Alfredo M. Bonanno
Neue Wenden des Kapitalismus
Entwicklung des Kapitalismus auf globaler Ebene
Die neue produktive und demokratische Mentalität
Hindernisse für den aufständischen Kampf gegen den post-industriellen Kapitalismus und den Staat
Die technologische Restrukturierung
Politische, ökonomische und militärische Restrukturierung
Zusammenbruch des Realsozialismus, Wiederaufkommen der Nationalismen
Entwicklung des Kapitalismus auf globaler Ebene
Gegen Ende der 70er Jahre, und bis hinein in die ersten 80er Jahre, befand sich die industrielle Produktionsordnung der fortgeschritteneren Länder, imstande, den Kapitalismus auf der ganzen Welt zu lenken und zu konditionieren, in der Krise. Das Verhältnis zwischen Anlagen und Produktivität war noch nie schlechter gewesen. Die gewerkschaftlichen und die proletarischen Kämpfe im Allgemeinen, besonders die aggressiveren und gewaltsameren Manifestationen, die von verschiedenen revolutionären Klassenstrukturen geführt wurden, hatten Arbeitskraftkosten konsolidiert, die in einem völlig überproportionierten Verhältnis zum Kapitalertrag standen. Es schien, als würde das ganze System auf seinen natürlichen Kollaps zusteuern, unfähig, sich im Innern wieder auszugleichen, und auch ohne die Stärke, um auf drastische Reduzierungen der Arbeitskosten und der Beschäftigung zurückzugreifen.
Aber bereits in der ersten Hälfte der 80er Jahre begannen die Dinge sich rasch zu verändern. Die industrielle Restrukturierung schlug den Weg der Elektronik ein, die primären und sekundären Produktionssektoren, also Landwirtschaft und Industrie, schrumpften mit starken Beschäftigungsreduzierungen zusammen, während sich der tertiäre Sektor übermässig ausdehnte, einen Teil der entlassenen Arbeitskräfte in sich aufnehmend und somit die sozialen Gegenschläge abdämpfend, die die Kapitalisten mehr denn alles andere fürchteten.
Es kam schliesslich nicht zu jenen Krawallen und zu jenen metropolitanen Revolutionen, die von den Bossen befürchtet wurden, es kam nicht zu einem realen und unerträglichen Druck des proletarischen Reserveheers, sondern alles bettete sich weich in eine Modifizierung der Produktion ein.
Die grossen Industrien ersetzten die fixen Anlagen mit neuen, robotisierten Anlagen, imstande, mit bescheidenen Investitionen zuvor undenkbare Levels von Produktionsflexibilität zu erreichen. Die Arbeitskosten sanken in ihrem Verhältnis zur Produktion, ohne dadurch eine Reduzierung der Nachfrage zu bewirken, denn der tertiäre Sektor hielt sich ausgezeichnet und lieferte ausreichende Einnahmequellen, um das kapitalistische System in seiner Gesamtheit aufzupumpen. Dem grössten Teil der entlassenen Arbeiter gelang es, wenn nicht gerade eine andere Beschäftigung, so zumindest einen Weg zu finden, sich zwischen den Falten des neuen kapitalistischen Modells – flexibel und permissiv – zu arrangieren.
Die neue produktive und demokratische Mentalität
All das wäre nicht möglich gewesen ohne das Aufkommen einer neuen Mentalität, flexibel, was den Arbeitsplatz betrifft, mit einer Reduzierung der beruflichen Qualifikation und einer Erhöhung der Nachfrage nach kleinen, sich ergänzenden Arbeiten, und vor allem nicht ohne die Festigung der demokratischen Mentalität.
Die alten Stufenleiterillusionen, worauf sich die Karriereträume der Mittelklasse und die Lohnverbesserungen des Proletariats stützten, verschwanden für immer. Und dies war möglich dank einer artikulierten Intervention auf allen Ebenen. In der Schule, durch das Annehmen von Lehrprogrammen, die weniger starr, zusammenfassender, weniger inhaltslastig, aber besser dafür geeignet sind, in den jungen Schülern eine 'weiche' Mentalität zu konstruieren, imstande, sich an eine ungewisse Zukunft anzupassen, die ihre Eltern noch in Entsetzen versetzt hätte. In der politischen Verwaltung der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo sich ein oft formeller Autoritarismus mit peripheren Formen von verwalterischer Demokratisierung vermählt, wo die Leute, nicht so sehr in ernsthafte Entscheidungen, sondern in die künstlichen Prozeduren des Abstimmungs- und Referendumsmechanismus einbezogen werden. In der Produktion, wo, wie wir gesagt haben, das Verschwinden der beruflichen Qualifikation die Produzenten zahm und flexibel machte. Im Zeitgeist selber, der jegliche Anwandlung von philosophischer und wissenschaftlicher Gewissheit untergehen sah, um ein 'schwaches' Modell vorzuschlagen, das jedoch nicht auf der Suche nach dem Risiko und auf der Entscheidung für den Mut basiert, sondern auf der Anpassung innert kurzer Zeit, auf dem Prinzip, dass nichts gewiss ist, aber alles zurechtgerückt werden kann.
Die so konstruierte demokratische Mentalität trug nicht nur zum Verschwinden des alten, und in vielerlei Hinsicht überholten Autoritarismus bei, sondern auch zur Bildung eines passiven Zustands von möglichen Kompromissen, auf allen Ebenen. Ein moralischer Verfall, wobei die Würde des Unterdrückten letztendlich gegen die Garantie eines kläglichen Überlebens ausgehandelt und ausverkauft wurde. Die Kämpfe entfernten sich und schwächten ab.
Hindernisse für den aufständischen Kampf gegen den post-industriellen Kapitalismus und den Staat
Das erste Hindernis besteht zweifellos eben in dieser flexiblen, amorphen Mentalität, weniger assistenzialistisch nach alter Manier, als vielmehr einzig danach verlangend, eine Nische zu finden, um darin zu überleben, möglichst wenig arbeitend, alle Regeln des Systems akzeptierend und Ideale und Projekte, Träume und Utopien geringschätzend. Die Laboratorien des Kapitals haben in diese Richtung hervorragende Arbeit geleistet, von der Schule bis zur Fabrik, zur Kultur und zum Sport, alles wirkt daran mit und stimmt darin überein, in jeglicher Hinsicht bescheidene Individuen zu konstruieren, unfähig, zu leiden, den Feind ausfindig zu machen, zu träumen, zu verlangen, zu kämpfen und zu agieren.
Dann, als Umstand, der mit dem vorangehenden zusammenhängt, besteht das zweite Hindernis in der Marginalisierung der produktiven Rolle in der Gesamtheit des post-industriellen Komplexes. Die Zergliederung der Klasse der Produzenten ist nunmehr eine Realität, nicht bloss ein nebulöses Projekt, und diese Aufteilung in viele kleine Sektoren, oft antithetisch zueinander, erzeugt eine Verschärfung von eben dieser Marginalisierung.
Dies erzeugt die schnelle Überwindung aller traditionellen Widerstandsstrukturen des Proletariats, Parteien und Gewerkschaften an erster Stelle. Dies letzten Jahre [1993] zeigten den allmählichen Niedergang des Syndikalismus nach alter Manier, einschliesslich demjenigen, der revolutionäre und selbstverwalterische Anwandlungen bewahrte, aber mehr denn alles andere zeigten sie den Zusammenbruch der kommunistischen Parteien, die beanspruchen, den Aufbau eines Staates durchzusetzen, worin sich der Sozialismus ausgehend von der polizeilichen Kontrolle und der ideologisierten Repression realisiert.
Es kann nicht gesagt werden, dass gegenüber diesen beiden kolossalen Zusammenbrüchen eine organisatorische Strategie aufgemacht wurde, die imstande ist, auf die veränderten Bedingungen der produktiven und sozialen Realität in ihrer Gesamtheit eine Antwort zu geben.
Die Vorschläge, die die insurrektionalistischen Anarchisten vorgebracht haben, speziell diejenigen, die sich kohärenter auf die Bildung von informellen Strukturen ausrichten, die auf der Affinität von Individuen und Gruppen basieren, sind noch nicht in ihren möglichen praktischen Entwicklungen verstanden worden, und manchmal haben sie vonseiten nicht weniger Gefährten einen lauwarmen Empfang erhalten, und dies ist einer gewissen, manchmal verständlichen Widerspenstigkeit verschuldet, alte Mentalitäten aufzugeben, um neue Kampfkonzeptionen und neue Organisationsmethoden anzuwenden.
Wir werden später mehr über diesen Punkt sagen, der unserer Ansicht nach zentral bleibt im Kampf gegen die neueren Strukturen der Repression und der totalen Kontrolle, die vom Staat und vom Kapital produziert werden.
Die technologische Restrukturierung
Die zeitgenössische technologische Revolution, im Wesentlichen basierend auf der informatischen Installation, die auf alle Lebensbereiche generalisiert wurde, auf dem Laser, dem Atom und der Wissenschaft der Elementarteilchen, auf den neuen Materialitäten, die einen zuvor unvorhersehbaren Transport und Gebrauch von Energie ermöglichen, auf den gentechnischen Veränderungen, die nicht nur in der Landwirtschaft und bei Tieren, sondern auch auf den Menschen angewandt werden, hat sich nicht darauf beschränkt, die Welt zu verändern. Sie hat mehr getan. Sie hat Bedingungen von solcher Unvorhersehbarkeit geschaffen, dass es unmöglich ist, glaubwürdige Vorhersagen oder Programme aufzustellen, nicht nur von Seiten jener, die beabsichtigen, den gegenwärtigen Stand der Dinge so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, sondern auch von Seiten jener, die beabsichtigen, ihn zu zerstören.
Der wesentliche Grund dafür ist der Tatsache verschuldet, dass die neuen Technologien, untereinander interagierend und sich in einen technologischen Kontext einfügend, der eine mindestens zweitausend Jahre alte Geschichte und Entwicklung hat, unvorstellbare Konsequenzen hervorbringen können, manche davon auf totale Weise zerstörerisch, weit jenseits der im Wahn denkbaren Auswirkungen irgendeiner Atombombenexplosion.
Daher die Notwendigkeit von einem Projekt, das die Technologie in ihrer Gesamtheit zerstört, eines Kampfprojektes, das, als erste und wesentliche Phase, an der Zerstörung denkt, und das jeden seiner programmatischen Ansätze, von politischer und sozialer Natur, auf die Unerlässlichkeit stützt, den aktuellen, ansonsten irreversiblen Prozess der Technologie aufzuhalten.
Politische, ökonomische und militärische Restrukturierung
In der Praxis realisiert sich die technologische Umstrukturierung durch tiefgreifende Modifizierungen im wirtschaftlichen Sektor. Diese Veränderungen haben Auswirkungen auf die politische Ordnung der Länder des fortgeschrittenen Kapitalismus, während er militärische Sektor, sowohl infolge dessen, was im wirtschaftlichen Sektor geschieht, wovon er nicht zu trennen ist, wie auch infolge dessen, was in der politischen Führung und in den Formen der Konsensbeschaffung geschieht, weiteren Modifizierungen unterzogen wird.
Die neuen Grenzen des post-industriellen Kapitalismus beruhen auf Prozessen von grosser Verbreitung und auf Ordnungen in ständiger Bewegung. Die alten, statischen Konzeptionen der Produktion, die an das Schwungrad der grossen Industrieanlagen gebunden waren, ein Schwungrad, das fähig war, den Multiplikator der Konsumgüter in Bewegung zu setzen, werden durch die geniale Idee der Schnelligkeit der Veränderung, der ständigen und immer abgehärteteren Konkurrenz in der spezialisierten Produktion ersetzt, im Detail ausgestattet mit Stil und Persönlichkeit. Das neue post-industrielle Produkt hat die Qualifikation der Arbeitskräfte nicht mehr nötig, sondern wird direkt auf der Produktionslinie entwickelt, durch simple Programmierungen der Roboter, die dort tätig sind. Dies erlaubt unglaubliche Reduzierungen der Lagerungs- und Distributionskosten, während es die Kosten annulliert, die aus der Obsoleszenz der unverkauften Produkte erwachsen.
Dies alles ist, von einer Möglichkeit des Kapitals, die sich, sagen wir, um die erste Hälfte der 80er Jahre zu kreieren begann, zu einem Ziel des Kapitals geworden, genau gesagt gegen Ende dieser selben 80er Jahre. Demnach konnte die politische Widerspiegelung der neuen wirtschaftlichen Ordnung nicht dieselbe bleiben wie zuvor. Daher die beträchtlichen Veränderungen vom letzten Ende des vergangenen Jahrzehnts und vom Anfang dessen, worin wir uns befinden. Dies Veränderungen orientieren sich nach einer präventiven und resoluten Selektion der Führungs- und Kontrollapparate, imstande, für die neuen Produktionsanforderungen zu sorgen, weshalb viele Regierungsaspekte von einzelnen fortgeschrittenen Industrieländern eine Phase von grösserem Autoritarismus erlebt haben, wie es in den Symbolländern einer gewissen Produktionsweise, in den USA und in England, geschehen ist. Um anschliessend zu artikulierteren und flexibleren politischen Verwaltungen überzugehen, imstande, den wirtschaftlichen Anforderungen einer ganzen Gesamtheit von Ländern nachzukommen, die heute dabei ist, eine auf globaler Ebene koordinierte Ordnung anzunehmen.
Zusammenbruch des Realsozialismus, Wiederaufkommen der Nationalismen
In einer rückständigen kapitalistischen Realität war eine Annäherung der Länder des Realsozialismus über die Linie des behutsamen und gegenseitigen Argwohns hinaus nicht denkbar. Doch das Aufkommen eines neuen Kapitalismus, basierend auf deiner Produktionskapazität, die auf der telematischen Automation auf globaler Ebene beruht, hat diese Annäherung nicht nur möglich gemacht, sondern hat sie zuerst in eine radikale Veränderung, und dann in einen ebenso endgültigen und unumkehrbaren wie skandalösen Zusammenbruch verwandelt. Stark autoritäre Regime, basierend auf der ideologischen Missdeutung des proletarischen Internationalismus (oder auf anderen Missdeutungen, die mehr oder weniger anscheinend antithetisch sind), halten den neuen Anforderungen, die von der Produktion und vom globalen wirtschaftlichen Anschluss auferlegt werden, schlecht stand. Die autoritären Regime, die noch verbleiben, müssen sich, wenn sie nicht in einer prekären und temporären marginalen Lage bleiben wollen, tiefgreifenden Veränderungen im demokratischen Sinne öffnen. Jede Versteifung zwingt die grossen internationalen Partner der industriellen Entwicklung dazu, sich zu versteifen und, auf die eine oder andere Weise, den Krieg zu erklären.
In diesem Sinne hat sich auch die Rolle des militärischen Repressionsinstruments tiefgreifend verändert. Das heisst, seine interne Repressionsfunktion hat sich verschärft, während sich die externe an die von den USA gespielte Polizistenrolle angepasst hat, eine Rolle, die wohl noch für manche Jahre fortdauern dürfte, solange, bis neue Zusammenbrüche eintreten und schnell neue Gleichgewichte abzeichnen könnten, die ebenso prekär und gefährlich sind wie die gegenwärtigen.
In dieser Perspektive bringt das Wiederaufkommen des Nationalismus ein, wenn auch begrenztes, positives Element und ein negatives Element von beträchtlicher Gefährlichkeit mit sich. Das erste ist schnell genauer bestimmt: es besteht in der Niederschlagung und in der entsprechenden Zergliederung der grossen Staaten. Jede Bewegung, die sich nach diesem Ziel ausrichtet, ist stets als positives Ereignis zu begrüssen, und nicht als rückschrittliche Bewegung, auch wenn sie sich dem äusseren Anschein nach als Trägerin von traditionellen und ahistorischen Werten präsentiert. Das zweite Element, in höchstem Grade gefährlich, besteht im Risiko von einer allmählichen Verbreitung von kleinen Kriegen zwischen kleinen Staaten, Kriege, die mit unerhörter Grausamkeit erklärt und geführt werden, fähig, im Namen von ärmlichen Prinzipien und ebenso armseligen Interessen, unermessliche Leiden zu verursachen. Viele von diesen Kriegen werden einer besseren Produktionsordnung des post-industriellen Kapitalismus von Nutzen sein, viele von ihnen werden eigens von grossen multinationalen Kolossen gelenkt und verwaltet werden, aber letzten Endes stellen sie eine vorübergehende Krankheit dar, eine sehr heftige epileptische Krise, woraufhin die sozialen Bedingungen sich entweder in Richtung des Aufbaus von starken Staaten auf internationaler Ebene entwickeln könnten, imstande, die kleineren Strukturen zu kontrollieren, oder in Richtung von gewaltsamen, geradezu undenkbaren Veränderungen, jegliche Spur der alten staatlichen Organismen immer mehr zerstörend. Im Augenblick können wir nur in groben Linien auf eine mögliche Entwicklung hinweisen, ausgehend von der Untersuchung der gegenwärtigen Bedingungen.
Entwicklungsmöglichkeiten des aufständischen Massenkampfes in Richtung des anarchistischen Kommunismus
Das Ende der Verteidigungs- und Widerstandsfunktionen der grossen Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter, entsprechend dem Zusammenbruch des klassischen Zentralismus der Arbeiterklasse, erlaubt es heute, eine mögliche Kampforganisation anders zu betrachten, ausgehend von den realen Möglichkeiten der Ausgeschlossenen, das heisst jener grossen Masse von Ausgebeuteten, Produzenten und Nicht-Produzenten, die sich derzeit bereits ausserhalb des geschützten Lohnbereichs befinden oder dabei sind, daraus hinauskatapultiert zu werden.
In der Tat stösst der aufständische und revolutionäre Anarchismus, ein Modell zur Intervention in die Realität der Kämpfe vorschlagend, das eben auf der Organisation von Affinitätsgruppen und auf der operativen Koordination von diesen Gruppen basiert, mit dem Ziel, die bestmöglichen Bedingungen für eine aufständische Mündung mit Massencharakter zu kreieren, sofort, auch bei den interessierteren Gefährten, auf eine anfängliche Schwierigkeit, die nicht leicht zu überwinden ist. Viele sind der Ansicht, dass es sich um eine Haltung handelt, die heute antiquiert ist, die Ende des vergangenen Jahrhunderts ihre Gültigkeit hatte, aber heute entschieden ausser Mode ist. Und dem wäre zweifellos auch so, wenn die Produktionsbedingungen, insbesondere die Struktur der Fabrik, dieselben geblieben wären wie vor hundert oder auch vor fünfzig Jahren. Mit diesen Strukturen, und mit den entsprechenden gewerkschaftlichen Widerstandsorganisationen, wäre das aufständische Projekt, angesichts der veränderten politischen und militärischen Gesamtbedingungen auf internationaler Ebene, sicherlich unterliegend. Aber jene Strukturen existieren nicht mehr. Auch die entsprechenden Produktionsmentalitäten sind verschwunden, der Respekt vor dem Arbeitsplatz, die Freude an der Qualität der Arbeit, die Karrieremöglichkeiten, das Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Produktionsgruppe, woraus sich die assoziativen Gefühle der gewerkschaftlichen Widerstandsgruppe entlehnten, die im Bedarfsfall auch zu einer Angriffsgruppe für härtere Kämpfe, für Sabotagen, antifaschistische Aktivitäten und so weiter werden konnten.
Heute sind diese Bedingungen verschwunden. Alles hat sich radikal verändert. Die Fabrikmentalität existiert nicht mehr. Die Gewerkschaft ist ein Tummelplatz für Geschäftemacher und Politiker, der Lohn- und der Verteidigungswiderstand im Allgemeinen ist ein Filter, um sanfte Übergänge zu Kostenebenen der Arbeitskräfte zu garantieren, die immer angepasst sind. Die Zersetzung ist über die Fabrik hinaus getreten und im sozialen Gefüge angelangt, während sie Banden von Solidarität und Bedeutung in den menschlichen Beziehungen durchtrennt und die Leute in gesichtslose Fremde, in Roboter verwandelt, versunken in der lebenswidrigen Brühe der Grossstädte oder in der tödlichen Stille der Provinz. Die realen Interessen werden durch virtuelle Bilder ersetzt, die eigens dazu geschaffen und benutzt werden, jenes Minimum an Zusammenhalt zu sichern, das für den sozialen Mechanismus in seiner Gesamtheit unerlässlich ist. Fernsehen, Sport, Spektakel, Kunst und Kultur flechten ein Netz, worin all jene verfangen bleiben, die praktisch dabei sind, auf die Ereignisse zu warten, geparkt in Erwartung der nächsten Revolte, des nächsten wirtschaftlichen Zusammenbruchs, des nächsten Bürgerkrieges.
Es ist diese gesamtheitliche Bedingung, die wir uns vor Augen halten müssen, wenn wir von Aufstand sprechen. Wir insurrektionalistischen und revolutionären Anarchisten beziehen uns auf eine jetzt bestehende Bedingung, nicht auf etwas, das kommen muss, wovon wir hoffen, dass es kommt, worüber wir uns aber nicht sicher sind. Wir beziehen uns auch nicht auf ein zeitlich weit entferntes Modell, das wir wie Träumer zu rekonstruieren versuchen, während wir die grossen gegenwärtigen Veränderungen ignorieren. Wir leben in unserer Zeit, wir sind Kinder von diesem Jahrtausendende, und Träger der radikalen Transformation der Gesellschaft, die wir vor unseren Augen sehen.
Wir halten einen aufständischen Kampf nicht nur für möglich, sondern wir denken, dass, mit der totalen Zersetzung der alten Widerstandswerte, dies die Perspektive ist, in die wir uns auf den Weg machen müssen, falls wir die vom Feind auferlegten Bedingungen nicht vollständig akzeptieren wollen, falls wir nicht zu robotisierten Sklaven, zu bedeutungslosen Spielsteinen im telematischen Mechanismus werden wollen, der uns in einer Zukunft beherbergen wird, die bereits vor der Tür steht.
Immer konsistentere Gruppen von Ausgeschlossenen sind dabei, sich von jeglichem Konsens, und somit von jeglicher Beziehung von Akzeptanz und von Hoffnung in eine bessere Zukunft loszulösen. Soziale Schichten, die sich früher als stabil ausserhalb des sozialen Risikos betrachteten, werden zurzeit in eine unbewusste Prekarität hineingezogen, aus der sie nicht herauskommen können, indem sie die alten Methoden der Hingabe bei der Arbeit und der Enthaltsamkeit beim Konsum anwenden.
Die insurrektionalistischen Anarchisten fügen sich in eben diesen extrem zersetzten Kontext ein, und tragen darin ihre revolutionäre Projektualität voran.
Die aufständische anarchistische revolutionäre Organisation
Wir denken, dass anstelle der Föderationen und der in traditioneller Weise organisierten Gruppen, Modelle, die von wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Realität gerechtfertigt waren, die heute inexistent und überwunden sind, Affinitätsgruppen aufgebaut werden müssen, bestehend aus einer nicht sehr umfangreichen Anzahl Gefährten, die durch eine vertiefte persönliche Kenntnis miteinander verbunden sind, Gruppen, die fähig sind, sich durch periodische Kampftermine miteinander in Verbindung zu setzen, die zum Ziel haben, spezifische Aktionen gegen den Feind zu realisieren.
Im Verlaufe dieser Aktionen muss man einen Weg finden können, um die praktischen und theoretischen Aspekte der möglichen künftigen zu realisierenden Aktionen zu diskutieren und somit zu vertiefen.
Was die praktischen Aspekte betrifft, so wird man sich für die Zusammenarbeit zwischen Gruppen und Individualitäten absprechen, die Mittel, die Dokumentation und all das auftreibend, was zur Ausführung der Aktionen selbst erforderlich ist. Was die Analysen betrifft, so wird man versuchen, sie so breit wie möglich in Umlauf zu bringen, sowohl durch unsere Presse, wie auch mittels Versammlungen und Diskussionen, die spezifische Themen zum Gegenstand haben.
Der zentrale Punkt, um den es eine aufständische Organisationsstruktur drehen zu lassen gilt, ist also nicht der periodische Kongress, typisch für die grossen Synthesenorganisationen oder die offiziellen Föderationen der Bewegung, sondern wird von der Gesamtheit der Kampfsituationen dargestellt, die somit zu Angriffen gegen den Klassenfeind und zu Momenten der Reflexion und der theoretischen Vertiefung werden.
Die Affinitätsgruppen ihrerseits können zur Bildung von Basiskernen beitragen. Das Ziel von diesen Strukturen ist es, im Bereich der intermediären Kämpfe die alten syndikalistischen Widerstandsorganisationen zu ersetzen, auch diejenigen, die auf der anarchosyndikalistischen Ideologie beharren. Der Aktionsbereich der Basiskerne besteht also aus den Fabriken, für das, was von diesen übrig bleibt, aus den Vierteln, den Schulen, den sozialen Ghettos und aus all jenen Situationen, in denen sich die Klassenausschließung, die Trennung zwischen Ausgeschlossenen und Eingeschlossenen materialisiert.
Jeder Basiskern wird meist durch die propulsive Aktion der insurrektionalistischen Anarchisten gegründet, aber wird nicht nur von Anarchisten gebildet. In seiner versammlungsbasierenden Verwaltung müssen die Anarchisten ihre propulsive Aufgabe gegen die Ziele des Klassenfeindes maximal entwickeln.
Verschiedene Basiskerne können mit dem selbigen Ziel Koordinationen gründen, sich Organisationsstrukturen gebend, die spezifischer sind, aber noch stets auf den Prinzipien der permanenten Konflikthaltung, der Selbstverwaltung und des Angriffs beruhen.
Unter permanenter Konflikthaltung verstehen wir den ununterbrochenen und energischen Kampf gegen die Realisierungen und die Menschen, welche die Klassenherrschaft produzieren und verwalten.
Unter Selbstverwaltung verstehen wir die absolute Unabhängigkeit von jeglicher Partei, von jeglicher Gewerkschaft und von jeglichem Klientel. Die Beschaffung der Mittel, die zur Organisation und zum Kampf erforderlich sind, darf deshalb ausschließlich auf Basis von spontanen Beiträgen erfolgen.
Unter Angriff verstehen wir die Zurückweisung von jeglicher Verhandlung, Vermittlung, Befriedung und jeglichem Kompromiss mit dem Klassenfeind.
Das Aktionsfeld der Affinitätsgruppen und der Basiskerne besteht aus den Massenkämpfen.
Diese Kämpfe sind fast immer intermediäre Kämpfe, die keinen direkt und unmittelbar zerstörerischen Charakter haben, sondern sich oft als schlichte Forderung vorschlagen, während sie zum Ziel haben, mehr Kräfte aufzusammeln, um den Kampf gegen andere Ziele besser entwickeln zu können. Das finale Ziel dieser intermediären Kämpfe bleibt jedoch der Angriff.
Natürlich können einzelne Gefährten oder Affinitätsgruppen, unabhängig von jeglichem komplexeren Organisationsverhältnis, entscheiden, einzelne Strukturen, Individuen und Organisationen des Kapitals und des Staates direkt anzugreifen.
In einer Welt wie derjenigen, die dabei ist, sich unter unseren Augen zu konsolidieren, worin das informatische Kapital nunmehr dabei ist, die Bedingungen der Kontrolle und der Herrschaft auf einer noch nie dagewesenen Stufe von Vollständigkeit miteinander zu verschweissen, unter Anwendung einer Technologie, die niemals auf andere Weise wird benutzt werden können, als um diese Herrschaft aufrechtzuerhalten, wird die Sabotage wieder zur klassischen Waffe im Kampf aller Ausgeschlossenen.
Wieso wir insurrektionalistische Anarchisten sind
Weil wir gemeinsam mit allen Ausgeschlossenen dafür kämpfen, die Bedingungen der Ausbeutung, die von den Eingeschlossen auferlegt werden, zu erleichtern und womöglich abzuschaffen.
Weil wir es für möglich halten, zur Entwicklung der Revolten beizutragen, die überall spontan am entstehen sind, dafür sorgend, dass sie zu Massenaufständen und sodann zu regelrechten Revolutionen werden.
Weil wir eine kapitalistische Ordnung der globalen Realität zerstören wollen, die dank der informatischen Restrukturierung einzig den Verwaltern der Klassenherrschaft technologisch nützlich geworden ist.
Weil wir für den unmittelbaren und zerstörerischen Angriff gegen einzelne Strukturen, Individuen und Organisationen des Kapitals und des Staates sind.
Weil wir all diejenigen konstruktiv kritisieren, die auf Positionen von Kompromiss mit der Macht verweilen oder die den revolutionären Kampf nunmehr für unmöglich halten.
Weil wir, anstatt zu warten, entschlossen sind, zur Tat zu schreiten, auch wenn die Zeiten noch nicht reif sind.
Weil wir diesem Zustand der Dinge ein Ende setzen wollen, sofort, und nicht, wenn die äusseren Bedingungen seine Veränderung ermöglichen.
Dies sind die Gründe, weshalb wir Anarchisten, Revolutionäre und Insurrektionalisten sind.