Wie oft haben wir es schon gehört: „Aber von welcher Organisation seid ihr denn?“. Vielen scheint es gegen ihr Weltverständnis zu gehen, dass es Individuen gibt, die nicht im Namen irgendeiner Organisation, sondern einzig und allein in ihrem eigenen Namen agieren. Nun, ich bin Anarchist, und natürlich organisiere ich mich, um für meine Ideen zu kämpfen, gemeinsame Projekte (wie z.B. diese Zeitung) zu realisieren und zu versuchen, die Realität zu verändern. Dazu brauche ich aber keine „Organisation“ – in dem Sinne, wie ich sie hier verstehe, das heisst, als eine repräsentative Struktur mit Name, Mitgliederliste, Statuten und Programm. Und ich möchte noch mehr sagen: Es ist nicht nur, dass ich keine solche „Organisation“ brauche, ich halte sie auch für schädlich für das, wofür ich kämpfe. Ich halte sie für schädlich, wenn das Ziel ist, in den Einzelnen die Empfindung für die eigene Individualität und Freiheit zu stärken und sie zur Selbstorganisation zu ermutigen.

Wieso ich das so sehe, und auf welche Weise ich die Organisationstatsache verstehe, will ich in diesem Artikel zu erklären versuchen.

Delegation und Repräsentation

Wir leben heute in einer Gesellschaft, deren ganzes Organisationsmodell – also die Demokratie – auf einem System von Delegation und Repräsentation basiert. Als Mitglieder dieser Gesellschaft delegieren wir permanent den Grossteil der Entscheidungen, die im Grunde unser eigenes Leben und unsere eigene Umwelt betreffen, an irgendwelche „Spezialisten“, in erster Linie an die Politiker aller Art, die behaupten, unseren Willen zu repräsentieren. Mit der Politik, den Abstimmungen und dem Referendum will uns der Staat das Gefühl geben, teilnehmen und mitbestimmen zu können – unter der Voraussetzung, ihn selbst und seine Spielregeln zu akzeptieren. So beschränkt sich die sogenannte „Souveränität des Volkes“ darauf, von Zeit zu Zeit zwischen zwei falschen Alternativen abzustimmen, den einen Esel mit einem anderen auszutauschen, vielleicht eine Beschwerde oder eine Petition einzureichen, oder äusserstenfalls mit Protesten auf die Politiker Druck auszuüben“. So oder so, die letztendliche Entscheidung delegieren wir immer an andere, an Spezialisten, Politiker und Autoritäten, die die Aufgabe haben, unsere Leben zu verwalten und „sich unseren Problemen anzunehmen“ – natürlich stets im Rahmen der bestehenden Ordnung, die ihre eigenen Privilegien und ihre eigene Machtposition bewahrt und beschützt.

Die Tatsache, zu delegieren und uns repräsentieren zu lassen, ist also etwas, das wir von klein auf lernten und das tief in uns sitzt. Von klein auf sagt man uns, dass der Einzelne ja sowieso nichts ändern kann, und dass, wenn wir ein Problem haben, wenn uns etwas nicht passt, wir eben Abstimmen oder selber in die Politik gehen müssen.

Nun, das, was mir nicht passt, das, was mein Problem ist, ist aber die bestehende Ordnung selbst, die Existenz des Staates selbst, weil dieser für mich, wie für die meisten, mit seinen Gesetzen, Ordnungshütern und Gefängnissen, immer die Aufrechterhaltung meiner Unterdrückung und Ausbeutung zum Profit der Reichen und Mächtigen bedeuten wird. Es ist also offensichtlich, dass es sinnlos wäre, dieses „Problem“ an irgendwelche Politiker zu delegieren.

Als Anarchist kämpfe ich für eine Welt, in der ein jeder tatsächlich Souverän über das eigene Leben ist, in der niemand über den Köpfen und über den Willen von anderen entscheidet, in der es keinen Staat und keine Politik gibt, die über unsere Leben walten, kurzum: in der wir unsere Leben selbstverwalten. Ein solches selbstverwaltetes Leben will ich nicht nur in einer mehr oder weniger fernen Zukunft, für die ich kämpfe, sondern Hier und Jetzt. Das bedeutet nicht nur, dass ich mich weigere, mich an dem politischen Zirkus der Parteien und Abstimmungen zu beteiligen, sondern auch und vor allem, dass ich mich selber organisieren will, um selbstständig und direkt in die Realität zu intervenieren und das zu bekämpfen, was mir gegen meinen Willen aufgezwungen wird.

Es drängt sich also die Frage auf, wie ich mich für diesen Kampf organisieren will.

Selbstorganisation

Oft wird diese Frage, auch unter Revolutionären und Anarchisten, mit einem Organisationsmodell beantwortet, das im Grunde dieselben Mechanismen reproduziert, nach denen auch diese Gesellschaft funktioniert, die man behauptet, zu bekämpfen. Man gründet eine repräsentative, mehr oder weniger parteiähnliche Organisation, die Mitglieder sammelt und quantitativ anzuwachsen versucht, um – wenn auch ausserparlamentarisch – eine gewisse politische Macht (oder Gegenmacht, wenn ihr bevorzugt…) zu erlangen; eine Organisation mit Name und Aushängeschild, mit einheitlichem Programm und Statuten, aufgeteilt in Arbeitsgruppen und mehr oder weniger verhüllte Hierarchien. Meiner Meinung nach reproduziert eine solche Organisation, anstatt alle zu ermutigen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich selbst zu organisieren, eben diese Gewohnheit der Delegation, die tief in uns sitzt und von der es nicht einfach ist, loszukommen. Anstatt diese Gewohnheit zu bekämpfen, verleitet sie ihre Mitglieder nur erneut dazu, sich genau wie in der Gesellschaft, bewusst oder unbewusst, von einem übergeordneten Organ repräsentieren zu lassen, auf ihre eigene Individualität zu verzichten und sich den Mehrheitsbeschlüssen zu fügen; dazu, die eigene Verantwortung an die Organisation abzuschieben und die eigenen Entscheidungen an «jene, die es besser können», an irgendwelche Spezialisten und kleine und grosse Bewegungsführer zu delegieren. Ihre Mitglieder sehen sich schliesslich, genau wie in der Gesellschaft, verleitet, eine blosse Rolle, eine blosse Funktion zu übernehmen, anstatt das ganze Potenzial ihrer Individualität zu entfalten und ihren Kampf in die eigenen Hände zu nehmen. Dies ist, neben anderen Gründen, weshalb ich eine solche formelle Organisation für schädlich halte und weshalb ich es bevorzuge, mich informell zu organisieren. Aber was soll das heissen?

Es sei zunächst gesagt, dass auch ich die Tatsache der Organisation als eine Notwendigkeit anerkenne, sowohl für die Kämpfe von heute wie für die freie Gesellschaft von morgen. Und es wäre absurd, diese Tatsache zu negieren, insofern jeder noch so kleine und kurzlebige Zusammenschluss von Individuen für ein spezifisches Ziel bereits eine Form von Organisation ist. Als Anarchist suche ich schlicht nach Wegen, sich zu organisieren, ohne die Mechanismen der Delegation und der Repräsentation zu reproduzieren, die stets der fruchtbarste Boden für die Herausbildung von Autoritäten sind – auch unter Revolutionären, und ja, auch unter Anarchisten.

Meiner Meinung nach besteht das beste Mittel, um diese Angewohnheit zu bekämpfen, darin, in den Einzelnen die Empfindung für die eigene Individualität und Freiheit zu stärken, und somit den Drang danach, «selber zu machen», also nach Selbstorganisation, nach individueller Initiative und direkter Aktion zu fördern. Diese Empfindung und dieser Drang können beispielsweise durch Erfahrungen von Revolte gegen Einschränkungen und Aufzwingungen, durch Experimentieren mit den eigenen Fähigkeiten in eigenen Projekten des Kampfes, oder durch Vertiefung der eigenen Ideen anwachsen.

Der Ausgangspunkt für jede Organisation, die nicht eine blosse Repräsentation sein will, ist also das Individuum, das den Willen hat, sich zu entfalten, zu kämpfen, und in erster Person zu überlegen und zu agieren. Die Organisation, wie ich sie verstehe, sollte also nicht bezwecken, ihre Mitglieder zu vereinheitlichen und zu repräsentieren, sondern ist nichts anderes als ein Zusammenwirken von verschiedenen individuellen Initiativen, ein Zusammenschluss von Individuen, um gemeinsame Projekte zu realisieren, bzw. ein spezifisches Ziel zu erreichen, das man teilt und über die dafür einzusetzenden Mittel und Methoden man sich einig ist. Die dazu geschaffene selbstverwalterische Struktur hat für mich, als Anarchist, da ich nicht bezwecke, bzw. verhindern will, irgendeine „politische Macht“ aufzubauen, keinen Grund, über das spezifische Ziel oder Projekt hinaus fortzubestehen und anzuwachsen. Wurde der Zweck der Organisation erreicht oder ist sie dafür nicht mehr von Nutzen, löst sie sich wieder auf, während ich mich für andere Ziele und andere Projekte wieder neu und anders zusammenschliesse. Es geht also nicht um eine permanente, quantitative, formelle Struktur, die auf einmal festgelegten Grundsätzen basiert, sondern um einen temporären, beschränkten, informellen Zusammenschluss, der sich im ständigen Wandel befindet.

Die Tatsache der Organisation kann also ein Hilfsmittel sein, um, gemeinsam mit anderen, den eigenen Kampf, die eigene Befreiung und die eigenen Ideen zu verwirklichen, während sie nicht darauf abzielen sollte, die Initiativen in sich zu zentralisieren, sondern darauf, wo immer möglich, die Praxis der Selbstorganisation zu fördern und sozial zu verbreiten – jene Selbstorganisation, deren Generalisierung schliesslich die Grundlage einer Gesellschaft ohne Staat und ohne Autoritäten ist.

Direkte Aktion

Wenn der Grund, wieso ich mich selbstorganisieren will, die Verweigerung der Praxis der Delegation ist, so ist mein Ziel die direkte Aktion – also die direkte Intervention in die Prozesse um uns herum, die uns vom Staat aufgezwungen werden und uns zwingen wollen, unter seiner Herrschaft zu leben. Die direkte Aktion ist sowohl ein Mittel, tatsächlich und effektiv etwas anzupacken und zu verändern, sowie ein Zeichen an andere des Willens, sich das eigene Leben wieder anzueignen.

Nehmen wir ein lokales Beispiel: der Bau des PJZ beim alten Güterbahnhof. Viele Leute wollen nicht, dass dieser riesige Polizei- und Justizpalast gebaut wird, weil sie sehrwohl wissen, dass dies noch mehr Bullen und Kontrollen im Quartier, eine weitere „Säuberung“ der Strassen, und somit eine „Aufwertung“, eine Vertreibung der ärmeren Anwohner bedeuten wird. Aber das PJZ wurde nunmal gesetzlich abgesegnet. Es ist offensichtlich, dass es sinnlos wäre, noch auf irgendwelche Politiker zu setzen, wenn wir es verhindern wollen. Wenn wir wirklich verhindern wollen, dass dieser riesige Kontroll- und Gefängniskomplex bald über unseren Leben thront und wacht, müssen wir zu anderen Mitteln greifen. Wir müssen selber Hand anlegen. Wir müssen uns selber organisieren – uns zur direkten Aktion gegen das PJZ selber organisieren. Dazu brauchen wir nicht irgendeine Organisation, die mit Protesten bei den Politikern „Druck ausübt“, welche so oder so nichts ändern werden. So würden wir nur wieder die Hoffnung in andere setzen, von den Politikern und Autoritäten fordern, die Entscheidung in die Hände von jenen delegiern, die sich anmassen, unsere Leben zu regieren. Wenn wir unsere Leben aber selbst in die Hand nehmen wollen, dann sind wir es, die entscheiden, dass dieses Projekt nicht gebaut wird, und dann müssen wir auch eigenhändig dafür sorgen, dass dem so ist – mit den Mitteln, die dafür nötig sind. Dafür reichen kleine, selbstständige und namenlose Grüppchen von Leuten, die sich zusammenschliessen, weil sie sich kennen und den Willen teilen, auf auf direkte Weise zu kämpfen. Grüppchen, die verstreut gegen dieses Projekt vorgehen, die nicht beabsichtigen, zu verhandeln, sondern sich in permanenter Konflikthaltung befinden, kleine verstreute Angriffe und Sabotagen realisieren, und mit ihren Aktionen die Unterstützer dieses Projekts entlarven und zur Verantwortung ziehen. Und durch eine permanente Feindlichkeit gegen dieses Projekt und all seine Kollaborateure, durch eine soziale Verbreitung der Selbstorganisation in diesem Kampf, unabhängig von allen Parteien und politischen Organisationen, können wir vielleicht eine Stimmung kreieren, die es schliesslich ermöglicht, gemeinsam gegen diese Struktur in Aufstand zu treten, sie zu stürmen und… dann ja, dann liegt die Entscheidung, das PJZ zu verhindern, in unseren Händen.

Nun, man erzählt uns von klein auf, dass der Einzelne ja sowieso nichts ändern kann. Ich will das Gegenteil behaupten: Nichts und niemand ausser das Individuum kann entscheiden, etwas zu verändern, und solange das Individuum, ob organisiert oder alleine, nicht im Hier und Jetzt entscheidet, zu handeln, wird alles immer beim Alten bleiben…