, Dec. 1970, p. 11.

[7] Lilith’s Manifesto, Women’s Majority Union of Seattle, 1969; abgedruckt in Robin Morgan (ed.), Sisterhood is Powerfull, Random House, N.Y. 1970, p. 529.

[9] Die Rede ist gegenwärtig über die KNOW, Inc. erhältlich.

[10] The Second Wave, Vol. 2, No. 1, 1972.

[11] What Future for Leadership?, Quest, Vol. 2, No. 4, 1976.

[12] Strasbourg Situationists, Once the Universities Were Respected, 1968, p. 38.

[13] Carol Hanisch, The Personal is Political, Notes from the Second Year, Radical Feminism, N.Y. 1970, pp. 76-78.

[14] Marian Leighton, a.a.O.,(Anm. 5).

[15] Point-Blank!, The Changing of the Guard, in: Point- Blank, Oct. 1972, p. 16.

[16] Eine der bezeichnendsten dieser älteren Analysen ist die von Meredith Tax, Woman and HeLMind: The Story of Everyday Life, Bread and Roses Publications, Boston 1970.

[17] Carole Oles, The Gift, in 13th. Moon, 1974, p. 39.

[18] Meridith Tax, a.a.O., p. 13.

[19] Marge Piercy, Auszug aus: Contribution to Our Museum, Living in the Open, Knopf, N.Y. 1976, pp? 74-75.


Anarcha-Feminismus, Edition Schwarze Kirsche, Libertad Verlag Berlin, 1979.
Originaltitel: "Socialism, Anarchism and Feminism" in search Group One Report No. 26, Vacant Löss Press, Baltimore/Maryland, 1977. Übersetzt von Markus Schürmeister und Jörg Michael Heinrich.