#title Die direkte Aktion #subtitle Revolutionäre Gewerkschafts-Taktik #author Arnold Roller #LISTtitle Direkte Aktion #SORTauthors Roller, Arnold; Nacht, Siegfried #SORTtopics Gewerkschaft, Sabotage, Boykott, Obstruktionismus, Streik, Militarismus, Direkte Aktion, 1900-1909, 0riginal: Deutschsprachig, #date 1907 #lang de #pubdate 2015-01-11T18:23:40 #notes Herausgegeben von der FREIHEIT PUBLISHING ASSOCIATION #source [[http://rudolfmuehland.blogsport.de/2010/12/17/arnold-roller-siegfried-nacht-die-direkte-aktion-revolutionaere-gewerkschafts-taktik-1907/]] ** Vorwort Die schweren Gebrechen, an denen das aufgeklärte revolutionäre Proletariat krankt, die es zum grossen Theil von der revolutionären That, vom praktischen Handeln und positiven Schaffen abhalten, führen die Namen: Philosophirerei und Mystizismus. Mit fatalistischem Glauben erwartet man von der „siegenden Gewalt der Idee", von der „Entwickelung der Geschichte zur Gerechtigkeit und Freiheit", etc., etc. — dass diese uns der Verwirklichung unserer ungestümen Forderungen nach Glück und Wohlstand näher bringen werden. Man theoretisirt viel über die Theorien — und verachtet und vergisst die Praxis. Nun, Arbeiter, es sind dies vielleicht brutale Worte, die Euch hier gesagt werden — aber erkennt, dass alle Diejenigen, die blos philosophiren und sich im mystischen Schauer über die Schönheit unseres grossen Ideals verzücken — aber die That und das Detail der That als etwas Untergeordnetes, nur so nebenbei, mitgelten lassen, — Euch nur zu Schwächlingen und Kastraten ohne Willen und Thatkraft erziehen werden. Die That ist Alles — „Am Anfang war die That!" Alle revolutionären Deklamationen bleiben nur schwächliche Sehnsüchteleien — so lange sie nicht durch den Revolver, die Bombe unterstützt sind, so lange man nicht weiss, wie die Bombe gemacht wird. Auch Themis, die Gerechtigkeit, hat zu ihrer Unterstützung ein blankes Schwert. All die Sehnsucht nach „freier Liebe" wird für Tausende unbefriedigt bleiben müssen, bis nicht den Frauen die Mittel zur „freien Mutterschaft", die Mittel zur Verhütung der Empfängniss bekannt sind. Alles „Streben" nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel — ist Utopie ohne den sozialen Generalstreik, der sie erst ermöglicht. Alle revolutionäre Gewerkschaftstaktik bleibt ein leeres Wort ohne die Kenntniss der Mittel der technisch revolutionären ökonomischen Aktion. Die letzten Jahre der Propaganda haben es bewiesen, dass vielmehr als die Schönheit des Ideals—die Kenntniss der praktischen Mittel, dieses Ideal bald zu verwirklichen — zur Verbreitung der Idee beigetragen hat. Die Kenntniss der Praxis überzeugt und gewinnt unendlich mehr Anhänger als alle „Vertiefungen" in die Theorie. Dies soll eine praktische Abhandlung sein, — gewidmet dem um sein Lebensglück kämpfenden Proletariat aller Länder — zu verständnissvoller Benutzung. Arnold Roller. Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiter selbst sein. — Losungswort der Internationalen Arbeiter-Association. ** I. Die indirekte Aktion und die legale Gewerkschafts-Taktik. *** 1. Resultate der bisherigen Gewerkschafts-Taktik. Wie nach einem langen Schlaf beginnen endlich die Arbeiter verschiedener Länder — hauptsächlich der romanischen — zu erkennen, dass ihre bisherige Taktik zur Erringung ihrer Bestrebungen für eine bessere glückliche Zukunft, wie für bessere Lebensbedingungen in der Gegenwart, neuen Kampfmethoden- Platz machen müsse. Den Kampf um diese Bestrebungen theilten unter sich bisher zwei Organisationen der Arbeiterklasse: die politische und die gewerkschaftliche. Die politische Organisation, die bis heute noch für die meisten Arbeiter als die weitaus wichtigste gilt, giebt als ihren Hauptzweck eben die Erringung dieser ersehnten besseren Zukunft, — der sozialistischen Gesellschaft — an, jedoch sollen durch die politisch-parlamentarische Bethätigung der Arbeiterklasse, oder, viel richtiger, durch das Wirken und Eingreifen der Vertreter der Arbeiterklasse in den gesetzgebenden Körpern, auch schon in der gegenwärtigen Gesellschaft Verbesserungen der Lage des Proletariats erzielt werden. Den Gewerkschaften, besonders in Mittel-Europa und England, war ein viel geringeres Feld angewiesen. Deren Aufgabe beschränkte sich mehr auf gegenseitige Unterstützung der Mitglieder, selbstverständlich auch auf die Leitung friedlicher Lohnkämpfe, ohne sich aber irgend ein weiteres Ideal vorzustecken. Alle weitergehenden und grundsätzlichen Besserungen für das Proletariat blieben aber Aufgabe der politischen Organisation, die mit Hilfe der Vertreter des Proletariats, der Abgeordneten, in den Parlamenten Gesetze zu Gunsten des Proletariats durchführen sollten. Nur von dieser indirekten Aktion — der Parlamentarismus ist doch der klarste Ausdruck der indirekten Aktion, der Bethätigung auf dem Umwege durch die Vertreter in den Parlamenten — erwartete Jahrzehnte lang das Proletariat all sein Heil für Gegenwart und Zukunft. Sogar bei Lohnkämpfen legte es sein Schicksal allzu oft in die Hände seiner Vertreter, in die Hände von Vermittlern, weil die Arbeiter, daran gewöhnt, dass immer Andere für sie wirken, sich schon selbst die Fähigkeit absprechen, ja sie auch vielleicht wirklich dadurch verloren haben, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen und auch die Möglichkeit nicht sahen, wie so grosse Massen direkt dem Staat oder den Kapitalisten Forderungen entreissen könnten. Doch die Ereignisse der letzten Jahre beginnen den Arbeitern überall die Augen zu öffnen. Den stürmischen, unruhigen, ja drohenden Anfang der Arbeiterbewegung, wusste die politisch-parlamentarische Taktik bald in friedliche, legale Geleise zu lenken, von denen sie seit 30-40 Jahren nicht abwich — und das Resultat ist die allervollständigste Enttäuschung für unzählige von diesen, die geduldig geglaubt und gehofft und die Bestätigung aller Prophezeiungen Derjenigen, die diese friedliche Taktik verdammten. Trotz des Anwachsens der Zahl der politischen. Vertreter des Proletariats, der sozialdemokratischen Abgeordneten, ist die politische Reaktion gerade in den letzten Jahren erstarkt. Die offene, wie die schleichende Reaktion, wird trotz dem allgemeinen Wahlrecht immer stärker in den konstitutionellen Staaten, weil es sich gezeigt hat, dass trotz der grossen Zahl der sozialdemokratischen Wähler der politische Einfluss der Arbeiterklasse, die ihre Bethätigung vollständig in die Hände ihrer parlamentarischen Vertreter übergab, durchaus bedeutungslos ist, weil man sie nicht zu fürchten hat, und von dieser im friedlichen, loyalen Geiste des Gehorsams und der Achtung vor den Gesetzen erzogenen Arbeiterklasse keinerlei revolutionäre, energische Aktion zu erwarten ist. In's Unermessliche häufen sich die Massregeln der wachsenden politischen Reaktion in allen Ländern. Die Einwanderer-Gesetze in England; in Deutschland der unumschränkte, unbestrittene autokratische Absolutismus der Monarchie, die hohen Einfuhrzölle für die wichtigsten Lebensmittel, der furchtbare Militarismus, die unverhüllteste Klassenjustiz, die Ankündigung von Ausnahmegesetzen gegen die Arbeiterklasse; in der Schweiz die Ausweisungen und Auslieferungen politischer Flüchtlinge an Italien und Oesterreich, sind wohl genug anschauliche Beispiele der politischen Reaktion in diesen Ländern. Wie um dieses Bild zu kompletiren, sehen wir weiter, dass gerade in diesen beiden Ländern, in England und Deutschland, in denen auch die ökonomischen Organisationen des Proletariats an Mitgliederzahl und an Kassenbestand am stärksten und mächtigsten sind, die Gewerkschaften bei allen grösseren und bedeutenderen Lohnkämpfen auf's Haupt geschlagen werden. Immer spricht man von der mächtigen, so stark organisirten Arbeiterklasse, und wo ein wirkliches Messen der Kräfte stattfand, wurde die Arbeiterklasse von den Kapitalisten besiegt. Wie trotz aller Massenorganisation der Arbeiter der Kapitalismus immer mehr der autokratische Despot über das Proletariat wurde, zeigten Ereignisse der letzten Jahre. Was wir nachweisen wollen ist, dass nicht die Zahl und Grösse der Organisation, nicht die Quantität der Organisirten und Höhe der Kassen-Bestände im Kampf gegen den Kapitalismus den Ausschlag giebt, sondern der Geist, von dem sie beseelt ist, deren Taktik, der Muth und die Qualität der Mitglieder.
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So erinnern wir an den Generalstreik der Maschinenbauer in England im Jahre 1898. Der Streik dauerte sieben Monat e, und obwohl er von allen Organisationen, ja vom ganzen Proletariat solidarisch unterstützt wurde, obwohl sie selbst über eine mächtige Organisation verfügten und 22 Millionen Shillings (Mark) an Streikunterstützungen ausgezahlt wurden und sich die öffentliche Gewalt gar nicht in den Streik einmischte, ging derselbe elend verloren. Ermuthigt durch das ruhige, friedfertige Verhalten der Trades-Unions, trotz ihrer scheinbar ungeheuren Macht, schritt das Kapital und deren Ausdruck, die herrschende Gewalt, noch weiter, und zwar bis dahin, sich die schön gefüllten Kassen der Trades-Unions auf legalem Wege anzueignen.Und da doch die bestehende Gewalt der Ausdruck des Willens der Kapitalisten ist, gilt Alles, was ihnen nützlich, als „legal", Alles was nachtheilig, als „illegal". So geschah es im Jahre 19oo, dass nach dem missglückten Streik der Eisenbahner der Taff-Vale Compagnie, in England, die Kapitalisten die Gewerkschaft der Eisenbahner vor den Tribunalen auf Ersatz verklagten, da ihnen der Streik Schaden verursacht hatte, und die Gewerkschaft wurde thatsächlich verurtheilt, die enorme Summe von 28,000 Pfund Sterling (ca. 700,000 Francs oder Kronen) zu bezahlen. Die Gewerkschaft war nun so sehr vom legalen Geist erfüllt, dass sie die Gesetzlichkeit der Verurtheilung und ihre Schuld anerkannte, nur um eine Erniedrigung der Entschädigungssumme bat, und schliesslich doch 23,000 Pfund Sterling (also 580,000 Mark Schadenersatz) den Kapitalisten bezahlte. Noch ein anderes Mal expropriirten in England die Kapitalisten mit der ihnen zur Verfügung stehenden Gewalt der „legalen" Mittel der Tribunale — die allerdings zur Bekräftigung ihrer ‚Legalität" Polizei, Gefängnisse und Soldaten haben – die Kassen der Arbeiterorganisationen. So wurde die Gewerkschaft der Bergleute von Wales verurtheilt, an die Kohlenbarone hunderttausend Pfund Sterling, also circa 21/2 Millionen Kronen zu bezahlen und zwar unter dem Vorwand der „Attentate gegen die Freiheit der Arbeit während der Streiks' (Picketing, Streikpostenstehen). Die Arbeiter anerkannten auch diese Legalität und zahlten. Diese wenigen Beispiele sind wohl keine Beweise für die positive Macht der Arbeiterklasse und ihrer Trade-Unions in England.
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In den Vereinigten Staaten Nordarnerika's, in diesem Lande des brutalsten und krassesten Kapitalistendespotismus und der unverhüllten Trustokratie, das ungefähr zwei Millionen Organisirte zählt, ist der Trade-Unionismus schon zum gefügigen Werkzeug im Interesse der Kapitalisten geworden, deren Prinzip die Harmonie ist zwischen Kapital und Arbeit; Harmonie der Ausgebeuteten mit den brutalsten Ausbeutern, die die Erde trägt, den amerikanischen Trustmännern und Milliardären. Wie um dieses Prinzip zu symbolisiren, ist auch der allmächtige mit geradezu autokratischer Machtbefugniss ausgestattete Präsident der „American Federation of Labor" (der amerikanischen Gewerkschaftsföderation), Samuel Gompers, zugleich 'Vice-Präsident der berüchtigten amerikanischen „Civic Federation", einer klassenbewussten Organisation der Kapitalmagnaten und Millionäre, deren offenes Ziel es ist, Amerika dem Imperialismus zuzusteuern und das Proletariat dem Kapital so gefügig als möglich zu machen. Von solchen fügsamen Führern geleitet, ertrugen in den letzten Jahren die amerikanischen Gewerkschaften alle Lohnreduktionen, so oft die Unternehmer welche beschlossen, und daher zahlten oft dieselben Kompagnien ihren Aktionären 75 und 8o Prozent Dividende. Fast alle Streiks wurden dort von den Arbeitern verloren, denn oft genug geschah es, dass wenn z.B. ein Bergarbeiterstreik den Kapitalmagnaten gefährlich zu werden anfing, die Mitchell und Gompers ihren disciplinirten und friedlich streikenden, gehorsamen Trades-Unionisten die Arbeit wieder aufzunehmen befahlen mit der Begründung, dass sonst bald der Kohlenvorrath ausgehen und man das Land doch nicht ohne Kohle lassen könne, dass man den Streik nicht zu weit ausdehnen dürfe, dass dadurch die nationale Industrie und der Handel Schaden erleide und so weiter. Wenn in Europa schon oft genug der naheliegende Vergleich angestellt wurde, dass Arbeiter, wenn sie zwangsweise als Soldaten gegen Streikende ausrücken müssen, Wächterhunde zum Schutze des Kapitals, also ihre eigenen Wächterhunde gegen sich selbst werden — was soll man erst von den amerikanischen Trades-Unions sagen, deren Mitglieder in grosser Zahl der Miliz angehören, zu der sie wirklich in jedem Moment, besonders während der Streiks, einberufen werden können, um gegen die streikenden Arbeiter die „Ordnung" aufrecht zu erhalten? In Deutschland sind die streikenden aber wohl organisirten und disziplinirten Arbeiter dazu gelangt, mit weissen Binden am Arm bei ihren mitstreikenden Genossen die „Ruhe" — der Kapitalisten — aufrecht zu erhalten. In Amerika machen sie es in Uniform mit Säbel und Flinte; dort sind oft die Trades-Unionisten selbst bewusste und freiwillige Pinkertons des Kapitals und werden für diese Zugehörigkeit zur Miliz beileibe nicht aus den Trades-Unions ausgeschlossen. (Mit Ausnahme einer kleinen Anzahl Gewerkschaften, zu welchen Mitglieder der Miliz nicht zugelassen werden.) Die Solidarität der Trades-Unions ist gleich Null. Während des grossen Bergarbeiterstreiks in Colorado, in 1904, verbot Gompers in eincm Circular an alle Unions, der Gewerkschaft der streikenden Bergarbeiter der „Western Federation of Miners" irgend welche Unterstützung zu gewähren, weil sie während ihres Streiks nicht vollständig passiv und friedlich alle Brutalitäten der Kapitalmagnaten und ihrer Polizei ertrugen. Während dieses Streiks führten organisirte Lokomotivführer die Transporte der von Streikbrechern geförderten Kohle, führten sie die Züge, in denen die Streikenden zu hunderten in die einsamen Prärien Neu Mexico's deportirt wurden. Diese Passivität, dieser Legalitätsgeist der amerikanischen Arbeiterklasse hat zum grössten Theil dazu beigetragen, dass heute die kapitalistische Willkür in Amerika am unverschämtesten ist, die Macht der Trusts unbeschränkt und die Arbeiterklasse immer mehr zu der Bedeutung rechtloser Sklaven herabsinkt. Während alle grossen Streiks der letzten Jahre in Amerika elend verloren gingen, worauf die Arbeiter noch demüthig darum baten, wieder in die Arbeit aufgenommen zu werden und sie sich fortwährend ständige Lohnreduktionen gefallen lassen mussten, stiegen die Preise der Lebensmittel in den verflossenen fünf Jahren um 30 Prozent, und daher entfällt bei der fortwährenden ungeheuren Vermehrung der nationalen Produktion und des Reichthums von dem schon sonst nur der viel kleinere Theil auf Arbeitslöhne kommt, ein immer grösserer und steigenderer Prozentsatz auf die Kapitalisten. Nach jeder Lohnreduktion erhöhten noch die Trustmänner die Preise ihrer Waaren. Anschaulich zeigt nachfolgende Statistik das absolute Sinken der Lebenslage des amerikanischen Proletariats. Im Jahre 1890 betrug der Totalwerth der Produktion 46 Milliarden; im Jahre i9oo 65 Milliarden. Die Produktion stieg also um 41 Prozent. Im Jahre 1890 betrugen die Arbeitslöhne 11 Milliarden; im Jahre 1900 13 Milliarden. Die Summe der Arbeitslöhne stieg also nur um 19 Prozent. Demnach fielen auf die ganze Arbeitsklasse Nord-Amerika's: Im Jahre 1890 24 Prozent oder circa ein Viertel des Werthes der ganzen Produktion, und im Jahre 1900 nur noch 20 Prozent, also ein Fünftel der gesammten Produktion, die doch nur das Proletariat erzeugt hat. Dieses schrecklich deprimirende Resultat für die amerikanische Arbeiterbewegung, diese Missachtung des Proletariats sehen wir trotz der ungeheuren straffen, zwei Millionen Mitglieder zählenden Organisation und deren so wohl gefüllten Kassen. Viel richtiger ist es noch zu sagen, wegen dieser Umstände, denn im friedlichen Abwarten während des Streiks vertrauten die Arbeiter nur auf ihre Organisation und ihre Kassen, und in ihrem krankhaften heiligen Respekt vor den Gesetzen — der Kapitalisten und deren Eigenthum, — denken sie nicht daran, dass Muth, Entschlossenheit, Energie und revolutionäres, rasches Handeln wie in jedem Kampf, auch im Lohnkampf, ausschlaggebend ist — und dass die wirksamste Solidarität für die Streikenden nicht mit Geld, sondern durch den Streik in den anderen Berufen, durch Solidaritäts-Streiks, ausgeübt wird. Es handelt sich in jedem Kampfe nicht nur um die Zahl der Truppen und deren Kriegskasse, sondern vor Allem um den Geist der Kämpfenden. Von einer Erkämpfung eines weiteren Ideals, der sozialistischen Gesellschaft, ist bei den amerikanischen und englischen Arbeitern und Gewerkschaften gar keine Rede, denn sie anerkennen die Nothwendigkeit des Fortbestandes von Lohnarbeit und Kapital.
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Auch in Europa sieht es nicht besser aus, wo die Gewerkschaften der Arbeiter vom selben friedlichen, legalen, furchtsamen Geist erfüllt sind. Von England sprachen wir schon eingangs dieses Abschnittes und nun sehen wir, wie sich die ökonomischen, sozialen Verhältnisse in Deutschland in den letzten Jahren entwickelten. Hier waren die beiden letzten Jahre ganz besonders lehrreich. Wer wird jemals den denkwürdigen Weberstreik von Crimitschau vergessen? Dieser Streik gab durch seine Niederlage allein schon den Nachweis, dass die bisherige abwartende Taktik der Gewerkschaften dazu verurtheilt ist, erfolglos zu bleiben. Monate lang war die Aufmerksamkeit und die Sympathie der ganzen deutschen Sozialdemokratie auf diese, um nur ein bischen menschenwürdigeres Dasein ringenden Weber in Sachsen, dem "rothen Königreich," gerichtet. Die Unterstützungen flossen reichlich von allen Seiten, die Streikkassen waren voll, die Streikunterstützungen waren noch auf 11 Monate hinaus gesichert, — denn nach Schluss des Streiks blieben sogar noch 77,000 Mark Ueberschuss — mehr als vor dem Streik in den Gewerschaftskassen war, und trotzdem wurden die Arbeiter geschlagen und mussten sich zahllose Massregelungen gefallen lassen. Wie eine gehorsame Schaafheerde kehrten die Arbeiter in's Joch zurück, als ihnen dies die obersten Führer der deutschen Arbeiterbewegung befahlen und deren wichtigste Zeitungen es damit begründeten, dass die Arbeiter doch mehr Patriotismus besitzen sollten, als die Kapitalisten, und nicht durch Verlängerung des Streiks „ein blühendes Gemeinwesen" — die Industrie, den Handel und den Wohlstand (!) (der Bourgeoisie) von Crimitschau zerstören. Es war dasselbe Vorgehen, dasselbe Raisonnement, wie das der amerikanischen Gewerkschaftsführer Mitchell und Gompers. Dieser Streik von Crimitschau hat deshalb seine Bedeutung, weil er ein Markstein in der Geschichte der ökonomischen Kämpfe Deutschland's ist. Seit diesem Streik beginnt die ununterbrochene Serie der Niederlagen der Arbeiter in allen Streiks, beginnt die Zeit, seit der die siegreichen Kapitalisten immer mehr zur Offensive greifen und die Lohnkämpfe immer grössere Ausdehnungen gewinnen. Seit dieser Zeit beginnen aber auch schon in Deutschland und Oesterreich endlich, allerdings noch seltene vereinzelte Stimmen laut zu werden, dass es auf die Weise nicht mehr weiter gehen könne, beginnt die Erkenntniss endlich aufzusteigen, dass man den Millionen und Milliarden der Kapitalisten mit Streikpfennigen nicht beikommen könne, dass die blosse Existenz der Organisation und die Streikkasse allein den modernen Kapitalisten keine Furcht bereiten, sie niemals zum Nachgeben zwingen könnten. Wie um diese Wahrheit zu bestätigen, kamen in rascher Folge ähnliche furchtbare Lehren. Der Riesenstreik der Bergarbeiter im Ruhrgebiet, Anfang 1905, an dem 200,000 Arbeiter theilnahmen, musste nothwendig verloren gehen. Nicht nur wurde, wie immer, ruhiges, friedliches Abwarten gepredigt, sondern man stellte noch eine eigene sozialdemokratische Polizei auf. Ordner mit weissen Binden am Arm — die verhindern sollten, dass das Kapital, die Gruben der Ausbeuter, beschädigt, oder irgend ein Streikbrecher unsanft angefasst werde — kurz, die verhindern sollten, dass die Kapitalisten irgendwie ernstlich bedroht werden, dass es ja nicht zum wirklichen und direkten Kampf gegen die Aushungerer komme. Man beschränkte sich darauf, dem Streik den Charakter einer Art friedlichen, abwartenden Demonstration zu verleihen, um vielleicht auf diese Weise, durch Anerkennung des „Wohlverhaltens" Konzessionen bewilligt zu bekommen. Die im ähnlichen Geiste organisirten Bergarbeiter anderer Gebiete, wie Sachsens, Bayerns u. s. w. bezeugten ihre Solidarität einerseits durch Streikunterstützungen, andererseits aber auch gleichzeitig in der sonderbaren Weise, dass sie während des Streiks mit Ueberstunden viele Tausende Waggons mehr Kohle förderten — die fortgeschickt wurden, um sie während des Streiks in der Industrie, also im Dienst des Kapitals, zu verwenden. Diesen wohlorganisirten und disziplinirten Arbeitern war es leicht, „solidarisch" von jeden 5 Mark Lohn für Förderung von Streikbrecherkohle 5 Pfennig Streikunterstützung zu senden. Während die Arbeiter im Ruhrgebiet streikten und hungerten, verhandelten deren Vertreter in den Parlamenten und erzielten auch einige Versprechungen gesetzlicher Verbesserungen — aber nach Wiederaufnahme der Arbeit. Selbstverständlich blieb den deutschen Gewerkschaftsführern der Gedanke fern, durch Ausdehnung des Streiks auf die ganze Kohlenindustrie einen wirklich starken Druck auf das ganze Unternehmerthum auszuüben. Dies hätte die ganze Industrie in Mitleidenschaft ziehen können und das wollten die Führer nicht, obwohl dies gerade eine zweifellos energischere Massregel gewesen wäre als die Beschränkung des Streiks auf ein Gebiet. Von den Unternehmern direkt wurde nicht das geringste Versprechen erreicht und die Arbeiter vertrauten auf die indirekte Wirkung der Verordnungen und Gesetze des Staates zu Gunsten der Arbeiter. Natürlich waren die, nach dem beendigten Streik vom preussischen Parlament beschlossenen Bergarbeitergesetze derart, dass sie für die Arbeiter noch ungünstigere Verhältnisse schufen als vor dem Streik. Die Sozialdemokratie bezeichnete jedoch den Ausgang des Streiks als „moralischen Sieg," weil die bürgerliche und reaktionäre Presse Deutschlands den Streikenden für „ihre ruhige Haltung öffentliche Belobigung" aussprach. (Vorwärts, 11. Februar 1905.) Es sind dies sonderbare Rebellen, diese Sklaven, die stolz darauf sind, dass ihre Herren und Ausbeuter sie für ihr gutes und ungefährliches Verhalten beloben. Die sozialdemokratischen Blätter zogen aus diesem Streik die Lehre, die sie nun ihren gläubigen Lesern verkündeten, dass die Arbeiter eben noch mehr ihre „Organisation kräftigen, noch mehr ihre Streikkassen füllen müssen", „denn im modernen Kampf gebe die Kasse den Ausschlag“ [1] d. h. mit anderen Worten, den Arbeitern wurde versprochen, dass sie siegen werden, wenn die Kasse der Arbeiter über die Kasse der Kapitalisten den Ausschlag geben wird, also wenn die Arbeiter eben mehr Geld haben werden als die Kapitalisten. Und dieser unglaubliche Blödsinn findet noch Glauben unter vielen Arbeitern! Warten, warten, bis die Arbeiterverbände mehr Geld haben als die Millionäre und ihre Trusts! ja, in diesem Falle würden ja die Millionäre vielleicht streiken müssen, und wenn die Arbeiter schon reicher sind als die Kapitalisten, haben sie sich den Sozialismus schon „erspart" und gekauft und brauchen ihn nicht erst durch eine soziale Revolution zu erkämpfen. Das ist leider kein Spass und keine Uebertreibung. Im Februar 1903 verspottete die „Metallarbeiter-Zeitung" (Berlin) in einem Artikel über die Idee des Generalstreiks die französischen Arbeiter, dass sie es noch immer vorziehen, ihr Blut statt ihr Geld für ihre Befreiung herzugeben!
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Der Streik der Berliner Metallarbeiter und Gürtler (im selben Jahre), der 21 Wochen dauerte, hinter dem die 200,000 Mitglieder zählende deutsche Metallarbeitergewerkschaft stand, war vom selben Geiste beseelt und ging selbstverständlich verloren. Der Ausstand der Berliner Elektriker, bei dem die Unternehmer die Angreifenden waren und modern, nach anglo-amerikanischem Muster, 40,000 Mann aussperrten, endete natürlich ebenfalls mit vollständiger Niederlage der Arbeiter, die sich darauf beschränkten, nach der alten Methode friedlich abzuwarten — vielleicht in der Hoffnung, die Aktionäre der grossen Aktiengesellschaften, die je 200 Millionen Kapital besitzen — etwa durch Aushungern zum Nachgeben zu zwingen. Ein erwähnenswerthes Detail ist aus dem Kampf zu verzeichnen. Als einmal während des Streiks in einer elektrischen Zentrale Feuer ausbrach — von selbst, ohne Schuld der Streikenden — und so sich schon der Zufall mit den Streikenden verband, da waren es streikende Arbeiter selbst, die herbeieilten zur Rettung des Kapitals ihrer Ausbeuter, die sie aussperrten und aushungerten. *** 2. Die Ursachen der Erfolglosigkeit friedlicher Lohnkämpfe. Alle diese, im vorigen Kapitel behandelten Streiks, mussten nothwendiger Weise verloren gehen, waren von vornherein zur Niederlage verurtheilt, und so ist es kein Wagniss, bestimmt vorherzusagen, dass auch in Zukunft alle Streiks, die auf ähnliche Weise geführt werden, zur Erfolglosigkeit verurtheilt sind. Wie Alles rings um uns, alle Erscheinungen des öffentlichen Lebens, ständiger Umwandlung, ständiger Entwickelung unterworfen sind, wie die ökonomischen Verhältnisse sich verändern und entwickeln, so müssen sich auch selbstverständlich die Formen des Kampfes verändern. Der friedliche Streik, das blosse Verweigern der Arbeitskraft, um dadurch den Meister, den Fabrikanten zum Nachgeben zu zwingen, war die seit 30, 40, ja So Jahren, oft bewährte Taktik. Diese Taktik bewährte sich noch besser, als sich die Arbeiter oreanisirten und dann durch grössere und regelmässige Streikunterstützungen längere Zeit ohne den Lohn des Meisters aushalten konnten, der aber selbst auf die Arbeitskraft seiner Arbeiter angewiesen war, die ihm direkt seinen Lebensunterhalt verdienten. Den kleineren Fabrikanten und Meistern gegenüber, die nur einige Gesellen beschäftigten, konnten solche Streiks recht häufig siegreich sein, denn es war eine Art Magenduell. Die Arbeiter, die schon so an's Hungern gewöhnt waren, konnten häufiger ausharren als der Meister, der oft selbst von der Hand in den Mund lebte, der auf Bestellungen für seine Kunden arbeitete und durch Verzögerung der Lieferungen seine Kundschaft und somit seine gesicherte Existenz verlieren konnte. Seine Konkurrenten benützten freudig die Gelegenheit, um ihm das Feld abzulaufen, und der Meister war wirklich oft durch den Streik — den friedlichen Streik — vor die Möglichkeit des Ruins gestellt. Das blosse friedliche Ausharren konnte den Sieg der Arbeiter herbeiführen und die Streikkasse gab wirklich oft den Ausschlag. Der kleine Unternehmer fürchtete den Streik als etwas Ungewöhnliches, Schreckliches, und bewilligte oft aus Furcht, denn er war gezwungen, nachzugeben, um selbst leben zu können. Doch im Laufe von 30 Jahren, ganz besonders der letzten 15 Jahre kapitalistischer Entwickelung der Industrie, haben sich die Verhältnisse gewaltig verändert. Die Kapitalisten lernten zum Theil von den Arbeitern. Sie organisirten sich zu Unternehmerverbänden, Kartellen, Trusts, um der Solidarität der Arbeiterklasse, die viel gewaltigere Solidarität der Kapitalistenklasse entgegen zu setzen. Sie begannen auch, sich gegenseitig während der Streiks durch Prämien zu unterstützen und — was ganz besonders wichtig ist — durch gegenseitige Anfertigung von Streikarbeit, so dass trotz des Streiks der Unternehmer die dringendsten der gewünschten Bestellungen erledigen konnte, und so auch sein Absatzgebiet nicht geschädigt wurde. Die technisch-ökonomische Entwickelung verhalf auch zu dem Resultat, dass die alten Streiks den Kapitalisten ungefährlich wurden. Wenn auch das Kapital sich nicht in wenigen Händen persönlich konzentrirt, so konzentrirte es sich doch technisch immer mehr in ungeheuren Betrieben, Aktiengesellschaften und Trusts, die zwar von wenigen Direktoren geleitet werden, hinter denen aber die zahllosen anonymen Aktionäre, die ganze solidarische parasitische Kapitalistenklasse steht, deren Existenz nicht an ein bestimmtes Unternehmen gebunden ist, weil sie ihr Geld in verschiedenen Aktien, allerlei Unternehmungen anlegen. Durch einen zeitweiligen Stillstand des Betriebes kann höchstens der Prozentsatz der Dividenden eines Theiles ihrer Aktien um etwas sinken, ruinirt können sie dadurch auf keinen Fall werden; die Kundschaft verlieren solche Riesenbetriebe ebenfalls nicht, weil sie keine Konkurrenz zu befürchten haben. Noch ein weiterer Umstand, der früher häufig den Arbeitern zum Siege verhalf, bestand darin, dass bei den gegenseitigen Kontrakten der Lieferant, Bauunternehmer etc. an eine bestimmte Zeit gebunden war, während welcher die Waare geliefert, der Bau, die Brücke, die Bahn etc. fertiggestellt sein mussten, widrigenfalls eine Verzögerungsbusse festgesetzt war. Bedroht von der Verzögerungsbusse musste der Unternehmer den Forderungen der Arbeiter nachgeben, um den Auftrag rechtzeitig auszuführen. Heute wird aber in allen Kontrakten die Klausel aufgenommen, dass diese Verzögerungsbusse nicht gezahlt wird, wenn die Verzögerung durch Elementarereignisse, Feuer, Krieg, Erdbeben und Streiks etc. verursacht wurde. Auch darf nicht vergessen werden, dass bei dem Anwachsen der Macht der grossen Unternehmer, wie in Amerika, die Milliardäre die wirklichen und autokratischen Despoten über das ganze Volk werden, das. sie nach Belieben aushungern können, oder in Deutschland, wo Männer wie Krupp und Stumm sich der persönlichen Freundschaft des Kaisers rühmen konnten, es ihnen auch als „point d'honneur", als Ehrenpunkt erscheint, im Kampf mit den von ihnen so verachteten Proletariern nicht besiegt zu werden. Deren Stolz und Verachtung des Proletariats ist viel grösser, wie die Verachtung der kleinen Meister ihren Arbeitern gegenüber. Sie sind unendlich weiter von ihm entfernt und kommen niemals in die geringste Berührung miteinander. Sogar dort, wo sie mit Leichtigkeit nachgeben könnten, handelt es sich bei den grossen Kapitalisten in erster Linie um das Prinzip ihrer selbstherrlichen Autokratie über die Arbeit und das Proletariat, von dem sie sich nichts abtrotzen lassen wollen. Sie sind eher bereit, die grössten materiellen Schädigungen zu ertragen, Streikbrecher während der Zeit des Streiks oft höher zu bezahlen als die Ansprüche der Streikenden sind, nur damit ihr Stolz als Herren über ihre verachteten Sklaven keine Einbusse erleidet. Sie wollen „Herren in ihrem Hause" (in der Fabrik) sein — wie sie sagen — und sich nichts von den Arbeitern vorschreiben lassen. Ein weiteres Moment ist das ständige Anwachsen der Arbeitslosigkeit, die das Streikbrecherthum ausserordentlich begünstigt. Zu einem furchtbaren Mittel greifen nun die Unternehmer gegen die Arbeiter, um deren einzige Waffe, den einzigen Rückhalt in den gegenwärtigen Lohnkämpfen, ihre Organisationen und ihre Streikkassen zu zerstören — zur Aussperrung (lock-out) und zur Generalaussperrung. Um z.B. die Organisation zu zerstören, schliessen sie alle Arbeiter aus und erklären sie nur dann erst wieder aufzunehmen, wenn sie sich verpflichten, aus der Organisation auszutreten; oder um einen Theil der Arbeiter zu zwingen, zur Arbeit zurückzukehren, sperren sie zehntausende anderer unbetheiligter Arbeiter verwandter Berufe aus, um es ihnen unmöglich zu machen, die Streikenden zu unterstützen, um die einlaufenden Streikunterstützungen auf recht viele Menschen zu zersplittern, um auf die Streikenden auf diese Weise einen Druck auszuüben, kurz um die Kasse der Streikenden „zum Weissbluten" zu bringen. So stehen die Verhältnisse heute. Wir sehen, dass sie sich gewaltig zu Gunsten der Kapitalisten verschoben haben. Wir sehen, wie die Kapitalisten den alten Kampfmethoden des Proletariats gegenüber neue Vertheidigungs- und Angriffsmassregeln ergreifen und damit die Arbeiter immer besiegen. Es ist heller Wahnsinn zu glauben, die Arbeiter könnten den millionenreichen Kapitalisten, den anonymen 'Aktionär, der nicht einmal weiss, wo die Fabrik liegt, an der er mit seinen Aktien betheiligt ist, aushungern wie einen kleinen Meister, der sechs Gesellen hält, oder ihn in seiner Existenz durch blosse Verweigerung der Arbeitskraft gefährden. Geradezu kindisch ist das Vertrauen auf die Kasse, denn die Kapitalisten haben doch immer mehr Geld wie die Arbeiter, jedem Pfennig der Arbeiter können die Unternehmer i000 Mark entgegenstellen. Die Einsicht, dass mit der bisherigen Gewerkschaftstaktik nicht mehr viel zu erreichen ist, steigt auch in den Köpfen vieler Sozialdemokraten auf und das brachte sie nun dazu, dem ökonomischen Kampf des Proletariats überhaupt seine Bedeutung abzusprechen, dass „der Streik als Selbsthilfe nur dem liberalen, aber nicht dem sozialistischen Gesichtspunkt entspricht" („Vorwärts", nach dem Streik im Ruhrgebiet), und dass deshalb das moderne Proletariat sich mehr auf die politische Bethätigung verlegen soll, um durch gesetzliche Reformen seine Forderungen durchzusetzen. Doch lehrte uns nicht die Erfahrung des Parlamentarismus, dass alle sogenannten Reformen zu Gunsten der Arbeiter nichts als Scheinreformen waren, dazu bestimmt, die Arbeiter hintanzuhalten? Jede gesetzliche Festsetzung der Arbeitszeit, jedes dem Proletariat günstige „Arbeitergesetz" wurde erst beschlossen, nachdem es die Praxis in Wirklichkeit schon längst eingeführt hatte. So wurde der gesetzliche xi Stunden-Tag wohlgemerkt nur für die Fabriken eingeführt, nachdem die Arbeiter schon längst allerdings auch nur in den Fabriken 18 —nicht länger als 10 oder 9½ Stunden arbeiteten, — so wurden z. B. in Frankreich erst im Jahre 1881 die Gewerkschaften gesetzlich erlaubt nachdem sie schon längst bestanden hatten und funktionirten, ohne sich um das Gesetz zu kümmern. Die Anhänger dieser alten Taktik setzen ihr Vertrauen ganz auf die in direkte Aktion, um durch Parlamente, Schiedsgerichte etc., auf friedliche Weise und auf Umwegen von den Unternehmern und der herrschenden Macht Konzessionen für die Arbeiter bewilligt zu bekommen, — statt durch die direkte Aktion, statt durch direkten energischen Druck auf die Unternehmer, ihnen dadurch die Forderungen des Proletariats zu entreissen. Die Arbeiter, resp. deren Vertreter, können vom Staate in den Parlamenten nur so viel erringen, als die Arbeiter selbst den Kapitalisten, und dem politischen Ausdruck der Bourgeoisie, dem Staate entringen können. Mit anderen Worten bedeutet dies kurz folgendes: "Die Arbeiter sollen ihre Forderungen bei den Unternehmern auf diese Weise durchsetzten, dass sie durch ihre Kraft die zentrale Gewalt, den Staat, zwingen, den Willen der Arbeiter bei den Kapitalisten durchzusetzen." Darauf aber antworten wir: Wenn die Arbeiter mächtig genug sind, den Staat zu veranlassen, ihren Willen den Kapitalisten aufzuzwingen wozu dann auf dem Umweg des Staates zu gehen, statt die Forderungen direkt durchzusetzen? So kam man auch auf das Wort die „direkte Aktion". ** II. Die direkte Aktion gegen die Unternehmer. *** 1. Was heisst „direkte Aktion"? Die Worte direkte Aktion kamen erst vor wenigen Jahren auf. Zuerst von Frankreich aus propagirt, verbreitete sich dieses Losungswort rasch unter den Arbeitern der anderen romanischen Länder und zuletzt auch in der Schweiz. Als die Arbeiter dieser Länder am eigenen Leibe zu erkennen begannen, wie der immer mächtiger werdende Kapitalismus ihrer alten Waffen spottet, als sie an Beispielen merkten, dass es weder auf dem bisherigen friedlichen Wege, noch mit den in-direkten Mitteln der Vermittler und Parlamente fernerhin ginge, als sie sahen, dass auf diese Weise alle ihre Hoffnungen betrogen wurden, wandten sie sich von denjenigen ab, die sie in dem alten Geleise festhalten wollten und griffen mit Erfolg zu einer neuen ökonomischen Kampfmethode, die allgemein direkte Aktion genannt wird. Was ist nun diese „direkte Aktion"? Wörtlich bedeuten diese Worte den unmittelbaren Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer, den unmittelbaren Kampf der Arbeiterklasse gegen die Unternehmerklasse. Nicht auf Umwegen durch Schiedsgerichte und Parlamente, sondern durch direkten Druck auf die Unternehmer sollen die gewünschten Reformen von den Arbeitern selbst eingeführt werden, wobei vor allem der allerrascheste, beste und energischste Weg eingeschlagen wird, ohne sich besonders zaghaft an das zu halten, was das Gesetz derjenigen, denen man ja die Forderungen entreissen will, verbietet oder erlaubt. Die direkte Aktion kann die mannigfaltigsten Formen annehmen. Sie kann in ihrer einfachsten Form sogar friedlich verlaufen, indem die Arbeiter gewisse Wünsche, wie z. B. Verkürzung der Arbeitszeit, ohne lange zu bitten, selbst einführen. Unter die Gesammtbezeichnung „direkte Aktion" gehört der revolutionäre terroristische Streik, der ökonomische Terror, der persönliche Terrorismus gegen verhasste Ausbeuter und Antreiber; kurz gegen kapitalistische Despoten; der Sabot (sabottage) Gocanny, Obstruktionismus, Boykott, kurz alle energischen revolutionären und direkten Mittel, die ohne Vermittlung und Umwege geeignet sind, die Forderungen des Proletariats durchzusetzen. *** 2. Die einfachste unmittelbarste Form der direkten Aktion. Diese tritt dort in Erscheinung, wo die Arbeiter bestimmte Reformen, wie Verkürzung der Arbeitszeit, Einführung der Sonntagsruhe, Aufhebung gewisser Missstände selbst direkt durchführen, ohne erst in den Streik zu treten, um diese Forderungen zu stellen und ohne erst mit den Unternehmern lange zu verhandeln. So handelten z. B. vor einiger Zeit die Petersburger Schriftsetzer, die nicht erst lange petitionirten, dass ihnen die Sonntagsruhe „bewilligt" werde, sondern sie kamen einfach am Sonntag nicht mehr zur Arbeit und führten auf diese Weise faktisch die Sonntagsruhe ein. In einer grossen Anzahl von Industrien errangen die Arbeiter auf ähnliche Weise den 8-Stundentag, indem sie alle nach 8 Stunden gethaner Arbeit einmüthig gleichzeitig die Fabriken verliessen. Im Frühling 1905 gingen genau so die Züricher Tischler vor, die den 9½ stündigen Arbeitstag dadurch erreichten, dass sie nach Ablauf von 917i Arbeitsstunden, ohne die Meister erst um Erlaubniss zu fragen, einfach nach Hause gingen. Während der Streikperiode in Russland in den Jahren 1904 und 1905 kamen öfters solche Fälle vor, und waren in der Regel von günstigem Erfolg begleitet. So erreichten in Tiflis, im Juli 1904, die Kommis der Kaufläden, dem sogenannten Karavan-Seraj, der 200 Magazine mit 2000 Angestellten besitzt die Schliessung der Geschäfte um 8 Uhr Abends, statt wie bis dahin um II Uhr. Nach Verabredung verliessen sie alle jeden Abend die Geschäfte schon um 8 Uhr und gingen am nächsten Tage morgens wieder zur bestimmten Stunde an die Arbeit. Sie begnügten sich aber damit nicht, sondern gingen schon am nächsten Abend, als sie den Karavan-Seraj um 8 Uhr verliessen, in die Stadt und veranlassten die Angestellten der anderen Geschäfte ebenfalls um dieselbe Zeit aufzuhören. Acht Tage später wurde das Schliessen der Geschäfte um 8 Uhr zur allgemeinen Regel. Auf clieselbe Weise erzielten dort die Bauarbeiter die Verkürzung der Arbeitszeit von 16 auf 10 Stunden. In Marseille errangen die Dockarbeiter im Jahre 1904 auf ähnliche Weise den Neunstundentag. Ohne erst lange von den Parlamenten die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit zu verlangen, stellten sie die Forderungen direkt an die Unternehmer, verlangten aber auch gleichzeitig die Beibehaltung des ganzen früheren Tagelohnes. Die Unternehmer weigerten sich, und so kamen die Arbeiter jeden Morgen zur Arbeit, arbeiteten bis Mittag und liessen die Arbeit in der Mitte stehen, nachdem sie ihre Forderungen wieder vorgelegt hatten. Nach 6 Wochen solchen Halbtagstreiks, der gewissermassen jeden Tag auf's Neue anfing, wobei während der ersten Hälfte des Tages nicht mit allzu grossem Fleisse gearbeitet wurde, und die Arbeit im allgemeinen ungeheuer verzögert wurde, die Arbeiter aber doch das allernöthigste zum Leben verdienten, — mussten die Unternehmer nachgeben und bewilligten die Forderungen der Arbeiter. Von diesem Geiste der direkten Aktion war auch der im Herbst von 1904 in Bourges abgehaltene Kongress der französischen Gewerkschaften beseelt, auf dem beschlossen wurde, am i. Mai 19°6 für ganz Frankreich den 8-Stundentag einzuführen. Nicht etwa durch Petitionen und Gesetzgebung, sondern durch die direkte Aktion, durch den festen, entschlossenen Willen des Proletariats sollte vom 1. Mai 1906 ab in ganz Frankreich nicht länger als 8 Stunden täglich gearbeitet werden. Diese Forderung des Achtstundentages, die seit bald 20 Jahren geradezu ein Hauptpunkt der sozialdemokratischen Reformprogramme ist, aber deren Verwirklichung in unabsehbare Ferne herausgeschoben wird, sollte nun vom 1. Mai 1906 direkt von den Unternehmern erzwungen und durch den blossen Willen der Arbeiter eingeführt werden. Zu diesem Zwecke wurde durch anderthalb Jahre eine ununterbrochene Propaganda mit allen Mitteln betrieben. Gleichlautende Plakate wurden in allen Orten Frankreichs aufgeklebt, die die Arbeiter aufforderten, sich vom 1. Mai 1906 ab den Achtstundentag selbst einzuführen, Handzettel mit den Worten: „Vom 1. Mai 1906 arbeiten wir nicht länger als 8 Stunden" wurden zu hunderttausenden vertheilt und ähnliche, aufklärende kurze Sätze und Aufforderungen wurden an allen Orten, an den Thoren und Mauern aller Fabriken und Werkstätten, in allen Lokalen, wo Arbeiter verkehren, aufgeklebt, um diesen Beschluss des Gewerkschaftskongresses von Bourges, ebenso den Arbeitern, wie den Unternehmern ständig vor Augen zu halten. So oft die Zettel abgekratzt wurden, wurden unbemerkt neue, in noch grösserer Anzahl aufgeklebt. Während des Sausens und Heulens der Maschinen sah der müde Arbeiter ständig vor seinen Augen auf der Maschine, seinem eisernen Despoten, den kleinen rothen Zettel kleben: „Vom 1. Mai 1906 verlassen wir die Fabrik nach acht Stunden gethaner Arbeit." Massenhaft verbreitete Broschüren und zahllose Volksversammlungen in ganz Frankreich bereiteten das Proletariat auf diesen bedeutenden Tag vor, an dem es sich selbst, durch seine direkte Aktion, das erringen sollte, was ihm seine Führer schon seit Jahrzehnten versprachen. Obwohl das Proletariat seine Forderung an diesem Tage noch nicht durchsetzen konnte, weil es zu schwach und zu wenig vorbereitet war, so ist wenigstens durch die ungeheure Agitation im ganzen Lande der Weg gezeigt worden, wie das Proletariat für seine Forderungen zu kämpfen hat. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist thatsächlich die wichtigste Reform für das Proletariat, denn sie bedeutet mehr wirkliche Freiheit, weniger Stunden Sklaverei, mehr Stunden für das eigene Leben, die eigene Freude, das eigene Glück, sie bedeutet Zeit und Gelegenheit zur Bildung und zur Vorbereitung zum endgültigen Kampf. In verschiedenen Städten Frankreichs erzwangen die Arbeiter, die sich mit den Handlungsgehilfen solidarisirten, den Ladenschluss zu einer bestimmten Stunde des Abends dadurch, dass sie vor den offenen Geschäften von der beschlossenen Stunde ab Krawalle veranstalteten, die Scheiben einschlugen, Stinkpillen in die Geschäfte warfen, das Publikum verscheuchten und es gleichzeitig durch überall aufgeklebte, aufklärende Zettel warnt e n, nach der festgesetzten Stunde im Laden Einkäufe zu besorgen. Das erschreckte Publikum blieb nach der bestimmten Stunde aus und viele Geschäftsinhaber schlossen ihre leeren Geschäfte schon deshalb, um nicht unnütz Beleuchtung zu verbrauchen. Alle diese bisher verhandelten Formen der direkten Aktion veranschaulichen diesen Gedanken am klarsten und können sogar in manchen Fällen ganz friedlich verlaufen. Meistens suchen aber die Unternehmer durch Gegenmassregeln, Aussperrungen, Lohnreduktionen den Erfolg der Arbeiter zu hintertreiben worauf oft ein revolutionärer Kampf nothwendig wird. Bei Lohnforderungen kann diese Methode kaum in Betracht kommen. Um diese durchzusetzen, sind energischere Massregeln nothwendig, die wir in den folgenden Kapiteln behandeln. *** 3. Der revolutionäre Streik — der ökonomische und der soziale Terror. Nachdem die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt hatten, dass die friedlichen Streiks auf die grossen Unternehmer keinen direkten Druck ausüben, denen gegenüber ein Streik nicht viel mehr ist, als eine ruhige unschädliche Demonstration, eine Art bekräftigter Petition, erkannten die Arbeiter der romanischen Länder, dass ein direkter Druck auf die grossen Unternehmer nur dann ausgeübt wird, wenn diese eben so, wie früher die kleinen Meister, durch den Streik in ihrer Existenz, in ihrem Kapital, ja auch in ihrer Person bedroht werden. Wie der Kapitalist den Arbeiter ständig in seiner Person, in seiner Gesundheit und Leben bedroht, da er ihn, sein Weib und seine Kinder jederzeit dem Hunger aussetzen kann, wenn er ihn aus der Arbeit jagt und ihm die Lebensmittel entzieht, so muss auch — nach Auffassung der Anhänger der direkten Aktion in Frankreich — der Arbeiter, um zu siegen, mit gleichen Waffen kämpfen, d. i. den Kapitalisten in seiner Existenzmöglichkeit bedrohen, um so Forderungen von ihm direkt und mit Nachdruck zu erzwingen. Er erzwingt sie dort, wie gesagt, nicht mehr durch friedliche, abwartende Arbeitsniederlegungen, sondern durch revolutionäre terroristische Streiks, durch ökonomischen Terror. Der revolutionäre Streik unterscheidet sich im Wesentlichen darin von der friedlichen, legalen, abwartenden Arbeitsniederlegung, die geradezu Resignationsstreik genannt werden könnte, dass der revolutionäre Streik seinen Erfolg nicht vom langen Ausharren, wohlgefüllten Kassen, ruhigem Verhalten abwartet, um die Sympathien der Bourgeoisie und eventuell Intervention ‚ von seiten der Behörden zu Gunsten der Arbeiter zu erreichen, sondern vielmehr seinen Erfolg in raschen, energischen Aktionen, in der Einschüchterung der Kapitalisten sieht, der durch Zerstörungen, Beschädigungen seiner Fabriken und Bergwerke, seines Eigenthums, wirklich vor die Gefahr gestellt wird, gänzlich ruinirt zu werden und eventuell gar auch hungern zu müssen — ja auch zuweilen durch die revolutionäre Erbitterung der Arbeiter in seinem Leben, in seiner Person bedroht zu werden. Besonders in rolchen Fällen, unter solcher „direkten Aktion" der Arbeiter bewilligten die bedrohten Kapitalisten recht rasch die- Forderungen, denn -noch mehr als um ihr Kapital sind sie um ihre Existenz besorgt. Immer bewährt sich das alte Wort: „Dem Bittenden gewährt man nichts, dem Drohenden etwas, dem Gewaltthätigen Alles." Da die direkte Aktion am häufigsten in den revolutionären Streiks zum Ausdruck kommt, so wollen wir auch diese hauptsächlich unter der Gesammtbezeichnung „direkte Aktion" verstehen. Gegenüber der Auffassung der Anhänger des ruhigen, legalen Streiks lehrt die „direkte Aktion", dass gerade der Legalismus, der Geist der Gesetzlichkeit und des Gehorsams eine der Hauptursachen der Niederlagen der Arbeiter sein muss. Dieses ewige Ermahnen zur Ruhe und Achtung der uns feindlichen Gesetze der Kapitalisten und deren Eigenthurn, das wir schaffen; dieses elende Schlagwort der Feigheit: „Lasst Euch nicht provociren", das nichts anderes bedeutet als: „Lasst Euch ruhig verprügeln! Lasst Euch ohne Widerstand bestehlen, berauben und erschiessen" — muss die Arbeiter nothwendiger Weise deprimiren und hoffnungslos stimmen. Gegenüber der fortwährenden Missachtung der eigenen Gesetze, sobald sie die Kapitalisten nur im geringsten in der Unterdrückung der Arbeiter behindern, sollen die Arbeiter aber in ihren Lohnkämpfen diese Gesetze, diese Gebote ihrer Feinde, ihrer Unterdrücker befolgen. Es ist geradezu ein Hohn auf das Proletariat. Die satte Bourgeoisie beschliesst Gesetze, mit denen sie sich, ihren Wohlstand und ihre Pracht wie mit einem schützenden Wall gegen die andringenden Hungerleider umgibt. Den Proletariern aber, die gerade dieser Bourgeoisie einen etwas grösseren Antheil auf die Lebensgüter entreissen wollen, impft man eine heilige Scheu vor diesem Gesetzeswall der Bourgeoisie ein, über den sie zwar selbst, wenn sie es zum Angriff für nothwendig hält, oft genug hinübersetzt, den aber die Arbeiter nicht angreifen sollen. Diese friedlichen Streiks tödten auch die Energie der Streikenden; ihr Selbstvertrauen, ihr persönlicher Muth und die Initiative sind ausgeschaltet, man verlässt sich auf die obersten Führer, Vermittler und Parlamente und vor Allem auf Geldunterstützungen. Jeder Enthusiasmus, jeder Schwung wird in diesem Streik durch die ewigen Friedhofpredigten der Führer abgetödtet. Ein Streik, diese Form der Empörung der Arbeiterklasse, kann doch niemals, wie überhaupt keine Revolte, ohne Begeisterung, ohne anfeuernde Beispiele der Entschlossenheit und des Muthes der Arbeiter siegreich sein. Die Muthigsten müssten durch die That, das Beispiel, mit dem sie sich über die Gesetze der Kapitalisten hinwegsetzen, die Anderen zur Nacheiferung anspornen. Wenn eine Festung gestürmt werden soll, müssen die Muthigen zuerst mit Gefahr ihres Lebens die Wälle erstürmen, damit die Anderen folgen können. Ohne den Opfermuth dieser Ersten könnte niemals eine Festung erobert werden. Während des friedlichen Lohnkampfes zieht sich der Streik in die Länge, es ist Zeit, Streikbrecher aus der ganzen Welt heranzuziehen, die von der Polizei und den Truppen gegen die Streikenden beschützt werden. Die hoffnungsfreudige Stimmung sinkt, die Unentschlossenen, die Furchtsamen werden durch das allmählige Antreten von Streikbrechern trotz Streikunterstützungen, die doch auch nicht ewig währen können, — aber auch nicht zuletzt durch das fortwährende Ermahnen zur Ruhe und Gesetzlichkeit noch mehr eingeschüchtert und kehren zur Arbeit zurück. Inzwischen beschützen die Truppen die Streikbrecher und das Eigenthum der Ausbeuter, die sozialdemokratische Streikpolizei hilft den Truppen, und der Kapitalist, so wohl beschützt und behütet von seinen eigenen Sklaven, lacht sich ins Fäustchen und wartet bei voller Tafel, bis die ausgehungerten, feigen Sklaven zu ihm kommen, um ihn demüthig zu bitten, sie wieder ins Joch zu spannen. Die Anhänger der revolutionären Streiks wissen, dass nur diejenigen Streiks siegreich sein können, die rasch, von kurzer Dauer sind, in denen die Arbeiter ihre Energie nicht extensiv, sondern intensiv auf einige Tage konzentriren, um die Unternehmer mit allen Mitteln einzuschüchtern, zu besiegen und die Forderungen zu erzwingen. — Wie oft spielt die Bourgeoisie bei den Streiks mit dem Leben der Proletarier, wie viele Arbeiter wurden schon bei Streiks von „Rothschildhusaren", kaiserlichen, königlichen und republikanischen Truppen erschossen, wenn sie mehr Brod und Freiheit verlangten? — Sollen da also die Arbeiter Respekt haben vor den Gesetzen, dem Eigenthum und dem Leben ihrer Ausbeuter und Mörder? In den Ländern, in denen das Proletariat nicht durch den Geist der Gesetzlichkeit versklavt und disciplinirt ist, antwortet es in seinen Kämpfen auf den ständigen kapitalistischen Polizei- und Hunger Terror mit dem ökonomischen und dem antibourgeoisen, oder sozialen Terror. Der ökonomische Terror ist die Bezeichnung für die gewaltsamen plötzlichen Beschädigungen und Zerstörungen der Produktionsmittel und des Eigenthums der Kapitalisten, um sie einzuschüchtern und aus Furcht vor noch energischeren Massregeln zur Bewilligung der wirthschaftlichen Forderungen der Arbeiter zu zwingen. Diese noch energischeren Massregeln sind die Akte des antibourgeoisen oder sozialen Terrors, der Terrorismus gegen die Person und das Leben der Kapitalisten und dessen Generalstab. Es sind in letzterer Zeit häufig solche Fälle vorgekommen, dass z. B. missliebige Werkmeister und Antreiber von den Arbeitern direkt beseitigt wurden, ohne erst lange darum bei den Unternehmern zu petitioniren, indem sie einfach ins bessere Jenseits geschickt wurden. Es waren dies die Fälle von Spano und Pivoteau in Frankreich, der Fall Berkman in Amerika, der während des Streiks den Unternehmer niederschoss, um die Arbeiter durch das Beispiel zum Kampf anzufeuern. Natürlich gehört auch zum revolutionären Streik das heilsame Verprügeln und Abschrecken der Streikbrecher. In Russland kommen in letzterer Zeit häufig Fälle von Attentaten auf die Fabrikanten vor, die die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligen wollen. Einer solchen „direkten Aktion" verschliessen die Unternehmer selten ihr Ohr und ihr Herz. In manchen Gegenden Russlands hatten es sich die Arbeiter direkt zum Prinzip erhoben, nach jedem verlorenen Streik den Kapitalisten aus Rache zu tödten — was sehr häufig zur Folge hatte, dass bei folgenden Streiks die Kapitalisten, deren Bekannten unter ihren Klassengenossen solche Unannehmlichkeiten passirt waren, nicht eilig genug nachgeben konnten, weil sie fürchteten, dass es bald auch ihnen an den Kragen gehen könnte. Und wichtiger als die Vollständigkeit des Geldsackes ist doch noch die Unverletzbarkeit des Wanstes, und wo das Leben in Gefahr ist, da lüftet auch der geizigste Ausbeuter die Thüren seines Kassenschrankes. Gemüthvolle Seelen könnten sich über ein solches Systementrüsten, aber die russischen Arbeiter denken, dass wenn der Kapitalist fortwährend in dieser Form dem Arbeiter gegenübertritt, dass deren einfachster, ungeschminkter Ausdruck lauten müsste: "Arbeite für mich, oder krepire vor Hunger, und wenn Du frech wirst, schiessen Dich meine Soldaten — Deine eigenen verblödeten Brüder — nieder!" So kann der Arbeiter wohl dem Kapitalisten ebenso aufrichtig entgegentreten und ihm zurufen: „Entweder rückst Du von nun ab mit mehr Geld für weniger Sklavendienst heraus, oder wir zerschlagen Dir alle Maschinen, Fabriken und vielleicht gar auch noch Deine Knochen!" Es ist dies eine neue Form des Tyrannenmordes, der soziale Tyrannenmord, da doch die Bourgeoisie der kollektive Tyrann des Proletariats ist. Auf den politischen Terrorismus gegen die politischen Tyrannen folgt nun der ökonomische und soziale Terrorismus gegen die ökonomischen Tyrannen. Wenn auch solche terroristische Thaten nur das Werk von einzelnen muthigen, revolutionären Genossen sein können, so erhalten sie doch dadurch, dass sie der Verbitterung der grossen Masse Ausdruck geben, die dann oft dem muthigen Beispiel der Wenigen nachfolgt, ungeheure Bedeutung, umsomehr als Dank der Ausdehnung der Bewegung (bei grossen Streiks) die Truppen, die zur Bewachung des Eigenthums aufgestellt sind, doch nicht im Stande sind, Alles zu bewachen. Ein sehr wichtiges Moment, das die Möglichkeit des Erfolges bei Streiks erleichtert, ist eben die grösstmöglichste Ausdehnung, die Generalisirung des Streiks, bei welcher am leichtesten und ungefährlichsten terroristische Aktionen ausgeführt w erden können. Beispiele solcher terroristischer Streiks, die fast immer siegreich verlaufen, liefert uns die Geschichte der letzten Jahre recht viel. Zu den berühmtesten gehörten die revolutionären Streiks von Barcelona i9o2, Bilboa 1903, die Streiks in Lorient, Hennebout 1904, in Brest 1905, in Baku 1905, fast alle Streiks der letzten zwei Jahre in Russland etc etc.
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In den Gruben Bilba os (Nord-Spanien) wurde im Herbst 1903 für die Abschaffung des Trucksystems und wöchentliche Auszahlung gestreikt. Die Arbeiter mussten in den Läden ihrer Ausbeuter den ärgsten Schund (Gips für Mehl etc.) um horrende Preise kaufen, so dass sie noch beständig den Unternehmern schuldig blieben, also direkt an sie wie Sklaven gebunden waren. Die Sozialdemokraten predigten Ruhe und riethen zur Aufgabe des Streiks mit der Begründung, dass das Trucksystem nur auf gesetzgeberischem Wege, durch das Parlament, abgeschafft werden könne und dass deshalb die Arbeiter nur darauf sehen sollten, recht viele sozialistische Abgeordnete zu wählen, die dann schon das Verbot des Trucksystems beschliessen würden. Die Arbeiter streikten dennoch und nach zweiwöchentlichem friedlichen Streik des Hungerns müde, stürmten sie die Grubenanlagen, zerhieben und zersprengten die Gerüste und Wasserpumpen. setzten dadurch die Gruben unter Wasser, wodurch die Gefahr nahe lag, die ganze Grubenanlage zu zerstören. Inzwischen nahmen sie sich die Lebensmittel mit Gewalt aus den Magazinen. ohne lange nach dem Preis zu fragen. Binnen vier Tagen bewilligten da die erschreckten Kapitalisten sämmtliche Forderungen der Arbeiter (die Aufhebung des Trucksystems etc.) — da sie sich im Ernst in ihrem Eigenthum bedroht sahen. Durch diese direkte Aktion erzielten die Arbeiter in wenigen Tagen — was ihnen in einigen Jahrzehnten in den Parlamenten durchzuführen versprochen wurde. In Triest streikten die Lloydheizer wochenlang. ohne etwas zu erreichen. Als dann der Generalstreik eintrat und mit ökonomischem Terror einsetzte, als man die Direktionsgebäude zu demoliren begann, als überall die Gaslaternen umgestürzt, die Fensterscheiben eingeschlagen wurden, als schliesslich ein Polizeikommissär von unbekannter Hand durch einen Revolverschuss getödtet wurde, da war Alles in zwei Tagen bewilligt. In Baku (Kaukasus) streikten anfangs 1905 alle Arbeiter der Petroleumgruben: die Unternehmer lehnten anfangs jede Unterhandlung ab. Da steckten die Arbeiter 140 Bohrthürme in Brand und sofort wurden sämmtliche Forderungen — acht- resp. neunstündige Arbeitszeit, Minimallohn und Bezahlung des Lohnes für die Zeit des Streiks — bewilligt. In Brest streikten die Docker. Als ihnen der abwartende Streik zu langweilig wurde, kamen sie alle an den Hafen, bestiegen die Schiffe und löschten die ganze Ladung binnen zwei Stunden —ins Meer. Ein Theil der Streikenden stürzte sich auf die Depots und Lagermagazine, rollten ein Fass, eine Kiste nach der anderen heraus und schleuderten alles ins Meer. Bis das Militär zusammengezogen war und herankam, war schon alles geschehen, die Arbeit verrichtet, die Schiffsladungen auf dem Grunde des Meeres. Die Schifffahrtgesellschaften hatten einen unermesslichen Schaden und da man noch fürchtete, dass die verbitterten Streikenden noch die anderen Depots und Lager anzünden möchten, bewilligten die Kapitalisten die Forderungen — der Streik blieb siegreich. Ein anderes Beispiel gab uns Glasgow in 1904. Da streikten die Schneider einige Wochen ruhig und erfolglos — bis es ihnen zu langweilig wurde. Da drangen sie in die Werkstätten und Lager der Meister, zerschnitten die Waare kreuz und quer, begossen Kleider und Stoffe mit Schwefelsäure, dass alles verbrannte, und zogen wieder ab. Die erschreckten Meister, die fürchteten, dass nun auch sie an die Reihe kommen könnten, bewilligten nun binnen Kurzem alle Forderungen der Arbeiter. In Lugansk (Russland) bemächtigten sich Ende Februar 1905 die streikenden Kohlenarbeiter des Dynamitdepots — und sofort darauf war der Ausstand beendigt — von 26 Forderungen wurden 22 bewilligt. Blanqui meinte: „Wer Eisen hat, hat Brod" — die Lugansker Bergarbeiter scheinen auch gar nicht so unrecht gehabt zu haben, als sie sich sagten: „Wer Dynamit hat, siegt im Streik." Diese wenigen Beispiele könnten wohl genügen, um die revolutionäre Streiktaktik zu veranschaulichen. Als eines der wichtigsten Momente dieser revolutionären Streiktaktik darf nicht vergessen werden, dass mit allen Mitteln verhindert wird, dass die Eisenbahnen funktioniren, damit sie keine Streikbrecher, keine Truppen und keine Streikbrecherwaare in das Streikgebiet schaffen können. Zu diesem Zwecke zerstörten bei verschiedenen solchen Streiks die Arbeiter die Schienen, die Weichenstellungen, die Signale — zerschnitten die Telegraphendrähte, um die Behörden zu verhindern, rasch Truppen aus anderen Gebieten kommen zu lassen> um die bedrohten Kapitalisten zu beschützen. Wenn inzwischen auch noch die Vorrathsmagazine, die Kohlenlager angezündet werden — dann haben die Kapitalisten keinen Ausweg und sie müssen nachgeben. Der revolutionäre Streik rechnet nicht auf Geld, weil Geld korrumpirend, einschläfernd im Streik wirken muss. Die Hoffnung und der Glaube an das Geld der Unterstützungen zieht die Aktion hinaus, macht den Streik schleppend, träge, statt kurz entschlossen darauf auszugehen, in wenigen Tagen zu siegen oder zu unterliegen. Wenn man Geld hat und darauf hofft, will man man ist wirklich geneigt, sein Blut nicht riskiren sich die Revolution mit Geld statt mit Blut zu erkaufen. Ist aber kein Geld da, so weiss man im Vorhinein, dass man nicht lange warten kann, sondern die Sache schnell erledigen m s s, man kämpft entschlossen und muthig — und siegt. Viel wichtiger und nützlicher als Geldunterstützungen ist die in romanischen Ländern übliche Einrichtung von Streikküchen, in denen die Streikenden direkt gespeist werden. Auf diese Weise kommt die Erhaltung der Streikenden viel billiger als durch Geldunterstützungen, — besonders noch, wenn die Genossen mit Säcken aufs Land gehen, und bei der Landbevölkerung um Unterstützung der Streikenden in Naturalien, Gemüse, Milch, Brod u. s. w. anklopfen. Dadurch knüpfen auch die Industrieproletarier freundschaftliche und solidarische Beziehungen mit der Landbevölkerung an. Eine neue Taktik, die Auswanderung der Kinder („l'exode des enfants), wurde in letzter Zeit in Verviers (Belgien) und Foug&es (Frankreich) in Anwendung gebracht. Um weniger Sorgen während des Streiks zu haben, appellirten die streikenden Arbeiter an die Kameraden im ganzen Lande, sie mögen ihnen die Kinder für die Dauer des Streiks abnehmen. Zahlreiche Gewerkschafts-Föderationen meldeten sich zur Uebernahrne und die Arbeitsbörsen vieler Städte veranstalteten festliche Empfänge der Kinder aus Fougres, die bei den Kameraden untergebracht wurden, und denen nichts während des Streiks mangelte. Die Väter konnten nun frei von Familiensorgen sich ganz dem Kampfe widmen Die revolutionären Streiks sind aber weiter auch deshalb siegreich, weil sie durch Zerbrechen und Beschädigungen von Maschinen verhindern, dass Streikbrecher überhaupt arbeiten können. Der Streik wird dann erst vollständig, wenn auch die Maschine streikt, wenn durch den Willen der Streikenden auch die Maschine ausser Funktion ist und durch die Streikbrecher nicht in Betrieb gesetzt werden kann. Diese Streiktaktik hat ihre positiven Resultate in Russland und den romanischen Ländern aufgewiesen. In Russland sind fast alle Streiks der letzten zwei Jahre siegreich, und in Frankreich, von wo wir ganz bestimmte und genaue Streikstatistiken haben, sehen wir, dass die Zahl der siegreichen Streiks positiv grösser ist als diejenige der siegreichen Streiks in Deutschland. In Frankreich siegten nach offiziellen Statistiken im Laufe von 10 Jahren (1893-1903) 25 Streiks auf 100 vollständig, 32 endeten mit theilweisem Siege; in Deutschland dagegen kamen in derselben Zeit kaum 22 Siege auf 100 und 30 theilweise Siege (Kompromisse), trotzdem in Deutschland eine um so viel mächtigere und kapitalskräftigere Gewerkschaftsorganisation besteht als in Frankreich, die fast kein Geld besitzt. Das Verhältniss würde sich für Deutschland noch unendlich viel ungünstiger stellen, wenn wir für die beiden Länder die Zeit von 1900-1906 in Betracht ziehen würden, die Zeit der grossen Niederlagen in Deutschland und des Entstehens der direkten Aktion in Frankreich.
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Weshalb sind also trotz all' dieser klaren Thatsachen, dieser Erfahrungen und Beweise der letzten Jahre, dass nur die revolutionäre Streiktaktik erfolgreich sein kann, alle sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer gegen jede revolutionäre Bethätigung, gegen die direkte Aktion, und für Beibehaltung der alten überlebten Methode des gesetzlich-friedlichen Lohnkampfes? Warum? — Nun, die Antwort ist leicht. Weil die Interessen der bisherigen „berufenen" Arbeiterführer, der Abgeordneten und Gewerkschaftsbeamten, nicht die Interessen der Arbeiter sind. Dieses ungeheure Heer von offiziellen Arbeiterführern, Gewerkschaftsbeamten, Parteiredakteuren etc., die durch die Leitung der ganzen Arbeiterbewegung, die Verwaltung der Organisation unddie Fabrikation der offiziellen Meinung und Gesinnung der Arbeiterbewegung, die ganze Arbeiterschaft thatsächlich in ihren Händen hält, hat ein persönliches Lebensinteresse an der friedlichen Ausdehnung und Vergrösserung der Organisation, damit nicht durch unglückliche Streiks, die die Organisation und deren Kasse vernichten könnten, ihre ruhige, gesicherte Existenz und ihre guten Gehälter gefährdet werden. Je grösser die Organisation, je höher die Beiträge und je mehr Geld in der Kasse ist, desto mehr kann den Beamten bezahlt werden. Durch revolutionäre Streiks dagegen sind Verfolgungen zu gewärtigen. die die Gewerkschaftsführer treffen könnten, die Gewerkschaften könnten eventuell aufgelöst werden und mit der guten Stelle ist es aus. Es ist geradezu ein Stand, ein Beruf, eine ganze Klasse von Menschen, die von dem Proletariat angestellt, ihm seine Gesinnung mundbereit fabrizirt; natürlich so, dass sie selbst allen Vortheil davon ziehen, selbst angenehm dabei —und davon leben können, ohne vielleicht gar bewusst gegen die Interessen der Arbeiter handeln zu wollen. Diese Klasse wohlsituirter Bourgeois, Gewerkschaftsbeamten, Doktoren vom sozialdemokratischen Geschäft, verbourgeoisirter, durch die Politik emporgekommener ehemaliger Arbeiter, hat längst das Elend des Proletariats vergessen, fühlt nicht seinen Hass, seine Verbitterung, die Herren fühlen sich ganz wohl in der bestehenden Gesellschaft, in der sie sich schon ganz häuslich eingerichtet haben — sie können warten, denn, wie Bebel sagte, „die Satten haben Zeit". Sie haben Alles zu verlieren durch eine revolutionäre Bewegung, während das Proletariat nichts zu verlieren hat. Um ihre gute Existenz, die sie dem Proletariat. verdanken, nicht auf's Spiel zu setzen, suggeriren sie ihm seine Feigheit, halten sie das Proletariat in ihrem Interesse von jeder erfolgreichen revolutionären Aktion ab. Die Psychologie dieser Herren wird eine vollständig andere, wie die der ausgebeuteten Arbeiter. Sie werden berufsmässige Abwiegler, denn um ihre Interessen zu wahren, bekämpfen sie mit allen Mitteln die wirklichen Interessen des Proletariats, das eben nur durch die revolutionäre Aktion seine Forderungen erreichen kann. Schon vor mehr als zwölf Jahren sprach alle diese Gedanken der geniale 2ojährige Emile Henry vor Gericht aus, bevor er (1894) das Schaffot bestieg. Es war zur Zeit, als die Politikanten noch Einfluss auf das französische Proletariat hatten und natürlich alle Streiks verloren gehen mussten. Um ein Beispiel zu geben, legte Emile Henry eine Bombe in das Direktionsgebäude der Grubenkompagnie von Carmaux. Hier die diesbezügliche Stelle aus seiner Rede: „Ich hatte die Ereignisse von Carmaux mit Aufmerksamkeit verfolgt. Die ersten Nachrichten erfüllten mich mit Freude, denn die Bergarbeiter schienen geneigt zu sein, endlich die friedlichen und erfolglosen Streiks aufzugeben, in denen der vertrauensduselige Arbeiter geduldig wartet, bis seine paar Franken über die Millionen seiner Ausbeuter gesiegt haben. Sie schienen den revolutionären Weg beschreiten zu wollen, was sich auch am 15. August 1892 entschieden bestätigte. Die Bureaus und die Gebäude des Bergwerks wurden von einer Masse, die müde ward, immer zu leiden, ohne sich zu rächen, überfallen. Das Strafgericht sollte endlich den verhassten Ingenieur treffen da stellten sich die Angstmeier dazwischen." Was waren dies nun für Männer? Es waren dieselben, die jede revolutionäre Bewegung vereiteln, weil sie befürchten, dass, wenn das Volk einmal im Kampfe ist, es ihren Worten nicht mehr gehorcht; es waren Diejenigen, welche Tausende von Menschen dazu treiben, monatelang die grössten Entbehrungen zu ertragen, um dann auf deren Leiden die grosse Reklametrommel zu rühren, und sich so eine Popularität zu verschaffen, um ein Abgeordnetenmandat zu ergattern — ich meine die sozialdemokratischen Führer; — diese Männer massten sich denn auch in der That die Oberleitung des Streiks an. Man sah, wie sich plötzlich ein ganzer Schwarm von Herren, Schönrednern, auf das Land warfen, sich ganz dem Streik zur Verfügung stellten, Unterstützungen organisirten, Vorträge hielten, Sammelappelle nach allen Richtungen hin erliessen. — Die Grubenarbeiter legten leider alle ihre Initiative in deren Hände — und was nachher geschah, ist ja bekannt. Der Streik zog sich in die Länge, die Bergarbeiter machten noch eine nähere Bekanntschaft mit dem Hunger, ihrem gewöhnlichen Genossen; sie verzehrten den kleinen Reservefond ihrer Gewerkschaft und den der anderen Gewerkschaften, die ihnen zu Hülfe kamen, und nach Verlauf von zwei Monaten kehrten sie mit gesenktem Kopfe, noch elender wie zuvor, in die Gruben zurück. Und doch wäre es so einfach gewesen, die Grubengesellschaft von Anfang an an ihrem einzigen wunden Punkte anzugreifen, ihrem Gelde, d. h. das Kohlenlager zu verbrennen, die Hebemaschinen zu zerstören, die Wasserpumpen zu zerschlagen. Gewiss hätte dann die Kompagnie sehr schnell kapitulirt. Aber die grossen Päpste der Sozialdemokratie duldeten dies Verfahren nicht. Dabei kann man eben Gefängniss riskiren, wer weiss, vielleicht gar eine von jenen Kugeln, die in Fourmies (i. Mai 1891) solche Wunderwerke vollbracht haben. Und dabei giebt es auch keine Stadtraths- und Kammersitze zu gewinnen. Kurz und gut, die "Ordnung", die einen Augenblick bedroht war, herrschte wieder in Carmaux."
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Oft hört man auch „prinzipielle" Einwände gegen den ökonomischen Terror. Es sei reaktionär, es sei gegen die „Kultur" Maschinen zu beschädigen. Dies thaten — nach dieser Auffassung — nur die unaufgeklärten Arbeiter vor 6o Jahren, heute hätte das Proletariat schon erkannt, dass die Maschine nicht sein Feind sei, dass sie deshalb also nicht zu zerstören ist, denn dadurch würde das Proletariat sich selbst schädigen, das ja diese Maschinen selbst übernehmen will. Was den sentimentalen Einwand bezüglich der „Kultur" anbetrifft, so antworten die Arbeiter darauf, dass sie auf so eine Kultur pfeifen, die nur ihre Feinde und Ausbeuter, sowie die wohlbestallten Arbeiterführer geniessen, von der das Proletariat aber selbst nichts hat als Hunger, Elend und Schwindsucht. Um eine solche Kultur, die nur die Faullenzer geniessen, die Arbeiter aber nur mit Neid erfüllen kann, hat das Proletariat nicht zu trauern und wenn sie auch für immer vernichtet würde. Die Sache steht aber dabei „ganz anders. Während die Arbeiter vor 60 Jahren die Maschinen zerstörten, war diese Zerstörung der Maschinen, die sie als den gefährlichsten Konkurrenten der Arbeiter fürchteten, der Selbstzweck und das Ziel. Heute ist die zeitweise Beschädigung oder Zerstörung von Maschinen nur Taktik, Mittel zum Zweck. Wenn in einem Krieg der Feind eine Festung erobern will, versucht er zuerst, den Feind daraus zu verjagen, indem er sie beschädigt und zerstört, obwohl die Festung für ihn selbst ein wichtiger Stützpunkt wäre. Hat er sie einmal mit Hülfe dieser Beschädigungen besiegt und erobert, dann richtet er sie wieder für seine Bedürfnisse her. Genau so denken die revolutionären Arbeiter, wenn sie aus taktischen Gründen im Kampfe manchmal gezwungen sind, Maschinen zu beschädigen. Es ist begreiflich, dass die Führer alles Interesse haben an der friedlichen Bewegung, daran, dass die Arbeiter sich ja nicht rühren, um die Führer nicht in unangenehme Situationen zu bringen; der Arbeiter dagegen, der ausgebeutete Sklave, der ein mühevolles, gequältes, genuss- und freudloses Leben sorgenvoll dahinschleppt, kann solche Bedenken nicht haben, er hat nichts zu verlieren als seine Sorgen und sein Elend. Das Zuchthaus kann für den Proletarier kein solcher Schrecken sein, wie für den glücklichen Bourgeois. Der Proletarier ist schon so wie so zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt, um nur sein Brod zu verdienen, die Gitter der Fabrik, hinter denen er sich 10-12 Stunden täglich quälen muss, sind nicht verlockender als die Gitter des Kerkers, die Wohnung des Proletariers, in der er nach schwerer Arbeit ausruht, ist häufig auch nicht viel freundlicher als die Zuchthauszelle, der Ausblick auf den grauen Lichthof ist nicht schöner als auf den Gefängnisshof. Der Tod kann für den Proletarier auch seine Schrecken nicht haben. Bedroht ihn der Tod nicht jeden Tag, zu jeder Stunde, während der Arbeit, wo er Jeden Augenblick Gefahr läuft, vom Gerüst zu stürzen, in der Grube bei schlagenden Wettern verschüttet, in der chemischen Fabrik vergiftet, vom elektrischen Strom getödtet, von einer Kesselexplosion in Stücke gerissen zu werden? Wie viele Proletarier sterben frühzeitig an Schwindsucht, der Proletarierkrankheit, an Phosphor-Nekrose und tausend anderen Berufskrankheiten? Wie viel werden durch Unfälle zu Krüppeln für ihr ganzes Leben! Mehr können die Proletarier bei revolutionären Streikaktionen auch nicht riskiren, doch hier riskiren sie das für sich, für ihren eigenen Wohlstand, für die eigene Freiheit, mit der grössten Aussicht auf Erfolg, dort aber bei der täglichen Arbeit für ihre Schinder und Ausbeuter. Nicht einmal Begeisterung und Heroismus, sondern die einfache,ruhige Ueberlegung müsste den Proletarier überzeugen, dass man eben in dieser Richtung im Kampf seine Person riskiren muss — statt wie sonst immer nur in der Sklaverei — um ein menschenwürdiges Dasein zu erringen. Die Demuth, die Disziplin gebärt Sklavenseelen und Sklaven; der Kampf, die Bethätigung, die That allein führt zum Erfolg, zum Sieg. *** 4. Sabot Go-canny Obstruktionismus. Eine andere sehr erfolgreiche Kampfmethode des revolutionären Proletariats, die, obwohl auch „ungesetzlich", doch viel ungefährlicher, ist der Sabot. Das Wort Sabot, das erst in allerletzter Zeit in die deutsche Sprache aus der Korruption des französischen Wortes „sabottage" eingeführt wurde, hat ebenfalls sehr weitgehende, vielerlei Bedeutungen und bezeichnet im Allgemeinen die Beschädigung des Eigenthums, des Materials und der Produktionsmittel der Unternehmer, aber nicht nur während des Streiks, sondern gerade in diesen Fällen, wo ein Streik nicht angebracht ist, wenn z. B. die Arbeiter mit ihren Forderungen hervortreten, aber sich nicht kräftig genug fühlen, diese Forderung durch den Streik zu erzwingen.
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Verwandt mit der Idee des Sabot, auf den wir bald zurückkommen und ausführlich behandeln werden, ist das englische Go-canny, das aber noch viel weniger ungesetzlich ist; es bedeutet ein ab sichtliches langsameres Arbeiten, was allerdings nur dort möglich ist, wo die Arbeiter in Tag- resp. Stundenlohn stehen. Der Kapitalist, der z. B. bei halbem Lohn nur die halbe Quantität Arbeit bekommt, ist schwer geschädigt, denn die Kapitalanlage für Maschinen, etc., ist doch einmal da und die Regiekosten. die Beamten, Verzinsung und Amortisation des Kapitals laufen in gleicher Höhe, ob halb oder zweimal so viel geleistet wird. Erhält der Unternehmer bei doppeltem Lohn doppelt so viel Arbeit, so ist der Gewinn grösser, weil er mehr Profit, mehr Arbeit aus derselben Kapitalsanlage herausschlägt, mehr Abnehmern Waaren liefern kann. Go-canny ist allerdings auch bei Akkordarbeit, bei Stücklohn, möglich, indem schlampigere, schloddriger ausgeführte Arbeit geliefert wird, deren Nachtheile wohl auf den ersten Blick nicht erkannt werden, aber bei der Benützung durch die Kunden recht bald hervortreten, worauf die Kunden resp. Abnehmer reklamiren, Entschädigung verlangen und schliesslich ausbleiben. Es ist das durchaus gerechte Prinzip der Musikanten: „Wenig Geld, wenig Musik; schlechter Lohn, schlechte Musik." Der Kapitalist, der auf diese Weise, sei es in der rationellen Ausnutzung des Kapitals, sei es in seiner Kundschaft, geschädigt wird, wird oft eher auf die Forderungen der Arbeiter einzugehen veranlasst, als durch friedliche abwartende Streiks, weil er jene Schädigungen als etwas Unsichtbares, Unfassbares mehr zu fürchten hat.
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Ein weiteres Mittel der direkten Aktion, das besonders in letzterer Zeit mit Erfolg angewendet wurde, ist der Obstruktionismus. Der Obstruktionismus ist hauptsächlich anwendbar bei allen Transport- und Kommunikations-Berufen, den Eisenbahnen, Tramways, Stadtbahnen, Schiffahrt-Gesellschaften, Kommissionären, Fuhrwerken, Posten und Telegraphen, Hafenarbeitern, aber auch bei grossen Tagesblättern, kurz bei allen Industrien und Unternehmungen, wo es sich darum handelt, gewisse Arbeiten genau bis zu einer bestimmten Zeit und Stunde pünktlich erledigt zu haben, weil sonst durch die blosse Verzögerung schwere Störungen und Schädigungen des Betriebes eintreten würden. Der Obstruktionismus ist ein wenig verwandt mit dem Go-canny, doch ist hier die Schädigung noch viel grösser, weil der Zeitpunkt verpasst wird und sehr wichtige, plötzliche Störungen eintreten. Die Unternehmer und das Publikum haben also alles Interesse daran, dass der Konflikt so rasch als möglich beigelegt werde. Man bedenke den ungeheuren Druck, den die Arbeiter ausüben, wenn durch sie alle Züge täglich um zwei, drei Stunden zu spät abgehen, die heillosen Verwirrungen und Gefahren im Betriebe durch den Umsturz des ganzen Fahrplanes; wenn durch das allzu langsame Verladen, oder nur halbtägige Arbeit der Docker, die Schiffe um mehrere Tage zu spät abgehen und noch dazu die Hafentaxe zahlen müssen; wenn sich die Uebermittlung von Briefen, Telegrammen und Geldsendungen um zwei, drei Tage verspätet; wenn die Fuhrleute in die Magazine die erwartete Waare, oder in die Restaurants die erwarteten Bier- und Weinfässer gerade nur um einen halben Tag nach der angekündigten Eröffnung, Fest oder Versammlung, liefern; wenn durch die „Faulheit" und Nachlässigkeit der Setzer, der Arbeiter in der Stereotypie und der Maschinisten ein grosses Tageblatt durch einige Tage hindurch erst am Mittag erscheint, statt Morgens um fünf. Ein Beispiel solcher Taktik gaben die Eisenbahner Italiens im März 1905, die durch peinlich genaue und skrupulöse Anwendung aller veralteten Reglements und Vorschriften, genaue Prüfung jeder Achse, jedes Rades und jedes Maschinentheiles vor Abgang eines jeden Zuges, den Abgang verzögerten und durch diese Taktik den Erfolg hatten, dass das Ministerium Giolitti abtreten musste. Dabei hat diese Taktik den grossen Vortheil, dass jedem Arbeiter eine thätige, nicht abwartende Rolle zufällt, dass hier ein offenes Feld für die mannigfaltigste Initiative und die Intelligenz eines jeden Einzelnen gelassen wird, statt auf die Thätigkeit einiger Führer zu vertrauen. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Italiens verhielten sich so erbärmlich, ja gegnerisch gegen diesen Kampf der Eisenbahner, die um Anerkennung des Koalitionsrechtes kämpften, dass selbst sozialdemokratische Blätter des Auslandes, wie die Wiener „Arbeiter-Zeitung", das Verhalten der sozialdemokratischen Führer tadelten. Der Obstruktionismus hat auch noch den weiteren Vortheil, dass trotz der Bethätigung aller Betheiligten, trotz der schweren Schädigung des Unternehmers, die Arbeiter gar keinen, oder nur sehr geringen materiellen Schaden haben können, und sich so gut wie gar keiner Gefahr aussetzen.
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Ueber Boykott und sein Gegentheil, Label, soll nicht viel gesagt werden; es sind dies durchaus legale Mittel und desshalb von seltenem Erfolg und geringer Bedeutung in einer Abhandlung über revolutionäre, ökonomische Taktik. Was Boykott ist, braucht ja nicht erörtert zu werden, Es kann jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, dass in Ländern revolutionärer Gewerkschaftstaktik man auch dem Boykott dadurch Nachdruck verleiht und ihn wirksamer zu gestalten weiss, dass vom boykottirenden Publikum die Waaren, Magazine und Fabriken der Boykottirten bedroht und beschädigt, die Fenster eingeschlagen, in die Waarenhäuser Stinkbomben geworfen werden, die das Publikum verscheuchen, die Magazine manchmal sogar zerschlagen und angezündet werden. Einem solchen „Boykott" geben die Unternehmer häufiger nach, als einem blossen Verlust eines Theiles der Kunden unter den Arbeitern, die so wie so schlechte Abnehmer sind. Das Labe 1, das schon lange in England und Amerika funktionirt und zuletzt auch in Frankreich eingeführt wurde, ist die Gewerkschaftsmarke, ein Zeichen, das die Arbeiter den Unternehmern geben, um ihre Waaren den Genossen zu empfehlen, wenn sie nur gewerkschaftlich organisirte Arbeiter beschäftigen und die gewerkschaftlichen Tarife bezahlen. Es ist dies der umgekehrte, oder das Gegentheil vom Boycott. Nach unserer Meinung ist dieses Mittel von sehr geringer Bedeutung.
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Sabot. Wenden wir uns nun dem weitaus wichtigsten, ausserordentlich bedeutenden Mittel des Sabot zu. Wie gesagt, bedeutet Sabot verschiedene Arten direkter Schädigung des Unternehmers. Er kann folgende Formen annehmen: a. Materialvergeudung, Materialverschleuderung. b. Absichtliche Lieferung schlechter, schadhafter, mangelhafter Arbeit. c. Allmählige und fortdauernde kleinere Beschädigungen und Zerstörungen der Werkzeuge und des Materials des Unternehmers, so dass überhaupt nur schlechte Arbeit geliefert werden kann. d. In Frankreich bezeichnet man als Sabottage überhaupt jede gewaltsame Zerstörung und Vernichtung von Maschinen und Produktionsmitteln während des Streiks, doch da wir dies unter dem Abschnitt „ökonomischer Terror" behandelten, so behalten wir das Wort Sabot zur ständigen Unterscheidung nur für die ersten drei oben aufgezählten Fälle, die gerade dann angewandt werden, wenn ein Streik nicht stattfindet, wenn in der Fabrik gearbeitet wird, aber das Verhältniss zwischen Arbeitern und Unternehmern ein gespanntes ist und es noch nicht zum offenen Konflikt gekommen ist. In diesem Falle erleidet der Unternehmer fortwährend Schaden, der unsichtbar und unfassbar an seinem Gewinn, an seinem Einkommen saugt, wie ein Heer von tausend Blutegeln, deren er sich nicht erwehren und die er nicht abschütteln kann. Ganz besonders erfindungsreich an solchen Mitteln sind die französischen Genossen. Wir wollen nun die interessantesten Beispiele aus einer jeden dieser Arten vorführen. a) Zu diesen Mitteln ist „Materialvergeudung, Materialverschleuderung" zu zählen, wenn z. B. die Gas- und Wasserleitungsarbeiter beim Zuschneiden und Anpassen der Röhren recht freigebig umgehen, so manches Ende wegschneiden und liegen lassen, so dass recht viele zurückbleiben. Wenn die Elektriker während der Installationsarbeiten Kupferdrähte und Kabel so oft als möglich verschneiden, dass recht viele unverwendbare Abfälle zurückbleiben, und ebenso nicht sparsam mit den Holznuten, Bergmannröhren umgehen und dabei die Arbeit nicht allzu sehr beschleunigen kann dem Unternehmer ein sehr grosser Schaden beigebracht werden, für den er Niemanden zur Verantwortung ziehen kann. Dieses System lässt sich bei allen Berufen anwenden. Es ist sehr leicht, aus einem Stück Leder, das für zwei Paar Schuhe bestimmt ist, nur drei Schuhe derart herauszuschneiden, dass die übrigen Lederabfälle absolut unverwendbar sind; dasselbe geht im Schneidergewerbe und der Konfektionsbranche. Hierher gehört das Beispiel der französischen Gasthaus- und Kaffeehausgehilfen, die, um den Unternehmer zum Nachgeben zu zwingen, den Konsumenten doppelte Rationen einschenken oder übergiessen, was bei allen Stehbars, oder auch in den Fällen möglich ist, wo z. B. gewisse Schnäpse und Liquöre dem Kunden vom Kellner aus einer Flasche in sein Glas eingeschänkt werden. Hierher gehören auch die Fälle, in denen die im Keller an den Pumpen und Bierfässern Beschäftigten manchmal "vergessen", den Hahn zu schliessen und im Keller eine kleine Ueberschwemmung entsteht; wenn die Angestellten in den Geschäften den Kunden recht zuvorkommend alle Waaren reichlich zumessen und überwiegen, den Stoff am Meterstab so schlecht als möglich im „Bogen spannen" — so dass für 3 Meter 4 gegeben werden, die Waage-schalen recht tief auf die Seite der Waaren hinneigen lassen. Mit einem Wort: Die Arbeiter mögen es sich zum Prinzip erheben, das Vertrauen des Unternehmers auf ihre dumme „Ehrlichkeit" in seinem Interesse — auf die er rechnet, trotzdem er selbst die Arbeiter betrügt —so wenig als möglich zu rechtfertigen. Am Schluss der z. B. monatlichen Abrechnung frägt sich der Unternehmer mit Schaudern, wo denn eigentlich der Profit geblieben ist — und in diesem psychologischen Moment versprechen ihm seine Angestellten — eventuell brieflich — dass, wenn er ihnen von nun an bessere Löhne und kürzere Arbeitszeit gewähren will, sie wiederum mehr die Interessen des Unternehmers als die der Kunden wahren wollen, so dass sein Profit wieder dieselbe Höhe annehmen wird wie vorher — wenn nicht, nicht. Oft genug geben die Geschäftsinhaber unter einer solchen Alternative nach. b) Andauernde, absichtliche Lieferung schlechter, schadhafter Arbeit (Pfuscharbeit). Auch damit sind natürlich ganz ausgezeichnete Resultate erzielt worden. Dabei ist die Sache durchaus nicht schwer. Es ist doch nicht schwer, die Waaren in der Weise zu erzeugen, dass sie auf den ersten Blick sehr gut und tadellos erscheinen, aber in einigen Tagen oder Wochen in Stücke gehen. Besonders in der Manufaktur, wo ein Gegenstand von Hand zu Hand geht, lässt sich dies sehr leicht machen. Wenn jeder Theilarbeiter nur einen ganz kleinen Fehler oder Nachlässigkeit begeht, so wird durch die Summ e aller Fehler das ganze Produkt erheblich minderwerthig. Es ist doch z. B. in der Metallindustrie viel leichter, schlecht zu löthen, statt gute Löthstellen zu machen; es ist doch leicht, die Dinge schlecht zusammenzufügen und zusammenzukleben, so dass die Waare noch schundhafter wird, als der idealste Fabrikschund. Man nimmt schadhaftes Material, oder beschädigt das Material der Produkte und verstopft, verklebt und bedeckt durch Anstrich die schadhaften kritischen Stellen, an denen die Sachen brechen werden. Die Typographen machen unzählige Druckfehler und die Korrektoren bemerken sie zu spät; recht viele „Fische" werden in alle Satzkästen gestreut, so dass die uneingeweihten Arbeiter unzählige Satzfehler machen. Der Drucker „irrt" sich bei der „Mis-en-page" beim Brechen der Spalten, bei der Bezeichnung der Seiten, und tausende Bogen Papier müssen weggeworfen und die Arbeit aufs Neue begonnen werden. Die Friseure, die Ladenschluss nach einer bestimmten Arbeitszeit oder Sonntagsruhe erringen wollen, kündigen durch Handzettel, Plakate und kleine aufgeklebte Zettel an, dass nach der bestimmten Stunde und an Sonntagen Nachmittags das Publikum sehr schlecht rasirt werden wird, weil die Friseure zu dieser Zeit von der Arbeit schon zu sehr abgespannt sind. Alle Diejenigen, die also durch ihre Solidarität die Forderungen der Friseure nicht unterstützen wollen, sind der Gefahr ausgesetzt, dass sie z. B. während des Rasirens nach 8 Uhr Abends mehrere Male geschnitten werden, dass ihnen „unwillkürlich" eine Schnurrbartspitze weggeschnitten wird, dass ihnen der Seifenschaum in die Augen spritzt etc. etc. Es ist dies ein sehr schönes Beispiel direkter Aktion, weil dem Publikum so sehr bald abgewöhnt würde, nach der von den Arbeitern gewollten Arbeitszeit deren Arbeit zu beanspruchen. Es ist leicht, auf diese Weise die Verkürzung der Arbeitszeit durchzusetzen. Die Bäcker „vergessen" einige Male vor Müdigkeit, das Salz in den Teig zu streuen, und am nächsten Tag streuen sie in den Teig all' das Salz, das sie das vorige Mal vergessen haben. Die Brode und Semmeln werden da zwar ganz schön — aber die Waare geht zum Teufel. Die Konditoren „irren" sich und streuen Salz statt Zuckerstaub in alle die schönen Kuchen und Näschereien. Die Schneider und Schuster machen alle Nähte mit solchem Zwirn, dass sie in einer Woche auseinandergehen. Wenn man die fertiggestellten Kleider an der Innenseite hübsch fein mit verdünnter Schwefelsäure bestreicht, merkt man zwar Anfangs nichts, aber nach einigen Tagen fällt das Zeug wie Spinngewebe auseinander. Auch in der Tapezirbranche haben Schwefelsäure und Vitriol den französischen Genossen ganz gute Dienste geleistet. Mit Vitriol wurden die Federn bestrichen, wodurch sie schnell zum Rosten gebracht wurden und einige Wochen darauf brachen. Die Maurer und Bauarbeiter wissen auch in der Weise den Mörtel und den Stuck anzubringen, dass er bei der ersten Gelegenheit herunterfällt und fortwährende Reparaturen nothwendig werden. Die Buchbinder verschneiden blos die Bücher bis zu den Lettern. Die Giesser tragen dafür Sorge, dass recht viele Blasen im Guss zurückbleiben. Jeder Giesser weiss, wie das zu machen ist. In der chemischen Industrie und in Färbereien ist es nicht schwer, sich bei der Herstellung der Mischungen und Verbindungen zu „vergreifen'‘ oder zu „irren" z. B. etwas Schwefelsäure in die Farbtröge zu werfen und Alles ist ruinirt. Die Elektromonteure nehmen an einigen Stellen zu dünnen Draht, isoliren die Abzweig- und Verbindungsstellen so schlecht als möglich, und nach einigen Wochen ist durch die Feuchtigkeit des Hauses die schönste Schweinerei in der Installation. Kurz, solche Beispiele liessen sich ja unzählige aufführen und wissen ja auch schon die Angehörigen eines jeden Berufes selbst, welches die empfindlichsten Stellen sind — „wie es zu machen ist." Es wird so freier Spielraum der Intelligenz, dem Witz und dem Erfindungsgeist eines jeden Arbeiters gelassen, wie er durch seine Arbeit — während der Arbeit, statt den Kapitalisten wie bisher zu bereichern, gewaltig schädigen kann. c) Allmählige, fortdauernde, kleinere Beschädigungen der Werkzeuge, der Maschinen und des Materials des Unternehmers hatten ebenfalls günstige Erfolge. Dieses System hat aber noch den grossen Vortheil, dass während bei den ersten beiden Arten des Sabot so ziemlich alle, oder wenigstens die Majorität der Arbeiter betheiligt sein und mitwirken muss, kann bei dieser Art schon eine kleine Minorität, ja nur einige Leute durch fortdauernde Schädigungen der Maschinen — wobei der Thäter niemals entdeckt werden kann — den Unternehmer zum Nachgeben, zum Bewilligen der Forderungen zwingen. Die Minorität erkämpft hier alle Forderungen für sich und die ruhige Majorität. Hie und da bricht ein Zahn am Rädergetriebe, der Riemen platzt, reisst oder fällt allzu oft von den Riemenscheiben herunter, wodurch der Gang der Maschinen öfters unterbrochen wird. Schmirgel oder feiner Sand wird in die Oel- und Fettbüchsen der Maschinen geschüttet, so dass die Wellen heiss laufen und dadurch der Betrieb häufig aufgehalten und die Produktion für viele Stunden unterbrochen wird. Es ist auch nichts leichter, als durch Kurzschluss oder Ueberlastung der Dynamomaschine oder des Elektromotors, der die Werkzeugmaschinen der Fabrik bewegt, den Anker des Motors zu verbrennen und den Fabrikbetrieb auf einige Stunden zum Stillstand zu bringen. Gasmotoren, die doch in unzähligen Werkstätten und Fabriken alle Transmissionen und Maschinen bewegen (in Paris zählte man deren im Jahre 1895 allein ca. 50,000) wurden dadurch ruinirt, verdorben, ja verbrannt, dass einfach der Hahn der Wasserleitung abgesperrt wird, die zur Kühlung des Mantels des Gasmotors bestimmt ist. Der Motor erhitzt sich furchtbar, er bleibt stehen und mit ihm alle Maschinen. Riemenscheiben wurden mit Schmierseife eingeschmiert; dadurch verloren die Riemen die Reibung und wurden nicht mehr „gezogen", d. h. die Scheiben drehten sich in rasender Geschwindigkeit und der Riemen blieb unbeweglich, die Maschine konnte nicht laufen. In Brauereien fällt z. B. von Zeit zu Zeit „unglücklicherweise" eine Flasche Petroleum — ohne Stöpsel — in die grossen Reservoirs. Werden kleine Kieselsteinchen oder grober Sand in die Zahnradgetriebe geworfen, dann kracht der ganze eiserne Koloss und ein Zahn nach dem anderen fliegt davon. Wird Seife in das Speisewasser der Kessel geschüttet, so kann sich Kesselstein bilden, und der Kessel muss ausser Betrieb gesetzt und ausgekratzt werden, um die Explosion zu vermeiden. In Webereien werden die Schnüre der Webstühle mit Schwefelsäure bespritzt und der Betrieb ist unterbrochen. Unserer Ansicht nach werden alle diese Mittel des kleinen S ab o t, im relativen Frieden, also wenn gearbeitet wird, dann angewendet, wenn entweder ein Streik unmöglich, aussichtslos ist — oder wenn gar ein Streik schon besiegt wurde. Die Arbeiter stellen ihre ‚Forderungen, der Unternehmer weist sie zurück. Die Arbeiter kehren nun zur Arbeit zurück und arbeiten — mit Sabot. Nach einigen Wochen merkt der Unternehmer die Sache recht schmerzlich und weiss sich nicht zu helfen. Nun erklären ihm „seine" Arbeiter, eventuell brieflich und anonym, wenn Gefahr zu befürchten wäre, dass, wenn der Unternehmer die vorher gestellten Forderungen bewilligen will, der Sabot, alle die kleinen Störungen, Unglücksfälle, Materialverluste aufhören werden, — bewilligt er nicht, dauert der unterirdische Krieg weiter. Selten wird der Kapitalist in diesem Falle widerstehen. Selbstverständlich können alle diese verschiedenen Formen des Sabot miteinander kombinirt und gleichzeitig ausgeführt werden. Während des Amsterdamer Bäckerstreiks 1 902 sind die Arbeiter gar in folgender Weise vorgegangen. Während die Einen streikten, traten die besten Genossen als Streikbrecher in die Arbeit. Und nun arbeiteten diese „Streikbrecher" mit furchtbarem Sabot. Sie schütten Salz in die Hefe, bucken Seife, Soda — ja sogar Mäuse und Schwaben in das Brod — wodurch sie auch noch die ganze Bevölkerung gegen die Meister aufbrachten, die solche dreckigen Streikbrecher beschäftigen, nur um die Forderungen der Arbeiter nicht zu bewilligen. d) Der grosse Sabot, den wir als ökonomischen Terror bezeichneten, ist eigentlich nur eine Steigerung des vorigen, des „kleinen Sabot", doch wird er nur während des akuten Konfliktes, während des Streik s, angewandt. Es ist dies der erste Akt der Selbstvertheidigung der Streikenden. Wenn es sich darum handelt, die Produktion aufzuhalten, so genügt es nicht, nur die Arme zu verschränken, denn der andere, ebenso wichtige Betriebsfaktor, die Maschine, der Hochofen etc. bleibt weiter betriebsfähig und kann jederzeit von Streikbrechern bedient werden. Damit der Streik nun ein vollkommener sei, müssen die Produktionsmittel, auch zur Ruhe, ebenfals zum Streik gebracht werden. Auch hier ist ein ungeheures Feld für die Genossen, ihre revolutionären Bestrebungen durch ihre technischen Fachkenntnisse zu unterstützen. Was der Arbeiter zu produziren versteht, wird er wohl auch zu zerstören wissen, und je komplizirter eine Maschine ist, desto leichter ist es ja, sie in Unordnung zu bringen. „Was Hände bauten, können Hände stürzen". Wie es z. B. die Bergarbeiter machten, haben wir schon im vorigen Abschnitt geschildert. Noch einige Beispiele könnten vielleicht zum Verständniss beitragen. In Hochöfen warfen die Streikenden kalte Stahl- und Eisenstücke in die flüssige Gluth, wodurch oft der Ofen erkaltete, für Monate lang unbrauchbar wurde und den Unternehmern ungeheuren Schaden beibrachte. Während eines grossen Bäckerstreiks gossen die Streikenden einige Liter Petroleum in den Backofen und alles Brod, das von den Soldaten und Streikbrechern gebacken wurde, stank nach Petroleum, und da dies so noch drei Monate angedauert hätte, musste der Backofen abgerissen werden. Die Eisenbahner Italiens schmierten während des Streiks ca. 100 Meter Schienen mit grüner Seife ein, so dass sich die Räder der Lokomotiven in rasender Geschwindigkeit um die eigene Axe drehten, ohne sich — aus Mangel an Reibung — nach vorwärts bewegen zu können. Während des Tramway- Streiks in Stuttgart trieben die Streikenden kleine Eisenstücke in die Nuten der Schienen, um die Wagen zum Entgleisen zu bringen. Ueberhapt sind die Anhänger des revolutionären, ökonomischen Kampfes der Ansicht, dass eine der wichtigsten Bedingungen zum Siege eines grösseren Streiks in einem Gebiete die Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs ist, um zu verhindern, dass in das Streikgebiet Truppen, Streikbrecher und Streikbrecherprodukte hineingeschafft werden. Zu diesem Zwecke sprengten die Streikenden Eisenbahnbrücken in die Luft, zerstörten die Weichenstellungen, zerschlugen die Signalscheiben, rissen die Schienen auf — so dass der Verkehr unmöglich wurde. Ein durch die Armee angewandtes Mittel, Eisenbahnzüge zur Entgleisung zu bringen, besteht darin, dass man bei kleinen Kurven (Bogen) die sonst tiefer liegende innere Schiene auf dasselbe oder auf ein höheres Niveau hebt als die äussere Schiene, was zur Folge hat, dass der Zug durch die Centrifugalkraft herausgeschleudert wird, herunter stürzt oder entgleist. Bei einem Streik der Waldarbeit er und Kohlenbrenner in Frankreich zündeten die Arbeiter einen Theil des Waldes an. Das Feuer spielt überhaupt eine grosse Rolle beim revolutionären Streik und beim ökonomischen Terror. Die rebellischen Irländer bedienten sich dessen gegen ihre Landlords in einer ganz speziellen Form, die in der Geschichte allgemein als Fenierfeuer bekannt ist. Da es nicht überall angängig oder möglich war, auf gewöhnliche Weise Feuer zu legen, wie's z.B. siegreiche Soldaten nach einer glorreichen Schlacht thun, die die eingenommenen Häuser bequem mit Petroleum begiessen und anzünden — bedienten sich die Fenier einer chemischen Mischung aus weissem Phosphor, die in Schwefelkohlenstoff aufgelöst wurde, weil diese Mischung schon durch den blossen Kontakt mit brennbaren Stoffen Feuer hervorruft. Andere bedienten sich eines Gemisches von Petroleum und Spiritus, oder von Terpentin und Schwefelsäure etc. etc. Im Allgemeinen liegt die Sache hier viel einfacher, denn plötzliches "brutales" Zerstören, Vernichten oder Verbrennen erheischt ja weniger technische Kenntnisse und Erfindungsgeist, sondern nur ein wenig Muth und Entschlossenheit — und schliesslich auch Vorsicht — von einigen Wenigen. Dabei ist es möglich, bei der Ausdehnung grosser Streiks, die durch die wirkliche Solidarität der Genossen unterstützt werden, solche Akte unbemerkt, gefahrlos auszuführen, weil ja doch nicht Alles gleichzeitig beschützt werden kann. ** III. Die direkte Aktion gegen den Staat. *** 1. Die direkte Aktion auf die Gesetzgebung. Auch der Staat, auf den das Volk immer nur indirekt, durch die Parlamente, durch seine Vertreter, zu wirken gelernt hat, musste oft der direkten Aktion des Proletariats, dem direkten Druck von aussen, nachgeben. Allerdings hatte oft solch' ein direkter Druck von aussen, Demonstrationen, politische Massenstreiks u.s.w., nur indirekte Ziele, wie z. B. die Eroberung des Wahlrechtes, zum Zweck, obwohl dies ein weiter Umweg ist, weil man erst mit Hilfe dieses Wahlrechtes, durch die Wahl von Abgeordneten, die erstrebten Reformen erzielen will. Dass man durch die direkte Aktion vom Staate auch gewisse Konzessionen direkt erringen kann,zeigt eine grössere Anzahl von Beispielen in der letzten Zeit. Wohlverstanden handelt es sich bei „direkter Aktion" auf die Gesetzgebung niemals darum, „Arbeiterschutzgesetze" zu erzwingen, von denen die Erfahrung lehrte, dass sie vollständig bedeutungslos sind, wenn die Arbeiter nicht im Stande sind, sie selbst durch ihre Kraft aufrecht zu erhalten. Und wenn man etwas durch eigene Kraft verwirklichen und aufrecht erhalten kann, braucht man den Schutz des Gesetzes nicht. Während die direkte Aktion auf die Unternehmer den Zweck hat, bessere Lebensbedingungen für die Arbeiter zu gewinnen, hat die direkte Aktion auf die Gesetzgebung ausschliesslich den Zweck, reaktionäre Gesetze und Verordnungen, die der Arbeiterbewegung hinderlich sind, aufzuheben, die Massregeln, die den Kampf erschweren, zu beseitigen. So gelang es in Frankreich der revolutionären, direkten Aktion der Arbeiter, die Aufhebung der verhassten Stellenvertnittlungsbureaux durchzusetzen, in denen die arbeitslosen Proletarier in der infamsten Weise ausgebeutet wurden. Durch die Aufhebung der Stellenvermittlungsbureaux sind die „Arbeitgeber" nun viel häufiger gezwungen, sich an die Arbeitsbörse um Arbeiter zu wenden. Ihren energischen Demonstrationen und Drohungen verdanken es auch zum grossen Theil die französischen revolutionären Gewerkschaften, dass der reaktionäre Gesetzesvorschlag Millerands zurückgezogen wurde, der die Streiks reglementiren und obligate Schiedsgerichte bei Konflikten zwischen Kapital und Arbeit einführen wollte. Dieses Projekt bedrohte die Arbeiter, die trotz des Schiedsgerichtes streiken würden, mit Gefängniss. Nach der Auffassung der Legalitätsfanatiker darf nur das gethan werden, was gesetzlich erlaubt und bewilligt ist. Inzwischen lehrte aber die Erfahrung, dass nur das gesetzlich wurde, was schon früher ungesetzlich bestanden hat und was das Gesetz nicht im Stande ist zu unterdrücken. Die Gesetze thaten nichts mehr als die Thatsachen einfach zu registriren, die sie nicht verhindern konnten. Ein Beispiel hierfür giebt uns die Geschichte der französischen Gewerkschaften, deren Existenz erst im Jahre 1881 legal anerkannt und gesetzlich erlaubt wurde — während sie doch schon viele Jahre vorher, ohne sich um das Gesetz zu bekümmern,bestanden hatten. Die Arbeiter nahmen sich einfach das Recht direkt. Jetzt z.B. verweigert die französische Republik ihren Staatsangestellten und Arbeitern (den Beschäftigten in den Arsenalen, Posten, Staatsbahnen, den Schullehrern etc.) das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisiren. Sie organisirten sich aber trotzdem zu einem mächtigen Syndikat, das die Regierung nicht im Stande ist zu zerstören. Das war direkte Aktion, die viel mehr geholfen hat, als eventuell alle Protestationen und Interpellationen im Parlament. Erfolgreiche Beispiele direkter Aktion auf und gegen den Staat gab uns in grosser Anzahl die gegenwärtige Revolution in Russland und Polen. So hatten die Polen durch längere Zeit — bis zum neuerlichen Siege der Reaktion — durch die direkte Aktion, die von der russischen Regierung in Polen verbotene polnische Sprache eingeführt, indem ganz einfach alle Eisenbahner auf den Bahnen, das Publikum mit den Gemeindebeamten und den Behörden polnisch zu sprechen anfingen — wodurch die polnische Sprache thatsächlich eingeführt war. Auf höchst interessante und doch sehr einfache Weise wurde von den Arbeitern in Russland die Preventiv-Zensur aufgehoben: „Während die Funktionäre Wittes noch schwerfällig an einem Gesetzentwurf über die Presse beriethen, führten die Arbeiterdelegierten am 3. November 1905 die Pressfreiheit ein. Sie setzten in das von ihnen herausgegebene „Bulletin" folgende Ankündigung: „ ‚Wenn von morgen ab ein Zeitungsherausgeber seine Zeitung dem Zensor vorlegt, bevor sie die Druckerei verlassen hat, werden wir auf der Strasse alle Exemplare konfisziren, wir werden die Drucker auffordern, die Druckerei zu verlassen – – – – – – –; wenn sie sie aber nicht verlassen werden, werden sie boykottirt und deren Maschinen zerstört werden.'" Kurz darauf geschah dasselbe in Moskau, und einige Tage später beschloss das Syndikat der Drucker dasselbe für alle Bücher und Druckschriften. (Kropotkin in „Temps Nouveaux", 2. December 1905.) Die direkte Aktion gegen den Staat, gegen die Gesetzgebung, ist, wie vorhin erwähnt, mehr negativer Natur; es handelt sich hauptsächlich darum, schädliche Gesetze und Verordnungen aufzuheben, denn Gesetze können keine Freiheiten schaffen, sondern nur begrenzen. Jede Beseitigung eines Gesetzes ist eine Einschränkung der Macht des Staates, ist eine Verringerung seiner Machtsphäre, ein Schritt zur Freiheit — oder mindestens zur Freiheit des Kampfes um Freiheit — eine Erleichterung zur Verbreitung und Erziehung zum endgültigen Kampf. Die direkte Aktion giebt erst dem Arbeiter Gelegenheit, selbst gegen den Staat zu kämpfen, sich selbst vom Staate seine Rechte zu entreissen, anstatt diese Aufgabe Anderen anzuvertrauen, was immer zur Folge hatte, dass er selbst inzwischen ruhig und thatenlos abwartete. Durch die Uebermittlung der Wünsche durch die Vertreter geht der ungestüme Wille auf dem Wege der Uebertragung verloren, die Energie, die Ausdauer wird korrumpirt, die ursprünglichen Forderungen gewaltig geschwächt. Durch die direkte Aktion erheischt und erzwingt sich das Proletariat vom Staate direkt Gehör, lässt es seine Stimme selbst laut vernehmen. Während die Führer der Arbeiterschaft ihre Zeit mit politischen Streitereien und Schachergeschäften verbringen, einigt sich hinter deren Rücken das ganze Proletariat in einstimmiger Solidarität in einem Kampf gegen den Kapitalismus und den Ausdruck seiner Gewalt, den Staat. *** 2. Die direkte Aktion gegen den Militarismus. Dieses Kapitel bezieht sich speziell auf Länder mit allgemeiner Wehrpflicht. Der furchtbarste Feind des Proletariats und dessen Bestrebungen ist zweifellos der Militarismus. In der Gegenwart ist ja auch der Hauptzweck des Militarismus die Niederhaltung des „inneren Feindes", der Arbeiterklasse. Sogar alle Kriege gegen den „äusseren" Feind sind ja, wie besonders die Kriege der letzten Jahre unverblümt nachweisen, trotz aller „patriotischen" Ausschmückungen, nichts als finanzielle Unternehmungen der unersättlichen Geldgier einer Haufens der reichsten und „höchsten" Parasiten der Menschheit. Wir erinnern blos an den südafrikanischen Krieg um die Goldgruben, die die englischen Kapitalisten den holländischen entreissen wollten und um dort statt weisser Arbeiter gelbe Kulis als Sklaven einführen zu können. Wir erinnern an den Krieg um die Wälder Mandschuriens für die russischen Grossfürsten; den Zank deutscher und französischer Kapitalisten, Marocco plündern zu dürfen, der so furchtbare Kriegsgefahr heraufbeschwor. Alles Dinge, für die das Proletariat zwar sein Blut vergiessen musste, die aber seine Interessen nicht im mindesten berührten. Wie das Proletariat für die Pracht und Herrlichkeit der Parasiten sein ganzes Leben lang seinen Schweiss und seine Sklavenarbeit hergeben muss, so zwingt nun die Plutokratie in den Kriegen gegen ausländische Konkurrenten, oder um die Reichthümer der Kapitalisten anderer Länder an sich zu reissen, dieses selbe Proletariat jetzt sein Blut und sein Leben für sie zu opfern. Die Bourgeoisie gewinnt bei jedem Kriege, ob siegreich oder nicht, indem sie, je nachdem, auf Hausse oder Baisse auf der Börse spielt; das Proletariat kann in jedem Kriege nur verlieren, und zwar in einem siegreichen noch mehr, wie nach einem Kriege, in dem sein „Vaterland" besiegt wurde. Denn die siegreiche Monarchie, der siegreiche Kapitalismus eines Landes wird gefestigt gegenüber seinem inneren Feinde durch den begeisterten Enthusiasmus idiotischer „Patrioten" und durch den Aderlass, den das Volk auf jeden Fall erlitten hat, das doch allein für die Bourgeoisie geblutet hat. Die Reaktion wird frecher, der Uebermuth, die Willkür gegenüber dem Proletariat noch schrankenloser; im Gegentheil sehen wir, dass nach verlorenen Kriegen oft Perioden freierer Entwicklung im Innern des Landes zu beobachten waren. Diese elementare Proletarierweisheit scheint noch nicht von der internationalen Sozialdemokratie begriffen zu sein, die, trotz ihrer theoretischen Gegnerschaft gegen den Krieg, sich noch nicht vom Patriotismus frei machen konnte und lehrt, dass man doch sein Vaterland gegen äussere Angriffe vertheidigen müsse. Gerade dagegen erhob sich die in Frankreich in letzter Zeit so viel diskutirte Theorie des Antipatriotismus, die dem Proletarier klar auseinandersetzt, dass er in der gegenwärtigen Gesellschaft in keinem Falle ein Interesse hat, das „Vaterland" zu vertheidigen — von dem ihm nicht eine Hand breit Erde gehört, indem er in jedem Falle, ob Kapitalisten dieser oder jener Nation herrschen, ausgebeutet und geschunden wird. Der Kapitalpatriotismus ist nicht seine Sache, — mögen für das Vaterland diejenigen ihr Blut vergiessen, die alle Vortheile daraus ziehen. Ihr Leben und ihre Freiheit haben die Proletarier für andere Ziele,für andere Ideale einzusetzen, als in Kriegen für den Kapitalpatriotismus der Bourgeoisie. Der Militarismus ist also, zu welchem Zwecke er auch dienen möge, der entschiedenste Feind der Bestrebungen des Proletariats, er ist immer nur das Werkzeug des Kapitalismus. Am klarsten drückt sich dies dann aus, wenn — was ja so oft beobachtet wird — bei jedem Streik, ja beim geringsten Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, oft sogar schon bei blosser Androhung eines Streikes, sofort die Armee aufgeboten wird, nicht nur um den Kapitalismus zu beschützen, der oft bei der legalen Taktik der Gewerkschaften gar nicht bedroht ist, sondern um die Arbeiter einzuschüchtern und niederzuhalten. Sie nimmt offen die Partei des Kapitalisten, weil es eben die Armee des Kapitalismus ist. Es ist in allen Ländern oft sogar schon vorgekommen, dass Truppen gegen Arbeiter aufgeboten wurden, die streikten, um die Unternehmer zur Respektirung von Arbeiterschutzgesetzen zu zwingen. Der Staat und seine Armee machte sich also, wenn es galt, die Kapitalisten zu beschützen, zum Mitschuldigen des Gesetzesbrecher. In wie viel tausenden Streiks wurden schon die Arbeiter von Soldaten erschossen, massakrirt, — von Soldaten, die vor und nach der Dienstzeit ebenfalls Arbeiter sind, aber durch den militärischen Geist, die Disziplin, den Kapitalpatriotismus hypnotisirt, zu Mördern an ihren eigenen Brüdern und Vätern wurden. Das Proletariat sieht also auf Schritt und Tritt, dass sein direkter, ja sein direktester Feind der Militarismus ist, als der Wächterhund des Kapitals. Man kann den Kapitalismus nicht niederringen, ohne seine wichtigste Stütze, seine bewaffnete Garde, anzugreifen und zu bekämpfen. Dies haben auch die Proletarier dieser Länder eingesehen, in denen die revolutionäre Gewerkschaftstaktik, die direkte Aktion, als der wirkliche Weg erkannt wurde, auf dem das Proletariat zum Siege gelangen wird, und deshalb bekämpft es auch dort den Militarismus direkt, als seinen direkten Feind in seinem Kampfe um Besserung der Lebenslage und vollständiger Emanzipation, und nicht auf dem Umwege durch Abgeordnete in den Parlamenten, durch den Stimmzettel etc. Die direkte Aktion der revolutionären Gewerkschaftstaktik gegen den Militarismus unterscheidet sich gewaltig von der indirekten Aktion gegen den Militarismus der sozialdemokratischen Abgeordneten und Gewerkschaftsführer. Obwohl sich diese ja auch als Gegner des Militarismus erklären, sehen sie keine anderen Mittel gegen den Militarismus als machtlose, wenn auch noch so schöne „Erklärungen" in den Parlamenten und die Verweigerung des Budgets, das aber natürlich von allen anderen Parteien mit ungeheurer Majorität angenommen wird. Als einziges Mittel gegen den Militarismus, oder vielmehr nur gegen die „Auswüchse des Militarismus", die eigentlich allein bekämpft werden, als Refrain aller Reden und Broschüren gegen den Militarismus wiederholt sich immer wieder diese eine Idee: „Wählt recht viele sozialdemokratische Abgeordnete und dann werden die dem Militarismus schon den Garaus machen" — oder wie gar alle bekannten antimilitaristischen, von den Sozialdemokraten Oesterreichs herausgegeben Broschüren versichern, dass das allgemeine Wahlrecht hierzu das einzige Mittel ist; dass mit dem allgemeinen Wahlrecht und durch die Wahl von sozialistischen Abgeordneten der Militarismus schon beseitigt würde. Die Anhänger der direkten Aktion haben keine Zeit und keine Lust, so lange zu warten, denn inzwischen rücken die Truppen immer bei jedem Streik gegen die Arbeiter aus, und deshalb wandten sie sich in ihrer Propaganda direkt an die Soldaten, die Rekruten, die Reservisten, kurz die Arbeiter, die morgen Soldaten, und die Soldaten, die morgen wieder Arbeiter sein werden. Sie erwecken und pflegen die werkthätige Solidarität zwischen den Arbeitern in der Bluse mit den Arbeitern im Waffenrock; die revolutionären Gewerkschaften schicken ihren früheren Mitgliedern beim Militär von Zeit zu Zeit kleine Unterstützungen mit aufmunternden Begleitschreiben, sie laden die Soldaten zu ihren Festen, in ihre Lesesäle, in die Gewerkschaftshäuser ein, wo sie freundliche Aufnahme finden, unentgeltliche Briefmarken für ihre Korrespondenz etc. Die revolutionären Gewerkschaften übernehmen es auch, die Klagen der Soldaten gegen ihre Vorgesetzten in die Oeffentlichkeit zu bringen. So vergisst der Soldat nicht seine alten Freunde, seine Solidarität mit den Arbeitern, mit denen er in ständiger Berührung bleibt. So oft Soldaten desertiren oder sich dem Militärdienst entziehen wollen, wird ihnen werkthätige Hilfe geleistet. Ausserdem wird unter den Soldaten lebhafte Propaganda mit Hilfe von Manifesten, Flugblättern, Plakaten, illustrirten antimilitaristischen Spezialnummern und Broschüren betrieben, deren Grundton immer der ist, die Soldaten aufzufordern, nicht gegen ihre Brüder zu schiessen, – weil sie wohl in kurzer Zeit, nach Ablauf der Dienstzeit, selbst in der Lage sein können, zu streiken und dann andere Soldaten vor sich zu haben. Und wenn sie das Commando erhalten, auf das Volk, auf Frauen, auf ihre Brüder und Väter zu schiessen und sie der Suggestion, ihre Gewehre abzufeuern, nicht widerstehen können — dann mögen sie auf diejenigen zielen, die ihnen solche mörderischen Befehle ertheilen. Diese Propaganda hatte auch ihren Erfolg, denn schon öfters weigerten sich Soldaten, den Befehlen der Offiziere zu folgen und auf die Streikenden zu schiessen. Während die Sozialdemokratie den Antimilitarismus in den Parlamenten durch indirekte Aktion bekämpft, ohne an dessen Beseitigung zu denken, weil sie die stehende Armee nur durch die Miliz ersetzen will, lehrt die direkte Aktion, dass der Militarismus überhaupt nur auf direktem Wege zu beseitigen ist und auch beseitigt werden kann — und zwar auf dem einfachsten und direktesten Wege der kollektiven Dienstverweigerung und massenhafter Desertionen. Wie die Arbeiter, die die Sonntagsruhe haben wollen, blos kollektiv an diesem Tage nicht in die Arbeit zu gehen brauchen, wodurch die Sonntagsarbeit von selbst aufhört — so brauchten die Proletarier auch nur kollektiv den Militärdienst zu verweigern und der Militarismus ist in seinen Grundfesten erschüttert — wenn dies auch anfangs nur von einem kleinen, aber bemerkenswerthen Prozentsatz geschieht. Diese direkte Aktion gegen den Militarismus ist im Frieden kollektive Dienstverweigerung der Rekruten, die sich blos nicht zu stellen brauchten, und Militärstreik und Desertion in neutrale Länder im Falle eines Krieges. Bei Dienstverweigerung und Nichtstellung in Masse ist die öffentliche Gewalt machtlos. Wenn jeder Verweigerer einfach im Bette liegen bleibt, ist es ja unmöglich, je zwei Gensdarmen zu jedem Einzelnen zu schicken, um ihn zum Regiment mit Gewalt abzuholen. Und wenn sogar Leute auf diese Weise zu den Truppen 55einbezogen würden, so würden diejenigen, die mit so wenig Begeisterung hingingen, schon wissen, was sie mit ihren Waffen zu thun haben. Sie werden die Waffen dazu benutzen, um den anderen falschen und verblendeten Brüdern, die mit Freuden Soldaten sind und nicht zur Einsicht kommen, welch' elende und schändliche Rolle sie spielen — die Waffen entreissen — und sich gegen die eigenen Machthaber und Regierungen erheben, die sie zur Schlachtbank führen wollten. Auf die Kriegserklärung antworten die Antimilitaristen mit Dienstverweigerung, Militärstreik, Generalstreik in den Arsenalen und Militärwerkstätten, Meuterei und Insurrektion. Trotz aller Friedensschalmeien und Deklamationen der „grossen" und berühmten Pacifisten könnte kein einziger blutiger Krieg vermieden werden, wenn die Kapitalisten es beschliessen und das Proletariat sich fügt. Der Krieg kann nicht durch den sanften Pacifismus, sondern nur durch den rebellischen Antimilitarismus diese direkte Aktion des Pacifismus — beseitigt werden. Zu den wichtigsten Massregeln, um einen Krieg unmöglich zu machen, gehört die Vernichtung und Beschädigung der Kommunikations- und Verkehrsmittel, der Telegraphen, Telephone, Posten, des Eisenbahnverkehrs, der Tunnelle etc., um den Truppentransport zu erschweren. Massenstreiks in den Arsenalen, die sonst während des Krieges fieberhaft Munition für die Armee erzeugen, Streiks in den Bergwerken und auf den Eisenbahnen machen auch schon zum grössten Theil die Fortsetzung eines Krieges unmöglich. Durch entsprechenden Sabot, den wir vorhin behandelt hatten, ist es sehr leicht möglich, den Betrieb der Eisenbahnen, Telegraphen etc. durch kleine Minoritäten zu unterbrechen. Durch solche direkte Aktion der Proletarier in jedem Lande könnten sie ihre Regierungen verhindern, Kriege zu führen und so den Krieg überhaupt unmöglich machen. Schon die blosse Ankündigung der Arbeiter und Soldaten, im Falle des Krieges zu streiken, die blosse Ankündigung, dass die Arbeiter, die sich doch in den Kämpfen der letzten Jahre wohl daran gewöhnt haben, den Kapitalisten ihre Arbeit zu verweigern, ihnen nun auch ihr Leben und ihr Blut im Kriege verweigern wollen, um es für die eigenen Ziele, die eigenen Ideale einzusetzen — wäre eine direkte Aktion gegen den Krieg, weil die Bourgeoisie vorsichtiger in ihrer Kriegsbegeisterung würde, besonders wenn sie merkt, dass dabei für sie Gefahr vorhanden und das Volk nicht mehr so willig und begeistert wie früher für die Interessen seiner Feinde zur Schlachtbank gehen will. Dass es nicht im Sommer 1905 zum Kriege zwischen Deutschland und Frankreich wegen Marokko kam, ist hauptsächlich der drohenden Stellung der französischen Arbeiter zu verdanken, die einfach erklärten, nicht in den Krieg gehen zu wollen, was die französische Regierung veranlasste, Alles zu thun, um nur den Krieg zu vermeiden. [2] Und jedenfalls kann es der Arbeiterklasse lieber sein, dass die herrschende Klasse, die Bourgeoisie, eine diplomatische Schlappe, sogar Demüthigung, in ihrer „politischen Ehre" erleidet, als dass Hundertausende Proletarierleichen, gleichgültig ob in „glorreichen" oder verlorenen Kriegen, die Schlachtfelder bedecken. Der Militarismus ist durchaus keine blos politische Frage, die in den Parlamenten erledigt oder auch nur in den Parlamenten eingeschränkt werden kann. Es war im Gegentheil immer die Armee, die „ungefügige" Parlamente auseinander jagte. Der Kampf gegen den Militarismus muss also auf direktem Wege durch das Proletariat selbst geführt werden, denn er ist sein Feind in seinen täglichen Lohnkämpfen und der ständige Beschützer seiner Ausbeuter; er ist des Volkes ewig drohende Gespenst des Blutbades des Krieges. Und am Tage der endgültigen Schlacht des Proletariats zur Beseitigung des Kapitalismus wird es wieder vor sich den drohenden Militarismus haben, der es vernichten wird — wenn es nicht schon von heute ab mit seiner direkten Aktion auf den Militarismus einsetzt, und auch von der Idee durchdrungen wird, den Militarismus überhaupt durch direkte Aktion vorläufig zu schwächen und schliesslich zu vernichten. Und dies wird um so leichter werden, wenn Heer und Volk durch die antimilitaristische Propaganda verbrüdert sein wird. ** IV. Die direkte Aktion als unmittelbare Befreiung, als vollständige Emanzipation des Proletariats. *** Der soziale Generalstreik, Vernichtung der bestehenden und Neuorganisation der zukünftigen Gesellschaft. Die direkte Aktion als Bethätigung des Proletariats beschränkt sich aber nicht nur auf die Erzielung von Verbesserungen in der Gegenwart, sondern ihr weiteres Ziel ist die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt und die Neuorganisation einer freien Gesellschaft. Denn alle Verbesserungen der Lebenslage in der bestehenden Gesellschaft sind nur illusorisch, können niemals von langer Dauer sein. Die Kosten eines jeden siegreichen Streiks, durch den die Arbeiter höhere Löhne erringen, zahlen nicht die Unternehmer, sondern das konsumirende Publikum. Mit den höheren Löhnen steigen sofort auch die Preise der Waaren, und da dies gleichmässig in allen Berufen der Fall ist, bleibt die Lage des Arbeiters dieselbe. Ja, sie sinkt sogar noch relativ im Vergleiche mit dem steigenden Wohlstand der Bourgeoisie, mit den fortwährend neuen Kulturbedürfnissen, die in dem Arbeiter durch seine wachsende Bildung und die Entstehung immer neuer Industrien erweckt werden, die er aber trotz seines höheren Lohnes nicht befriedigen kann. Der einzige positive und wirkliche Erfolg des Proletariats ist die Verkürzung der Arbeitszeit; dies allein ist ein Gewinn an wirklich positiver Freiheit. Die Stunden, die er früher hinter den vergitterten Fenstern der Fabrik verbringen musste, kann er dann zu seinem Vergnügen, zu seiner Bildung,zur Vorbereitung für die soziale Revolution benützen. Das revolutionäre Proletariat weiss, dass das endliche Resultat seiner direkten Aktion die Aufhebung des Lohnsystems überhaupt sein muss, und sind seine Kämpfe in der Gegenwart eine Schulung, eine Vorbereitung zur sozialen Revolution — eine Vorbereitung, die ihm aber schon in der Gegenwart Nutzen bringt, weil er sich durch diese Kämpfe schon heute stückweise immer mehr Freiheit erringt. Gegenüber der indirekten parlamentarischen Aktion, die dem Proletariat verspricht, den Kapitalismus durch den Parlamentarismus, durch die Eroberung der politischen Macht zu beseitigen, lehrt die revolutionäre ökonomische Taktik, den Kapitalismus durch die direkte Aktion des revolutionären, ökonomischen sozialen Generalstreiks zu vernichten und an deren Stelle die freie Gesellschaft zu errichten. So ist der sociale Generalstreik mit Expropriation der höchste Ausdruck, die Krönung der direkten Aktion des Proletariats. Ueberhaupt ist auch in der Theorie des Anarchismus durch das Betonen der ökonomischen Aktion und des revolutionären Streiks eine bedeutsame Wendung eingetreten. Das blosse „In-den-Grund-und-Boden-Philosophiren" der bestehenden Gesellschaft durch den Anarchismus hat dem Staate nicht wehegethan. Auch das Ausmalen herrlicher Paradiese in der Zukunft konnte grosse Proletariermassen weder gewinnen noch satt machen. Alle Redereien von der „zukünftigen Gesellschaft" klingen an's Ohr der Proletarier wie alle anderen religiösen Himmelsvertröstungen, wenn sie ihm — wie alle Religionen — ein Glück in ferner Zukunft — nach seinem Tode oder für spätere Generationen versprechen. Das Proletariat will heute schon Erfolge sehen, will heute schon mehr Brod und mehr Freiheit, und diese geben ihm leider bis heute alle anarchistischen Philosophen und Zukunftsträume ebenso wenig, wie der religiöse Mystizismus der Pfaffen und der sozialdemokratische Parlamentarschwindel. Deshalb konnte auch jener philosophische Anarchismus niemals eine Massenbewegung werden — er war und ist verurtheilt, eine kleine Sekte für Literatur und Schönheit begeisterter Schwärmer und Idealisten zu bleiben, die sich an dem Mystizismus des Ideals berauschen. Ganz etwas Anderes wird es aber, sobald der Anarchismus wirklich zur revolutionären Arbeiterbewegung wird und sich mit den praktischen Fragen der Gegenwart befasst — sobald er schon positive Erfolge für das Proletariat in der Gegenwart erringt. Durch diese revolutionäre ökonomische Taktik in der Gegenwart gewinnt man also erstens die Massen; zweitens, giebt sie den Kämpfenden schon heute mehr Glück und Freiheit, und drittens — und hauptsächlich für diesen Abschnitt wird das Proletariat durch die fortwährend und wiederholten revolutionären Streiks mit ökonomischem Terror dazu erzogen und angelernt, w i e Streiks siegreich durchzuführen sind. Durch die positiven Erfolge ermuntert, lernt es sich Mutti und Kampfesfreudigkeit und immer grössere „Begehrlichkeit" an. Die Streiks werden dann immer grösser und immer revolutionärer; das durch antimilitaristische Propaganda stark unterwühlte Heer wird für die Herrschenden immer weniger zuverlässig, und so wird eines Tages ein grosser revolutionärer Riesenstreik, an dem das an ökonomischen Terror und revolutionäre Streiks schon gewöhnte Proletariat die weiteste Forderung — die Aufhebung des Lohnsystems überhaupt fordern wird, — zum sozialen Generalstreik werden, den es siegreich und nicht mit gekreuzten Armen durchzuführen wissen wird. So steuert nun die Entwicklung der revolutionären ökonomischen Kämpfe der Gegenwart, gleichzeitig mit den fortwährenden Gegenwarts-Erfolgen, mit fortwährendem Gewinn immer grösserer Freiheit für das Proletariat — geradezu von selbst endlich zum siegreichen ökonomischen Generalstreik als Entwicklungsresultat der vielen kleineren revolutionären Streiks zum Ziele hin. Gerade diese Auffassung des fortwährenden Anwachsens der ökonomischen revolutionären Aktion des Proletariats bis zu seiner Spitze, dem sozialen Generalstreik, entspricht unendlich mehr der logischen Auffassung der Evolution, des Entwicklungsprinzips — wie alle dialektischen Kladderadatsch-Theorien „evolutionistischer" und wissenschaftlicher Sozialdemokraten.
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Auch die Neuorganisation nach dem siegreichen ökonomischen Generalstreik erfolgt im Gegensatz zur Auffassung der Verkünder der indirekten parlamentarischen Aktion, die die Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch den Staat dekretiren und organisiren wollen — auf direktem Wege, nach Sturz des kapitalistischen Systems, durch die direkte Besitzergreifung der Produktionsmittel durch das Proletariat, — nicht durch die Vermittlung des Staates oder der „Nation". Die direkte Besitzergreifung erfolgt durch die direkte Expropriation der Kapitalisten während des Kampfes und die Uebernahme der Produktionsmittel durch die Gewerkschaften eines jeden Ortes, die dann die Produktion weiter führen und anderseits durch die Rücknahme der Erde durch die Bauern, die sie dann gemeinsam bearbeiten. Wir halten es für überflüssig, hier noch mehr über diese Form der direkten Aktion, den sozialen Generalstreik und die direkte Besitzergreifung der Produktionsmittel zu sagen, weil dieses Thema in der Broschüre „Der soziale Generalstreik" von demselben Verfasser ausführlich behandelt wurde, und begnügen wir uns damit, auf diese zu verweisen. Auch für diese Erscheinung der direkten Aktion sehen wir gegenwärtig zahlreiche Beispiele in Russland, wo die Bauern schon in hundert Fällen in allen Provinzen des Reiches die grossen Grundherren vertrieben und sich die Erde zurücknahmen. — obwohl doch die Sozialdemokraten seit Jahrzehnten predigten, dass nur der sozialistische Staat dies thun dürfe, dass der Boden verstaatlicht werden muss — was natürlich die Bauern niemals verstehen werden. Ohne auf Staatsdekrete zu warten, führen sie durch direkte Aktion die Expropriation durch. Was nun die Bauern in Russland schon heute thun, wird also in Westeuropa und Amerika auch das Industrieproletariat gegen den Kapitalismus durchzuführen wissen.
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So sehen wir die direkte Aktion in ihren mannigfaltigsten Formen, in den verschiedensten Erscheinungen. Eigentlich ist ja die direkte Aktion allein eine Aktion, denn alles Andere ist nur direkter Schwindel, Aktionslosigkeit, Unthätigkeit, Beauftragung Anderer, das durchzuführen, was zu thun man selbst zu feige, zu faul oder zu unfähig ist. Wenn das Proletariat etwas erreichen will, muss es seine Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Gewiss birgt die direkte Aktion Gefahren in sich, weil jeder Einzelne selbst handeln, seinen Muth, seine Fähigkeit bethätigen muss. Sie ist nicht so bequem wie die parlamentarische Aktion, wo die Arbeiter ihr Schicksal Anderen anvertrauen. Aber wir sehen ja, wohin das führte. Die Lebenslage des Proletariats sinkt absolut und relativ in allen diesen Ländern, in denen es sich feige und gesetzlich verhält. Will es nicht herabgedrückt werden zu chinesischen Kulis, mit dem schönen Glauben an eine mystische Zukunft, die ihm seine blassrothen Mandarinen schon zu verschaffen versprechen, so muss es bald selbst in den Kampf treten, auf die eigene Kraft vertrauen, um auf direktem Wege, durch seine direkte Aktion seine Forderungen der Gegenwart erkämpfen und so seine Zukunft vorzubereiten. Durch das Beispiel der That, der Aktion, würden immer rascher und immer mehr Proletarier gewonnen, die, den Versprechungen Anderer nicht mehr vertrauend, sich endlich kräftig genug fühlen werden, durch ihre direkte Aktion den ganzen Bau der gegenwärtigen Knechtschaft niederzureissen und selbst direkt eine Gesellschaft zu organisiren, in der die Erde den Bauern, die Gruben den Bergleuten und die Maschinen den Arbeitern gehören — eine Gesellschaft ohne Arme und Reiche — ohne Herren und Knechte.   ** V. Anhang. Quellenangaben und Bibliographie des gewerkschaftlichen Anarchismus. M. Pierrot. — Syndicalisme et Révolution. Paris 1905. (Wohl die allerbeste, inhaltsreichste revolutionäre Broschüre die in den letzten 10 Jahren überhaupt erschienen ist.) 35 Seiten. 10 Centimes. Paul Delessale. – L'Action syndicale et les Anarchistes. Paris 1901. " " – Les deux Methodes du Syndicalisme. Paris 1904. " " – Aux Travailleurs. – La Grével   Emile Pouget. – Les Bases du Syndicalisme. Paris 1904. " " – Le Syndicat. Paris 1904. " " – Le Parti du Travail. Paris 1905.  Groupe des E. S. R. I. – Les Anamhistes et les Syndicats. Paris 1890. " " – Niel. " " – Les Syndicats et la Revolution. Paris 1902. " " – La journée de 8 heures. Paris 1905. C. G. T.– La journée de 8 heures. Paris 1905. F. Pelloutier. – Histoire des Bourses de Travail. (3 fr. so.) Paris 1900. " " - Sindicalismo e Rivoluzione sociale. Roma 1905. G. Sorel. - L'Avenir socialiste des Syndicats. (I fr.) Paris 1900. " " - Essai sur la violence – Mouvement socialiste 1906. " " - Boycottage et Sabottage. — Rapport au congrés corporatif. 1897. " " - Gréve generale réformiste et gr. g. revo1utionaire. Lagardelle. - Enquête sur la gréve (3 frs.) Paris 1905. J. Blair Smith. — Direct Action versus Legislation. Glasgow 1904. „Weckruf". Zürich 1905. Januar bis Juli, Artikelserie von Rungg, „Temps Nouveaux". Paris 1905, 1906. Artikel von Laurent Casas über amerikanischen Trades-Unionismus. „Le Mouvement socialiste" — von 1904 ab. Ausgezeichnete Monats-Revue. Paris ( Redact. H. Lagardelle). „Voix du Peuple". Paris, von Jahrgang 1900 ab. „Action directe". Paris 1904. „Il Avenire sociale". – Roma 1906. (Halbmonats-Revue.) „L'Avantgarde". Paris 1904-1905. (1 Jahrgang.) "Generalstreik". Bruch 1904-1905. „Freier Arbeiter" und „Anarchist". Berlin 1905, 1906. Protokolle und Rapporte der Kongresse der „Bourses de Travail" und der „Conféderation générale de Travail" Frankreichs von 1898-1904. A. Roller. Der soziale Generalstreik. 1904-'05.   [1] „Volksrecht", Zürich 17. II., 1905; „Vorwärts", Berlin 10. II., 1905. [2] Wie erbärmlich sticht dagegen das schändliche und feige Verhalten der deutschen Gewerkschaftsführer ab, als während des Marokkostreites die Vertreter der französischen Gewerkschaften an sie herantraten, um eine gemeinsame Manifestation gegen den Krieg durchzuführen. Die deutschen „Arbeiterführer" weigerten sich, unter den schmählichsten Ausflüchten, mit den Franzosen zu unterhandeln. So hatte Deutschland's Diplomatie nicht den geringsten Widerstand im eigenen Volke und konnte fortwährend bei seinem provozirenden Verhalten gegenüber der französischen Diplomatie verharren.