Aufruhr

Der falsche Streitpunkt der Gewalt

27. November 2013

Die Frage, die ich behandeln will, ist eine alte und immer wieder diskutierte Frage, sowohl unter Anarchisten wie auch im Allgemeinen. Es geht um die Frage der Gewalt. Ich bin der Ansicht, dass die Unterscheidung in Gewalt und Gewaltlosigkeit im Grunde ein falscher Streitpunkt ist, der vor allem von vielen Missverständnissen genährt wird. Dieser Artikel will versuchen – sicherlich nur ansatzweise – einige dieser Missverständnisse zu klären.

Wir, als Anarchisten, sind für eine freie und zwangslose Gesellschaft, basierend auf der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe, und somit für die grösst mögliche Beseitigung der rohen Gewalt aus den sozialen Verhältnissen. Und eben aus diesem Grund sind wir Gegner des Kapitalismus und des Staates, der, unter Androhung und Anwendung der Gewalt (des Polizisten und gegebenenfalls des Soldaten), den Grossteil der Menschen dazu zwingt, sich von den Reichen und den Bossen ausbeuten zu lassen, beziehungsweise sich an die Gesetze zu halten, die diese Ausbeutung sicherstellen. Mittels der Gewalt verteidigt der Staat das heilige Eigentum, das heisst, beschützt er die Privilegien der Besitzenden und hält er die Armen davon ab, sich das zurückzuholen, was ihnen tagtäglich bei der Ausbeutung ihrer Arbeit gestohlen wird. Mittels der Gewalt setzt das Kapital seine wirtschaftlichen Interessen durch, auch ohne davor Halt zu machen, auf Kriege und Verheerungen (Umweltzerstörung, Atomkraft, etc.) zurückzugreifen. Dieser alltäglichen und ständigen Gewalt, der, unter den heutigen Bedingungen, Milliarden von Menschen ausgesetzt sind, als Auswuchs einer Gesellschaft, in der die Autorität und das Geld regieren, wollen wir so bald wie möglich ein Ende setzen.

Es wäre jedoch ein Irrsinn, ja geradezu ein fataler Fehler, zu glauben oder darauf zu hoffen, dass die Privilegierten, die von dieser Ordnung der Dinge profitieren, und die die Macht in ihren Händen halten, sich den Schaden zu Herzen nehmen, den sie für den Grossteil der Menschen bedeutet, und freiwillig auf ihre Privilegien verzichten würden. Darum sind wir überzeugt, dass es, um dieser sozialen Ungleichheit ein Ende zu setzen, eines Aufstands bedarf – von Seiten jener, die unter diesen Bedingungen leiden und sich, je bewusster sie sich dieser Bedingungen werden, umso dringender davon befreien wollen. Deshalb kämpfen wir für eine soziale Revolution, die sicherlich ein Anwachsen und eine Verbreitung dieses Bewusstseins bedingt, aber dennoch ohne jene aufständischen Bewegungen unmöglich bleibt, die fähig sind, das zu zerstören, was die systematische Gewalt, das heisst, den Staat und die Ausbeutung möglich macht. Dieser revolutionäre Prozess wird immer die konservativen und staatlichen Kräfte gegen sich haben und kann, so bitter wir dem auch gegenüberstehen mögen, nicht anders als gewaltsam sein.

Die Frage liegt also, aus diesem Blickwinkel betrachtet, jenseits des falschen Streitpunkts von Gewalt oder Gewaltlosigkeit. Die Gewalt ist ein Übel. Und dennoch ist sie, zur Befreiung von den gegenwärtigen Unterdrückungsbedingungen, notwendig, ja wäre es fatal, ihr zu entsagen, wenn wir nicht dafür mitverantwortlich sein wollen, dass die alltägliche und grössere Gewalt dieser Ordnung weiter fortdauert. Auch wenn ich jeden verstehen kann, der aus persönlichen Gründen auf jeglichen Gebrauch von Gewalt verzichten will: daraus ein universelles Prinzip zu machen, bedeutet, den Ausgebeuteten und Unterdrückten das einzige Mittel abzusprechen, um ihrer Bedingung wirklich ein Ende zu setzen.

Betrachten wir die Frage unter einem anderen Aspekt. Im Grunde läuft die Position der meisten sogenannten „Gewaltlosen“ darauf hinaus, die Legitimität des Gebrauchs von Gewalt auf die äusserste Notwendigkeit, auf die Verteidigung gegen einen unmittelbaren und materiellen Angriff zu reduzieren. Wenige gehen soweit, zu behaupten, man solle sich lieber erschiessen lassen, als zurückzuschlagen – abgesehen von irgendwelchen christlichen Märtyrern vielleicht.

Doch, wenn wir davon ausgehen, dass die Gewalt einzig als Verteidigung gegen einen materiellen Angriff legitim ist, befindet sich dann derjenige, der sich in einer Situation von Ausbeutung und Unterdrückung befindet, der, aufgrund eben dieser Situation, einer permanenten Drohung ausgesetzt ist, nicht immer im Zustand von legitimer Verteidigung? Und, im Wissen, dass der Angriff oft die beste Verteidigung ist, wieso sollte er erst, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht, wenn die Repression des Gegenübers bis zum Äussersten getrieben wird, moralisch gerechtfertigt sein, sich gegen die Verantwortlichen für seine Bedingung zu wehren? Und, ganz abgesehen davon, wieso sollte sich jemand anmassen, darüber urteilen zu können, ab wann jemand anderes (dessen intime Bedingung wir meistens kaum kennen) genug unterdrückt wurde, um sich legitim verteidigen, beziehungsweise angreifen zu dürfen?

In unseren Augen ist die rebellierende Gewalt des Unterdrückten immer eine verteidigende Gewalt. Der Staat, die Polizei, die Gefängnisse, die von den Bossen organisierte Ausbeutung, und jede andere repressive Institution, stellen alleine schon durch ihr Bestehen eine Drohung, eine Provokation, ein Angriff dar. Und es ist nicht nur legitim, sondern, wenn wir uns dieser Gewalt nicht einfach unterwerfen wollen, notwendig, vom heutigen Tag an, ob individuell oder kollektiv, gegen sie die Initiative zu ergreifen und Angriffe zu realisieren, ohne auf irgendeinen hypothetischen grossen Tag der Befreiung zu warten.

Wie oft sind nicht jene, die schreien, wenn ein Individuum sich auflehnt und gewaltsam gegen seine Unterdrückung rebelliert, dieselben, die schweigend Kriege und Polizeigewalt als Normalität legitimieren? Wir wissen, dass diese Ordnung jeden gewaltsamen Akt von Rebellen immer als Grausamkeit hinstellen wird, während sie selber im Hintergrund foltert, tötet und massakriert. Wir wissen, was der „Friede“ bedeutet, wovon die Regierenden ständig und überall sprechen, und wir wollen diesen Frieden nicht. Denn, wie es ein Anarchist einmal ausdrückte: « amit zwei in Frieden leben können, ist es notwendig, dass beide den Frieden wollen; […] wenn einer der beiden darauf beharrt, den anderen mit Gewalt dazu zwingen zu wollen, für ihn zu arbeiten und ihm zu dienen, der andere, wenn er seine Menschenwürde bewahren und nicht in die niederträchtigste Sklaverei gezwungen werden will, trotz all seiner Liebe für den Frieden und das gute Einverständnis, gezwungen sein wird, der Gewalt mit angemessenen Mitteln Widerstand zu leisten. 


Anonym veröffentlicht in "Aufruhr - Anarchistisches Blatt", Zürich, Nummer 12, Jahr 2;