#title Gefangene der Geschichte #author Aufruhr #SORTtopics Geschichte, Anarchie, Organisierung, Gesellschaft, Fortschritt, Evolutionismus, Projekt, Effizientismus, #date 15. Oktober 2013 #source [[http://aufruhr.noblogs.org/post/2013/12/05/nummer-11-15-oktober-2013/#gefangene][http://aufruhr.noblogs.org/post/2013/12/05/nummer-11-15-oktober-2013/#gefangene]] #lang de #pubdate 2014-12-16T13:19:40 #notes Anonym veröffentlicht in "Aufruhr - Anarchistisches Blatt", Zürich, Nummer 11, Jahr 1; Eine der häufigsten Kritiken, die uns unsere Gegner vorwerfen, ist, dass die Anarchie unter dem gegenwärtigen Stand der Dinge nicht realisierbar sei. Es mag euch vielleicht komisch erscheinen, gesagt von Anarchisten, aber bis hierhin haben wir nichts einzuwenden. Es handelt sich im Grunde um keine unfundierte Kritik: Es wäre ein Fehler – der leider auch von vielen Anarchisten gemacht worden ist –, zu denken, dass eine „anarchistische“ Organisation der heutigen Gesellschaft, konstruiert nach dem Ebenbild der Herrschaft, nicht bloss möglich, sondern, mehr noch, sogar wünschenswert sei. Lassen wir unsere Gedanken einen Moment ins Absurde schweifen: Wenn, aus irgendeinem mysteriösen Grund, von einem Tag auf den anderen, Bosse, Politiker, hierarchische Organisationen, usw., verschwinden würden… als wäre dies alles schlicht aus der Gesellschaft herausgeschnitten worden. Das Ganze wäre offensichtlich unmöglich, ohne dass die Gesellschaft selbst weiter verändert werden müsste, um sie so einzurichten, dass es tatsächlich möglich ist, sie auf anarchistischen Grundlagen zu organisieren, in anderen Worten: über die blosse Frage der Selbstverwaltung hinaus, müsste man entscheiden, welche in der heutigen Gesellschaft bestehenden Strukturen mit der Freiheit des Menschen vereinbar sind, und welche nicht. Die Strukturen, die nicht mit der Freiheit vereinbar sind, müssten demnach verlassen oder zerstört werden. In diesem Fall würde die Gesellschaft selbst als etwas völlig anderes resultieren als die Welt, in der wir heute leben, und es würde sich nicht einfach um die Organisation der heutigen Gesellschaft auf anarchistischen Grundlagen handeln. In einer Gesellschaft ohne Privateigentum, ohne Repression, ohne Hierarchien, basierend auf der Solidarität, können wir uns da die Existenz von Polizei, Banken, Versicherungen, Bürokratie, Atomkraftwerken, Gewerkschaften oder Waffenfabriken vorstellen? Beispiele gäbe es hunderte. Aus diesem Grund wäre eine anarchistische Gesellschaft schlichtwegs etwas anderes als eine blosse Änderung der Organisationsweise. Aus diesem Grund ist die Anarchie, unter dem gegenwärtigen Stand der Dinge, nicht möglich. Aber woraus entsteht dieses Missverständnis? Dieses Missverständnis entsteht aus einer fortschrittlichen Auffassung der Menschheitsgeschichte. Eine Auffassung der Welt, wonach die Geschichte des Menschen immer weiter von einem Zustand der Barbarei zu einem Zustand grösserer Freiheit und Zivilisation voranschreitet. Diese Auffassung der Geschichte ist in den vergangenen Jahrhunderten von vielen Denkern ab der Aufklärung entwickelt worden, und sie ist auch von vielen Anarchisten und vielen anderen Revolutionären angeeignet worden, welche – mit dem Fall der Monarchie in Europa, der allgemeinen Entwicklung einer grösseren Toleranz in der Gesellschaft, der Entwicklung von neuen Produktionsmitteln, die fähig sind, gleichzeitig die Produktion zu erhöhen und die menschliche Anstrengung zu verringern – in einem präzisen historischen Moment lebten, kurz gesagt: in einem Klima von Optimismus gegenüber den neuen Möglichkeiten, die von der Wissenschaft und der neuen demokratischen Gesellschaft eröffnet wurden. Diese Anarchisten und Revolutionäre sahen in der Entwicklung der Wissenschaft eine mögliche Befreiung von der Arbeit und folglich von der Ausbeutung, und in der Entwicklung der demokratischen Gesellschaft eine Evolution in Richtung der zukünftigen anarchistischen Gesellschaft. Die Geschichte und der Fortschritt wurden somit als positive Kräfte betrachtet, die zur künftigen Befreiung des Menschen führen. Unnötig, zu sagen, dass man heute, einige Jahrhunderte Geschichte, Fortschritt und Demokratie später, unschwer feststellen kann, dass all diese Versprechungen und Illusionen völlig ungerechtfertigt waren, und sind. Die Wissenschaft und die Technik haben uns nicht von der Arbeit und von der Ausbeutung befreit, im Gegenteil haben sie sich als Werkzeuge zur Reproduzierung und zur Fortführung der Ausbeutung herausgestellt, und dies nicht, weil sie falsch eingesetzt wurden, sondern weil sie von denselben Ausbeutungslogiken erzeugt wurden. Die demokratische Gesellschaft war keine Evolution in Richtung der Freiheit, und sie ist es noch nie gewesen, sie war im Gegenteil eine Anpassung der Macht an die neuen sozialen Bedingungen, eine Umwandlung in Richtung von einer anderen Form von Herrschaft. Wenn wir wirklich in Richtung einer freien Gesellschaft voranschreiten wollen, dann müssen wir von der Feststellung des ideologischen Schwindels des Fortschritts ausgehen, von der Feststellung, dass es keinen beruhigenden Mechanismus gibt, der fähig ist, uns ohne unser Einwirken in Richtung dieser Gesellschaft zu bringen, schliesslich, um es anders auszudrücken: wenn wir neue Horizonte erreichen wollen, dann müssen wir beginnen, uns nach ihnen auf den Weg zu machen, denn nichts und niemand wird es für uns tun, ohne Angst vor den Hindernissen, die sich vor uns auftun könnten, wie unüberwindlich sie auch scheinen mögen. Sowie es, um sich auf den Weg zu machen, notwendig ist, sich zu orientieren, zu verstehen, in welcher Richtung sich das befindet, was man sucht – sonst könnten wir leicht vom Weg abkommen, oder schlimmer noch, im Kreis gehen –, ist es notwendig, das Terrain zu kennen, auf dem wir uns momentan befinden, um seine Gefahren und seine möglichen begehbaren Wege zu erkennen, die nötige Ausrüstung zu haben, die zur Unternehmung dieser Reise dient, und braucht es nicht zuletzt das eigentliche Sich-Bewegen, denn ohne Bewegung, auch auf die Gefahr hin, Fehler zu begehen, bleibt das Ganze nur ein Abschweifen der Gedanken. Um in Richtung einer freien Gesellschaft voranzuschreiten, müssen wir wissen, nach was wir streben wollen, müssen wir die Welt kennen, in der wir heute leben, um die Möglichkeiten, die potenziellen Komplizen darin erkennen zu können, um unsere Feinde (die sich oft unter dem Gewand des Komplizen präsentieren) und vor allem die Fallen, die uns gestellt werden, entlarven zu können, müssen wir ein Projekt haben – sprich: müssen wir wissen, wie es ausgehend von den gegenwärtigen Bedingungen möglich sein kann, eine tatsächliche Veränderung in Richtung von dem, was wir uns wünschen, eine Brücke zwischen der Gegenwart und der zukünftigen anarchistischen Gesellschaft, herbeizuführen –, auch wenn dieses Projekt partiell und nicht perfekt, im Laufe seiner Realisierung zu verfeinern ist. Nicht zuletzt müssen wir uns die nötigen Werkzeuge verschaffen, um dieses Projekt voranzutragen. Wenn wir von Projekt sprechen, müssen wir sicherlich einerseits sehr achtsam darauf sein, nicht in eine effizientistische Logik zu fallen, das heisst, nicht die Bewertung unserer Aktion auf im Voraus festgelegte, unmittelbare Resultate zu reduzieren, und andererseits nicht in den Spontaneismus zu fallen, in eine mangelnde Bestimmung von dem, was zu tun ist, um ein gewisses Ziel zu erreichen. Ohne eine Projektualität könnte sich unser Agieren auf ein reines Zwangsverhalten reduzieren, auf ein Reagieren auf äussere Stimulationen und auferlegte Termine, auf ein um sich Schlagen in alle Richtungen, ohne irgendwohin zu gehen. Deshalb glauben wir, dass es für die Feinde dieser Welt wichtig ist, eigene Projektualitäten zur Umwälzung dieser Welt auszuarbeiten.