Aus: Oberländer, Erwin (Hg.): Dokumente der Weltrevolution. Der Anarchismus. Walter-Verlag 1972. Digitalisiert von www.anarchismus.at
Carlo Cafiero
Die Aktion
Die Aktion
Die Herren Gelehrten sollten ihre Köpfe lieber nicht so hoch tragen, als ob sie der ganzen Welt helfen müßten: Denn es sind nicht sie, die die Idee der Revolution erfunden haben. Es sind vielmehr die Unterdrückten selbst gewesen, die durch ihre vielfach unbewußten Bemühungen, das Joch der Unterdrücker abzuschütteln, erst die Aufmerksamkeit von Theoretikern auf die Gesellschaftsmoral gelenkt haben. Und erst später haben einige wenige Denker eingesehen, daß die Gesellschaftsmoral unbefriedigend war, und noch später waren dann andere dazu bereit, sie für vollkommen verlogen zu erklären.
Ja, erst das Blut, das das Volk vergossen hat, hat ihnen die Ideen nahegelegt. Ideen werden von Tatsachen abgeleitet und nicht umgekehrt, sagte Carlo Pisacane in seinem politischen Testament, und er hatte recht damit [1]. Vom Volk geht der Fortschritt aus und auch die Revolution; es ist Baumeister und Zerstörer zugleich. Es ist das Volk, das jeden Tag neu geopfert wird, um die weltweite Produktion aufrechtzuerhalten, und es ist das Volk, das mit seinem Blut die Fackel speist, die die menschlichen Geschicke beleuchtet.
Und wenn ein Theoretiker, der das Buch von den Leiden der Menschheit richtig verstanden hat, eine Forderung des Volkes in Worte faßt, dann beginnen die Konservativen und Reaktionäre in aller Welt laut zu schreien: «Welch ein Skandal!»
Ja gut, ein Skandal. Aber wir brauchen den Skandal, denn nur mit Hilfe von Skandalen ist die Idee der Revolution verbreitet worden. Welch einen Skandal hat Proudhon ausgelöst, als er verkündete: Eigentum ist Diebstahl! Und heute gibt es keinen Menschen von Verstand und Herz, der nicht den Kapitalisten für den schlimmsten Verbrecher unter allen Dieben, ja für den eigentlichen Dieb hält. Mit dem furchtbarsten Foltergerät, dem Hunger, ausgerüstet, quält er sein Opfer nicht nur einen Augenblick, sondern das ganze Leben lang. Er foltert nicht allein sein Opfer, sondern auch Frau und Kinder des Mannes, den er in der Hand hat. Der Dieb setzt seine Freiheit und sein Leben aufs Spiel, aber er, der Kapitalist oder der Dieb par excellence, setzt nichts aufs Spiel, und wenn er stiehlt, nimmt er nicht nur einen Teil, sondern alles, was der Arbeiter hat.
Aber es genügt nicht, die theoretische Formel gefunden zu haben. Da Tatsachen die Idee der Revolution hervorgebracht haben, müssen auch Tatsachen ihre Allgemeingültigkeit beweisen.
Auf den ersten Kongressen der Internationale und der französischen Proletarier gab es nur wenige Arbeiter, die den Gedanken des Kollektivbesitzes akzeptierten. Es bedurfte des grellen, in alle Welt flutenden Lichtes der Feuersbrunst der [Pariser] Kommune, um die Idee der Revolution mit Leben zu erfüllen und sie zu verbreiten und um uns alle auf den Kongress von Le Havre zu locken, der auf Grund der Entscheidung von achtundvierzig Vertretern der französischen Arbeiter den libertären Kommunismus als sein Ziel verkündete [2]. Und wir erinnern uns auch daran, daß gewisse autoritäre Doktrinäre noch vor wenigen Jahren wichtigtuerisch und überklug wiederholt haben, die [Pariser] Kommune hätte eine furchtbare Reaktion ausgelöst und dadurch die sozialistische Bewegung nur aufgehalten. Die Ereignisse haben bewiesen, wie weitsichtig diese « gelehrten Sozialisten »(die in der Mehrzahl über gar keine Gelehrsamkeit verfügten) waren, die die berühmte «Politik der Resultate » bei den Sozialisten einführen wollten.
Wir müssen also handeln, handeln und immer wieder handeln. Dadurch, daß wir handeln, arbeiten wir für die Theorie und für die Praxis zugleich, denn die Aktion bringt die Ideen hervor und verbreitet sie in der Welt. Aber wie muß unsere Aktion aussehen?
Sollen wir selbst in die Parlamente gehen oder unsere Leute dorthin schicken? Oder vielleicht in die Gemeinderäte?
Nein, tausendmal nein! Wir haben mit den trüben Geschäften der Bourgeois nichts zu schaffen. Wir dürfen uns nicht in das Spiel unserer Unterdrücker einmischen, wenn wir uns nicht selbst an der Unterdrückung beteiligen wollen. «Ins Parlament gehen, heißt verhandeln; verhandeln bedeutet paktieren», hat einst ein deutscher Exrevolutionär gesagt, der seitdem jedoch selbst sehr viel verhandelt [3].
Unsere Aktion muß die permanente Revolte sein, mündlich, schriftlich, mit der Faust, mit dem Gewehr, mit Sprengkörpern, manchmal sogar mit dem Wahlzettel, wenn es etwa darum geht, für die Kandidaten Blanqui oder Trinquet [4] zu stimmen, die nicht wählbar sind. Wir sind konsequent, und wir bedienen uns jeder Waffe, wenn es darum geht, in Aufständen zuzuschlagen. Alle Mittel, die nichts mit der Legalität zu tun haben, sind uns recht.
«Aber wann müssen wir mit unserer Aktion, mit unserem Angriff beginnen?» fragen die Freunde manchmal. «Müssen wir nicht warten, bis unsere Kräfte organisiert sind? Angreifen, ehe man genügend vorbereitet ist, heißt doch, sich der Gefahr einer Niederlage aussetzen.»
Liebe Genossen, wenn wir immer darauf warten wollen, daß wir stark genug sind, ehe wir angreifen, dann werden wir nie angreifen und jenem tapferen Manne gleichen, der schwor, sich niemals ins Meer zu stürzen, bevor er nicht schwimmen gelernt hätte. Gerade die revolutionäre Aktion entwickelt unsere Kräfte, wie die Gymnastik die Kräftigung der Muskeln fördert. Zweifellos werden unsere Schläge anfangs nicht tödlich sein. Vielleicht erregen wir zunächst noch die Heiterkeit der ernsten und weisen Sozialisten, aber wir können ihnen immer antworten: «Ihr lacht über uns, weil ihr genauso dumm seid wie die, die über ein Kind lachen, das hinfällt, wenn es seine ersten Schritte versucht. Es macht euch Spaß, uns als Kinder zu bezeichnen? Nun gut, wir sind es, weil die Entwicklung unserer Kräfte eben erst beginnt. Aber mit dem Versuch zu gehen, beweisen wir, daß wir uns darum bemühen, Männer zu werden, d.h. ein vollständiger Organismus - gesund, robust und fähig, Revolution zu machen, und nicht Schreiberlinge oder Redakteure zu werden, die frühzeitig altern, da sie nichts tun als ewig eine Weisheit wiederzukäuen, die man nie verdaut, und die sich damit begnügen, in zeitlicher und räumlicher Unendlichkeit eine Revolution vorzubereiten, die sich in den Wolken verliert.»
Wie beginnen wir mit der Aktion?
Sucht nur nach einer Gelegenheit, und sie wird sich euch bald bieten. Überall, wo es nach Aufruhr und Pulver riecht, müssen wir mit dabei sein. Warten wir nicht ab, bis wir uns an einer Bewegung beteiligen können, die sich mit dem Etikett des offiziellen Sozialismus schmückt. Jede Volksbewegung birgt die Keime eines revolutionären Sozialismus in sich: Wir müssen also an ihr teilnehmen, um sie weiterzuführen. Eine klare und festumrissene Vorstellung, wie die Revolution im Idealfall auszusehen hätte, gibt es nur bei einer ganz kleinen Minderheit, und wenn wir, ehe wir uns beteiligen, abwarten, daß eine Revolution so eintrifft, wie wir sie uns in Gedanken vorgestellt haben, dann werden wir ewig warten müssen. Wir dürfen die Doktrinäre, die vor allem Formeln suchen, nicht nachahmen. Denn das Volk ist die lebendige Revolution, und wir müssen mit ihm kämpfen und sterben.
Und wenn die Anhänger der legalen oder parlamentarischen Aktion kommen und uns Vorhalten, daß wir uns nicht unter das Volk mischen sollen, wenn es zur Wahl geht, dann werden wir ihnen antworten: Sicher lehnen wir es ab, uns unter das Volk zu mischen, wenn es vor seinen Göttern, vor seinem König oder vor seinem Herrn auf den Knien liegt. Aber wir werden an seiner Seite sein, wenn es sich gegen seine mächtigen Feinde standhaft zeigt. Für uns heißt Verzicht auf die Politik nicht auch Verzicht auf die Revolution: Unsere Weigerung, an irgendeiner parlamentarischen, legalen und reaktionären Aktion teilzunehmen, ist ein Zeichen unserer Treue zum Prinzip der gewalttätigen, anarchistischen Revolution, zur wahren Revolution des Pöbels und der Habenichtse.
[1] Carlo Pisacane (1818-1857), ein Anhänger Garibaldis, nahm an der Revolution von 1848 und verschiedenen anderen Aufstandsversuchen teil. 1848 ernannte ihn Mazzini zum Chef des Befehlsstabes des Heeres der - kurzlebigen - römischen Republik. Seine sozialistischen Neigungen wurden im wesentlichen erst nach seinem Tode bekannt, nachdem seine «Saggi» (Essays) 1860 in Paris erschienen waren.
[2] Der Kongreß von Le Havre (November 1880) vereinte zum letzten Mal die französischen Marxisten und Anarchisten, zwischen denen es hier zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Bei der Diskussion um die Zielvorstellungen setzte sich die anarchistische Minderheit durch, die es erreichte, daß sich 48 gegen 7 Delegierte zugunsten des Communisme libertaire als Endziel aussprachen.
[3] Hier ist Wilhelm Liebknecht gemeint, der in einem öffentlichen Vortrag am 31. Mai 1869 in Berlin erklärte: «Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentirt; wer parlamentirt, paktirt.» Zitiert nach W. Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozial-Demokratie, 2. Aufl., Berlin 1872, S. 8. Liebknecht konnte sich allerdings mit seinem damaligen Standpunkt, nämlich am parlamentarischen Leben jener Zeit nicht teilzunehmen, innerhalb der Sozialdemokratie nicht durchsetzen.
[4] Dieser Hinweis bezieht sich offenbar auf die Wahl Blanquis zum Abgeordneten von Bordeaux, die 1879 zu einem Zeitpunkt stattfand, als Blanqui noch im Gefängnis (in Verbüßung der ihm nach der Niederschlagung der Pariser Kommune auferlegten Strafe) und deshalb nicht wählbar war. Über Trinquet konnte nichts Näheres ermittelt werden.