Arthur Müller Lehning
Um die Räteidee
Der Aufsatz des Genossen Max Nettlau über das Rätesystem[1] – und dessen bedingungslose Ablehnung – wird wahrscheinlich von allen Syndikalisten, und denen, die der syndikalistischen Bewegung nahe stehen, nicht ohne Erstaunen gelesen worden sein. Insoweit das Erstaunen bekanntlich aller Weisheit Anfang ist, wäre dieses also nur zu begrüßen. Da aber andererseits das Rätesystem eine der hervorragendsten programmatischen Losungen der syndikalistischen Bewegung ist und die Räteidee eigentlich nichts anderes ist als der konstruktiv-soziale Ausdruck einer sozialen Revolution im Sinne des Syndikalismus, so ist wohl die Frage berechtigt und notwendig: sind die Ausführungen Nettlaus geeignet, unsere Auffassung über das Rätesystem und damit die theoretischen – und praktischen – Grundlagen unserer Bewegung zu revidieren?
Auch wer die Auffassungen des Verfassers in dieser Hinsicht nicht zu teilen vermag, wird sich nicht dem Eindruck entziehen könnnen, den dieser Artikel hervorruft: nämlich in welcher schwierigen Lage eine Minderheitsbewegung – wie der Syndikalismus in den meisten Ländern – sich befindet, die, weit entfernt eine Sekte zu sein, an der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft in einem bestimmten Sinne teilnehmen will. Der Artikel bringt aufs neue zum Bewußtsein, welche ungeheure Aufgaben der Syndikalismus zu bewältigen hat in der praktischen Durchführung seiner Ideen.
Der Artikel weist in greller – wenn auch, wie wir glauben: nicht immer in richtiger – Beleuchtung auf die Gefahren des Rätesystems für die Verwirklichung des freiheitlichen Sozialismus. Eine Bewegung wie der Syndikalismus, die ihre wichtigste Aufgabe nicht in der Eroberung zweifelhafter „Errungenschaften“ sieht, sondern in der Vertretung einer bestimmten sozialistischen Idee und in der Propagierung und bestimmten Organisierung zur Verwirklichung dieser Idee hat es gewiß notwendig, seine praktischen Vorschläge seine Methoden und seine Losungen immer wieder zu prüfen, sowohl auf das Ziel wie auf die Wirklichkeit der gegebenen Verhältnisse.
Ist die Räteidee, die der Syndikalismus vertritt, bereits solch ein starres Dogma, eine propagandistische Gedankenlosigkeit, die jede positive Aufbauarbeit von vorneherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt? – Genosse Nettlau ist dieser Meinung. Er geht sogar weiter: das Rätesystem sei keine Organisation für eine freiheitliche Grundlage einer sozialistischen Entwicklung der Gesellschaft, sondern vielmehr eine Organisation zum Selbstmord unserer Bewegung und unserer Idee.
Prüfen wir seine Argumente.
Das Rätesystem sei abzulehnen, da es die Schaffung eines Machtapparates bedeute – unter den heutigen gegebenen Verhältnissen, wo die Syndikalisten die Minderheit bilden – dessen Opfer wir selbst sein würden. Da die Räte ja nicht überwiegend von Anarchisten (oder Syndikalisten) gebildet werden würden, würde das ganze Leben doch wieder unter neue Willkürherrschaft kommen. Das Rätesystem sei außerdem überflüssig, da für eine Rekonstruktion das wichtigste ist: die Fortsetzung aller notwendigen Produktion mit Mitwirkung der technischen Kräfte. Wo die „freiheitlichen Triebkräfte am kräftigsten sind“ würden dann wohl „Beziehungen mit ähnlich disponierten Produktionsstellen angeknüpft werden“ (S. 155). Das Rätesystem habe auch keine „Entwickelungsfähigkeit und keine neuschöpferische Kraft, da das ganze auf der zufälligen Zusammenwürfelung der Arbeiter in den Betrieben und der Einwohner in den Gassen beruht – wie irgend eine heutige Wahl...“ (S. 155). (Und nicht, wie aus anderen Stellen hervorgeht, aus der Anhängerschaft der gleichen Idee.)
Knüpfen wir bei der letzten, offensichtlich irrtümlichen, Auffassung an. Denn die Räte bilden doch den vollkommenen Gegensatz zu irgend einer heutigen Wahl. Die Räte sind keine Wahlorganisationen, sie sind keine Vertreterorganisationen, sie sind keine parlamentarischen und keine Staatsorganisationen. Während die Institutionen, die aus den heutigen Wahlen hervorgehen, zufällig zusammengewürfelte politische Gruppierungen sind – zwecks Ausübung politischer Herrschaft – sind die Räte nicht wie diese: willkürliche territoriale Gruppierungen, sondern sind organische Gebilde im sozialen Leben. Dadurch ist es möglich, daß die Räte einen deligierenden und keinen vertretenden Charakter haben: sie bleiben in Kontakt mit denen die sie gewählt haben und für die Arbeit, für die sie gewählt worden sind. Die Aufgabe der Räte ist es also, die politischen, parlamentarischen und staatlichen Organisationen zu ersetzen durch von unten nach oben wirkende, föderierende Organe, die der Ausdruck sind der Selbstorganisation des Volkes, zur Funktionierung des sozialen Lebens auf einer neuen Basis.
Die Räte sind die Verneinung des politischen Prinzips der Staatsorganisation, des Regierungssozialismus und jeder Form der Staatsdiktatur. Die Bedenken Ns., indem er das richtige Funktionieren des Rätesystems in Zweifel zieht, wo er schreibt: „Der „Rat“ müßte noch geboren werden, der nicht mit allen Mitteln sich dagegen wehren würde, abberufen und ausgewechselt zu werden“ und: „Haben denn alle Personen gleiche Fähigkeiten oder überhaupt Fähigkeiten“ – diese kritischen Bedenken sind wohl nicht so schwerwiegend zu nehmen. In der Tat: die Fähigkeiten der Menschen sind verschieden und derjenige, der Mitglied eines „Rates“ ist wird es vielleicht bleiben wollen. – Auch das Rätesystem wird nicht das Wunder bringen, um unveränderlich-menschliche, allzumenschliche Eigenschaften aus der Welt zu schaffen.
Diese Bedenken Nettlaus gelten denn auch garnicht speziell dem Rätesystem: sie haben sie mit allen sozialen, allen menschlichen Institutionen gemein, wo organisiert, wo geführt, wo gehandelt werden muß. Der Vorteil der Räte ist aber dieser, daß die Möglichkeiten der autoritären Herrschaft, der politischen Unterdrückung auf ein Minimum beschränkt werden und die Möglichkeit zur Selbstorganisation und zur freiheitlichen Organisierung der Gesellschaft auf das höchste gesteigert werden.
Ein anderer Einwand ist wesentlicher: wo die Syndikalisten eine Minderheit bilden, werden sie auch in den nächsten Jahren keine Millionenorganisation haben, wie heute die sozialdemokratischen Gewerkschaften und politischen Arbeiterparteien. Im Falle einer Rätebildung werden also auch die Syndikalisten in der Minderheit sein und die Räte werden sozialdemokratische oder kommunistische Majoritäten haben.
Es ist wohl klar, daß es sich hier um eine Frage handelt, die weit über das eigentliche Räteproblem hinausgeht, nämlich die schwerwiegende Frage: welche Aussicht hat der freiheitliche Sozialismus in den kommenden Revolutionen.
Die Anhänger des freiheitlichen Sozialismus, die jetzt eine Minderheit bilden, werden es auch in der Revolution sein. Auch dieses wird die Revolution nicht vermögen: Millionen Arbeiter plötzlich zu überzeugten Anarchisten zu machen. Ebenso gewiß ist es, daß am Tage nach der Revolution nicht das Tausendjährige Reich entstehen wird. Die Utopie, daß es genügt, die Herrschaftsformen des Staates und des Kapitals zu vernichten, damit die Anarchie in aller Reinheit blühe – diese Utopie dürfte in der anarchistischen Bewegung wohl gründlich überwunden sein, wenn auch nicht immer die Konsequenzen daraus gezogen werden. Das nach der Revolution entscheidet – das sie durch die Erder konstruktive Aufbau neuer Gesellschaftsformen und besonders des wirtschafdichen Lebens zu beginnen hat – und dass dieser Aufbau über Sieg oder Niederlage der Revolution entscheidet – das ist durch die Erfahrungen der Revolutionen nach dem Kriege deutlich genug geworden. Im Anarcho-Syndikalismus findet dieses Bewußtsein seinen klaren Ausdruck.
Wenn es sich also nicht um die Verwirklichung jener anarchistischen Utopie handeln kann, was ist dann die Aufgabe für die Anarcho-Syndikalisten? – Ihre wichtigste Aufgabe besteht in der Beschaffung von direkten Organen des arbeitenden Volkes zur Organisierung des sozialen Lebens. Eben: die Räte.
Die Revolution macht nicht die gesamte Arbeiterschaft und das ganze Volk zu Anarchisten. Aber die Revolution, die soziale Revolution – und um diese handelt es sich hier – bewirkt trotzdem eine Änderung. Indem in der Revolution das Staatssystem zusammenstürzt, verlieren auch die politischen Parteien, die sich auf diesen Staat stützen, ihren Boden. Und damit lösen sich auch die Bindungen der Millionen mit diesen Parteien, und der Staats- und Parteiideologie. Die fünf Millionen Sozialdemokraten, von denen N. spricht, sind in diesem Augenblick eben keine „Sozialdemokraten“ mehr.
Die soziale Revolution bedeutet Vernichtung des kapitalistischen, des nationalen, demokratischen oder faschistischen Staates und Expropriation an Grund und Boden und allen kapitalistischen Produktionsmitteln. Die soziale Revolution, jede soziale Revolution in diesem Jahrhundert, wird die Losung haben, unter der die russische Oktoberrevolution vor sich ging: Den Bauern das Land, den Arbeitern die Fabrik. Die Bauern, die das Land enteigneten, waren bis vor kurzem vielleicht noch gläubige Nationalisten; die Arbeiter, die die Fabrik besetzten, vor kurzem Sozialdemokraten. Insoweit sie an der Fabrikbesetzung teil nehmen, sind sie es nicht mehr. Und sie werden mit allen anderen Arbeitern zusammen die Räte bilden, die in der Revolution entstehen werden.
Nettlau geht ja auch selbst davon aus, daß in den Räten sozialdemokratische Arbeiter sein und dort vielleicht die Majorität haben werden. Aber seit wann sind Sozialdemokraten für ein Rätesystem? Das sie es sind, ist ja der Beweis, daß die Verhältnisse der sozialen Revolution, das hervorgerufen werden wird, was unsere Propaganda allein nicht vermochte: die direkte Aktion und Selbstorganisation auf dem Gebiete der Arbeit.
Auch die Räte bilden natürlich keine Garantie für die Freiheit. Solche Institutionen gibt es nicht. Es gibt allerdings autoritäre Institute, die die Freiheit totsicher verhindern. Die Räte könnnen Organe sein, die eine freiheitliche Entwicklung der Gesellschaft ermöglichen. Sie sind, soweit wir sehen, die einzigen Organe, unter den gegebenen Verhältnissen, die die „industrielle Organisation der Arbeit“, die das politische Staatssystem ablösen muß, ermöglichen kann. Die Räte sind kein Allheilmittel für den Sozialismus. Wenn der sozialistische Geist, der sozialistische Wille und die notwendigen praktischen Fähigkeiten nicht vorhanden sind, dann wird auch mit den Räten kein Sozialismus möglich sein. Aber in dem Kampf um das Rätesystem werden dieser Geist, dieser Wille und diese Fähigkeiten geboren werden; mit dem Rätesystem werden sie wachsen.
Die Aufgabe der syndikalistischen Minorität ist damit klar gegeben: die Initiative zu ergreifen und auf allen Gebieten praktische Wege zu zeigen, damit die Räte imstande sein werden, das gesellschaftliche Leben zu organisieren und dadurch den Aufbau eines neuen Staates zu verhindern.
Es ist natürlich möglich, daß die Räte nicht funktionieren. Daß sie von den Anhängern des Staatssozialismus gebraucht werden, um zur politischen Macht zu kommen. Dann werden sie verschwinden oder zur Karrikatur der Räte werden, wie es in Rußland geschah, wo die Sowjets ja nur noch Staatsräder der Diktatur sind. Ein objektiver Beobachter – der Engländer Brailsford – bemerkt nicht ohne Ironie über die Sowjet- „wahlen“ -: „In anderen Ländern wählen die souveränen Wähler ihre Regierungen. In Rußland ratifizieren sie die Wahl ihrer Regierung.“
Weil also in Rußland die Räte vernichtet wurden durch die Staatsdiktatur, sollen wir deshalb die Räteidee verwerfen? (Die von N. angeführten Beispiele Deutschland und München kommen doch gar nicht in Frage.) Wenn die Gefahr vorhanden ist, daß die Anhänger des freiheitlichen Sozialismus durch eine trotzdem aufsteigende Diktatur vernichtet werden, so ist diese Gefahr ohne Räte eben noch viel größer.
Was stellt N. der Räteidee gegenüber? Welche Möglichkeiten sieht er für den freiheitlichen Sozialismus? – „Nur eine Möglichkeit“ (S. 153): die Propaganda für Minderheitsrechte. Also auch für Minderheitsrechte aller sozialistischen Richtungen. Dann könnten „freiheitliche Triebkräfte“ „Beziehungen mit ähnlich disponierten Produktionsstellen angeknüpft werden und der berechnende Austausch durch reichliche unbemessene gegenseitige Leistungen ersetzt werden.“ Nur durch solche „autonome, sachlich an die Solidarität das beste leistende direkte Tätigkeit“ sei die Erlernung und Ausbreitung der freiheitlichen Praxis möglich. – So weit es deutlich ist, was hier gemeint ist, soll also etwa unter einer Staatsdiktatur bei einem Staatssozialismus – die jedoch für die Anerkennnung der Minderheitsrechte im Sozialismus eintritt -, die Gegner des Staatssozialismus auf ihre eigene Weise autonom wirtschaften.
Der Plan scheint mir in ökonomischer Hinsicht vollkommen utopisch. Die freiheitlichen Triebkräfte, von denen N. spricht, sind doch überall zerstreut, in den verschiedenen Zweigen des ökonomischen Lebens – und sie sind von diesen ökonomischen Organismen doch überhaupt nicht zu isolieren. Gesetzt eine große Mehrheit irgend eines bedeutenden industriellen Unternehmens – oder sogar die ganze Belegschaft! – wäre anarchistisch gesinnt. Wie könnte dieses Unternehmen – bei der heutigen, und stets größer werdenden, Wirtschaftseinheit – funktionieren ohne mit den anderen derselben Industrie föderiert zu sein und eingefügt in das Gesamtwirtschaftsleben? Die kapitalistische, chaotische Produktion soll durch eine sozialistische Planwirtschaft ersetzt werden: das ganze ökonomische Leben soll auf einer anderen Basis organisiert werden. Entweder tut der Staat es und wir haben den Staatssozialismus in irgend einer Form oder es bilden sich die Räte, die auf selbständigen Einheiten basiert, das soziale Leben organisieren. So wie das Eisenbahnwesen nur in seiner Gesamtheit organisiert werden kann – die Frage ist nur, wer es organisiert – so ist es mit dem gesamten ökonomischen Leben. Bei der heutigen Komplexheit der Wirtschaft ist es gar nicht anders möglich.
Die „freiheitliche Praxis“ kann, so glauben wir, nicht isoliert von der gesamten Umwälzung des gesellschaftlichen Lebens entstehen. Welche Bedeutungen Experimente wie kommunistische Kolonien und die Praxis der „produktiven Assoziation“ auch haben – und besonders die letzten sind auch für den Syndikalismus nicht ohne Bedeutung – es ist nicht der Weg zur Befreiung der Arbeiterbewegung. Der Syndikalismus sieht seine Aufgabe in der Organisierung der Arbeiterschaft und in der richtunggebenden Beeinflussung ihres Kampfes, der die Vernichtung des heutigen Systems und den Aufbau einer neuen Gesellschaft ist.
Aber ganz abgesehen von diesen theoretischen Bedenken und der unserer Ansicht nach ökonomischen Undurchführbarkeit: welche Aussichten gibt dann diese Propaganda für Minderheitsrechte im Sozialismus, die die Vorbedin-gung für diese, von N., anstelle der Räte-organisierung des sozialen Lebens propagierte „freiheitliche Praxis“ ist?
Welche positiven Erfolge sind von dieser Propaganda zur „Anbahnung einer sozialistischen Denkweise, die sozialistische Minderheitsrechte anerkennnt“ – für die nächsten Jahre, denn darum handelt es sich ja, – zu erwarten? – Der denkbar geringste. Denn die sozialistische Denkweise solcher Minderheitsrechte, die Abschwörung des Diktaturgedankens ist ja im Grunde eine anarchistische Denkweise und diese Propaganda läuft im Grunde darauf hinaus, diese autoritäre Sozialisten zu anti-autoritären Sozialisten zu erziehen. (Denn es handelt sich ja doch in erster Linie um die „Arbeiterparteien“, die den Staatssozialismus vertreten, mit dem jene „freiheitliche Praxis“ nicht zu vereinen ist. Ob die Verbindung mit anderen kulturellen Bewegungen für diese Propaganda einigermaßen fruchttragend sein wird, ist dann auch von untergeordneter Bedeutung, da ihnen ja in der sozialen Revolution keine entscheidende Bedeutung zukommt. Außerdem hätten die Forderungen für Minderheitsrechte dieser Bewegungen doch nur Wert, wenn sie tatsächlich aus einem freiheitlichen Geiste hervorgingen und ihr Ziel eine relative Freiheit wäre. Die Praxis der nationalen Minderheiten z.B., die nach dem Kriege zur „Unabhängigkeit“ gekommen sind, und jetzt dieselbe oder noch größere Intoleranz gegen die heutigen Minderheiten zeigen, beweist leider das Gegenteil.
Daß die Zahl der Anarchisten in den kommenden Jahren so bedeutend zunehmen würde, nimmt N. selbst auch nicht an. Wie es mit der Möglichkeit steht, die großen Arbeiterparteien zum Aufgeben ihres Staatsprinzips zu bewegen, ist klar und N. schreibt ja nicht: die beiden großen Diktaturparteien, Sozialdemokraten und Kommunisten zeigen nicht die geringste Lust, das Majoritätsprinzip auszuschalten. (S. 153.) Wenn dies so wäre, könnte das Rätesystem – meint N. – in einem menschwürdigen Grade funktionieren. Um wie viel mehr ist aber deshalb die Möglichkeit eine Anerkennung der „Minderheitsrechte“ ausgeschlossen, da diese ja eine Änderung der Ideen und eine vollständig neue Gesinnung bei jenen Diktaturparteien voraussetzen würde.
Mit einem Erfolg für die Anerkennung von Minderheitsrechten im Sozialismus ist also so bald nicht zu rechnen, ebensowenig wie damit zu rechnen ist, daß die Mehrheit des Volkes aus Anarchisten bestehen wird.
Welche Möglichkeiten gibt es trotzdem für den freiheitlichen Sozialismus? – Das ist die Frage, die hier im Grunde zur Diskussion steht. Aber es gibt einen Unterschied, wie sie gestellt wird?
„Wie können wir als Anarchisten nach der Revolution weiter für unsere Ideen wirken, ohne durch die Diktatur vernichtet zu werden, welche Möglichkeiten besitzen wir, unsere Lage als Minorität zu verbessern“ – so stellt Nettlau die Frage.
Der Syndikalismus stellt sie anders. Er fragt: mit welchen Methoden, auf welchen Wegen können wir die Arbeiterbewegung in der sozialen Revolution zur Organisierung des sozialen Lebens führen ohne Staatsdiktatur; wie können wir die soziale Revolution beeinflussen, damit nach der Vernichtung der alten Unterdrückungs- und Ausbeutungsinstitute neue Grundlagen gelegt werden, die eine freiheitliche Entwicklung der Gesellschaft ermöglichen?
Hängt die verschiedene Wertung des Rätesystems vielleicht mit dieser verschiedenen Fragestellung zusammen?
Für den Syndikalismus – und für den freiheitlichen Sozialismus – bietet das Rätesystem größere Möglichkeiten als die Propaganda der Minderheitsrechte. Wie wir glauben, die einzige Möglichkeit. Diese Möglichkeiten werden durch die soziale Revolution gegeben. Sie sind durch die Propaganda, durch die Praxis, wie Bakunin sagte, gegeben. Die Methoden der direkten Aktion, unter denen die soziale Revolution vor sich geht, die Rätebildung, die sie hervorruft, ist die praktische Verneinung der Prinzipien der Diktaturparteien. Ob diese Räte, die als Räte, die Verneinung der Diktatur sind, trotzdem wieder zur diktatorischen Staatsherrschaft führen werden, das hängt von dem Geist dieser Räte ab, von ihren Fähigkeiten besonders. Hier liegt die große Aufgabe der syndikalistischen Minorität.
Heute bereitet sie sich durch die Bildung der industriellen Organisationen – von Betriebsausschüssen und Industrieföderationen – auf diese Aufgabe vor. Die praktische Tätigkeit der freiheitlichen Sozialisten wird von der größten Bedeutung für das Schicksal der Räte sein. Wie es ja immer wieder von unseren russischen Genossen gesagt wurde: der Niedergang der Räte, die Vernichtung unserer Bewegung durch die bolschewistische Diktatur ist auch dadurch ermöglicht worden, weil die Räte versagten und weil die praktische Aufbautätigkeit der Anarchisten in den Räten versagte...
Das Schicksal des freiheitlichen Sozialismus, des Sozialismus überhaupt, hängt ab von der Fähigkeit der Arbeiterschaft zur Selbstorganisation. Nur diese kann eine freiheitliche Entwicklung der Gesellschaft verbürgen. Hier liegt unsere Aufgabe, ob wir eine Minorität oder Majorität bilden. Wir können die Propaganda für das Rätesystem nicht davon abhängig machen, ob wir die Majorität in den Räten haben werden! Entweder ist das Rätesystem geeignet, den Sozialismus zu fördern – oder nicht. Wenn ja: dann müssen wir die Losung der Oktoberrevolution zur unseren machen: Alle Macht den Räten, damit nicht aufs neue eine politische Herrschaft in Form des Staates entsteht.
Die Räte werden im Kampfe entstehen. Und nur im Kampfe um die Räte werden wir die Ideen verteidigen können, die wir vertreten. Sie könnnen nur siegen mit dem Siege der Arbeiterklasse. In den kommenden Revolutionen kann es sich nicht an erster Stelle um die Verwirklichung des Anarchismus handeln. Es handelt sich um die Befreiung der Arbeiterklasse.
[1] Max Nettlau, Minderheitsrechte im Sozialismus und das Rätesystem