Aufruhr
Kritik der idealen Gesellschaft
Wenn sich die Frage der Revolution stellt, wird meist sogleich die Frage nach dem „nach der Revolution“ gestellt. Natürlich stellen sich viele, die über die herrschenden Zustände hinaus wollen, die Zukunft jenseits des Staates, die Möglichkeiten, die sich dann auftäten, auf die eine oder andere Weise vor. Diese Vorstellungen können eine Motivation zum Kämpfen sein. Aber es gibt eine Art und Weise, dieses Thema zu behandeln, die wir mit Kritik betrachten. Es ist dies das Aufstellen von künftigen Gesellschaftskonzepten und Organisationsprinzipien. Und wir sprechen gar nicht erst von den Fantasien der Eroberung der Macht, um dann – obwohl sich dieser angeblich auflösen soll – einen neuen Staat zu errichten; kämen diese Pläne irgendwann zur Anwendung, wären ihre Anhänger offensichtlich unsere Feinde. Doch auch unter Revolutionären, die der Autorität zumindest nicht huldigen wollen, scheint das Bedürfnis gross zu sein, dieser Gesellschaft eine andere entgegenzusetzen. Diese entgegengesetzte Gesellschaft soll die volle Freiheit garantieren (oft sogar mittels von Rechten, worauf ich hier nicht näher eingehe). Sie wird dann in ellenlangen Abhandlungen dafür gepriesen, keinen Menschen auszuschliessen und die volle Freiheit (und dazu sogar noch Friede, Freude und Eierkuchen) zu ermöglichen, und beantwortet die Frage „Wie soll denn eine freie Gesellschaft aussehen?“ mit einer Leichtigkeit, die stutzig macht. Das alles wirkt dann, je nach Beispiel, mehr oder weniger überzeugend, und sollte, zumindest in den Hoffnungen ihrer Autoren, jeden vernünftigen Menschen überzeugen. Und es hat viele überzeugt, sie sind auf die Barrikaden gegangen und haben ihr Leben dafür gelebt. Dass dies für ein Paradies getan wurde, das als solches natürlich nie erreicht werden kann, ist ein Vorwurf, der den Gesellschaftsmodellen gerechtfertigterweise gemacht wird. Doch die Problematik mit ihnen geht weit darüber hinaus. Denn wenn wir uns darauf einlassen, zu beweisen, dass „die Anarchie funktioniert“, ist das ein Anbiedern an den Horizont derjenigen, die sich das Leben nur als Funktionalität vorstellen können.
Es ist einleuchtend: mittels der Gesellschaftsmodelle soll der negierenden Kritik des Anarchismus etwas Positives zur Seite gestellt werden, soviel ist klar. Dies meist als Antwort auf die Abweisung der anarchistischen Kritik durch die Aussage: „Stimmt ja alles, aber was wäre denn die bessere Lösung?“. Und, anstatt zu antworten, die Anarchie eben, die Negation der Herrschaft, wird versucht, diese Negation mit wunderschönen positiven Bildern auszuschmücken; was dazu führt, dass die Utopie immer mehr dem Bestehenden gleicht, denn es ist einzig die Perspektive der Verwaltung einer Gesellschaft, die zum Ausdruck kommt, und mittels derer das Ganze den Bürgern schmackhaft gemacht werden soll. Das Leben, das immer jeder Systematik entflieht, kann in dieser Perspektive gar nicht vorkommen, es wird in jeder „funktionierenden Gesellschaft“ ein Störfaktor bleiben. Doch die Anhänger der „idealen Gesellschaft“ beharren auf der Behauptung, dass die Gesellschaft X allen die Freiheit ermöglicht (was übrigens schon heute alle Gesellschaften von sich behaupten), untermauert mit ein paar klugen Erkenntnissen, die das ganze beweisen sollen.
Um ein Rezept für eine utopische Gesellschaft zu entwerfen, braucht es irgendein positives Menschenbild, das als Garant dafür dient, dass, wenn einmal die Bedürfnisse des konstruierten Menschens gestillt werden, er zugänglich, sozial und friedlich wie ein Lamm sein wird, und dass dieses Lamm dies aus freiem Willen ist. Und deshalb werden Konzepte entworfen, die alle umfassen sollen, alle wären darin frei und Konflikte werden „unnötig“ sein. Konzepte, die nicht als experimenteller Versuch, sondern als Lösung präsentiert werden. Denn, so wird behauptet, wenn einmal alle in diesem Modell leben würden, gäbe es keinen Grund für „böse Taten“ mehr.
Und so folgt dem Wunsch nach einer perfekten Gesellschaft das Verlangen danach, die Einzelnen zu bändigen, nicht das Risiko einzugehen, das der Kontrollverlust birgt: Dass die Einzelnen unsoziale Entscheidungen treffen könnten, dass die Einzelnen nicht das tun, was die (jeweilige) Gesellschaft will. Um dies zu verhindern, soll natürlich keine rohe Herrschergewalt – die von ihrer oberflächlichen Herrschaftskritik noch erkannt wird – angewendet werden, nein, die Mittel werden die unscheinbaren Zwänge der Pädagogik, der Erziehung und der Moral sein. Diese Domestizierung wird versprochen, um genau die Feinde der Anarchie zu überzeugen: „Die Anarchie ist nicht der Alptraum, den ihr habt, sie ist doch der Zustand, den jeder gute Mensch wollen muss“, wird gestottert. Doch die Bürger verstehen meist schon: Diese Wunschträume sind naiv; und so finden sie die Utopien schön und gut, als konsumierbare Ware, die ihr Desinteresse an der Welt nur auf‘s Neue bestätigen, und sehen ein: solche Konzeptionen kratzen sie nicht, denn sie ändern nichts am Leben…
Der Bändigung der Einzelnen als Utopie folgt meist die Bändigung der Einzelnen in der Praxis. Der Kampf wird dann für die zukünftige Gesellschaft geführt, und nicht mehr aus dem alltäglichen Leben heraus; ist nicht mehr ein Kampf für das eigene Leben nach eigenem Geschmack, sondern die Unterwerfung dieser beiden einem höheren Ideal, zu dem es dann nur noch strategische Wege gibt. Und daraus ergibt sich dann die Disziplin und andere Schweinereien. Und jede Revolte, jede Gewalttat wider die heutigen Zustände, muss dann über den Umweg des Kampfs für das Ideal legitimiert werden. Vielleicht rührt es daher, dass so viele nur die Freiheit für die politischen Gefangenen fordern, für diejenigen, die für das edle politische Ideal einsitzen.
Für den Kampf gegen den Staat und die Gesellschaft brauchen wir wohl keine Legitimation. Wenn wir diese Ordnung angreifen, wieso nicht sagen: weil wir dies nun mal wollen. Weil wir erkannt haben, wer unsere Feinde sind. Und nicht aufgrund der höheren Legitimation durch das Ideal, die Zukunft, was auch immer. Wenn wir den Kampf gegen Herrschaft trotzdem mit grösster Anstrengung führen, uns sogar Pläne vorstellen, wie wir das Ende dieser Ordnung herbeiführen können, wie wir Beziehungen erschaffen können, die nicht auf der Unterdrückung basieren, uns fragen, wie wir das erreichen können; dann weil wir das einfache Bedürfnis danach haben. Auch die Gesellschaftskonzepte entstehen aus diesem Bedürfnis, aber sie entstehen auch aus einem zweiten Bedürfnis, nämlich, die Fragen des Lebens für alle – und ein für alle mal – zu lösen. Und so wollen sie uns von der Verantwortung, die die Freiheit nun mal mit sich bringt, erlösen. Sie fassen das gefährliche Spiel des Lebens in Konzepte, die die wunderschönsten, unterschiedlichsten chaotischen Experimente ausschliessen.
Denn dies sind die Alpträume des Bürgers: dass ihm in seine kleine heile Welt hineingepfuscht werden könnte, die die Sphäre seiner Privatheit bildet. Dass es sein könnte, dass die Bedürfnisse, die er hat und die er für die Bedürfnisse „des Menschen“ hält, nur die Bedürfnisse seiner Anpassung, die Bedürfnisse nach Mittelmass und Kontrolle sind. Entgegen der Auffassung der Gesellschaftskonzeptoren können wir nur von unseren eigenen Bedürfnissen reden, und denken wir, dass die einzige Ermöglichung der Freiheit das Erlernen der Freiheit ist. Die Bedürfnisse „des Menschen“ interessieren uns vielleicht dann, wenn wir uns in ihnen wiederfinden, aber es wird immer eine ganz andere Freiheit sein, die wir nur in einem Experiment des Bruchs mit allen Werten der Herrschaft erproben können. Falls wir irgendeinmal zum Genuss der Möglichkeit kommen, dieses Experiment in solchen sozialen Ausmassen zu erproben, wie es die Welt noch nicht gesehen hat (und das ist unsere Absicht), wird das wichtigste, um die Freiheit zu höheren Formen zu bringen, nicht ein Konzept für Güterverteilung, den perfekten Entscheidungsfindungsprozess und schon gar nicht ein Regelwerk sein, sondern die Fähigkeit der Freiheit (und ihrer Verteidigung), die Fähigkeit zum Umgang miteinander, und die volle Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, und nicht auf eine zukünftige Projektion. Die Frage ist also nicht, was die endgültige Lösung ist, sondern, wie wir (inter)agieren, welche Wege wir gehen und was wir aus den Möglichkeiten machen. Erst diese Herangehensweise ermöglicht eine soziale Verbreitung der anarchistischen Ideen, und nicht eine bloss vergrösserte Anhängerschaft von irgendwelchen Zukunftsträumen.
Denn der ganze Diskurs der Ausarbeitung eines Lösungsmodells ist auf die ein oder andere Art das Aufgeben der Verantwortung. Denn, eine „Gesellschaftsordnung“ kann funktionieren, und ihr Funktionieren hängt nicht von mir ab. Eine „Gesellschaftsordnung“ gibt mir Freiheit, ich habe dann also keinen Grund mehr, mir die Freiheit zu nehmen, denn schliesslich ist in einer „anarchistischen Gesellschaft“ jeder frei… Dies ist die Logik, die sich einschleicht, sobald behauptet wird, dass die Anarchie erreicht sei, vollendet sei.
Auf dass wir diesen Zustand nie erreichen! Den Zustand, in dem die Freiheit bloss das passive Funktionieren ist, das keine Veränderung kennt. Den Widerspruchslosen Zustand. Den Zustand überhaupt… Denn wenn es irgendwann einen Zustand geben soll, den die Leute, den Ich als Endzustand, als Perfektion begreifen soll, so wäre das das Ende des sich immer verändernden und frei entwickelnden Lebens. Es wäre „die beste aller Welten“, wie sie sich uns heute schon präsentiert.
Es ist nicht so, dass ich mir keine perfekte Gesellschaft denken kann; ich will es nicht. Weil jeder Zustand, der mich als passives will – als blosses Mitglied – meine Aktivität ausschliesst. Und wenn einmal einer daher kommt und sagt: „das, was wir euch anbieten, ist die Freiheit“, so sagen wir: Die Freiheit kann nicht gegeben werden, sie ist das, was wir uns nehmen, und erhebt sich meilenweit über jedes platte Modell.