#title Die Individualanarchisten und Stirner #author Bernd A. Laska #LISTtitle Individualanarchisten und Stirner #SORTauthors Laska, Bernd A.; #SORTtopics Egoismus; Individualismus; Individualanarchismus; Über Stirner, Max; #date November 1994 (leicht überarbeitet: April 1998) #source Entnommen am 25.09.2015 von [[http://www.lsr-projekt.de/msinda.html][www.lsr-projekt.de]] #lang de #pubdate 2015-09-24T23:46:12 #notes Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie, hg. v. Hans Jürgen Degen. Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993ff (Loseblattsammlung), 2. Lieferung Nov. 1994 (leicht überarbeitet: April 1998) *** Begriff Der Ausdruck „individualistischer Anarchismus“ (synonym auch „individueller Anarchismus“, „Individualanarchismus“ oder „anarchistischer Individualismus“), bezeichnet ein im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstandenes Konzept einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Freiheit jedes Individuums (von äusserem Zwang) den höchsten Wert darstellt und so weit wie möglich gewährleistet sein soll, d.h. nur in dem Masse eingeschränkt ist, das sich daraus ergibt, dass alle Individuen diese Freiheit gleichermassen haben sollen. Die Anhänger des individualistischen Anarchismus sehen das Haupthindernis, das einer solchen gesellschaftlichen Ordnung entgegensteht, in der Institution des Staates (auch eines ideal demokratischen), und zwar deshalb, weil der Staat die Freiheit der meisten Individuen mehr als im genannten Sinne erforderlich einschränkt, um einige institutionell verankerte Privilegien, die staatlichen Monopole, die die Freiheit des Wettbewerbs der Individuen behindern bzw. ausschalten, aufrechtzuerhalten. Es handele sich dabei um vier hauptsächliche Monopole: das Geld-, das Boden-, das Zoll- und das Patentmonopol, wobei das erste das weitaus gravierendste sei. Die Existenz dieser (und weiterer) Monopole verhindere permanent, dass das Individuum für seine produktive Arbeit den „natürlichen Lohn“, den „vollen Ertrag“ erhalte. Diese Monopole bzw. den Staat, der sie mit Gewalt(-androhung) aufrechterhält, gilt es daher zu beseitigen, wenn ein Optimum an Freiheit und (Tausch-)Gerechtigkeit erreicht werden soll. Alle erwünschten gesellschaftlichen Aufgaben, die bisher der Staat auch übernommen habe, wie das Polizei-, das Rechts-, das Schul-, das Fürsorgewesen etc., würden, wie insbesondere auch das Geldwesen, ohne Monopole und bei freier Konkurrenz besser und effektiver erfüllt werden; vor allem wäre die Beteiligung jedes Individuums daran freiwillig und nicht, z.B. durch Steuerzahlung, erzwungen. Die Herbeiführung einer solchen freien Gesellschaft könne naturgemäss nicht durch Zwang und Gewalt, sondern nur durch Aufklärung und Überzeugung, also nicht auf revolutionärem, sondern nur auf evolutionärem Wege erfolgen. Das Kampfmittel der Wahl sei der – hierbei durchaus kollektive – passive Widerstand, die Verweigerung (insbesondere von Steuerzahlungen) gegenüber dem Staat. *** Geschichte Der individualistische Anarchismus ist eine weitgehend aus der angelsächsischen, insbesondere nordamerikanischen Tradition politischen Denkens hervorgegangene Doktrin: eine Extremform des Liberalismus. Thomas Jefferson (1743–1826), der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeits- und Menschenrechtserklärung von 1776, hatte seine staatspolitische Überzeugung einmal in das bonmot gefasst: „Die beste Regierung ist die, die am wenigsten regiert.“ Und der amerikanische Publizist Benjamin R. Tucker (1854–1939), der repräsentativste Vertreter des individualistischen Anarchismus, sagte von sich und den Anhängern des individualistischen Anarchismus gelegentlich, sie seien eigentlich nur Jefferson’sche Demokraten mit Konsequenz: denn sie hätten den Mut, den folgerichtigen Schluss zu ziehen und auszusprechen, dass eigentlich doch keine Regierung die beste Lösung sei. Tucker nennt als die wichtigsten Einflüsse, die ihn zur Formulierung des individualistischen Anarchismus oder auch „philosophischen Anarchismus“ geführt haben, an erster Stelle die Lehren des Amerikaners Josiah Warren, dann auch die des Franzosen Pierre-Joseph Proudhon (dessen »Qu’est-ce que la propriété« er 1876 ins Englische übersetzte). Weitere Einflüsse kamen von amerikanischen Freiheitsdenkern und -dichtern wie Stephen Pearl Andrews und Lysander Spooner sowie Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, von den englischen Philosophen John Stuart Mill (1859: »On Liberty«) und Herbert Spencer (1884: »The Man versus the State«), aber auch von dem russischen kollektivistischen Anarchisten Michail Bakunin (dessen »Dieu et l’Etat« Tucker 1883 ins Englische übersetzte). Tucker gründete 1881 die Zeitschrift »Liberty« als Forum für ein breites Spektrum von Stimmen, die zu Problemen des individualistischen Anarchismus Stellung nahmen, und gab sie bis 1908 zunächst in Boston, dann in New York heraus. Die Wirkung der Ideen von Max Stirner (1806–1856) auf Tucker und den individualistischen Anarchismus verdient besonderes Interesse, und zwar deshalb, weil Stirner, seit er in den 1890er Jahren eine „Renaissance“ erfahren hatte, immer wieder als der eigentliche Stammvater des individualistischen Anarchismus bezeichnet wurde und wird. Stirner wurde durch James L. Walker (1845–1904), einen sprachkundigen und umfassend gebildeten selfmademan, der, vielleicht Schmidt-Stirner folgend, unter dem Pseudonym Tak Kak schrieb, Ende der 80er Jahre in »Liberty« (1881–1908) zur Diskussion gestellt, zu einem Zeitpunkt, als Tucker die Grundauffassungen des individualistischen Anarchismus bereits formuliert hatte. Dies entzündete sogleich eine Kontroverse, bei der es um die grundsätzliche philosophische Frage ging, ob der individualistische Anarchismus nun überhaupt noch, wie bisher, auf einer naturrechtlichen Basis stehen könne (Martin 1970, 249–254; Coughlin et al., 1986, 131–135). Walker verneinte dies; Tucker und einige weitere Anhänger des individualistischen Anarchismus folgten Walkers Argumenten und revidierten ihre Positionen. Die Folge war eine Spaltung der Bewegung des individualistischen Anarchismus, und Tucker verlor einige der besten Mitarbeiter von »Liberty«. Die Kontroverse um die Bedeutung Stirners für den individualistischen Anarchismus wurde mit einer überraschenden Heftigkeit und Erbitterung geführt, verlief sich aber bald im Unentschiedenen. Stirner war daraufhin in »Liberty« kein (umstrittenes) Thema mehr, und Walker blieb als Tak Kak zwar weiterhin »Liberty«-Autor, veröffentlichte aber seine von Stirner inspirierten Beiträge zur »Philosophie des Egoismus« jetzt woanders: in einem entlegenen Periodikum namens »Egoism«. Die Stirner-Kontroverse von 1887 war indes nicht wirklich erledigt. Sie schwelte untergründig weiter, in der Gruppe und in den einzelnen Individuen. Die Anhänger des individualistischen Anarchismus scheinen der von Stirner aufgeworfenen Problematik letztlich ebenso ausgewichen zu sein wie zuvor die Zeitgenossen Stirners (am folgenreichsten Marx), später eine stattliche Reihe prominenter Denker (am folgenreichsten Nietzsche) und im übrigen auch die meisten Anarchisten (vgl. Laska 1993, 1996). Diesem prekären und naturgemäss weitgehend in der Obskurität verbliebenen Prozess ist es wohl zu danken, dass eine englische Übersetzung von Stirners »Einzigem« erst mit zwanzigjähriger(!) Verspätung erschien, zu einer Zeit, als die Bewegung des amerikanischen individualistischen Anarchismus und »Liberty« bereits ihrem Ende nahe waren. Tucker selbst gab sie (»The Ego and His Own«) 1907 noch im eigenen Verlag heraus – offenbar in einem letzten, eigene und fremde Widerstände überwindenden Kraftakt, denn er kommentierte seine Tat in einer der letzten Ausgaben von »Liberty« im Ton eines Vermächtnisses: „Ich habe mich über mehr als dreissig Jahre hinweg für die Verbreitung der Ideen des Anarchismus eingesetzt und dabei einiges erreicht, auf das ich stolz bin; aber ich glaube, dass ich nichts für die Sache getan habe, dessen Bedeutung an die Herausgabe dieses Buches heranreicht.“ – Kurz darauf wurden Tuckers Geschäfts- und Lagerräume durch einen Brand völlig zerstört. Tucker war ruiniert, verliess die USA und ging nach Frankreich, wo er die restlichen drei Jahrzehnte seines Lebens in publizistischer Enthaltsamkeit verbrachte. Das Ende von »Liberty« im Jahre 1908 markiert auch das Ende der von Tucker geprägten Epoche des originären individualistischen Anarchismus. Der führende Vertreter des individualistischen Anarchismus in Deutschland war der Dichter und Schriftsteller John Henry Mackay (1864–1933), der zwar in Schottland geboren wurde, aber seit seinem zweiten Lebensjahr in Deutschland gelebt und nur in deutscher Sprache geschrieben hat. Mackay verkehrte in den 1880er Jahren zunächst im Milieu der jungen, rebellischen Dichter des aufkommenden Naturalismus, ging aber, da ihn die „soziale Frage“ ernsthafter berührte als seine Kollegen, bald eigene Wege. Aufgrund des sozialkritischen Pathos seines ersten dichterischen Erfolgs, des Gedichtbandes »Sturm« (1888), feierte man ihn als „Sänger der Anarchie“. Doch Mackay fühlte sich auch den Anarchisten, die vorwiegend kollektivistisch bzw. kommunistisch orientiert waren, keineswegs zugehörig. Erst die Bekanntschaft mit Tucker, sowohl durch dessen Zeitschrift »Liberty« (und deren zeitweilige deutsche Ausgabe »Libertas«) als auch durch persönliche Begegnung, eröffnete ihm die ersehnte politische Heimat. Mackay wurde ab etwa 1890 der wichtigste Vertreter des individualistischen Anarchismus in Deutschland. Er schrieb, neben seinem dichterischen Werk, zwei einschlägige »Bücher der Freiheit«, die er seinem Freunde Tucker widmete: 1891 »Die Anarchisten« und 1920 »Der Freiheitssucher«. Er gab »Flugschriften des Individualistischen Anachismus« und seit 1895 eine Schriftenreihe »Propaganda des Individualistischen Anarchismus« in deutscher Sprache“ heraus, in der vorwiegend Übersetzungen von Broschüren des amerikanischen individualistischen Anarchismus erschienen, als wichtigste die Tucker’sche Programmschrift »Staatssozialismus und Anarchismus«. Doch der stark angelsächsisch geprägte individualistische Anarchismus fand in Deutschland nur wenige Anhänger (prominentester war der junge Rudolf Steiner – bevor er „Anthroposoph“ wurde), und die Bewegung des individualistischen Anarchismus kam auch hier noch vor dem ersten Weltkrieg zum Erliegen; Mackays Versuch, sie nach 1918 neu zu beleben, scheiterte. Mackay hat den Eindruck erweckt, sein propagandistisches Wirken für den individualistischen Anarchismus stehe in engem, sachlichen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Biograph und Herausgeber Stirners. Dadurch ist es üblich geworden, Mackay als authentischen Stirnerianer und Stirner als Patron des individualistischen Anarchismus anzusehen. Diese Zuordnungen können einer genaueren Prüfung freilich nicht standhalten. Es war zweifelsfrei Tucker, der den individualistischen Anarchismus konzipiert hat, und er hat dies bereits in den 1880er Jahren, ohne Kenntnis Stirners, getan. Der Stirner’sche Impuls hat dann zwar die Anhängerschaft des individualistischen Anarchismus stark irritiert, gleichwohl aber keinen Diskurs erzeugt, der den individualistischen Anarchismus grundlegend modifiziert oder gar die Ideen, die spezifisch Stirner’sche sind, wirklich integriert hätte. Mackay übernahm den individualistischen Anarchismus von Tucker in seinen wesentlichen Zügen und schrieb seine »Bücher der Freiheit« aus dem Geiste dieses individualistischen Anarchismus. Beide, Tucker und Mackay, bekannten sich zwar verbal, zuweilen sogar sehr emphatisch, zu dem auch unter Anarchisten unpopulären Stirner, wussten aber mit dessen spezifischen Begriffen, insbesondere mit dem der „Eigenheit“, im Grunde wenig anzufangen; sie wären von Stirner, dem die „gleiche Freiheit Aller“, die Grunddoktrin des individualistischen Anarchismus, ja von Kant her geläufig war, als blosse Freiheitsschwärmer verspottet worden.