Carlo Cafiero
Anarchismus und Kommunismus
Eine Rede, gehalten auf dem Kongress de-Fonds, am 9.—10. Oktober 1880 der Juraföderation zu Chaux
Auf dem von der „Region du Centre“ in Paris abgehaltenen Kongress sagte ein Redner, der sich durch masslose Angriffe gegen die Anarchisten auszeichnete: „Kommunismus und Anarchismus schliessen sich gegenseitig aus.“ Ein anderer Redner, der auch die Anarchisten bekämpfte, aber mit weniger Erbitterung, bemerkte in Hinsicht der ökonomischen Freiheit: „Nie kann die Freiheit vergewaltigt werden, wenn Gleichheit besteht.“
Nun, ich glaube, dass beide Redner im Unrecht waren. Man kann ökonomische Unabhängigkeit besitzen, ohne der geringsten Freiheit teilhaftig zu sein. Gewisse religiöse Gesellschaften sind der schlagendste Beweis dafür. In ihnen herrscht die vollständigste Gleichheit, aber zu gleicher Zeit auch der Despotismus. Weder Kleidung noch Speise, noch Trank des Oberhauptes der Gemeinschaft zeichnet sich von dergleichen des Geringsten seiner Brüder aus. Nur ein Unterschied besteht: er unterscheidet sich von den übrigen — durch das Recht zu befehlen!
Und die Anhänger des Volksstaates? Ich bin überzeugt, wenn nicht Hindernisse vielerlei Art ihnen im Wege stünden, würden sie vollständige Gleichheit schaffen, aber auch den perfekten Despotismus; ihr Staat würde so despotisch sein, wie der heutige, verschlimmert durch den ökonomischen Despotismus aller Kapitalien, die in die Hände des Staates, d.h. dessen Vertreter übergehen würden und das Ganze vervielfältigt durch die dem neuen Staate notwendig gewordene Zentralisation. Deswegen bekämpfen wir Anarchisten als Freunde der Freiheit den Staat in jeglicher Form; deshalb und im Widerspruch mit dem, was behauptet wird, hat man vollkommen recht, für die Freiheit besorgt zu sein, selbst wenn die Freiheit bestehen würde — und ist im Gegenteil nichts für die Gleichheit zu befürchten dort, wo die wahre Freiheit, die Anarchie herrscht.
Anarchie und Kommunismus, weit entfernt sich gegenseitig auszuschliessen, müssen sich notwendigerweise ergänzen. Unser Ideal ist sehr einfach; es besteht, wie dasjenige unserer Vorfahren, aus den beiden Worten: Freiheit und Gleichheit. Aber ein kleiner Unterschied ist dabei. Dadurch, dass die Reaktionäre aller Zeiten uns durch ihre Taschenspielerkünste um Freiheit und Gleichheit betrogen, uns nur zu oft Falschmünzen an Stelle der Edelmetalle geboten haben, sind wir klüger geworden und haben den Wert der beiden Worte ergründet. Wir setzen deshalb neben den Worten Freiheit und Gleichheit zwei gleichwertige, deren klare Bezeichnung kein Missverständnis duldet und sagen: Wir wollen die Freiheit, d.h. die Anarchie und die Gleichheit, d.h. den Kommunismus.
Die Anarchie von heute ist der Angriff, der Krieg gegen jede Autorität, jede Gewalt, jeden Staat. In der zukünftigen Gesellschaft wird sie die Verteidigung sein, die Verhinderung der Wiederherstellung aller Autorität, aller Gewalt, jedes Staates. Volle Freiheit dem Individuum, das, durch seine Bedürfnisse, seine Wahl und Sympathie geleitet, sich anderen Individuen in der Gruppe anschliesst: freie Entwicklung der Gruppe, die sich mit anderen Gruppen in der Kommune föderiert; freie Entwicklung der Kommune, die sich mit dem Distrikt verbindet.
Der Kommunismus ist der zweite Punkt unseres revolutionären Ideals. Der heutige Kommunismus ist noch die Offensive. Er bedeutet nicht die Zerstörung der Autorität, sondern die Besitznahme aller Reichtümer der Erde im Namen der Menschheit. In der künftigen Gesellschaft wird der Kommunismus der Genuss aller vorhandenen Reichtümer für alle Menschen sein nach dem Grundsatze: Von jedem nach seinen Fähigkeiten, und von jedem nach seinen Bedürfnissen.
Man muss jedoch in Betracht ziehen — und dies als Antwort unseren Gegnern, den Staatskommunisten und Sozialdemokraten — dass die Besitznahme und der Genuss der vorhandenen Reichtümer die Tat des Volkes selbst sein muss. Indem die Menschheit nicht aus Personen besteht, welche die Genussmittel ergreifen und mit beiden Händen zurückhalten können, ist man zu dem Schlusse gekommen, dass aus diesem Grunde eine Dirigentenklasse geschaffen werden müsse, Verwalter und Bewahrer der gemeinschaftlichen Güter.
Wir, die anarchistischen Kommunisten teilen diese Anschauungen nicht. Keine Mittelpersonen, keine Vertreter, die schliesslich nur sich selbst und ihr eigenes Interesse vertreten. Keine Lenker der Gleichheit, ebenso wenig als Lenker der Freiheit; keine Regierung, keinen neuen Staat, nenne er sich Demokratie oder Volksstaat, revolutionärer oder provisorischer.
Den allgemeinen Reichtum, über die ganze Erde zerstreut und der ganzen Menschheit gehörend, werden diejenigen, in deren Bereich die Genussmittel sind, gemeinschaftlich gemessen. Bewohner eines gewissen Landstriches werden die Erde bebauen, Maschinen, Werkstätten, Häuser benützen und alles gemeinschaftlich betreiben.
Als ein Teil der Menschheit, üben sie ihr Recht direkt aus über einen Teil der menschlichen Güter. Und wenn ein Bürger von Peking in diesen Landstrich käme, würde er dieselben Rechte haben wie die, welche im Platze geboren sind.
***
Diejenigen, welche den Anarchisten vorwerfen, sie wollten ein Eigentum von Korporationen schaffen, haben sich hiermit sehr geirrt. Das wäre eine schöne Errungenschaft, den Staat abzuschaffen, um eine Menge kleiner Staaten zu etablieren. Ein Ungeheuer mit einem Kopfe zu töten, um ein tausendköpfiges zu unterhalten!
***
Man wird uns die Frage stellen: Ist dieser Kommunismus realisierbar? Werden genügend Produkte zu unserer Verfügung stehen, um Jedem das Recht zu geben, davon zu nehmen nach freiem Ermessen, ohne von ihm mehr Arbeit zu verlangen, als er gewillt ist zu leisten? Wir antworten: Ja, dieser Kommunismus ist ausführbar, weil in der künftigen Gesellschaft ein solcher Ueberfluss herrschen wird, dass es nicht notwendig sein wird, den Verbrauch zu beschränken oder mehr Arbeit von den Menschen zu verlangen, als er zu leisten gewillt oder imstande ist. Diese ungeheuere Vervielfältigung von Produkten wird sich vor allem aus folgendem ergeben:
1. Aus der Harmonie der Zusammen Wirkung in den verschiedenen Zweigen der menschlichen Tätigkeit an Stelle des heutigen Kampfes der Konkurrenz.
2. Aus der vermehrten Einführung der Maschinen für die Grossproduktion.
3. Aus der bedeutenden Ersparnis von Arbeitskraft, an Arbeitsmitteln und Rohstoffen, aus der Vermeidung der schädlichen und unnützen Produktion.
***
Der Konkurrenzkampf ist eines der Grundprinzipien der kapitalistischen Produktionsweise: der Ruin des Einen ist des Andern Glück. Dieser erbitterte Kampf findet statt zwischen Arbeitern wie zwischen Kapitalisten. Es ist der Krieg bis aufs Messer. Ein Arbeiter findet eine Stelle, der andere verliert die seine; eine Industrie blüht empor, während die andere zu Grunde geht.
Nun stelle man sich vor, wenn in der künftigen Gesellschaft das individualistische Prinzip des Kapitalismus: „Jeder gegen Alle und Alle gegen Jeden“, und durch das wahre Prinzip der Humanität „Einer für Alle und Alle für Einen“, ersetzt wird, welche ungeheuere Veränderung in der Produktion vor sich gehen müsste.
Die mächtigen Hilfsmittel der Arbeit, die uns die Maschinen bieten, und die uns heute so gross erscheinen, sind sehr unbedeutend im Vergleich mit dem, was sie in der zukünftigen Gesellschaft sein werden.
Wie viele Erfindungen und wissenschaftliche Anwendungen gehen verloren aus dem Grunde, weil sie sich für den Kapitalisten nicht bezahlen? Der Arbeiter, selbst ist heute ein Feind der Maschine und mit Recht, denn sie ist das Ungeheuer, das ihn aus der Fabrik vertreibt, ihn aushungert, ihn entwürdigt, foltert und zermalmt. Und doch — welch grosses Interesse wird er dann haben, ihre Zahl zu vermehren, ihre Konstruktion zu vervollkommnen, wenn er nicht mehr in ihrem, sondern sie in seinem Dienste stehen wird.
Und weiter: Wie viele Arbeiter, Rohstoffe und Arbeitsmittel sind heute noch im Dienste des Militarismus, um Kriegsschiffe, Festungen und Arsenale zu bauen, Kanonen zu giessen und offensive und defensive Waffen zu schmieden? Wie viele Kräfte werden nicht verbraucht, um Luxusgegenstände zu schaffen, die nur dazu dienen, der Eitelkeit zu fröhnen?
Dank dieser Fülle von Produkten wird die Arbeit die hässliche Gestalt der Knechtschaft verlieren und nur noch den Reiz einer physischen und moralischen Notwendigkeit haben, zu studieren und zu leben nach der Natur.
***
Es genügt nicht, zu behaupten, dass der Kommunismus möglich ist, wir können beweisen, dass er notwendig ist. Man kann nicht Kommunist sein, man muss es sein, oder das Ziel der Revolution ist verfehlt.
Wenn, nachdem die Arbeitsmittel und die Rohstoffe zum Gemeingut geworden, wir die Produkte als individuelles Eigentum betrachten würden, müssten wir das Geld beibehalten und ein grösseres oder kleineres Privateigentum schaffen, je nach dem Verdienst oder der Geschicklichkeit des Einzelnen. Die Gleichheit würde verschwinden, weil der, welcher mehr besässe, über dem Andern stände. Ein Schritt würde dann den Konter-Revolutionären genügen, um das Erbrecht wieder herzustellen.
Ich habe einen sogenannten revolutionären Sozialisten gehört, der das Privateigentum der selbstgeschaffenen Erzeugnisse verteidigte und schliesslich behauptete, er sehe keine nachteiligen Folgen darin, dass diese Erzeugnisse sich auf Erben übertrügen. Für uns, die wir die Folgen, an denen die Gesellschaft durch Anhäufung von Reichtümern und deren Vererbung zu tragen hat, zu gut kennen, gibt es in diesem Punkte keine Zweifel. Dieses individuelle Recht auf die Arbeitsprodukte würde nicht nur die Ungleichheit zwischen den Menschen wieder herbeiführen, sondern auch diejenige der verschiedenen Arten von Arbeit. Es würde sofort die saubere und unsaubere, die „edle“ und „gemeine“ Arbeit ihr Erscheinen machen. Die erstere würde durch die Reichen, die andere durch die Armen verrichtet. Es würde dann nicht der Beruf oder persönliche Geschmack sein, der dem Einzelnen bestimmen würde, sich dieser oder jener Tätigkeit zu widmen, sondern das Interesse, die Hoffnung, in einem gewissen Fache mehr zu verdienen, massgebend sein. Die Folge davon wäre Faulheit und Arbeitslust, Verdienst und Nichtswürde, das Gute und das Böse, Tugend und Laster, Belohnung und Rache: Gesetz, Richter, Polizei und Gefängnis.
Es gibt Sozialisten, welche das Recht auf die Arbeitsprodukte verteidigen, indem sie das Gerechtigkeitsgefühl in den Vordergrund schieben. Befremdende Selbsttäuschung! Unter der Kollektivarbeit, die uns auferlegt ist, und angesichts der Notwendigkeit, im Grossen zu produzieren, die Maschinerie weiter und weiter zu entwickeln — wie könnte man da bestimmen, welchen Anteil der Einzelne an dem geschaffenen Produkt für sich beanspruchen könnte?
Es ist dies rein unmöglich, und unsere Gegner gestehen dies zu, indem sie sagen: Wir werden als Basis die Verteilung der Arbeitsstunde nehmen. Zu gleicher Zeit nehmen sie aber an, dass dies ungerecht wäre, weil drei Arbeitsstunden Peters soviel als fünf Arbeitsstunden Pauls wert sein könnten.
***
Früher nannten wir uns Kollektivisten, um uns von den Individualisten und autoritären Kommunisten zu unterscheiden; in Wahrheit waren wir antiautoritäre Kollektivisten. Indem wir uns Kollektivisten nannten, dachten wir durch diesen Namen unsere Gedanken auszudrücken, nämlich, dass Alles gemeinschaftlich sein sollte, ohne einen Unterschied zu machen zwischen den Arbeitsmitteln und den Produkten der kollektiven Arbeit. Aber eines Tages erschien eine neue Schattierung von Sozialisten, welche die Irrtümer der Vergangenheit neu belebte, zu philosophieren und zu unterscheiden anfing und sich zu Aposteln der folgenden These machte:
„Es gibt Gebrauchswerte und Produktionswerte. Die Gebrauchswerte sind die, welche wir anwenden, unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen; das Haus, das wir bewohnen, die Lebensmittel, die wir gemessen, die Kleider, die Bücher etc. etc. Die Produktionswerte hingegen sind die, deren wir uns bedienen zum Produzieren: die Werkstätten, der Schuppen, der Pferdestall, die Vorratshäuser, Maschinen und Arbeitsmittel aller Art; der Grund und Boden, Rohstoffe etc. Die Gebrauchswerte sollen persönliches Eigentum sein, die Produktions werte das Eigentum Aller.“
Nun frage ich, wenn Ihr die Kohle, welche die Maschine heizt, das Öl, das sie schmiert, und ihren Lauf erleichtert, Produktionswerte nennt, warum nicht das Brod und Fleisch, die mich nähren, das Öl, mit dem ich meinen Salat anmache, das Licht, bei dessen Schein ich arbeite, alles das, was die kunstvollste Maschine, den Menschen erhält?
Ihr rechnet zu den Produktionsmitteln die Wiese, die Ochsen und Pferde nährt, den Stall, der sie von den Unbilden des Wetters schützt, und Ihr macht das Haus und den Garten zu einem Gebrauchswert. Wo ist die Logik? Ihr wisst ganz gut, dass diese Grenze nicht besteht, und wenn es schwer ist, dieselbe heute zu ziehen, dass sie verschwindet an dem Tage, wo Jeder Produzent und Konsument zugleich sein wird.
Es ist also nicht diese Theorie, die neue Kraft den Anhängern des individuellen Rechts der Arbeitsprodukte verliehen hätte. Sie hatte nur eine Folge: das Spiel etlicher Sozialisten bloszustellen, welche die Tragweite der revolutionären Idee vermindern wollten. Sie hat uns die Augen geöffnet und die Notwendigkeit gezeigt, uns offen als Kommunisten zu erklären!
***
Kommen wir schliesslich zur einzigen, ernsthaften Einwendung, die unsere Gegner dem Kommunismus gemacht haben. Sie sind Alle einig, dass wir notgedrungen dem letzteren zusteuern, aber sie behaupten, dass man im Anfang, da die Produkte noch nicht reichlich genug vorhanden wären, dieselben verhältnismässig verteilen müsse, und die beste Verteilung der Produkte sei die, welche die Quantität der gelieferten Arbeit des Einzelnen zur Grundlage habe.
Darauf antworten wir, dass man in der zukünftigen Gesellschaft, selbst wenn die Verteilung nach Portionen (Rationement) sich als notwendig erweisen sollte, Kommunist bleiben, und die Produkte verteilen muss nicht nach dem Verdienste (geleisteter Arbeit), sondern nach dem Bedürfnis.
Nehmen wir zum Beispiel die Familie. Der Vater verdient 5 Franken des Tages, der älteste Sohn 3, der jüngere 2, der jüngste 1 Fr. 25 Cent. Alle geben das Geld der Mutter, die den Haushalt bestreitet und sie beköstigt. Jeder leistet eine ungleiche Summe, aber jeder geniesst nach seinem Bedürfnis. Es gibt da keine abgewogenen Rationen. Kommen dann böse Zeiten, und die Mutter kann nicht mehr jedem nach seinem Appetit zu essen geben, so werden, im Einverständnis mit Allen, die Mahlzeiten magerer ausfallen. Diese Verteilung findet also nicht nach dem Verdienste statt, denn die Jüngeren bekommen verhältnismässig den grössten Anteil, und das Beste ist für die alte Mutter, die nichts zum Haushalte beiträgt. Selbst während Teuerungen ist das Prinzip des Rationements je nach Bedürfnis in der Familie geregelt.
Man kann nicht Anarchist sein, ohne Kommunist zu sein. Die geringste Idee einer Abweichung enthält schon den Keim eines Autoritarismus. Wir müssen Kommunisten sein, denn nur durch den Kommunismus können wir die wahre Gleichheit erzielen.