Aufruhr
Die revolutionäre Frage
Die revolutionäre Frage, im anarchistischen Sinne verstanden, das heisst, die Frage des menschlichen Emanzipationskampfes in Richtung Freiheit, ist im Verlaufe der Geschichte der Menschheit schon immer eine Konstante gewesen. In jedem Zeitalter und in jeder Gesellschaft gab es schon immer Individuen, die, alleine oder mit anderen, gegen die verschiedenen Formen der Unterdrückung und Herrschaft kämpften. Wenn dieser Kampf schon immer eine Konstante in der Geschichte gewesen ist, so waren es jedoch nicht die Formen, die Inhalte und die Bestrebungen, die er annahm. Dies aus dem schlichten Grund, dass die Unterdrückungsformen, die die Herrschaft annahm, obwohl auch sie schon immer eine Konstante gewesen ist, nie dieselben waren.
Die Beispiele können hunderte, wenn nicht tausende sein, und wir werden hier nur einige der bedeutenderen und bekannteren zitieren.
Schon in der Antike, zur Zeit der Römischen Republik, gab es Revolten von Sklaven und Bauern, die sich, trotz ihrer unterschiedlichen sozialen Bedingungen, auf dem gemeinsamen Terrain des Elends, der Ausbeutung und des Verlangens nach Freiheit zusammenfanden und gegen die römische Republik in Aufstand traten, mit dem Ziel, sie zu zerstören. Diese Revolten nahmen die Form von bewaffneten Insurrektionen an, welche die Existenz selbst der Republik gefährdeten, da die Bestrebungen dieser Individuen mit jenen der römischen Herrschaft unvereinbar waren.
Im Mittelalter nahmen die Freiheitsbestrebungen oft religiöse Formen an. Man sah die ketzerischen Bewegungen und die Rebellionen der Millenaristen im Mittelalter des katholischen Absolutismus, wobei, im Namen eben der Prinzipien der christlichen Religion, die religiöse Macht der Kirche und die feudale Macht der Herren angegriffen wurden, während man die Ländereien entflammte und unabhängige Gemeinschaften kreierte, die auf Prinzipien von Gleichheit und Teilen basierten.
Im Kolonialzeitalter, während dem Sklavenhandel, gab es nicht selten Fälle, in denen sich schwarze Sklaven entschieden, sich mittels bewaffneter Insurrektionen gegen ihre Schinder und gegen die Kolonialmächte aufzulehnen, um der eigenen Ausbeutung ein Ende zu setzen und ihre Freiheit zu erobern.
Auch der Beginn der industriellen Revolution war kein schmerzloser Übergang in der Geschichte des menschlichen „Fortschritts“. In den Ländern, die als „fortgeschrittener“ betrachtet wurden, wie beispielsweise in England, werden die Aufstände gegen die neuen Maschinerien und die Brandstiftung der Industrien durch die ersten Fabrikarbeiter (Ludditen genannt) zu einem verbreiteten Phänomen und zu einer Gefahr für die Entwicklung selbst der Industrie. So sehr, dass die Staaten auf die bewaffneten Kräfte zurückgreifen mussten, um diese Aufstände im Blut zu ersticken. Diese Menschen revoltierten gegen die neue Arbeitsbedingung, die von den Maschinen geschaffen wurde, und gegen den damit zusammenhängenden Autonomieverlust, der während der industriellen Revolution von der Fabrikarbeit und vom Leben in den Metropolen verursacht wurde, während sie die neuen Bedingungen der industriellen Ausbeutung zurückwiesen. Diese Revolte, die auch unsere Breitengrade erreichte, gipfelte in der Schweiz in den Ereignissen von Uster (siehe Artikel „Der Brand von Uster“).
Das Entstehen der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, ein Entstehen, das, wie wir gerade gesehen haben, eine schmerzhafte Geburt war, und die falsche Zentralität, die ihr von einem Teil der Revolutionäre (besonders von den Marxisten, aber auch von verschiedenen Anarchisten) zugeschrieben wurde, hat die revolutionäre Frage auf radikale Weise verändert. Wenn es vorher um einen Kampf gegen die Gesellschaft der Unterdrückung und für die Freiheit von allen ging, hat sie sich nun für viele fast ausschliesslich in einen Kampf für eine neue Verwaltung der Produktionsmittel von Seiten der Produzierenden selbst verwandelt. Es geht nicht mehr darum, sich eine andere Welt vorzustellen, sondern darum, die Verwaltung der Produktion der bestehenden Welt zu ersetzen, indem man von jener der Bosse zu jener der Produzierenden übergeht. Die russische Revolution in ihren Anfängen und die spanische Revolution sind eine Repräsentation dieser Bestrebungen nach einer Änderung der Verwaltung: die erste durch die Erschaffung der Sovjets, Versammlungen von Arbeitern und Bauern, die die Produktion und den Konsum der Gesellschaft verwalten sollten, die nach der Machtergreifung der Bolschewisten schnell zu Organen der Parteidiktatur degenerierten; und die zweite durch die Kollektivierung von Eigentum und Produktionsmitteln, die von den Anarchisten auf dem Land und in den Städten vorangetragen wurde. Ohne der Wichtigkeit dieser historischen Erfahrungen irgendetwas abzusprechen, sind wir nicht damit einverstanden, die Frage des Kampfes für die Freiheit auf die blosse Frage der Kontrolle der Produktionsmittel zu reduzieren: wenn wir damit einverstanden sind, dass wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der die Mittel von den Reichen und Mächtigen verwaltet werden, dann heisst das nicht, dass die Produktionsmittel an sich nicht infrage gestellt werden dürfen. Schliesslich befinden wir uns in einer Gesellschaft, deren Strukturen, deren Produktionsmittel, und, kurz gesagt, deren ganze soziale Organisation das Ergebnis von Jahrhunderten der Unterdrückung und der Herrschaft sind, eine Herrschaft, die man nicht einfach mit einem Schwammstrich wegwischen kann, wenn diese einmal von den Produzierenden kontrolliert werden. In einfachen Worten: diese Produktionsmittel können nicht als neutral, und somit nicht als automatisch der Freiheit der Menschen dienlich betrachtet werden, wenn sie in die Hände der Produzierenden fallen. Die Frage, die wir uns, unserer Meinung nach, stellen müssen, lautet: Was ist möglich, für die Ziele der Emanzipation und der Freiheit der Menschen zu benutzen und aufrechtzuerhalten, und was hingegen kann nur Herrschaftsmechanismen reproduzieren? Unserer Ansicht nach kann, wenn wir in einer freien Gesellschaft leben wollen, wenig oder nichts von dieser Gesellschaft bewahrt werden.
Dieser Widerspruch, der Widerspruch zwischen den Vorschlägen vieler Revolutionäre, die Verwaltung der Gesellschaft zu ändern, und der Realität einer Gesellschaft, die für viele Individuen schlichtwegs untragbar ist, wird heute in den Revolten und Wutexplosionen offensichtlich, die in der post-industriellen Welt immer geläufiger zu werden scheinen. Von den flammenden Wochen der französischen Banlieus zu den Unruhen von London, von den spontanen Revolten in Zürich der vergangenen Jahre zu den Wutexplosionen dieses Sommers in Schweden. Der gemeinsame Faden dieser Revolten ist eine gewisse Irrationalität, die Tatsache, dass sie fast immer von unvorhersehbaren und emotionalen Gründen ausgehen (oft von Morden von Seiten der Polizei), und dass sie, jenseits der Wut und des Angriffs auf einige unterdrückerische Strukturen (was wir immer wertschätzen können), an sich nichts vorzuschlagen und nichts zu fordern haben. Obwohl diese Charakteristiken diese Revolten interessant machen, weil sie von der Macht und ihren Dienern nicht wieder eingegliedert werden können, ist dieser quasi rein negative (im Sinne einer Negierung der heutigen Gesellschaft) und nihilistische Charakter sicher eine der grossen Grenzen dieser Momente, die es schwierig machen, darin einen möglichen qualitativen Sprung in Richtung von etwas potenziell anderem, in Richtung von anderen Horizonten als das Bestehende zu sehen.
Die Negierung der heutigen Gesellschaft ist gewiss ein unumgänglicher Übergang auf dem Weg der Freiheit, eine Negierung, die nur durch die Zerstörung der Welt der Autorität geschehen kann, aber, wenn, wie ein alter anarchistischer Revolutionär sagte, „auch die Zerstörung eine erschaffende Leidenschaft ist“, dann wird es notwendig, dass sich Perspektiven und Horizonte mit ihr vereinen, wonach es zu streben gilt, um darüber hinaus gehen zu können, um die Türen zur neuen Welt der Freiheit aufzustossen. Dies ist, wofür wir Anarchisten kämpfen, und dafür werden wir immer an Seite von jenen stehen, die gegen diese Welt der Unterdrückung revoltieren.