Autonomie
Es ist eine altbekannte Thatsache, dass die einfachsten Wahrheiten die grössten Schwierigkeiten fanden von der Menschheit, in ihrer ganzen Einfachheit allgemein an erkannt zu werden. Zum Beispiel bedurfte es Jahrtausende, um den Irrthum zu widerlegen, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums und die Sonne sich um die Erde bewege. Wieder Unverstand über die Gesetze der Natur von allerhand Schlaumaiern zu ihren Vortheilen ausgebeutet wurde, um Aberglauben und Vorurtheile unter den Menschen zu züchten, so wurden die Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen in einem noch weit höheren Masse — weil vorteilhafter — mit Vorurtheilen und Aberglauben umhüllt. Der herrschende Unverstand der grossen Menge über die Gesetze der Natur, der schlauerweise eingeführte Schöpfungsschwindel der religiösen Pfaffen in allen seinen Schattirungen kam den politischen Pfaffen trefflich zu statten.
Betrachten wir uns die grosse breite Masse der sogenannten fortgeschrittenen „aufgeklärten“ Menschen. Sie alle haben sich mehr oder weniger von dem religiösen Aberglauben und Vorurtheilen befreit, stecken aber zumeist noch bis über die Ohren im Schlamme hergebrachter Ignoranz über die sozialen Gesetze. Sie glauben nicht mehr an die göttlichen Schöpfungsfabeln, da sie die wissenschaftliche Ueberzeugung gewonnen haben, dass sich die Menschheit auf natürlichem Wege aus dem Thierreiche entwickelt hat; sie glauben auch nicht mehr an die göttliche Vorsehung im sozialen Leben, da sie wissenschaftlich eine solche übernatürliche Existenz bestreiten; Aber sie glauben die Menschheit müsse zu Grunde gehen, wenn es keine Regierung, keine Herrschaft, mit einem Wort keine Autorität mehr in der menschlichen Gesellschaft gäbe!
Ob diese Autorität von einem Menschen, oder von einer Anzahl oder der Majorität ausgeübt wird, macht keine wesentliche Differenz, sie sagen: Autorität muss sein!
Fassen wir ihre Argumente für die Nothwendigkeit einer Autorität im sozialen Leben kurz zusammen, so heisst es: „die Menschheit sei von Natur aus schlecht, oder durch die bisher bestandenen sozialen Einrichtungen so verdorben worden, dass sie in ihrer Totalität (Gesammtheit) unfähig sei, ohne Zwang ihre sozialen (gesellschaftlichen) Pflichten als Individuen zu erfüllen, um ein harmonisches Zusammenleben einer grösseren Gemeinschaft zu ermöglichen.“
Dabei merken diese „aufgeklärten“ Menschen gar nicht, dass sie sich bei allen ihren Argumenten in einer einzigen Kette des Widerspruchs mit ihrer wissenschaftschlichen Aufklärung bewegen.
Bekanntlich datiren die geschichtlichen Ueberlieferungen über die sozialen Einrichtungen sammt und sonders alle aus einer verhältnissmässig kurzen Zeitperiode, wo der Mensch bereits ungeheuer lange Phasen seiner Entwickelung durchlaufen hatte. Aus allen Daten der Geschichte geht jedoch hervor, dass die Menschen früher keine Autorität kannten und, wo solche bestand, dieselbe das Resultat von Betrug und Vergewaltigung war; die Menschheit lebte also bis zur Zeit der sogenannten neueren Geschichte in einem Zustande der Autoritätslosigkeit, der individuellen Autonomie, welche nur durch die Vergewaltigung des Stärkeren über den Schwächeren gestört wurde.
Unser Geschlecht und besonders der „aufgeklärte“ Theil blickt mit einem gewissen mitleidigen Lächeln auf jene Periode der „Barbarei“ zurück, ohne zu bedenken, welch‘ grosser Kulturfortschritte die Menschheit bedurfte, um sich vom Thierreiche bis auf jene Stufe, wo die geschichtlichen Ueberlieferungen beginnen, zu schwingen. Wer sich nur annähernd eine Vorstellung von dieser riesigen Entwickelungsphase zu machen vermag, der wird sich bei einem Vergleiche der Fortschritte in der sogenannten vorgeschichtlichen Periode mit denen der geschichtlichen, nur zu Gunsten der ersteren entscheiden können.
Wenn sich nun die Menschheit bei vollster individueller Autonomie (persönlicher Unabhängigkeit) und trotz der relativ barbarischen und fortgeerbten thierischen Eigenschaften zu einer solchen Stufe der Entwicklung über das Thierreich aufzuschwingen vermochte, wie wir sie zur Zeit der Einbürgerung der Autorität vorfinden; wenn sie, sagen wir, in
dieser Entwickelungsperiode ihre thierischen Eigenschaften mehr und mehr abstreifte, als Individuen mehr und mehr ihr Interesse im Interesse der Gesammtheit ihres Stammes oder ihrer Spezies überhaupt suchte, und sich zu „Menschen“ entwickelte, so muss sich doch jeder denkfähige Mensch heute sagen, dass die Ursache hiefür nur in einem besonders stark entwickelten Trieb des sozialen Zusammenlebens der menschlichen Spezies zu suchen ist, wie er bei keiner anderen Thierspezies in gleichem Grade vorhanden war.
Das ist auch thatsächlich der Fall. Alle gesellschaftlichen Einrichtungen und Fortschritte, soweit sie den Interessen der Gesammtheit dienen, alle Culturfortschritte sind auf die einzig natürliche Ursache der Soziabilität[1] des Menschen zurückzuführen, wesshalb auch die Nothwendigkeit einer Autorität — einerlei in welcher Form — einfach Unsinn, Aberglaube ist.
Wir sind daher antiautoritär: Anarchisten. Wir betrachten die Menschheit in ihrer Totalität als nichts mehr und nichts weniger, als eine Summe von Individualitäten (Einzelwesen), welche durch ihre Soziabilität, trotz aller Mannigfaltigkeit und scheinbaren Gegensätzen, doch nur im Interesse der Gesammtheit ein harmonisches Ganzes bilden, wie wir im Laufe der folgenden Nummern, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachtet, nachzuweisen bestrebt sein werden.
Wir bekämpfen die Autorität in jeder Form, weil wir der Ueberzeugung sind, dass jede Bevormundung die natürliche Entwickelung des Individuums, somit der Gesammtheit hemmt, dem Menschen seine Individualität als Mensch raubt und die Menschheit auf die Stufe von Zuchtthieren herabsetzt.
Wir betrachten daher die „Gleichberechtigung aller Menschen“ nicht nur als eine schön klingende, aber leere Phrase, welche in „Vertretungs-Körperschaften“ oder „Majoritäts-Beschlüssen“ ausgedrückt wird, sondern wir wollen, dass dieselbe durch die vollste Autonomie des Individuums in allen seinen sozialen Beziehungen mit seinen Nebenmenschen garantirt wird.
Da sämmtliche Schätze der Gesellschaft von der Muttererde ebenso unzertrennlich, wie wir Menschen selbst und alle Reichthümer die Früchte der Arbeit des gesammten Menschengeschlechts sind, so hat auch Niemand das Recht dieselben oder einen Theil davon als sein „Privateigenthum“ zu beanspruchen; sie gehören allen Menschen und Niemanden im Besonderen.
Wir sind also auch Communisten! Wir erstreben die Menschheit von allen sozialen Ungerechtigkeiten mit allen Mitteln zu befreien, was nur im anarchistischen Communismus möglich ist.
[1] Gesellschaftliche Anpassung.