#title Auf niemandes Seite #author Aufruhr #LISTtitle niemandes Seite #SORTtopics Lohnarbeit, Überleben, Verlangen, Individuum, Repräsentation, Ausbeutung, soziale Beziehungen, Freie Assoziation, Zerstörung, #date April 2013 #source [[http://aufruhr.noblogs.org/post/2013/06/18/nummer-6-april-2013/#niemandesseite][http://aufruhr.noblogs.org/post/2013/06/18/nummer-6-april-2013/#niemandesseite]] #lang de #pubdate 2014-12-15T21:19:44 #notes Anonym veröffentlicht in "Aufruhr - Anarchistisches Blatt", Zürich, Nummer 6, Jahr 1; Ich habe wie alle diverse Probleme in meinem Leben: Ich bin gezwungen, meine Zeit und meine Fähigkeiten zu prostituieren, indem ich arbeite, um im Austausch das Notwendige zu erhalten, das ich brauche, um in dieser Welt, die ich nicht akzeptieren kann, zu überleben. Ich kann mir nicht viel leisten, im Grunde bin ich arm, ich habe kein Auto, ich kann es mir nicht leisten, den öffentlichen Vekehr zu bezahlen, usw. Aber ich will hier nicht von meinen Problemen ausgehen, von den Problemen, die wir im Grunde fast alle haben, ich will euch lieber von meinen Verlangen erzählen. Denn, wenn wir bloss von den materiellen Grundlagen unserer Existenz ausgehen, können wir uns im Grunde nur vorstellen, wie es möglich wäre, unter den gegenwärtigen Bedingungen besser zu leben (mehr Geld, mehr oder weniger Arbeit, Zugang zu mehr Dingen – Waren, Bildung, Transport…), und nicht nach einem komplett anderen Leben streben. Unsere ökonomische und soziale Bedingung, wenn sie auch gewiss nicht zu ignorieren ist, führt uns oft dazu, uns in Kategorien einschliessen zu lassen. Man spricht von Arbeitern, von Klasseninteressen und oft spricht man von Bedürfnissen, von Forderungen, aber nie von Verlangen, nie von dem, was wir, als Individuen, wollen. Durch das Absehen von den Verlangen und individuellen Bestrebungen der Menschen, die diese Kategorien zusammensetzen, wird es einfach, in das typisch politische Spiel der Repräsentation einzusteigen. Jemand kann sich Repräsentant der Interessen meiner Kategorie nennen (mehr oder weniger revolutionäre Parteien, Gewerkschaften), das aber, was von niemandem ausser von uns selbst repräsentiert werden kann, sind unsere Verlangen. Ich persönlich will niemanden ausser mich selbst repräsentieren, so wie ich nicht will, dass mich irgendjemand repräsentiert, schlicht, weil mich niemand als Individuum repräsentieren kann, weil niemand meine Verlangen und meine Bestrebungen repräsentieren kann. Niemand kann mich repräsentieren, aber das will nicht heissen, dass ich nicht meine Bestrebungen, Ziele und Methoden mit jemandem teilen kann. Diese Gesellschaft, die auf der Ausbeutung und auf dem Autoritätsprinzip basiert, ist für mich unerträglich. Ich will in einer Welt leben, in der diese letzteren nicht existieren, in der die Notwendigkeit nicht existiert, sich zu verkaufen, um zu überleben, in der die Entscheidungen über unsere Leben die unsrigen sind, und somit nicht die von einem Staat, von seinen Bürokraten, von einer Gemeinschaft mit ihren Regeln oder von anderen Personen. Schliesslich eine Welt, in der man entscheiden kann, frei mit anderen in Beziehung zu treten, ohne irgendwelche Regeln (ausser jenen, die von uns selbst und von den anderen Individuen, mit denen wir in Beziehung treten, gewählt wurden), ohne irgendwelche Zwänge oder moralischen Schranken. Für dieses Ziel bin ich gewillt, von heute an zu kämpfen, mit allen Mitteln, die ich für angebracht halte, und mit jedem anderen, der meine Ziele und meine Methoden des Kampfes teilt. Ich bin aber nicht bereit, für eine Verbesserung meiner Ausbeutungsbedingungen (wie wichtig sie auch sein mag), also für eine Lohnerhöhung, für kürzere Arbeitszeiten, für einen sozialeren Staat, usw. zu kämpfen. Dies nicht, weil ich das Bedürfnis von jenen nicht nachvollziehen kann, die das tun, und weil ich es nicht für legitim halte (sollte es Verbesserungen geben, werde ich sie gewiss nicht zurückweisen!), sondern, weil das nichts an der Tatsache ändern würde, trotzdem ausgebeutet zu werden, vielleicht unter besseren Bedingungen, aber trotzdem noch immer ausgebeutet. Es würde sich noch immer darum handeln, einen Boss zu haben (wie „gut“ und verständnisvoll er auch sein mag), ein Leben zu haben, das von einem Staat und seinen Gesetzen, und von der ökonomischen Notwendigkeit, zum Profit von anderen arbeiten zu müssen, reguliert wird. Meiner Meinung nach ist die Frage nicht, die eigene Bedingung in dieser Gesellschaft zu verbessern, denn schliesslich ist das, was ich will, etwas völlig anderes als eine blosse Verbesserung meiner Ausbeutungsbedingungen, also etwas, das gegenwärtig nicht existiert und das nicht existieren kann, solange diese Gesellschaft, mit ihren sozialen Verhältnissen und ihren unterdrückerischen Strukturen, existiert. Es geht also nicht bloss darum, den Kurs der gegenwärtigen Gesellschaft etwas zu „korrigieren“, denn die Ausbeutung und die Negierung der Freiheit liegen in ihrer Grundlage selbst. Somit wird die Frage einer radikalen Veränderung der Bedingungen und der bestehenden sozialen Verhältnisse zu einer Frage der Zerstörung – zumindest teilweise – von dieser Gesellschaft, und dies ist etwas, das im Gegensatz zur Aufrechterhaltung und Rationalisierung der Ausbeutung durch kleine Veränderungen steht. All dies mag euch gewiss sonderbar erscheinen, denn die Frage einer radikalen oder, wenn ihr bevorzugt, revolutionären Veränderung der Gesellschaft wurde in der Vergangenheit bloss als eine Veränderung in der Verwaltung der Gesellschaft gedacht – von einer Gesellschaft, in der die Produktionsmittel das Eigentum einer Klasse sind (der bürgerlichen Klasse), hin zu einer Gesellschaft, in der diese Mittel von den Produzierenden selbstverwaltet werden. Dies ist, meiner Meinung nach, heute nicht mehr möglich. Die Frage ist heutzutage viel komplexer geworden. Es geht nicht mehr einfach darum, die Produktionsmittel selbstzuverwalten, sondern auch darum, zu entscheiden, was wir aufrechterhalten wollen (wenn es etwas aufrechtzuerhalten gibt), und was wir zerstören müssen, um frei leben zu können. Sollen wir die gigantischen Industrieanlagen aufrechterhalten und selbstverwalten? Die Waffenfabriken? Die Atomkraftwerke? Usw. Sich die Revolution als Selbstverwaltung der heutigen Gesellschaft zu denken, zeigt hier, meiner Ansicht nach, seine Grenzen auf. Grenzen, deren Ursprünge in der Fortschrittsideologie gesucht werden können, die vielen revolutionären Ideologien zugrunde liegt. Diese betrachten den technologischen Fortschritt als eine Kraft, die vom kapitalistischen Produktionssystems unabhängig ist, und somit a priori als etwas, das für die Menschheit stets positiv ist, während hingegen die technologische Entwicklung, fern davon, etwas vom ganzen Rest der Gesellschaft unabhängiges und isoliertes zu sein, schon immer sehr eng mit der Entwicklung dieser letzteren verbunden war. Dies sind einige Gründe, die mich dazu antreiben, gegen diese Gesellschaft zu revoltieren, Gründe, weshalb ich ein paar „kosmetische“ Veränderungen an ihr als unzureichend betrachte und ich ihre Zerstörung will, um einen Raum zu kreieren, in dem sich etwas anderes wirklich entwickeln kann. Darum kann ich, auch wenn ich mit den Kämpfen der Arbeiter, sowie mit anderen Kämpfen, wie zum Beispiel denjenigen der Frauen und der Migranten, sympathisieren kann oder nicht, nicht sagen, dass ich auf ihrer Seite stehe, falls sich ihre Forderungen auf die Aufrechterhaltung und auf die Verbesserung das gegenwärtigen Stands der Dinge beschränken. Darum werde ich immer auf niemandes Seite stehen, aber mir sicher, nicht alleine zu sein.