Seien wir doch zufrieden. Wieso uns unnötige Anstrengungen machen? Wieso uns mit der Welt auseinandersetzen, in der wir leben? Wieso die Sicherheit der Alltagsroutine aufgeben, und für die Freiheit kämpfen, obwohl sie uns nur Ungewisses, nur Unbekanntes zu bieten hat, obwohl wir doch nicht einmal wissen, wie diese Freiheit aussehen soll?

Diese Dinge, die gehören doch der Vergangenheit an. Das sind Anstrengungen, die heute nicht mehr in Mode sind. Wenn der Kampf für die Freiheit einst Menschen mit Leidenschaft erfüllte, so existiert er heute vor allem noch als Karikatur seiner selbst, in Filmen und in Büchern – oder als verstarrte Ideologie. Und Ausserdem, heute sind wir doch frei. Heute, hier in der Schweiz, haben wir doch alle die Möglichkeit, unsere eigene kleine Welt so einzurichten, wie es uns passt. Selbst jene, denen diese Welt widerstrebt, haben die Möglichkeit, ihre kleine alternative Alltagsrealität, ihr „Mileu“, ihre „Szene“ einzurichten, worin sich all das vergessen und verdrängen lässt, was einem doch eigentlich so widerstrebt. Geht man der Konfrontation aus dem Weg, eckt man auch nicht an. Dies scheint die Devise der meisten Leute zu sein. Doch eben hier liegt der Kern des Problems: die Freiheit lässt sich nur ertasten, wenn wir die Konfrontation suchen, wenn wir willentlich an den Grenzen rütteln, die uns aufgezwungen werden. Denn wer sich nicht bewegt, spührt auch seine Ketten nicht.

Die soziale Befriedung, der relative materielle Wohlstand und die demokratische Ideologie lassen uns vergessen, dass wir in Wirklichkeit, heute genauso wie früher, hier genauso wie anderswo, täglich der Möglichkeit beraubt sind, frei über unser Leben zu entscheiden. Dass wir in einer Gesellschaft leben, die in Wirklichkeit mit Gefängnissen, Polizisten und Autoritäten aller Art dafür sorgt, uns in Zaum zu halten, damit wir nach Regeln funktionieren und einer Wirtschaft dienen, die zugunsten der Reichen und der Machthabenden errichtet wurden. Mit Brot und Spielen liessen wir uns zufriedenstellen, so sehr, dass es scheint, wir hätten die Fähigkeit verloren, uns überhaupt noch vorzustellen, geschweige denn zu ertasten, was jenseits des Bestehenden möglich sein könnte, was Freiheit sein könnte. Und so haben wir aufgehört, diese alltägliche Freiheitsberaubung als solche zu empfinden.

Nun, wie uns auch die Geschichte der Menschheit lehrt, ist es leider selten so, dass das Verlangen nach Freiheit von selbst soweit anwächst, bis es die Unterdrückung in ihren verschiedenen Gesichtern erkennt und gegen sie in Aufstand tritt, sondern meistens so, dass die Unterdrückung soweit anwächst, bis der Aufstand zur Notwendigkeit wird. Heute können wir in vielen Ländern sehen, wie die Situation der ärmeren Schichten zunehmends untragbarer wird, wie sich bedeutende soziale Konflikte abzuzeichnen beginnen und die Befriedung langsam aber sicher bröcklig wird. In Griechenland folgen Revolten auf Revolten, in England explodieren die sonst so ruhigen Städte plötzlich vor Wut, in ganz Spanien gehen die Unzufriedenen massenhaft auf die Strassen, während die vergangenen Aufstände auf der anderen Seite des Mittelmeeres die Rebellen auf dieser Seite ermutigten. Der rasche Abbau der „sozialen Einrichtungen“, mit denen sich die Regierungen während der letzten Jahrzehnte den sozialen Frieden erkauften, lässt die Wohlfahrtsillusionen dahinschmelzen und führt vielen wieder deutlich vor Augen, worauf diese Gesellschaftsordnung nach wie vor basiert: auf der bedingungslosen Ausbeutung der meisten zum Profit von wenigen. Die Konfrontation mit den Grenzen, die sich immer mehr verengen, macht vielen Leuten wieder deutlich, was ihre Rolle in diesem Herrschaftssystem ist; inwiefern sie noch immer blosse Sklaven der Wirtschaft jener sind, die von ihr profitieren (früher nannte man sie Bourgeoisie); inwiefern jedes Stückchen Freiheit, das sie zu besitzen glaubten, nur eine Gefälligkeit der Bosse und der Regierenden war, die zugestanden wurde, solange es ihre Privilegien nicht in Gefahr brachte. Nun aber, da ihre Wirtschaft krank zu sein scheint, werden die Zügel angezogen und diejenigen, die sowieso schon unten durchgehen, sollen für sie den Gürtel noch enger schnallen.

Wie oben erwähnt, scheint es auch diesmal die Verschlechterung der Bedingungen, das Anwachsen der Unterdrückung zu sein, welche das Konfliktpotenzial ansteigen lassen. Aber sind die Bedingungen nicht sowieso schon schlecht genug, um immer und überall in Aufstand zu treten? Würde es nicht sowieso schon genügen, dass wir, auch hier in der Schweiz, in einer Welt leben, in der uns jeder falsche Schritt in eine Knastzelle bringen kann, in der uns ein fehlender Fetzen Papier gefesselt in ein Ausschaffungsflugzeug führen kann, in der uns eine unbeugsame Haltung Knüppelschläge der Polizei einkassieren lässt, in der wir unsere Lebenskraft einem Boss verkaufen sollen, um selbst gerade so über die Runden zu kommen, während seine Taschen sich füllen? Leben wir nicht sowieso schon in Städten, in Wohnblöcken, die uns ersticken? Ist die Revolte nicht sowieso, hier und jetzt, eine Lebensnotwendigkeit, eine Grundvoraussetzung, um sich in dieser entfremdeten Welt wieder selber zu spüren?

Wir denken nicht, dass der Kampf für die Freiheit ausschliesslich von der Verschlechterung der Überlebensbedingungen ausgehen kann, sondern dass er von unserer Idee von Freiheit ausgehen muss, die dem Funktionieren an sich dieser Welt entgegensteht. Erst wenn wir es schaffen, aus dem oben beschriebenen „Gesetz“ der Geschichte auszubrechen, und unsere Revolte nicht mehr auf eine blosse Notwendigkeit, sondern auf eine Idee, auf eine Vorstellung von dem stützten, was jenseits der gegebenen Grenzen möglich wäre, können wir der Freiheit wirklich näher kommen. Denn die Bedürfnisse das Bauches, die wirtschaftlichen Nöte, können durchaus auch anders angegangen werden. Es gibt immer solche, die ein alternatives Herrschaftssystem zu bieten haben. Es gibt auch den autoritären Kommunismus und den Staatssozialismus. Die Freiheit aber stösst sich an jeder Form von Autorität. Freiheit bedeutet für uns Anarchie, also die Abwesenheit von jeglicher Form von Herrschaft.

Darum ist es unsinnig, darüber zu debattieren, ob es hier in der Schweiz weniger Gründe gibt, um zu revoltieren, als in den Ländern um uns herum. Wenn Freiheit nur eine Welt bedeuten kann, in der alle frei sind, eine Welt also, in der wir ohne Gefängnisse, Autoritäten, Beamte und Gesetze auskommen, in der wir Geld und Wirtschaft beseitigen, damit Solidarität und gegenseitige Hilfe sich entwickeln können, dann ist es leicht, zu erkennen, inwiefern wir auch hier in der Schweiz alles andere als frei sind. Wenn die Herrschaftsstrukturen, die diese Freiheit verunmöglichen, in konfliktreicheren wie in befriedeteren Ländern dieselben sind, dann muss die Unterdrückung, in ihren Strukturen und Menschen, auch hier in der Schweiz in Angriff genommen werden.

Die Frage, inwiefern man diese Unterdrückung empfindet, inwiefern es einem die Anstrengung wert ist, sich selbst zu befreien, ist eine Sache. Nur ist es meistens so, dass dies Hand in Hand geht mit den Verleumdungen, dem Geschrei, den Anklagen, den Empörungen gegenüber den Rebellionen, die sich immer wieder auf verschiedenste Weisen ausdrücken, manchmal schwieriger zu entziffern, manchmal klar wie die Barrikaden. Denn wer den Konflikt umgeht und seinen Frieden bewahren will, sieht sich durch die Revolten der anderen gestört. Die soziale Befriedung bringt die Menschen somit dazu, sich willentlich oder unbewusst auf die Seite der Normalität, der bestehenden Ordnung, und somit auf die Seite der Unterdrückung zu stellen, die sie für den grössten Teil der Menschen bedeutet. Im Namen der eigenen Fügsamkeit und Unterwerfung spricht man den anderen das Recht ab, unfügsam und ununterworfen zu sein. Während man selbst den Geschmack für Freiheit verloren hat, verlangt man von allen, die ihn noch zu schätzen und zu kosten wissen, dieses fade Leben zu akzeptieren.


Aber es gibt Menschen, die bewusst oder spontan, eine Unbeugsamkeit, eine Empfindung der eigenen Würde entwickeln, die mit dieser Welt unvereinbar ist; Menschen, die ihr Verlangen nach Freiheit nicht in dem Rahmen einsperren können, den uns die Institutionen und Autoritäten vorschreiben; die nicht akzeptieren werden, ihren Horizont auf den Boden vor den eigenen Füssen zu beschränken, weil man uns zwingen will, mit gebeugtem Kopf durchs Leben zu gehen. Und unter diesen Menschen, die die soziale Befriedung gewaltsam zurückweisen, können Komplizenschaften entstehen, in einem freien Zusammenspiel von Revolten.