Aufruhr
Die Wirrungen in Ägypten
Die Revolution in Ägypten sieht sich heute eindeutig mit einer komplexen Situation konfrontiert. Zu komplex, um sie mit den spärlichen und ungenauen Informationen der hiesigen Presse zu analysieren. Sicher ist aber, dass die Machtübernahme der Armee, mit dem Versuch, den Konflikt in Pro-Armee und Pro-Mursi Anhänger zu kanalisieren, jener revolutionären Bewegung, die weder das eine noch das andere Regime will, einen grossen Stein in den Weg legte.
Dennoch glauben wir sicherlich nicht, dass alle, die vorher gegen das Mursi-Regime kämpften, nun das Militärregime gutheissen. Die Erinnerungen an die Rebellen, die nach dem Sturz von Mubarak von demselben Militär, das heute heuchelt, auf der Seite des Volkes zu stehen, erschossen wurden, sind noch zu lebendig. Ausserdem ist vielen klar, dass es der Armee um nichts als Machtinteressen geht (sie kontrolliert in Ägypten 40% der Wirtschaft und stellt somit lange schon eine Art Paralellmacht dar). Nur wird der Kampf gegen das Regime momentan von den Moslembrüdern dominiert, die Mursi zurück an die Macht wollen. Und diejenigen, die weder Mursi, noch das Militär an der Macht wollen, werden kaum an Seiten der Moslembrüder kämpfen wollen.
Ein geschickter Schachzug also, um das Fortschreiten der Revolution zu lämen. Dennoch, die Erfahrungen dieser mehr als 2 Jahre der Auflehnung, zuerst gegen Mubarak, dann gegen das Militärregime, und dann gegen Mursi, haben viele Menschen in Ägypten verändert. Eine Zeit, die nicht nur von Konfrontationen auf den Strassen, sondern auch von unzähligen Diskussionen und individuellen Befreiungsakten gezeichnet war, die auch mit patriarchalen, religiösen und moralischen Unterdrückungsformen brachen. Eine Zeit, in der die unterdrückende Funktion der Religion, auch durch die gnadenlose Politik der Moslimbrüder, begann, immer deutlicher zu werden, und manche auch begannen, die Religion an sich zu verwerfen. Aber vor allem eine Zeit, in der viele begannen, zu bemerken, dass keine Regierenden, sondern nur sie selbst, ihr Elend ändern können, und in der der Mythos der Politiker und der Führer, von denen das Heil kommen soll, zu zerbrechen begann.
Wir denken nicht, dass diese Erfahrungen so schnell verschwinden werden, und wir hoffen, dass sich die Revolution in Ägypten einen Weg durch die aktuellen Wirrungen bahnen wird, jenseits der Armee, der Islamisten, und egal welchen Regimes…
An dieser Stelle möchten wir die Übersetzung aus dem Arabischen eines Flugblatts abdrucken, den einige ägyptische Anarchisten noch vor der Machtübernahme der Armee vom 30. Juni auf Demonstrationen verteilten. Es richtete sich vor allem kritisch gegen die „Tamarrod“ Kampagne, welche die Massenproteste gegen das Morsi Regime organisierte, und zeigt auf, dass es genauso auch Gegner des Morsi-Regimes gab, die sich gegen das Regime als Ganzes, und nicht nur gegen seine Spitze richteten:
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„Die umstrittene Annahme, dass die „Tamarrod“ Kampagne fähig sein könnte, das System zu verändern oder zu stürzen, ist eine Illusion, der nur die Erfinder der Kampagne anhängen. Wenn wir etwas nachdenken, sehen wir, dass die „Tamarrod“ Kampagne nicht darauf ausgerichtet ist, das Regime zu Fall zu bringen oder zu verändern. Es ist eine Kampagne, um die Leute davon zu überzeugen, dass das Problem nur in der Spitze des Regimes liegt, und nicht in seiner ganzen Struktur und seinem Funktionieren. Die Kampagne ist nichts anderes als das Vorbringen der Forderungen der Elite – die in den Oppositionsmedien ein Sprachrohr finden – oder ein Disput zwischen den politischen Kräften, die – zwischen den Wendungen des Konflikts – auf den Parlamentsstühlen vergassen, dass es bei der Rebellion gegen das Regime nicht um eine Veränderung seiner Spitze geht. Die Spitze wird niemals die unterdrückende Struktur verändern, die in den meisten Schichten der Gesellschaft herrscht.
Die „Tamarrod“ Kampagne beschwert sich über den Kopf des Regimes. Das System wird aber nicht durch seine Spitze gesteuert, sondern durch ein Netz von Interessen, die die Spitze des Systems in einer heiteren Inszenierung ausrichten, die man „Demokratie“ nennt. „Tamarrod“ ist nicht gegen das Regime, denn diese Kampagne rebelliert nicht gegen die sozialen Verhältnisse, die dieses System kreiert haben. Rebellion bedeutet, eben diese Verhältnisse zu bekämpfen, die dieses System kreiert haben und es fortbestehen lassen.
Das Regime schert sich nicht um die Krisen, die die Nicht-Privilegierten immer tiefer ins Elend tauchen; um sich auf den Schutz der Profite und auf das Anhäufen von Geld für die Profitierenden dieses Systems zu konzentrieren.“