Aufruhr

Gesellschaft oder Gefängnis

Februar 2013

Eine der offensichtlichsten Charakteristiken der heutigen Gesellschaft ist unserer Ansicht nach die immer durchdringendere Präsenz der Kontrolle in jedem Bereich des sozialen Lebens. Kontrolle verstanden als die Fähigkeit einer Gesellschaft, die für unangepasst gehaltenen Verhaltensweisen ausfindig zu machen und zu bestrafen und weitere Zuwiderhandlungen zu verhindern, und somit die eigene Stabilität sicherzustellen. Was sich im Vergleich zur Vergangenheit verändert hat, ist nicht die Verhärtung der Gesetze, sondern die Fähigkeit, ihnen Respekt zu verschaffen.

Diese soziale Kontrolle wird durch unterschiedliche Faktoren ermöglicht, die von der technologischen Entwicklung über die Mentalität und die Kreierung der Identität des Bürgers bis zur Verwaltung der Städte reichen (welche eine weitere Vertiefung verdienen, die wir vielleicht in einem anderen Artikel machen werden).

Die Kontrolle in unserer Gesellschaft kann die verschiedensten Formen annehmen, von der Einsammlung von Informationen bis zur rohen Repression der für unangepasst gehaltenen Verhaltensweisen, bis zur subtileren Suche nach Zustimmung. Wenn wir von Kontrolle sprechen, ist die Verantwortung also nicht in einer einzelnen Struktur zu suchen, sondern vielmehr in der gesamten Gesellschaft und in jedem ihrer Organe (Bürokratie, Polizei, Kontrolleure, Privatdetektive, Politiker und soger einfache Bürger).

Die Ausübung der Kontrolle geschieht also nicht nur durch die Anwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel, um mehr oder weniger offensichtlichen sozialen Zwängen, wie beispielsweise den Gesetzen, Respekt zu verschaffen, sondern auch durch die Prävention von Verhaltensweisen, die nicht an das gute Funktionieren der Gesellschaft angepasst sind, beispielsweise durch die Erpressung der Arbeit: Es gibt keine Gesetze, die zur Arbeit verpflichten, doch, ohne zu arbeiten, wird für viele das tägliche Überleben unmöglich.

Wer sich diesem Regime verweigert oder es schlicht nicht aushalten kann, oder wer rebelliert, wird mit weiteren Einschränkungen, mit (durch Arbeiten) zu bezahlenden Geldstrafen bestraft, oder in einigen Fällen in einem wahrhaftigen Gefängnis weggesperrt.

Unsere Welt ähnelt also immer mehr einem Gefängnis, einer kontrollierten Umgebung, in der das Leben, das uns erlaubt wird, und zu dem wir bestimmt sind, ein Leben aus Arbeit, Ablenkung und Wohnung ist, das Ganze innerhalb der Grenzen der Gesetzlichkeit, die von der Gesellschaft selbst festgelegt wurde. Wir befinden uns in einem Gefängnis, in dem die Stunden des Hofgangs in Wochenenden, Freitagen und Ferienwochen pro Jahr gezählt werden, in dem sich die Isolation in unseren Beziehungen mit anderen zeigt, die durch den enormen Gebrauch von Fernkommunikationsmitteln distanziert erlebt werden, welche nicht so sehr gebraucht werden, um geografische Distanzen zu überwinden, sondern um existenzielle Schranken zu überwinden, und in dem die Mauern und Gitterstäbe vom alltäglichen Trott geschaffen werden, der uns zur Frequentierung derselben Orte und zur Wiederholung derselben Strecken zwingt.

Um sich der Existenz der Mauern und der unsichtbaren Ketten dieses Gefängnisses bewusst zu werden, so genügt es, (freiwillig oder unfreiwillig) auf der falschen Seite ihrer Gesetze und ihrer Moral zu stehen, oder sich zu weigern, sich vor der Erpressung der Arbeit zu beugen, um sogleich ihren repressiven Apparat auszulösen.

Wenn die Arbeit, der Konsum und die Wohnung im Zentrum unserer Gesellschaft und unserer Lebensweise stehen, dann können wir die Hypothese aufstellen, dass sich auch die Kontrolle hauptsächlich in eben den physischen Orten der Arbeit, des Konsums und der Wohnung konzentriert, sowie auf den Strecken zwischen diesen Orten (öffentlicher Verkehr). Es wird also einfach, einige unserer freiwilligen und unfreiwilligen „Gefängniswärter“ zu identifizieren, da sie es sein werden, die uns in diesen Bereichen unseres Lebens kontrollieren: die Chefs und die Arbeitskollegen, die unsere Produktivität in den Stunden kontrollieren, die wir aufbringen müssen, um unser Überleben zu verdienen; die Kontrolleure in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die zu dem Übel, jeden Tag arbeiten zu müssen, den Witz hinzufügen, uns bestrafen zu wollen, wenn wir uns weigern, zu bezahlen, um an die Orte unserer Ausbeutung zu gelangen; die Familie als Institution, einer der Stützpfeiler der Gesellschaft, die die Reproduzierung der sozialen Werte gewährleistet und Druck ausübt, damit wir nicht auf dem „schlechten Weg“ der Subversion landen; die Privatdetektive in den Supermärkten, die uns an einer Umverteilung der Reichtümer hindern und sicherstellen wollen, dass unser Geld in den Taschen unserer Ausbeuter landen.

Ohne die Polizei zu vergessen, den Garanten der Gesetze des Staates, der sich darum kümmert, uns in jedem anderen Bereich unseres Lebens zu kontrollieren.

All dies sind einige der „Gefängniswärter“, mit denen wir uns konfrontiert sehen, wenn wir eine wirklich freie Gesellschaft kreieren wollen, eine Gesellschaft ohne Kontrolle, in der jeder für sich selbst und für die eigenen Entscheidungen verantwortlich ist, ohne von anderen kontrolliert werden zu müssen. Und von eben diesen müssen wir uns entledigen, wenn wir das soziale Gefängnis zerstören und den Weg der Freiheit einschlagen wollen.


Anonym veröffentlicht in "Aufruhr - Anarchistisches Blatt", Zürich, Nummer 4, Jahr 1;