#title Von der Verweigerung zur Subversion #author Büro für Anti-Utopische Forschungen #SORTtopics Subversion, Verweigerung, Spiel, Experiment, Entfremdung, Szene, Poesie, Situationismus #date 1980 #source Scan der Neuauflage des Textes als Broschüre im 21. Jahrhundert #lang de #pubdate 2016-07-15T15:41:25 #notes Übernommen aus “Betonzeit - Ein Pamphlet gegen die Stadtlandschaft und ihre Verbesserungen“, Verfasst vom Büro für Anti-utopische Forschungen, Köln, im November 1980 Die Verweigerung ist der erste Schritt zur Rebellion; in ihrer diffusen Form findet sie sich in jeder Geste der Nicht-Beteiligung an einer Gesellschaft, die gerade auf der aktiven und engagierten Beteiligung der Menschen an der täglichen Vernichtung ihres Lebens, am Verzicht auf sich selbst beruht. Zu viele wissen von dieser Welt nur noch, dass sie nicht die ihre ist. Und gerade deshalb, weil es sich viel mehr um ein Beharren oder ein Sich-Abwenden handelt als um eine “Bewegung“, ist jener Widerstand nicht in den organisierenden Konzepten irgendeiner politischen Opposition erfassbar. Die sozialwissenschaftlichen Spürhunde der Macht durchsuchen verzweifelt den Alltag der Arbeiter und der Jugendlichen nach dem “subjektiven Faktor“. Aber ihnen gelingt nicht mehr als eine hilflose und lächerliche umständliche Beschreibung der banalsten Vorgänge, gerade weil das, was sie suchen, hauptsächlich in dem enthalten ist, was nicht getan, was nicht gesagt wird, und weil immer mehr Leute gegenüber den Agenten der Beteiligung – Lehrern, Bullen, Sozialarbeitern, Sozialforschern und politischen Agitatoren – die richtige Sprache finden, nämlich einfach nicht mehr mit ihnen zu sprechen, und wenn, dann um sie zu verarschen. Die Verweigerung ist das Gespenst, das in den Alpträumen der Zukunftsplaner der Macht umgeht, aber sie ist noch nicht mehr als ein Gespenst, das den täglichen Tod der Menschen zäh überlebt. Erst nach und nach, in manchen Begegnungen, manchen Festen, manchem Aufruhr finden sie die Bruchstücke von dem, was in dieser Zeit an positivem Lebensgenuss möglich ist – unvorhersehbare und scheinbar zufällig eintretende Momente, in denen das Erleben eine ungeahnte Dichte und Intensität erreicht, in denen die Energien und Leidenschaften sich vervielfachen... Situationen, die ebenso plötzlich abbrechen wie sie entstanden sind; sie lassen sich weder konservieren noch wiederholen, aber sie vervielfachen sich mit jeder Anstrengung, die Revolution zu leben... Die konzentrierte Form der Verweigerung bildet das Aussteigermilieu derjenigen, die den bewussten Bruch mit allen Hierarchien (Arbeit, Schule, Familie, Politik...) vollzogen haben. Doch das Land der Freiheit, das der subkulturellen Anarchismus jenseits der Mauern all dieser Knäste zu finden glaubte, verdunstet in der Leere des Alltags: Unter dem Pflaster liegt die städtische Kanalisation. Die, die den Gesichtern der Unterdrücker und Bewacher den Rücken gekehrt haben, begegnen nun in der Langeweile der tatenlosen Tage einer Unterdrückung ohne Gesicht. Man beginnt die “klaren Fronten“ zu vermissen, die wenigstens eine einfache Orientierung vorgeben konnten. Ein Gefühl der Ohnmacht breitet sich aus, ein Empfinden der Desorientierung, des Ausserhalb-stehens, der Bezugslosigkeit zur “Gesellschaft“, die nicht als die allgemeine Bezugslosigkeit aller erfahren wird, in der sich die eigene Isolation als aufzuhebende wiederfinden liesse, sondern als fernes Ungeheuer, das doch stets geheimnisvoll gegenwärtig ist. Der Blick bleibt am Horizont hängen, da wo die Unterdrückung weit genung entfernt ist, um für alle gleichermassen sichtbar zu sein (der Bullenterror, die atomare Bedrohung, der Faschismus), und lockt die Umherirrenden immer wieder in die magischen Kreise der Politik – als ob die Orte, von denen aus dieses System geschlagen werden kann, erst aufgesucht werden müssten. Auf diesem Boden blühen die Tagträume der Möchtegern-Terroristen, der ehrfürchtigen Bewunderer der Guerilla, jenes mediengerechten BILDes vom Widerstand, dessen selbstzerstörerische Hoffnungslosigkeit die Lähmung und Resignation seiner Zuschauer nur noch zementiert. In Wirklichkeit jedenfalls ist das öffentliche Auftreten der Freaks selten weiter gegangen, als sich den Amateur-Volksvertretern der Bürgerinitiativen als militante Fusstruppe zur Verfügung zu stellen; ihre Ablehnung des angepassten Daseins wird nur selten in ihrem ganzen Umfang offen und offensiv in die Kämpfe eingebracht. Kaum jemals haben sie eigene Strategien des Kampfes, der Organisation entwickelt, über die ihre persönliche Radikalität in eine öffentliche Bewegung münden könnte. Die anderen gehen den Weg nach innen, wo sie unter dem diversen Vergangenheitsschrott endlich nichts als die reine Leere ihres langweiligen Daseins als göttliche Offenbarung erblicken, die von all den Therapiekrämern verkaufte “individuelle Autonomie“, die lediglich darin besteht, die gegenwärtige Unterdrückung aus freier Entscheidung zu akzeptieren, nachdem man sich von den verinnerlichten Resten vergangener Unterdrückung erlösen durfte. Wer sich selbst nur als Gegenstand seiner Betrachtung erkennt und nicht in seiner Praxis, dem bleiben nur Schatten von menschlichen Beziehungen und Beziehungen von menschlichen Schatten. Das Arbeitsfeld aller Psychogruppen. Und wer trotzdem nicht rausfindet, wer er eigentlich ist, kann immer noch die Uniform der Feministin, des Schwulen, des Neuen Mannes, des Hippies, Punks oder Geisteskranken anziehen – wer sich definieren lässt, lässt sich beherrschen! Von der Illusion des Freiraums bleibt nur der Freiraum der Illusionen. Von Nirwana bis Guevara ist die Subkultur nichts als ein Vakuum, ein leeres Vorzimmer, von dem sich alle Türen zu jedem beliebigen ideologischen Scheisshaufen öffnen: Zum Reformismus, Mystizismus, Militantismus oder zur Berufslaufbahn als alternativer Kleinunternehmer oder als Kulturaffe beim Amt für Staatsverschönerung. Nur drei Kategorien können auf die Dauer in diesem Durchzugsort zurückbleiben: die genügsamen Schwachsinnigen, die durch Musik- und Drogenkonsum ihren Tapetenmustern immer wieder von Neuem interessante Eindrücke abzugewinnen vermögen, die Flipper, die sich durch einen beschleunigten Wechsel zwischen allen möglichen Orten und Milieus von ihrer Unfähigkeit ablenken, diese zu verändern, und die Nihilisten, die sich in einer um sich selbst kreisenden Verzweiflung ertränken. Deutlicherweise sind uns die beiden letzteren Haltungen noch am sympathischsten – enthalten sie doch die Entschlossenheit, ohne Illusionen in der Gegenwart zu leben, die Zurückweisung der Rollen und den Geschmack am unkontrollierbaren Umherschweifen durch Raum und Zeit, nur den eigenen Begierden folgend... Was ihnen fehlt ist das Wissen um die Möglichkeiten, diesen ungeheuren Schrotthaufen einer zugrundegehenden Welt als das Rohmaterial zu begreifen, um Spiele zu erfinden, die gegen die Regeln dieser Welt gespielt werden und so ihren Zusammenbruch beschleunigen, weil sie keine andere Befriedigung suchen als die, die die Stärke des eigenen Handelns hervorrufen kann. In einer rohen Form enthält jeder Akt des Vandalismus und der “sinnlosen“ Zerstörung diese Sehnsucht, sich in der Zerstörung der Dinge zu verwirklichen, deren Herstellung und Konsum alle Sehnsüchte und Kräfte in einem unwirklichen Dasein aufgesogen hat; in der materiellen Welt seine Spuren zu hinterlassen und sich so zu vergewissern, mehr zu sein als ein Schatten der Dinge oder ein sich selbst zerfleischendes unterirdisches Untier... Wenn wir also die Politik, die politischen Aktivisten und Organisationen in jeder Form zurückweisen, dann keineswegs weil wir ein Eingreifen in die gesellschaftliche Entwicklung für sinnlos oder unmöglich halten, sondern weil von all diesen Unternehmungen, die darauf abzielen, die Meinungen der Leute zu beeinflussen, nur ein sehr geringfügiger Einfluss auf das wirkliche Leben ausgeht. Gibt es eine stärkere Einschränkung der Wahrnehmung all der Orte, die wir täglich durchqueren, der Menschen, die uns überall über den Weg laufen, der banalen Begegnungen (Gespräche über die Uhrzeit, die Arbeit, das Wetter...), der vielfältigen Tätigkeiten, die wir bewusstlos verrichten, unserer unerklärbaren Träume und abwegigen Gedanken, mit einem Wort, all der Gelegenheiten, die wir ungenutzt verüberziehen lassen, als all unsere Unzufriedenheit in den sterilen Käfig dieser vom Leben abgesonderten Treffen zu zwängen, in dem man sich eine “revolutionäre Identität“ als Haustier und Maske zugleich hält? Seien es die grossen Ideen, die immer auf -ismus enden und dann wieder von vorne anfangen, oder die “konkreten Nahziele“ in den verschiedenen Spezialbereichen, überall sucht man den kleinsten gemeinsamen Nenner, um möglichst viele Leute unter einen Hut zu bringen. Im Grunde kennt jeder die verworrenen Antriebe, aus denen jemand “politisch aktiv“ wird: die Unzufriedenheit mit dem langweiligen und unterdrückerischen Alltag, die Suche nach der verlorenen Geborgenheit der Familie, nach Liebesbeziehungen, nach Abwechslung, nach Macht, nach Abenteuern oder danach mit vielen Leuten zu reden. Aber warum gibt niemand zu, dass diese “privaten“ Wünsche schon alle wirklichen Ziele einer revolutionären Gruppe in sich enthalten, und dass sie nur deshalb “private“ sind, weil sie in dieser Gesellschaft überhaupt nicht oder nur auf eine idiotische Art und Weise befriedigt werden können, warum muss immer der Kampf für das Volk, für die Zukunft, für die Hungernden und Entrechteten, für die Vernunft, die Humanität und die Grundrechte bzw. für das was man sich unter all dem vorstellt als höhere Rechtfertigung herhalten? Hierin liegt die ganze Verlogenheit aller politischen Gruppen – an der Zerstreutheit und Unbeteiligtheit, die sich bei nahezu allen Aktivistentreffen feststellen lassen, dass die Meisten “nicht bei der Sache sind“, merkt man deutlich, dass die proklamierten Ziele und Methoden den Ansprüchen der Beteiligten bei weitem nicht genügen; mehr noch: dass das ständige Hingezogensein zu diesen “bürgerlichen“, privat gehaltenen Begierden ein Schuldgefühl hervorruft, das durch die Opferzeremonien der politischen Arbeit entsühnt wird. Dabei sollte doch jedem Materialisten bekannt sein, dass – wo nicht der Hunger das wichtigste Argument war – immer die 'niederen', 'unvernünftigen', 'unmoralischen', 'egoistischen' Leidenschaften die treibende Energie der Geschichte waren, von der alle Religionen, alle Nationalismen, alle Parteiaufmärsche, alle Trugbilder des Konsums ihre Anziehungskraft entliehen haben, von der materiellen Gewalt geschichtlicher Wünsche, die in allen wirklichen Revolutionen in die Hände ihrer Produzenten selbst zurückkehrte – und nicht die hohen Ideale, die Vernunft, das Gemeinwohl, die Gerechtigkeit, leere Worte, mit denen nur dort ein Einfluss ausgeübt werden konnte, wo sie sich als falsche Bezeichnungen an die menschlichen Triebe hefteten. Revolutionäre Tätigkeit ist für uns unmittelbar identisch mit der Anstrengung, alle unsere Wünsche zu verwirklichen; und der grenzenlosen Vielfalt dieser Wünsche entspricht notwendig die strengste Einheit in der Ablehnung all dessen, was ihre Verwirklichung behindert. Das ist die ganze Antwort auf die Frage nach unserem Verhältnis zur “Disziplin“. Folglich können wir all die, die glauben innerhalb dieser Gesellschaft ihr privates Glück finden zu können, durchaus nicht wegen ihrer egoistischen Begehrlichkeit verurteilen – im Gegenteil verachten wir sie wegen der elenden Armseligkeit ihrer Begierden, sich in solchen Zuständen zufrieden zu geben. Dabei hüten wir uns davor, das Ziel unserer Wünsche jemals mit wenigen Worten festzulegen – zu unbekannt ist uns selbst noch das Glück, das wir suchen, und die seltenen Momente, die unserem Durst nach Leben vollständig genügen, sind nur eine Vorahnung von einem Leben, über das wir ungeteilt verfügen. Entsprechend liegt übrigens auch die Stärke jeder revolutionären Bewegung gerade darin, keine Forderungen zu stellen als die, die sich selbst erfüllen kann – unser Feinde brauchen nicht zu wissen, was wir wünschen, erst recht nicht, bevor wir es tun. Und so gehören wir auch im Gegensatz zu den karrierebewussten Individualisten dieses Zeitalters nicht zu denen, die “wissen was sie wollen“; aber dafür wissen wir, wie wir es erreichen, weil wir genau wissen, was uns daran hindert. Unser Angriff gilt allem, was die Möglichkeit menschlicher Begegnungen begrenzt: es versteht sich von selbst, dass wir die Lohnarbeit (und damit auch ihre vergegenständlichte Form, die Ware und das Geld) wie den Staat und alle Institutionen des Zwangs und des Stumpfsinns (Schulen, Gefängnisse, Universitäten, Psychiatrie...) kompromisslos ablehnen, allein deshalb, weil sie uns daran hindern, miteinander zu reden, miteinander zu spielen, uns frei zu bewegen und zu lieben wen, wann und wo wir wollen. Die grenzenlose Offenheit, die für uns Voraussetzung und Ziel jedes Gespräches ist, hat folglich nichts zu tun mit der heute so beliebten Offenheit der Saufgespräche und der Selbsterfahrungsgruppen, diesem Austausch psychologischer Bankrotterklärungen, wo sich jeder damit tröstet die eigene Ohnmacht in der des anderen wiederzuerkennen. Wir hassen die idyllische Windstille innerhalb des linken Milieus, die Gleichgültigkeit, Anspruchslosigkeit und das Desinteresse aneinander, in der man sich mit einem netten Lächeln um jede radikale Kritik herumdrückt, weil “wir ja im Grunde doch alle das Gleiche wollen“ - ein Glaubenssatz der druch nichts gerechtfertigt ist wenn wir sehen, wie sehr die Leute ihre eigene (und damit auch unsere) Unterdrückung und Einsamkeit selbst produzieren (und sei es nur dadurch, dass sie sie ohnmächtig hinnehmen). Die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse wird nur da unmittelbar wirksam, wo sie konkret wird, in der Auseinandersetzung mit den Menschen, mit denen wir zu tun haben. Das Gegenstück dieses falschen Friedens ist der falsche Streit, all die Konflikte, die private bleiben, in denen man die unaussprechliche Wut, die man täglich aus den Strassen, den Mauern und all der Unterwürfigkeit aufsaugt, selbstzerstörerisch gegen sich oder seine Freunde richtet. Allein um auf Dauer in einer Harmonie zusammenleben zu können, die etwas anderes ist als Lüge und Ohnmacht, ist es notwendig, gemeinsam das Feuer unseres Hasses dorthin zurückzutragen und zu entzünden, wo wir uns mit seinen zerfressenden Keimen angesteckt haben. Die Langeweile, in der unsere Beziehungen vertrocknen, bezeichnet nur das Mass, in welchem wir gesellschaftlich funktionieren; wie auch die abgründige Angst davor, verlassen zu werden, das uneingestandene Wissen um die Verlassenheit ausdrückt, die uns in diesen Städten, die nicht die unseren sind, längst umgibt. Wir überlassen also das Gejammer über den heutigen Mangel an Kommunikation den Pfaffen, denn wir wissen, dass die Menschen sich genau deshalb nichts mehr zu sagen haben, weil sie – im wörtlichsten Sinn – nichts mehr miteinander zu tun haben. Waren in früheren Zeiten die Menschen darauf angewiesen, sich über die Verrichtungen ihrer täglichen Arbeit zu verständigen, und über die Probleme, die das Zusammenleben im Dorf oder in der Nachbarschaft mit sich brachte, so steht heute immer, bevor wir etwas tun, schon fest, wie wir es tun werden. Längst sind unsere unbekanntesten Gefühle in irgendwelchen Filmen oder Schallplatten perfekter ausgedrückt, unsere gewagtesten Gedanken in irgendwelchen Büchern schon intelligenter formuliert als wir selbst es können, und wir können dazu nicht mehr tun als den Daumen zu heben oder zu senken wie die Zuschauer der antiken Gladiatorenkämpfe, nur mit dem Unterschied, dass längst keinerlei wirkliche Entscheidung mehr von diesen Gesten abhängt. Und wenn die endlosen Nächte, in denen wir das weite Dahinfliessen unserer Träume miteinander teilen konnten, sich immer wieder im Nebel dieses grauen Morgens der Strassenbahnen und der Arbeit auflösen, dann wissen wir dass in dieser Zeit wo alles gesagt werden kann weil alles und damit zugleich nichts verstanden wird, wo nichts mehr Bedeutung hat, es nur noch eine Gewissheit gibt, einander wirklich zu verstehen: in der Verständigung über den Aufstand gegen diese Welt, die uns zu sprachlosen Zuschauern unseres eigenen Lebens macht. Die Konsequenz und die Verbindlichkeit, die wir in unseren Begegnungen fordern, ist die der revolutionären Organisation, in der unsere Träume und Sehnsüchte nicht nur der Schattenriss der Dinge sind, die uns beherrschen, sondern die Energie, die diese zersetzt. (Dabei versteht es sich nach dem Gesagten wohl von selbst, dass nur das organisiert werden kann, was zu tun ist, und nicht irgendwelche Ideen oder Meinungen.) Und dass es uns keineswegs darum geht, “eine Organisation“ zu “gründen“, deren formales Dasein die persönlich gelebte Konsequenz ersetzen könnte: Revolutionäre Organisation ist weder ein Gegenstand noch ein Name, sondern eine Methode. Nicht auf unseren Teil Geschichte zu verzichten, erfordert, genau zu wissen, von welchem organisatorischen Niveau wir jeweils ausgehen können (individuell, mit einzelnen Freunden, kollektiv oder innerhalb einer breiteren sozialen Bewegung), ohne selbstbetrügerische Kompromisse einzugehen (also ohne in die Optik der Parteien zu verfallen die mit der grössten Zahl automatisch die grössten Chancen verbindet), und über welche Mittel wir auf dem jeweiligen Niveau verfügen. Gegen jegliches Rekrutieren von “Anhängern“ setzen wir die ununterbrochene Entfaltung der Autonomie des Einzelnen gegenüber jeder Bewegung oder Gruppe und jeder revolutionären Bewegung gegenüber allen anderen Organisationsformen, die es auf jedem Niveau zu behaupten gilt. AUTONOMIE KANN DABEI FÜR UNS NUR HEISSEN, NEUE TÄTIGKEITEN ZU ERFINDEN, anstatt nur zwischen denen zu wählen, die uns angeboten werden (Job, Studium, politische Gruppen, Kunst, Alternativprojekte, Therapien, Maditationszirkel usw.usw.). Hier muss in der Tat jeder bei sich selbst anfangen: auch die radikalste Gruppe oder Bewegung kann niemand die Mühe ersparen, den Kampf für die Verwirklichung seiner persönlichen Wünsche und Begierden aufzunehmen – ein Schritt, von dem die Angst sich zu isolieren die Meisten abhält, und der dennoch die einzige Garantie bildet, andere zu treffen, ohne sich selbst zu Hause zu lassen. Damit propagieren wir keineswegs den “Rückzug auf sich selbst“ (auch wenn dieser zuweilen ein notwendiger Durchgangsort sein kann): die Energie des Lebens, die im Menschen erstmals die Möglichkeit gefunden hat, die ganze Erde zu verändern und sich durch die Worte und Phantasien hindurch unaufhörlich selbst zu erfinden; die Energie, die heute auf der ganzen Erde von den Ritualen der Warengesellschaft aufgesogen, entleert, ausgebeutet oder abgeleitet, d.h. zur Arbeitskraft reduziert wird – der Zustand, den wir als Proletariat bezeichnen; und die damit zugleich eine ungeheure Dynamik entfesselt, die mit zunehmender Geschwindigkeit alle Lebensbedingungen verändert. Die Gesellschaft der Ware ist ein organisatorischer Prozess, der fortlaufend mehr Möglichkeiten freisetzt, als er kontrollieren kann: Wir müssen die Krise der Ökonomie im weitesten Sinn verstehen, als Krise einer Form der Organisation des täglichen Lebens, die vom Reichtum der Möglichkeiten, die sie hervorgebracht hat, überholt worden ist. Die Bruchstellen finden, an denen die Proletarisierten von den vorhandenen Möglichkeiten einen anderen Gebrach machen, als es vorgesehen war, d.h. Einen anderen als den des Konsums und der Arbeit (Sabotage, Zweckentfremdung, illegale Aneignung und subversiver Gebrauch von Produkten usw.) – und vor allem die Augenblicke, in denen das organisierte Schweigen gebrochen wird, das Schweigen über das, was es noch nicht gibt... Es geht uns nicht darum, eine Massenbewegung zu organisieren (das werden die “Massen“ früher oder später schon selber erledigen, nämlich dann, wenn sie wissen, wofür), sondern an möglichst vielen und genau ausgesuchten Punkten die Selbstverständlichkeit des NORMALEN zu brechen, um jenes erregte Geschwätz über das, was in den alltäglichen Begegnungen verschwiegen wird, d.h. über das, was heutzutage möglich ist, überall wiederaufleben zu lassen. Da die Form vom Inhalt nicht zu trennen ist, erfordert diese Agitation zugleich, Situationen zu schaffen, die bereits einen erkennbar weiteren Gebrauch der vorhandenen Möglichkeiten (Raum, Zeit, Medien, Kontakte...) praktisch in sich enthalten, als er heute üblich ist. Sowenig wir die Verletzung der Regeln um ihrer selbst willen suchen (die nur eine umgekehrte Form der Ohnmacht und des Gehorsams ist), so wissen wir auch, dass jedes Spiel, das nicht die herrschenden Spielregeln bricht, eine erbärmliche Beschränktheit ist. Im Unterschied zur Guerilla, die (unter Missachtung der Weisungen ihres Lehrers Mao) den Feind heldenhaft dort angreift, wo er am stärksten ist, sucht die Subversion nach den schwächsten Punkten des Systems. Dazu bedarf es ausgedehnter Forschungen, gründlicher Expeditionen, neuer Kartographien und Beschreibungsweisen und vor allem vielfältiger Experimente. Es ist diese gezielte Suche nach Möglichkeiten, einzugreifen, die unserer Wahrnehmung neue Horizonte eröffnet... Doch lassen wir im Schwung der Planung unseres Public-relation-Feldzuges des werten Lesers kritischen Einwand gelten. Die Schwächen der gegenwärtig praktiziert-lebendigen Kritik reduzieren natürlich die Möglichkeiten für die Bewegung der Aufhebung auf eine unterbrochene Reihe von Aktionen und Momenten, die die Vielfältigkeit einer Zeit erst in Spuren erahnen lassen, die durch massenhaftere personelle Freizügigkeit und damit vervielfachte materielle Bedingungen geprägt sein könnte. Das muss klar sein, wollen wir unseren Kopf nicht angesichts des herrschenden Gezappels verlieren. Aber gerade diese Zeit abgestandener Sozialisationstypen zwingt uns, unsere Kräfte, Möglichkeiten und Schwächen klar einzuschätzen, das heisst auf den Prüfstand einer offensiven Initiative zu stellen. Erst durch die Systematik und Kontinuität kollektiver Versuchsreihen, die rücksichtslose Selbstkritik und ne kräftige Portion Galgenhumor erfordern, lassen sich die Hemmnisse der alten Welt als Charakter, mangelnde individuelle Fertigkeiten, kollektive Unbeweglichkeit oder äussere Trägheiten unterscheiden. Es gilt die Logik, Flexibilität und Sperrigkeit des Feindes zu studieren, um ihn mit unseren Aktionen so gezielt und verschleissfrei als möglich zu verwickeln. Revolutionäre Geduld kann nur bedeuten, in Phasen dieses schreienden Stillstandes das überlagerte Knirschen der Stellen hören zu lernen, an denen die Mühlen der Beschwichtigung beginnen leer zu laufen. Diese Aufmerksamkeit setzt in diesen Tagen, in denen eine kontinuierliche kollektive Alltäglichkeit so rar ist, eine ziemliche Gelassenheit des einzelnen voraus bzw. seine ausgeprägte Stärke, die Relativität des ihn einschränkenden Raumes durch ständig neu zu erfindende Bewegungen zu erfahren. Die Perfektion und die Schwäche der modernen Gesellschaft liegt darin, wie sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf eine ablenkende und unterdrückerische Weise organisiert: in ihrer betäubenden Bilderflut, ihren Zeichen- und Befehlssystemen, die jeden Schritt und jeden Gedanken lenken. Doch wer hier mit resignierendem Blick nur die totale Übermacht des Scheins bemerkt und nicht sieht, dass es sich nur um den blossen Schein einer totalen Übermacht handelt, der sieht diese Gesellschaft aus genau der Perspektive, aus der sie gesehen werden will. Man bedenke z.B. bei allem Gerede von der Manipulation, vom repressiven Aufbau des Systems usw., dass auch die Tatsache, dass eine Treppe von unten nach ober gebaut wird, noch niemand gehindert hat, diese auch in umgekehrter Richtung zu benutzen. Man erkennt hier unschwer die Anspielung auf die uralte revolutionäre Tradition der Umkehrung und Entwendung: schon die aufständischen Bauern des heiligen alten Russland fanden immer mühelos einen verschollenen rechtmässigen Zaren, der genau das befahl, was sie beschlossen hatten. Wir verweisen auf den bekennten und lehrreichen Fall des Dr. Boden, jenes unscheinbaren Büroangestellten, der, nur mit einem Telefon und der frei erfundenen Würde eines Arztes ausgerüstet, Dutzende braver Hausfrauen zu den unsittlichsten Handlungen verführte. Was ihm trotz fehlenden Straftatbestandes eine hohe Gefängnisstrafe einbrachte, war wohl kaum der unmoralische Charakter seiner Taten (als hätte die schamlose Ausnutzung der Frauen und anderer Menschen, und das zu noch weitaus unbefriedigenderen und entwürdigenderen Handlungen wie z.B. Fliessbandarbeit, in dieser Gesellschaft jemals als unmoralisch gegolten!), sondern seine instinktive Entdeckung, dass nicht nur Telefone, sondern auch die Titel und Symbole der Machtausübung, besonders da, wo sie auf intime und unausgesprochene Weise mit den geheimen Sehnsüchten der Menschen verflochten sind, tatsächlich jedem zur Verfügung stehen. Im Gegensatz zu Dr. Boden (und auch zu Enzensberger, der die Massenmedien für einen geduldigen Droschkengaul hält, der sich genauso willig auch vor einen emanzipatorisch-sozialistischen Karren spannen liesse), wollen wir die Mittel und Techniken der Machtausübung nicht nur für andere Zwecke verwenden, sondern zerstören, d.h. sie so gebrauchen, dass sie durch diesen Gebrach unbrauchbar werden. Genau wie in den Fabriken die Sabotage der materiellen Produktion längst üblich ist, kommt es heute darauf an, die Produktion der entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnisse selbst zu sabotieren. Wie die Ironie die Worte gleichsam von ihrer Rückseite her gebraucht, treibt die subversive Entwendung die Anordnungen und die Lügen der Macht bis zu dem Punkt, wo sie sich überschlagen, sich selbst blockieren, und darin zugleich den möglichen Reichtum sichtbar werden lassen, den zu verbergen sie bestimmt waren. Wände, Strassenbahnen, Werbeplakate, Verkehrsschilder, Bauzäune, Kaffee- oder Zigarettenautomaten, Fälschungen von vielgelesenen Zeitungen oder amtlichen Mitteilungen sowie Einblendungen in Radio- oder Fernsehprogramme mittels geheimer Sender werden in den letzten zehn Jahren immer häufiger gebraucht, um mehr oder weniger revolutionäre Aussagen zu übermitteln; die chilenischen Untergrundkämpfer missbrauchten für die Verbreitung ihrer Umsturzparolen sogar das heiligste und weitestverbreitete Kommunikationsmittel dieser Welt, nämlich die Geldscheine. Allerdings fehlt den meisten dieser Versuche die erwähnte Selbstkritik der gebrauchten Mittel: gerade indem sie glauben, diese als neutrale Träger irgendeiner beliebigen Botschaft gebrauchen zu können, ohne die Unterdrückung anzugreifen, die in den Mitteln selbst enthalten ist, nehmen sie der Aussage ihre konkrete Schärfe, die im Bezug auf die Situation der Vermittlung selbst liegt. Die Kunst der Subversion, die von allen Revolutionären zu erlernen ist, besteht darin, die verschiedenen Elemente, die eine Situation beeinflussen, möglichst komplex und wirksam zu arrangieren. Wir könnten die verschiedenen Rollen, Verkleidungen, Texte, Szenerien, Gegenstände, unerwarteten Wendungen inszenieren wie in einem Theaterstück – mit dem Unterschied, dass die unverhersehbaren Reaktionen der in eine solcherart konstruierte Situation verwickelten dem Spiel eine Spannung verleihen, die kein Theater und kein Film jemals erreichen kann. Die Poesie, die Musik, die Malerei, die Architektur, die Religion, der Film, die Wissenschaft, all diese Müllhalden der Vergangenheit stehen uns als Rüstkammer zur Verfügung. Wir können diesen verschütteten und verstummten Reichtum von Arten und Weisen, sich mitzuteilen, wieder dem wirklichen Leben zurückgeben, indem wir die fetischhafte professionelle Zerstückelung in “Gebiete“ (die immer Herrschaftsgebiete sind) auflösen und ihre Elemente in einen neuen Zusammenhang stellen. In einer Zeit, in der niemand mehr bestimmen kann, ob die Unterdrückung zunimmt oder abnimmt, weil die Spielwiesen der Freiheit neben den Vernichtungslagern errichtet werden – erfüllen sie doch nach aussen hin die gleiche Funktion: die Ruhigstellung der Aufrührer – kommt es nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern mehr noch, wo es gesagt wird: es kommt darauf an, die jeweils richtigen Orte zu finden und den richtigen Zeitpunkt. Wie es ein Unterschied ist, ob z.B. ein Plakat, das den Militarismus angreift, in einer Kunstausstellung aufgehängt wird oder aber in einer Kaserne, ob eine theoretische Untersuchung bestimmter alltäglicher Begebenheit im Hinblick auf eine Vermehrung des akademischen Schwachsinns oder aber auf ein praktisches Vorhaben revolutionärer Veränderung verfasst wird, so kann entsprechend auch der Gebrauch konventioneller Mittel unter Umständen, wo sie nicht erwartet werden, dazu beitragen, den Reiz des Unvorhergesehenen zu schüren. Um über diese banalen und allgemeinen Feststellungen hinauszukommen, wird es erforderlich sein, die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den Menschen und den Dingen im jeweils Besonderen (und im allgemein Gültigen, das sich darin und nur darin immer zeigt) genau zu untersuchen: die funktionalen Verbindungen, Bewegungs- und Transportlinien von Waren, Energie, Menschen und Mitteilungen; die Stauungen; die Durchgangsgeschwindigkeiten und Blickrichtungen der Passanten an bestimmten Orten; die Einzugsbereiche der verschiedenen sozialen Milieues, die Dichte der Bekanntschaft unter den Leuten; die Dichte der Kontrolle über die jeweiligen Gebiete, sei es Kontrolle staatlicher (Bullen), architektonischer (konzentriert in Bürohäusern und Einkaufspassagen, am schwächsten in Verfallszonen und Zwischenräumen), nachbarlicher (Gardinenpolizei) oder ökonomischer Art (Fabriken, Kaufhäuser, Zuhälter...); Auch an sich völlig harmlose und erlaubte Belustigungen wie z.B. Fussball oder Verstecken spielen, eine Fete feiern, sich zum Picknick treffen, Wasserschlachten, Theater spielen oder Kunstwerke anfertigen, können zuweilen eine sehr genaue und radikale Aussage enthalten, je nachdem, WO sie stattfinden – etwa am Arbeitsplatz, im Kaufhaus, der Universität, in Cafés, auf der Strasse... Eine Reihe derartiger zufälliger Kombinationen von Orten und Tätigkeiten zu erproben, die etwa durch eine Art Auslosungsverfahren ermittelt werden könnten, wäre eine moderne Erweiterung der Spiele, die die Surrealisten in den zwanziger Jahren erfunden haben (deren einzige Schwäche darin lag, dass sie als Ergebnis allzuoft nur Werke an die Öffentlichkeit brachten, Vergegenständlichungen ihrer Wünsche (Texte, Bilder), und keine unmittelbar gelebten Situationen). Das Risiko, sich Unannehmlichkeiten mit der fast allgegenwärtigen Repression auszusetzen, muss man dabei sicherlich einkalkulieren – allerdings dürfte das hier bestimmt keine grössere Rolle spielen als bei konventionellen Betätigungen auch, wie etwa Flugblätter verteilen, an Demonstrationen teilnehmen, Bücher veröffentlichen usw., Tätigkeiten, die zuweilen weitaus riskanter und fast immer sehr viel langweiliger sind als das subversive Spiel, das darüberhinaus im Ernstfall viel mehr Möglichkeiten des Sich-Verstellens, des taktischen Ausweichens, der Verdrehung und Umkehrung der Situationen bietet, gerade weil es das Programm der nächsten Revolution auf eine sehr einfache und praktische Weise öffentlich macht: die Lust, alles zu nehmen, überall zu hause zu sein, überall und mit allem zu spielen, überall die Zensur des Raumes und der Gesten zu beenden... Die Entwendung ist Form und Inhalt der Rebellion zugleich; indem sie herausfinden, was sie mit den Dingen, die jetzt noch zu ihrer Beherrschung verwendet werden, wirklich anfangen können, lecken die Unzufriedenen das Blut der Macht, je mehr sie den Geschmack daran entdecken, ihre Geschichte in den eigenen Händen zu halten. Und der Rausch dieser Macht, die keine Unterworfenen mehr braucht, verbindet uns, die verlorenen Partisanen dieser Breiten, mit allen Aufständischen dieses Planeten, egal mit welchen politischen, rassischen oder religiösen Masken ihre Erfahrungen und die Tiefe ihrer Wut jetzt noch vor ihnen selbst verborgen werden...