Arnold Roller, Max Nacht

Rebellen-Lieder

Vorwort zum Internationalen Rebellen-Liederbuch

1906

Ein revolutionäres Liederbuch in allen Sprachen!

Wie viele Philister und „revolutionäre“ Stubenhocker werden darüber skeptisch spotten und haarscharf nachweisen, dass durch Singen keine Revolution herbeigeführt werden kann, sondern nur durch Wissenschaft und Aufklärung…

Ach nein, weder durch Philosophie noch durch Poesie und Musik wird die bestehende Mord- und Blutherrschaft vernichtet werden. Nur durch die Philosophie der Vernichtung, durch die Logik der Tat, nur mit der Poesie des Kampfgetümmels und der Musik krachender Bomben werden wir uns von unseren Henkern befreien können. Aber für diesen Kampf ist Begeisterung nötig, das Einsetzen seiner ganzen Seele, die Summe aller dieser Regungen des Hasses gegen das Unrecht, der Sehnsucht nach Glück, der Hoffnung auf Kampf und Rache. Ja Rache! Denn Rache ist die einzige Gerechtigkeit der Rechtlosen und Entrechteten.

Und diese Empfindungen, für die menschliche Sprache oft keine Worte findet, die so verworren und unlogisch in unsren Herzen kochen und uns die Brust oft zum Sprengen anschwellen, die sind es die uns zum Kampf, zur mutigen Tat treiben und keine Philosophie oder Wissenschaft.

Doch nicht immer ist die Zeit und die Gelegenheit zur Tat und wir müssen auf den geeigneten Moment oft lange, lange warten und doch können wir nicht stumm abwarten und unsere Sehnsucht, unsere Begeisterung, unsere Hoffnung in unseren Herzen begraben. Sie wollen hinaus, sie ringen nach einem Ausdruck, und da, da bricht das revolutionäre Lied hervor aus unserer Kehle, heraus aus voller Seele. Das revolutionäre Lied, seine Worte und Töne sind dann der Ausdruck alles dessen was wir fühlen und hoffen, wofür wir selbst keine Worte gefunden hätten.

So manches Lied klingt traurig und sehnsuchtsvoll, es gilt gefallenen Kämpfern, es singt von unseren Leiden und Verfolgungen; sie lassen den Hass in unserer Seele nicht einschlummern, sie schüren das glimmernde Feuer, doch die andern, das sind die echten Kampfeslieder, die uns mit ihrer wilden Energie zur Fache aufpeitschen, die uns Mut und Entschlossenheit einflössen, die uns zum Kampf stossen, wie Posaunentöne zur Schlacht.

Waren es nicht die mächtig aufrüttelnden Töne der „Marseillaise“ unter deren Klängen das französische revolutionäre Aufgebot die Söldner ganz Europas vertrieb? Das Lied vergrösserte deren Begeisterung und Kampfesstimmung und da war kein Platz für Zagen und Feigheit. Wieder leben wir in einer ähnlichen Periode am Vorabend des Kampfes; die Geister sind genügend vorbereitet, – was nur noch fehlt, ist Mut und Begeisterung und da soll nun das revolutionäre Lied seine aufrüttelnde Wirkung ausüben auf die Schlafenden und Träumenden.

Und die gegenwärtige Kampfperiode hat herrliche Lieder der Begeisterung und der Sehnsucht hervorgebracht. In den romanischen und slavischen Ländern sind schon Tausende mit diesen Liedern auf den Lippen in den Kampf und in den Tod gegangen. Und diese Toten sind nicht zu bedauern, denn es ist besser in einem glücklichen Moment – und während der Begeisterung ist man glücklich – rasch und schön im Kampfe zu fallen, als in Sorgen und Entbehrungen ein elendes Leben freudlos lange fortzuschleppen und langsam dahinzuziehen.

Die Garrottierten von Xerez, die Erschossenen von Montjuich, Pallas, sie alle sangen auf ihrem Todesgang die herrliche anarchistische Hymne „Hijo del Pueblo“. Wie Reinsdorf auf dem Weg zum Schaffot ein spöttisches „Kunden“-Lied – „Stiefel, du must sterben“ — sang, so sang Ravachol auf dem Weg zur Guillotine den „Père Duchène“, um seine spöttische Todesverachtung zu zeigen. Unübertroffen an Schönheit und Kraft sind die italienischen Lieder des genialen anarchistischen Agitators Pietro Gori. Wie keck und lebensfrisch und kampfesfreudig sind die Lieder der Tschechen, wie voll ergreifender Sehnsucht die jüdischen und die russischen Hymnen. Einfach unerschöpflich an Zahl und Mannigfaltigkeit sind die französischen Freiheitslieder. Die Deutschen allein sind arm an revolutionären Liedern. Die paar Lieder aus der vergangenen Kampfperiode sind vergessen und die Gegenwart hat keine neuen hervorgebracht. Deshalb haben wir hier die bekanntesten revolutionären Lieder früherer, kampfesfreudigerer Jahre aufgenommen und noch einige freie Uebersetzungen vielgesungener Lieder anderer Sprachen hinzugefügt.

So mancher wird aber die Frage stellen: ,,Wozu ein Liederbuch in allen Sprachen, es kümmert sich ja jeder doch nur um die Lieder seiner Sprache.“

Nun, wer diesen Einwand macht gehört entweder zu diesen Unglücklichen, die niemals freiwillig hinaus über die Grenzen ihres Landes wanderten, oder zu diesen Glücklichen, die niemals durch die Not oder durch die Polizei von Land zu Land gehetzt unfreiwillig reisen mussten. Denn, sobald man in ein neues Land kommt, unter Genossen anderer Sprachen, will man ihre Begeisterung teilen, noch bevor man mit ihnen sprechen kann, man will mit ihnen ihre Lieder singen, man lernt recht oft an dem revolutionären Lied die Sprache, und trägt dieses Lied nachher zurück in die Heimat als warme Erinnerung an die freudigen Stunden, die man im Kreise der Genossen anderer Länder zugebracht hat.

Viele kennen schon durch die politische und ethnographische Lage ihres Landes mehrere Sprachen. So würde also den meisten von ihnen ein Liederbuch in einer Sprache nicht genügen, weil sie doch oft das Leben zu Polyglotten, zu wirklichen Internationalen gemacht hat.

Vor allem wird aber dieses Büchlein von Wert sein für den wandernden Rebellen, den anarchistischen „Trimardeur“, den fahrenden Ritter der Freiheit, der von Land zu Land wandert um die Freiheit zu suchen – und die Gefängnisse zu finden.

An der Tischrunde mit den fremden Genossen wird das revolutionäre Lied angestimmt, alle gemeinsamen Schmerzen und Ideale sagt man sich gleichzeitig gegenseitig mit diesen Liedern – viel besser als mit unzähligen Worten. Auf der Landstrasse, unter freiem Himmel, ist das revolutionäre Lied der Begleiter des wandernden Rebellen, – in der einsamen Gefängniszelle, seine einzige Freundin und Trösterin, die in ihm die Hoffnung auf Freiheit und Rache aufrecht erhält.

Auch dieses Liederbuch ist durch wandernde Rebellen auf der Wanderschaft und im Exil entstanden. Bei Wanderungen durch ganz Europa sind die Lieder notiert und gesammelt, auf einer echten Rebellen-Setzerei gesetzt werden, die durch Schmuggel erworben wurde und an der manche bekannte deutsche und russische Anarchisten setzen lernten.

Auch das arme Liederbuch musste mitsammt den Setzern auf Reisen gehen und wanderte heimatlos durch ganz Europa hin und her, bis endlich wieder im Ausland Genossen aller Nationen seine Verwirklichung ermöglichten. Dieses Liederbuch ist also wahrhaftig ein Liederbuch der internationalen, wandernden Rebellen, so seinem Inhalt nach, wie in seinem Zweck – wie auch in seiner Entstehung und Geschichte.

Und nun Liederbüchlein, gehe hinaus in die Welt, begleite im Kampf und auf der Wanderschaft die heimatlosen, wandernden, ausgewiesenen, verbannten Kameraden, und beim Klange deiner Lieder wird zur Heimat der Heimatlosen, zum Vaterland der Antipatrioten – die ganze Erde, die ganze Menschheit werden. A. R. — M. N.


Vorwort zum Buch: Le chansonnier international du révolté – Internationales Rebellen-Liederbuch..., Broschüren-Gruppe des Comm. A.-B.-V., London 1906