#title Argentinien & Bolivien: Auflehnungen und Widersprüche des Volkes #SORTauthors A Corps Perdu #SORTtopics Aufstand, Bolivien, Argentinien, Analyse, Selbstorganisation, Selbstverwaltung #date September 2010 #source [[https://linksunten.indymedia.org/de/node/62014][https://linksunten.indymedia.org/de/node/62014]] #lang de #pubdate 2015-01-01T16:59:10 #notes Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 3, Juni 2011. Teil des Dossier "Insurrektion". Seit den 70er Jahren hat Lateinamerika die Begeisterung der Revolutionäre aller Färbungen geweckt: von den Anhängern der Fokustheorie à la Kuba über die Stadtguerilleros-Tupamaros Fans bis hin zu den Verteidigern der sozialistischen Regime nach dem Modell von Allende. Es war die Zeit, als Maoisten und Trotzkisten, die die antiimperialistischen und nationalistischen Revolutionen an der „Peripherie“ lobpriesen, behaupteten, das diese schließlich auch das „Zentrum“ des Kapitals erreichen würden. Nach jahrelangen Diktaturen und mit der Wiedereinführung – in voller Kontinuität – von repräsentativen Demokratien in zahlreichen Ländern war hauptsächlich von einer neoliberalen Wende und einer sozialen Befriedung in Lateinamerika zu hören. Dennoch war der Anfang der 2000er Jahre von großen sozialen Explosionen geprägt, die neue Enthusiasmusquellen für zahlreiche Anti- Imperialisten bildeten, welche mittlerweile zu Globalisierungsgegnern konvertiert und noch immer auf einen primitiven Antiamerikanismus aus sind. Nicht genug damit, dass sie sich ein weiteres Mal auf die Suche nach „revolutionären Subjekten“ begaben, durch die sie angeblich dem berühmten Grand Soir näher kommen sollten, haben sie die Verfälschung so weit vorangetrieben, dass sie das, was sie als „soziale Bewegungen“ bezeichneten, mit den Führern verwechselten, die sich diese zunutze machten, um sich ihren Anteil des Kuchens der Macht abzuschneiden. Unter dem Deckmantel einer Opposition gegen das „Empire“ feierten sie somit, wie es ihrer Gewohnheit entspricht, das Aufkommen der Totengräber der Revolten mit der Rückkehr der Linken in die Regierung. Ihre bedingungslose Unterstützung gilt folglich nationalistischen Reaktionären wie Chavez, waschechten Sozialdemokraten wie Bachelet oder auch dem großen Reformer Lula. Wenn wir für unseren Teil uns entschieden haben, auf die sozialen Explosionen zurückzukommen, die Argentinien 2001 und Bolivien zwischen 2000 und 2004 erschütterten, dann ist dies weder, um ihre Entstehungsgeschichte darzulegen – dafür fehlt uns hier der Platz –, noch, um darin nach zu imitierenden Modellen zu suchen. Neben der Begeisterung, die die Revolten gegen die Mächtigen dieser Welt stets hervorrufen, hoffen wir, dass das Nachdenken über diese Situationen, die wir von mehr oder weniger nahem kennen, ermöglichen wird, einige theoretische und praktische Fährten der Intervention in den sozialen Krieg aufzuzeichnen, den wir hier bei uns erleben. *** Von der Revolte gegen die Lebensbedingungen zu den Regierungswechseln Während der 90er Jahren zeigte sich der soziale Antagonismus in diesen beiden Ländern besonders zugespitzt. In Argentinien verursachte die Liquidierung der alten Manufakturindustrie und die Privatisierung des öffentlichen Sektors zugleich Massenentlassungen und eine galoppierende Inflation, mit einer Preiserhöhung für Strom, Wasser, Gas und lebenswichtige Güter. In Reaktion darauf haben sich unterschiedliche Kämpfe und Widerstandsformen entwickelt: unter Beamten (Lehrern und Krankenhauspersonal zum Beispiel) für die Zahlung von ausstehenden Löhnen, unter Arbeitern gegen die Schließung von Fabriken oder auch unter Arbeitslosen für das Erhalten, die Erneuerung oder Erhöhung der Arbeitspläne[1]. Im Innern dieser Kämpfe verbreiteten sich Praktiken wie die Besetzung von öffentlichen Räumen (beispielsweise des zentralen Platzes einer Stadt) und das Errichten von Piquets. Letztere bestehen darin, den Zugang zu Unternehmen oder zu gewissen strategischen Gebäuden, und allgemeiner den Personen- und Warenverkehr zu blockieren, hauptsächlich auf den Verkehrsachsen (da der Bahnverkehr im ganzen Gebiet sehr limitiert ist). Diese Blockaden haben im Grunde den doppelten Vorteil, einen reellen Druck auszuüben, indem sie die Wirtschaft in Unordnung bringen und den Alltag stören, aber auch auf lange Dauer einen möglichen Sammelpunkt für die verschiedenen Unzufriedenheiten bilden. Als im Jahr 2000 Arbeitspläne fordernde Arbeitslose im Norden, der insbesondere von der Privatisierung des Erdölunternehmens YPF betroffen war, während 11 Tagen die Route 34, die Hauptachse zwischen Salta und Buenos Aires, blockierten, schickte die Regierung tausend Polizisten und Gendarme, um den Durchgang der Tankwagen nach Bolivien zu ermöglichen. Die etwa 200 Personen, die sich auf dem Piquet abwechselten, sahen sich jedoch schnell von weiteren 4000 unterstützt, die aus den umliegenden Städten General Mosconi und Tartagal herbeieilten. Gemeinsam hielten sie zunächst auf dem Platz mit Steinen, Stöcken und Molotowcocktails gegen die Angriffe mit Gaspetarden und Gummigeschossen stand, bis der Kampf die Stadt erreichte. Dort musste sich die Macht schließlich zurückziehen, angesichts der Demonstrationen von tausenden Menschen, der Verwüstung und anschließenden Brandstiftung des Rathauses (mit seinen Computern und Archiven) sowie des Steueramts, und der Drohung, auch die Treibstoffdepots in Brand zu stecken. Der Versammlungsschrei der Aufständischen war damals „Nos cagamos de hambre!“ [Wir verrecken vor Hunger!]. Dies ist nur ein Beispiel unter anderen von Straßenblockaden, die, initiiert von bestimmten Kategorien (oft Arbeitslosen oder baldigen Arbeitslosen), von der Unterstützung einer Bevölkerung profitieren konnten, die vom selben Elend betroffen ist, in Gegenden, in denen regionale Regierungen und Gemeinden dabei sind, Zahlungen einzustellen. Die gemeinsame Beteiligung und das Ineinandergreifen von Situationen, die, wenn nicht identisch, so doch ähnlich sind, ermöglichte manchmal sogar, die anfänglichen kategoriebezogenen Forderungen zurückzulassen, während die Revolte den Rest übernahm... Wiederholte Male mündeten die harten Konfrontationen mit den Ordnungskräften in regelrechten Puebladas, Aufständen von kleinen oder mittleren Städten gegen die lokale Verwaltung, begleitet von zahlreichen Plünderungen und Zerstörungen von öffentlichen Gebäuden. Außerdem dienten die Piquets manchmal zu direkten Wiederaneignungen, wie beispielsweise zur Plünderung von Warentransportern. Allgemein gesehen haben sich die Hungerunruhen, in einem Kontext wachsenden Elends, bis ins Jahr 2001 fortwährend gehäuft – während immer mehr Kleinbauern, die durch die Konzentrierung der Landwirtschaftsproduktion vertrieben werden, die zahlreichen Slums anwachsen lassen. Im Jahr 2001 erreichen die Plünderungen die Vororte von Buenos Aires, während die Piqueteros regelmäßig Straßenverkehrsachsen und Bahnlinien versperren. Wenn man den insurrektionellen Tagen vom Dezember 2001 den Namen Argentinazo gab, dann ist das, um sie in die Kontinuität von Aufständen verschiedener Städte zu stellen[2]. Auch ist es eine Art und Weise, das besondere Ausmaß zu betonen, das sie angenommen haben, nicht nur, weil sie sich über das ganze Territorium ausweiteten – auch wenn sie in den ärmsten Provinzen und in den städtischen Zentren besonders heftig waren[3] –, sondern auch, weil das Zusammentreffen von unterschiedlichen Elementen es ermöglichte, eine grundlegendere Infragestellung der bestehenden Ordnung ins Auge zu fassen. Im Dezember 2001 betrifft der wirtschaftliche und soziale Zusammenbruch immer breitere soziale Schichten. Auf die immer drastischeren Budgetkürzungen (Senkung der Beamtenlöhne um 12-15%, immer schwererer Zugang zu Sanitätsdiensten, Abbau des Rentensystems...) folgt eine offene Finanzkrise. Das bankrotte Land ist, mit einem kolossalen Handelsdefizit, nicht imstande, seine externen Schulden zu bezahlen. Am 3. Dezember bildet die Maßnahme des Corralito[4] den Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Die Kleinsparer, deren Großteil der Ersparnisse damit konfisziert wurde (einen Monat später, mit dem Ende der Währungsparität Peso/Dollar, werden sie sie buchstäblich verlieren), machen sich auf, um vor den Banken zu demonstrieren. Sie attackieren sie, manchmal mehr, manchmal weniger symbolisch, mit den Rufen Chorros! [Diebe!], während sich ihre Unzufriedenheit derjenigen von anderen Sektoren der Mittelklasse anfügt. Diese letzteren akzeptieren ungern, nachdem sie den Werten der plata dulce der Menem Ära[5] zugestimmt haben, wenn nicht die Verelendung, so zumindest die Senkung ihres Lebensstandards. Mitte Dezember ist das Land in Aufruhr: am 13. Dezember wird dem Aufruf zum Generalstreik breit gefolgt; Demonstrationen und Straßensperren von Lohnarbeitern und Arbeitslosen verbreiten sich und schneiden den Zugang zu zahlreichen Städten ab. Unter anderem in La Plata und Cordoba werden die Straßenkämpfe von Angriffen auf öffentliche Gebäude begleitet. Die Plünderungen von Supermärkten, Lagerhäusern und anderen Geschäften beginnen sich gefährlich zu vermehren. Vor allem übersteigen sie den gegebenen Rahmen, indem sie sich, besonders in der Provinz Buenos Aires, der Kontrolle der Punteros[6] entziehen. Angesichts dieser Generalisierung der Revolte ordnet die Regierung Repression an. Der Vorort der Hauptstadt wird durch Transportblockaden isoliert und von den Bullen umzingelt, welche die kämpferischen Viertel abriegeln und dabei nicht zögern abzudrücken. Die ersten Konfrontationen fordern bereits 5 Tote und zahlreiche Verletzte. Am 19. Dezember aber sorgt das Ausrufen des Ausnahmezustands für das Gegenteil des erhofften Effekts... Für den Staat besteht die Herausforderung darin, sich als Beschützer vor den „gefährlichen Klassen“ darzustellen, indem er in erster Linie auf die Angst und den Erhaltungsreflex der Mittelklasse setzt. So wird mit großer Unterstützung der Medien das Schreckgespenst von Bettlerhorden heraufbeschworen, die über die Städte herfallen. Dennoch, auch wenn sich in einigen Wohnvierteln Milizen bildeten (die sich den zahlreichen Sicherheitsdispositiven anfügen, die bereits die reicheren Leute beschützen), lässt der Rückgriff auf diese Maßnahme Erinnerungen an nicht allzu weit entfernte Diktaturen[7] wiederaufleben und sorgt dafür, dass der Verzweiflungsgrad nur weiter ansteigt. Zehntausende Menschen bringen ihre Weigerung gegenüber der Ausgangssperre tatkräftig zum Ausdruck, indem sie im Moment seiner Verkündung auf die Straßen gehen. Die Cacerolazos[8] werden begleitet von Rufen wie „Que boludos! El estado de sitio, que se le meten al culo!“ [Diese Schweine! Den Ausnahmezustand sollen sie sich in den Arsch schieben!]. Riesige Menschenmengen bewegen sich in Richtung der Verwaltungsorte der Macht in den Stadtzentren, womit sie auch die Schlinge um die Armenviertel lockern. Als Zeichen der Beschwichtigung wird Domingo Cavallo – der besonders verhasste Wirtschaftsminister – abgesetzt. Dies reicht jedoch nicht aus, um die überhitzten Gemüter und bewegten Körper zu beruhigen. Am 20. Dezember wird das ganze Land von mehr oder weniger gewaltsamen Aufständen erschüttert: in mindestens einem Dutzend Städten enden die Demonstrationen mit zahlreichen Konfrontationen mit der Polizei, während die Straßenblockaden zahlreiche Verkehrsachsen lahmlegen. In Cordoba wird das Rathaus besetzt; darin wird eine Versammlung abgehalten, bevor es in Brand gesteckt wird und Barrikaden errichtet werden. Der berühmte Slogan „Que se vayan todos, que no quede ni uno solo!“ [Auf dass sie alle verschwinden und kein einziger übrig bleibt!] verbreitet sich. Noch am selben Abend kommt die Nachricht: der radikale Präsident De La Rua tritt zurück, oder genauer gesagt, er flüchtet im Helikopter aus dem Präsidentenpalast, unter den Buhrufen der Aufrührer, die erneut den Plaza de Mayo eingenommen haben. Die Intensität der Auseinandersetzungen wird sich folglich nach und nach verringern, sie führten zu mindestens 35 Toten, 439 Verletzten und tausenden in den Polizeirevieren eingesperrten und manchmal auch gefolterten Personen. Nach zwei Tagen dunkler Politikermachenschaften ernennt die gesetzgebende Versammlung einen stellvertretenden Präsidenten, den Peronisten Rodríguez Saá, der seine Rivalen sofort mit demagogischen Versprechungen überbietet. Am 28. Dezember sorgt jedoch die Ankündigung der Beibehaltung des Corralito und die Ernennung in die Regierung von Schuften, die für ihr strenges Vorgehen unter Menem besonders verhasst waren, für einen weiteren Fieberausschlag. Hinterlegt von Streiks und anderen Mobilisierungen im ganzen Land finden vor den Sitzen der Macht erneute Auseinandersetzungen statt. In Buenos Aires wird das Erdgeschoss des Kongresses von den Demonstranten geplündert und in Brand gesteckt. Am 30. Dezember verschwindet auch der Hampelmann Saá von der Bühne. Das neue Jahr beginnt mit Demonstrationen (am 28. Januar laufen mehr als 15 000 Piqueteros, von den Viertelversammlungen unterstützt, im Zentrum der Hauptstadt zusammen), Verkehrsblockaden und Straßenschlachten (die Rebellen von Mosconi nehmen die Garnison des Polizeireviers zur Geisel und brennen das Gebäude nieder). Sporadischer werdend, werden sie angesichts der Repression und der Versprechungen nach und nach abbrechen... Die durch den einflussreichen Ex-Gouverneur der Provinz von Buenos Aires, Eduardo Duhalde, gebildete nationale Einheitsregierung – die nicht nur Radikale und Peronisten vereint, sondern auch Vertreter der gemäßigten Linken und einen Vertreter der offiziellen CGT (dem das Arbeitsministerium anvertraut wird...) miteinbindet – wird den Übergang bis zu den Wahlen 2003 sicherstellen. Von da an wird dann der mit einer Rekordteilnahmequote gewählte „linke Peronist“ Kirchner das Werk der Erstickung der Revolte zu Ende führen. In Bolivien sieht der Kontext etwas anders aus. Als zweit ärmstes Land Lateinamerikas kannte es weder den Aufschwung des Dienstleistungssektors noch die Ausweitung der Mittelklasse, wie sie Argentinien erlebte. Außerdem fanden die großen wirtschaftlichen Umstrukturierungen bereits ab den 80er Jahren statt, namentlich mit der Privatisierung der Minen, welche die große Nationalindustrie bildeten. Die zahlreichen Schließungen führten zu 21 000 Entlassungen auf 28 000 Stellen mit einem großen Widerhall bei den anderen Arbeitern aus speziell kämpferischen Industrien des Altiplano. 1985 und 1986 brauchte es die Verordnung von zwei Ausnahmezuständen,um mit dem Widerstand der Minenarbeiter fertig zu werden. Neben einer starken Migration nach Argentinien und Spanien, verursacht das Elend eine große interne Migrationen wie beispielsweise in die Region des Chapare, wo die Arbeitslosen zum Kokaanbau übergehen werden – die 1944 auf 3300 geschätzte Bevölkerung sei 1992 auf 137 000 angestiegen –, oder in Richtung der Hauptstädte des Landes, um dort die Ränge der informellen Ökonomie zu vergrößern. Innerhalb weniger Jahre wird El Alto, an der Peripherie der Hauptstadt La Paz gelegen, zur drittgrößten Stadt des Landes (während sich ihr Volumen zwischen 1992 und 2002 praktisch verdoppelt hat, um etwa 870 000 Einwohner zu erreichen). Dazu sollte noch gesagt werden, dass zahlreiche Bauernfamilien (hauptsächlich Quechua und Aymara), die nicht mehr auf Landparzellen überleben konnten, die wenig ergiebig sind und unausreichend wurden, ihr Glück in denselben Richtungen versuchen werden. So leben heute in Bolivien mehr als 70% der insgesamt 10 Millionen Einwohner in den Städten. Darüber hinaus erreicht die Inflation zur Zeit schwindelerregende Höhen und der Staat befindet sich einmal mehr in einer quasi Bankrottsituation. Die einzige Antwort der aufeinanderfolgenden Regierungen darauf ist die klassische „Anpassungs-“ Politik, das heißt, die Schrauben bei den Ärmsten noch enger zu ziehen. Es ist dieser Kontext, worin wir ab Ende der 90er Jahre eine Intensivierung der Konflikte in verschiedenen Sektoren und an verschiedenen Fronten erleben: Streiks und Mobilisierungen der Minenarbeiter, der Rentner, der verschuldeten Kreditnehmer, der Lehrer, der Hausfrauen, Bauerndemonstrationen... Wiederholte Male wird das Land durch das Zusammenlaufen von Mobilisierungen und den direkten Kampf lahmgelegt. Auch hierbei besteht eine der Praktiken darin, die Straßen zu blockieren, um jegliche Warenzirkulation und -verteilung zu verhindern und die Aktivitäten ganzer Städte lahmzulegen. Als sich die ersten Anzeichen einer Versorgungsknappheit spürbar machen, wird die Armee herbeigerufen, um den Durchgang freizuräumen, was wiederum darauffolgende Reaktionen hervorrief. In den 2000er Jahren erreichen die regelmäßigen Aufruhre ihren Höhepunkt, indem sie gewisse Orte des Landes „unregierbar“ machen. Im Lauf von dem, was die Protagonisten selbst „Kriege“ nennen, werden sich die Bewohner gewisser Städte oder Regionen schließlich gegen Maßnahmen auflehnen, die direkt ihre Existenzbedingungen gefährden. Der Wasserkrieg: Die erste Regierungsphase von Sánchez de Lozada (1993-1997) setzt die „Kapitalisierung“ der größeren öffentlichen Unternehmen durch: Erdöl, Elektrizität, Eisenbahn- und Flugtransport sowie Telekommunikation werden privatisiert und in den Bereichen Wald und Wasser werden eine große Anzahl Konzessionen eingeführt. Gleichzeitig mit dem Preisanstieg der Basisdienstleistungen wohnen wir einer Verschärfung der Konflikte bei, die den Boden und den Zugang zu den grundlegenden Ressourcen betreffen. Im Jahr 2000 nimmt der Kampf gegen die Privatisierung des Wassers in Cochabamba ein außergewöhnliches Ausmaß an. Nachdem die Wasserversorgung an die Firma Aguas del Tunari, eine Tochterfirma des amerikanischen Bechtel Unternehmens, übertragen wurde, steigen die Wasserpreise in wenigen Monaten um 35% an, und vor allem wird das Grundwasser der Umgebung unter die Kontrolle des Unternehmens gestellt. Die Quechua Bauern des Cochabamba- Tals, deren Gemüse-, Kartoffel- und Maisanbau auf die Bewässerung angewiesen ist, mobilisieren sich. Die Bewohner der Stadt schließen sich ihnen an und sie erhalten Unterstützung aus verschiedenen Bereichen der Bevölkerung im ganzen Land. Der Konflikt nimmt vor allem die Form von Massenprotesten an, welche die Stadt völlig blockieren und die Aufhebung dieser Verträge fordern. Der offensive Protest weitet sich aus und der Wasserkrieg wird zu einem nationalen Problem. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen. In Cochabamba ereignen sich sehr gewaltsame Konfrontationen, wobei ein Demonstrant getötet wird. Die Mobilisierung lässt nicht nach, so dass Regierung und Unternehmen nachgeben müssen. Schließlich führt der Aufstand zur Annullierung des Vertrages mit Aguas del Tunari und zum Abbruch des Projekts der Privatisierung von Wasser auf nationaler Ebene. Der Kokakrieg: Unter dem Druck der amerikanischen Clinton Verwaltung erarbeitet die Banzer Regierung (1997-2001) den Plan Dignidad mit „Zéro coca“ als erklärtem Ziel, was die Vernichtung der Kokafelder im Chapare vorsieht. Die Region wird einer strengen polizeilichen Überwachung unterzogen und unter eine Art undeklarierten Ausnahmezustand gestellt: Militarisierung gewisser Gebiete, Eindringen in Häuser und Versuche erzwungener Pflanzenvernichtung. Aber die Bauernfamilien, die sich bereits in einer Lage reeller finanzieller Prekarität befinden und für die das Koka nunmehr das Hauptein- kommen darstellt, lassen sich das nicht gefallen. Der Chapare verwandelt sich also nach und nach in eine Bastion latenter Dissidenz, die bereit ist, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel und Waffen einzusetzen. Die Verhärtung der Operationen und die direkten Konfrontationen mit der Armee führen zu mehreren Toten, zahlreichen Verletzten und tausenden Eingeknasteten. 2001 weitet sich der Konflikt auf die Region der Yunga aus. Die Entsendung von Truppen vor Ort hat die unmittelbare Errichtung von Bloqueos [Blockaden] zur Folge. Daraufhin macht die Regierung eine Kehrtwende und ruft das Militär wieder zurück: die Vernichtungspläne sowie die Errichtung neuer militärischer Einrichtungen werden eingestellt. Abgesehen davon werden sich zwischen 25 000 und 30 000 Bauern des Altiplano zur ejercito aymara [Aymara-Armee] erklären und eine massive Blockade der Hauptstadt errichten, die sich hauptsächlich gegen die Repression und die Staatsmorde richtet. Im Februar 2003 ist es die Erhebung einer Einkommenssteuer von 12%, hauptsächlich für Beamte, im Rahmen eines neuen Plans des IWF, die das Pulverfass in Brand steckt: in La Paz finden große Demonstrationen statt, Studenten bewerfen den Regierungspalast mit Steinen und Bullen (die ebenfalls Beamte sind) lehnen sich auf. So sieht man, wie demonstrierende Bullen und Soldaten, die den Befehl haben zu schießen, sich gegenseitig umbringen. Die Revolte breitet sich sehr rasch aus: das Ministerium für Arbeit und Mikrokredit wird geplündert und in Brand gesteckt, die zwei Stockwerke der Vizepräsidentschaft und der Militärgerichtshof werden vollständig zerstört, auch vom Ministerium für nachhaltige Entwicklung und Planungsarbeit bleibt nur noch Asche übrig und die Handelskammer wird geplündert. Die Sitze der wichtigsten Parteien – ADN (Konservative), MNR (Regierungspartei), aber auch MIR (Bewegung der revolutionären Linken) und UCS (solidarische Bürgereinheit) – werden ebenfalls geplündert und in Brand gesteckt. Banken werden angegriffen und die Geldautomaten entleert, während sich die Plünderungen von Geschäften vermehren. Im Gefängnis San Pedro rebellieren die Gefangenen und stecken einen Teil des Knastes in Brand; in El Alto wird das Rathaus angezündet und das Gebäude der Zollbehörde sowie die Büros der Elektrizitäts- und Wasserunternehmen werden geplündert. Die Revolte weitet sich auf das ganze Land aus: Cochabamba, Santa Cruz, Sucre und Tarija. Im Chapare werden die Straßenblockaden wieder aufgenommen. Schließlich verlässt der Präsident Sánchez de Lozada unter der Drohung der Aufständischen den Präsidentschaftspalast, während er die Aufhebung des Plans ankündigt. Die Polizei nimmt ihre dreckige Arbeit wieder auf und setzt schließlich, gemeinsam mit der Armee, den letzten Unruhen ein Ende. Nach etwa fünfzehn Toten und sechzig Verletzten (unter anderem bei den Ordnungskräften) werden sich die Verhaftungen auf mehrere hundert Personen belaufen. Im September 2003 lösen die Gasexportprojekte nach den USA und Mexiko via Chile den „Gaskrieg“ aus. Die gesamten Operationen sollen einem privaten Konsortium anvertraut werden, während der Staat nur 18% am Verkauf eines der größten Reichtümer des Landes verdient, zu dem die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal Anschluss hat. Seit Mitte September blockieren die Bauern des Altiplano die Hauptverkehrsachsen, die nach La Paz führen, um gegen dieses Vorhaben zu protestieren. Die Straßen sind über mehrere Kilometer mit Steinen und anderen Hindernissen bedeckt. Als die Armee versucht, die Straßen zu räumen, wird sie angegriffen. Um Touristen zu „entblockieren“, muss sie auch in bestimmten Dörfer wie Sorata und Warisata intervenieren, wo blutige Auseinandersetzungen stattfinden. In Warisata wird die Brücke in die Luft gesprengt und die Soldaten werden mit Gewehrschüssen empfangen, die Vergeltungsmaßnahmen dafür sind jedoch schrecklich: die Bauern lassen 6 Tote und zahlreiche Verletzte zurück, hauptsächlich infolge von Schüssen aus Helikoptern. Die Blockaden und Demonstrationen kreieren den Beginn einer Lahmlegung. In Cochabamba wird eine neue Koordination aufgestellt, eine Versammlung von mehr als 40 000 Personen schließt mit einem Aufruf zum Generalstreik und zu Straßenblockaden. Die Cocaleros, die Bauern und die Minenarbeiter, die in kleinen Gruppen kommen, finden gleichzeitig, zu Fuß oder auf Lastwagen, in Richtung Stadt zusammen, wobei es zu regelrechten Reihenschlachten mit Gewehrschüssen und Dynamit gegen die Armee kommt. Am 9. Oktober befinden sich alle Zugänge nach La Paz unter Kontrolle der Aufständischen. El Alto, das eine strategische Position innehat – gleich neben dem Flughafen gelegen, stellt es auch einen der Hauptzugänge zur Hauptstadt dar –, wird von seinen Bewohnern für eine tote Stadt erklärt. Tag und Nacht überwachen sie die mit Stacheldraht, aber auch mit Gräben und anderen Fallen blockierte Straße. Ein enormes Militäraufgebot verhindert die Besetzung des Wasserkraftwerkes. Dafür werden die Fabrik Electropaz, die Büros von Aguas del Illimani, eine Tankstelle und weitere Geschäfte geplündert und in Brand gesteckt. Eine Ferngasleitung der Umgebung explodiert. Angesichts der Blockierung der Hauptstadt, die von einer Energie- und Lebensmittelknappheit bedroht ist, lässt die Regierung am 10. Oktober dreißig Tankwagen von hunderten Soldaten und von Panzern eskortieren, um die Absperrungen zu durchbrechen. Die Ankunft des Konvois entfesselt die Feindseligkeiten: tausende Menschen zwingen ihn mit Steinen, Molotowcocktails und Dynamit, sich in die lokale Kaserne zurückzuziehen, die sie ebenfalls anzugreifen versuchen. Die bewaffneten Helikopter intervenieren und ermöglichen den Ordnungskräften, in die Stadt einzumarschieren. Manchmal schießen sie direkt in die Häuser. Erst nach zwei Tagen erbitterter Kämpfe, die 40 Tote fordern, kann die Erdölversorgung der Hauptstadt wieder sichergestellt werden. Am 13. Oktober wird das Land durch einen Generalstreik zum Stillstand gebracht; massive Demonstrationen blockieren Cochabamba, Potosí, Sucre und verschiedene Städte der Provinz von Santa Cruz. Wieder zögern die Soldaten nicht, zu schießen. Auch in La Paz ist das der Fall, wo Zerstörungen und Auseinandersetzungen, gestützt von einer wutgeladenen Menschenmenge, die von El Alto mit den Rufen „Ahora si, guerra civil!“ [Jetzt ja, Bürgerkrieg!] in die Hauptstadt hinunterströmt, noch heftiger wiederaufgenommen werden. Schließlich endet fast ein ganzer Monat Chaos und Ausschreitungen mit mehr als sechzig Toten und hunderten Verletzten, zahlreichen abgebrannten öffentlichen Gebäuden und mit der Flucht des Präsidenten Sánchez de Lozada, der in die Vereinigten Staaten ins Exil geht. *** Die Wiederaufgreifung der Politik Auf den Enthusiasmus und die Hoffnungen, die durch diese insurrektionellen Situationen und Prozesse hervorgerufen werden, folgt unweigerlich der Hass und die Wut gegenüber den Niederschlagungsversuchen. Vor allem aber werden sie gefolgt vom Kater und den Fragen über die Rückkehr zur Normalität. Wie kann, abgesehen von der ausschlaggebenden Frage der Repression, die kraftvolle Rückkehr ruchloser Politikerspiele nach einer solchen Zurückweisung des Kompromisses und der Verhandlung erklärt werden? In Bolivien wie auch in Argentinien haben die ewigen Politikanten geschickt Übergangsphasen einzusetzen gewusst: jene, die an der Macht sind, verleihen ihr, um zu versuchen, sie zu behalten, den Eindruck einer Veränderung, damit sich nichts ändert, und jene, die nach ihr streben, übernehmen für sie ihre Rolle der Befriedung und schließlich Rekuperation der Revolte, um sie in die eigenen Ränge und auf das Terrain der Forderungen zu lenken. Auf dem Höhepunkt der bolivianischen Insurrektion konnten sich die „radikalsten“ Führer nicht erlauben, dem zuwiderzulaufen, was die Aufständischen schrien, nämlich „Kein Dialog“, da sie ansonsten ihre Basis verloren hätten. Nichtsdestotrotz hüteten sie sich gut davor, zur Radikalisierung beizutragen: zuerst rief Morales die Militanten von El Alto zu größter Vorsicht auf, während sein direkter Konkurrent, Felipe Quispe, sich damit begnügte, in Hungerstreik zu treten. In einer zweiten Phase präsentierten sie sich als offizielle Unterstützer des Konflikts, während sie ihm gleichzeitig einen demokratischen Ausweg boten, sollte der große Sturm einmal vorüber sein. Auf Seiten der Mittelklassen, der progressiven Intellektuellen und empörten Künstler, die in den Kirchen in Hungerstreik traten, bemühte man sich darum, die Revolte auf das föderierende Gebiet der Menschenrechte zu lenken und sie auf die vereinigende Forderung nach dem Rücktritt von Goni[9] zu konzentrieren. Es sei daran erinnert, dass zu diesem Zeitpunkt noch immer Demonstrationen von allen Regionen des Landes aus loszogen und die Hauptstadt buchstäblich belagert war. Schließlich werden die Kämpfe in Erwartung der Kongresstagung und der Rücktrittverkündung des Präsidenten abbrechen. Der Vizepräsident Carlos Mesa, der sich gut darum sorgte, sich „unabhängig“ zu erklären und sich von der Krisenverwaltung der Regierung zu distanzieren, gewährt einen 90-tägigen Waffenstillstand und nutzt ihn gleichzeitig, um die Reformen einzuführen. Er verspricht die Durchführung eines Referendums über die Gasfrage und zieht den üblichen Köder der verfassunggebenden Versammlung hervor, welche das System der parlamentarischen Vertretung ändern soll. Diejenigen, die entschieden, sich auf das Feld der demokratischen Opposition zu begeben, werden daraus gestärkt hervorgehen. Nach einer Periode politischer Instabilität, von 2000 bis 2005, mit 6 aufeinanderfolgenden Präsidenten, siegt Evo Morales im Dezember 2005. Er wird mit 53,7% der Stimmen und einer Rekordteilnahmequote von 84% im ersten Wahldurchgang zum Präsidenten gewählt. Während zwar die traditionellen Parteien jegliche Glaubwürdigkeit verloren haben, bleibt der Platz im Grunde noch immer warm für neue Führer, die auf der Welle des Antiamerikanismus und des indigenen Nationalismus reiten. Dies überrascht nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass diese Auflehnung auch mit anti-chilenischen Slogans wie „Nein zum Gasexport über chilenische Häfen“[10] begann, anschließend im modischen Anti-Neoliberalismus zu „Gegen die multinationalen Konzerne“ überging, um schlussendlich ein „einfaches und arbeitendes Volk“ in den Vordergrund zu stellen. Gewiss, eine solche Auflehnung in all ihrem Ausmaß und ihrer Komplexität lässt sich nicht in einigen Slogans zusammenfassen. Ebensowenig kann man außer Acht lassen, dass diese umso leichter aufgenommen und angeeignet worden sind, da sie sich auf eine starke populistische Tradition und auf nationalistische Gefühle stützten, die in einem Großteil der Bevölkerung stark verankert sind, besonders was die heikle Frage der Ressourcen betrifft (in einem Land, dass effektiv seit langem ausgeplündert wird). Die Tatsache, diese Gefühle zu schüren und auf die antiimperialistischen Reflexe zu setzen, die gleichzeitig verbreitet und den Linken so teuer sind, erlaubte es Morales und seinen Komplizen, gestützt auf konkrete Forderungen verschiedener Sektoren und mit dem Versprechen einiger Reformen, eine viel umfassendere Revolte auf dem identitären Feld und in der ethischen Thematik einzudämmen. Auf dem Hintergrund von Bewegungen „eingeborener Völker“, einer Verherrlichung des ländlichen und indigenen Boliviens und einer Idealisierung des „goldenen Zeitalters“ der Inkas, wohnte man also der Erschaffung aller Bestandteile des homogenen Konzepts der „Indigenität“ bei. Die althergebrachten Herrschaftsformen, in denen der Kleinbauer einer strengen Kontrolle und starken staatlichen Zwängen unterstellt war, werden unter den Tisch gekehrt; die Differenzen bezüglich Situationen oder Organisationsformen werden gleichgemacht und die Konflikte unter jenen, die sich innerhalb derselben Gemeinschaft entscheiden, mit den Autoritäten zu kollaborieren, während andere bis zum Tod Widerstand leisten, werden absichtlich verschwiegen. Der Andenflagge, der Wiphala, die mittlerweile neben der bolivianischen Fahne flattert, obliegt die Aufgabe diese ideologische Neuinterpretierung der Realität symbolisch gutzuheißen. Konkreter gesprochen: nach der Zufriedenstellung einiger „ethnischer und linguistischer Forderungen der eingeborenen Völker“ und einer politisch-administrativen Dezentralisierungsbewegung nach partizipativer Art wurden einige Landgemeinden und städtische Vereine auf Basis von Fünfjahresplänen institutionalisiert und der Vizepräsident, ein marxistischer Intellektueller und ehemaliger Führer der Guerillaarmee Tupak Katari, Álvaro García Linera, treibt heute den „andisch-amazonischen Kapitalismus“ voran. Neben den großen modernen Unternehmen bevorzugt er die Entwicklung einer familiären Ökonomie (Kleinhandel, Handwerk...) und der Bauern- und Gemeinschaftswirtschaft. Nichts wirklich indianisches, nichts wirklich neues also... Während man stark auf dem anti- oder a-politischen Aspekt der argentinischen Bewegung insistierte, indem man sich auf das „que se vayan todos“ fokussierte, wurde oft vergessen, dass sich dieser Slogan im Allgemeinen gegen jene Regierungsparteien richtete, die für die neoliberale Politik, die Argentinien in die Krise führte, verantwortlich gehalten wurden. Außerdem kann man nicht behaupten, dass es in dieser Auflehnung „keine Klassen gab“, ohne zu präzisieren, dass die Klassen nicht in einem gemeinsamen Streben nach ihrer Abschaffung verschwunden sind, aber, dass einige alles Interesse daran hatten, ihre Existenz abzustreiten, um sie besser im demokratischen Geist aufgehen zu lassen, der damals vorherrschte, und sie in der nationalistischen Dimension zu verschmelzen. Ihr Festhalten an der Demokratie und an der Nation geltend machend, strömten viele Demonstranten massenhaft, mit der argentinischen Flagge in der Hand, gegen den Ausnahmezustand auf die Straßen, manchmal in der Überzeugung, dies würde ausreichen, um den Staat auf die Knie zu zwingen. Als die Repression niederschlug, entsprachen die wutgeladenen Reaktionen der Größe der Enttäuschung, was ebenfalls zur Radikalisierung der Ereignisse beitrug. Dennoch, obwohl der Staat die Armee nicht aufbot – abgesehen davon waren die Soldaten nicht bereit, auf der Straße zu intervenieren –, griffen die Demonstranten kaum zu den Waffen, selbst als sie von den Bullen beschossen wurden. Dies gewiss nicht ausschließlich aufgrund mangelnder praktischer Möglichkeiten, in einem Land, in dem die Waffen ziemlich breit zirkulieren, sondern auch aus Angst vor Konsequenzen auf mehr oder weniger lange Sicht und aufgrund mangelnden Vertrauens von einigen gegenüber der Bereitschaft und der Perspektiven, die jene antrieben, die sie umgaben. Der demokratische und patriotische Geist begrenzte sich nicht auf die Präsenz von argentinischen Flaggen, die so ziemlich die einzigen tolerierten waren.Wenn die verschiedenen Parteien während dieser Tage verstanden haben, dass der Moment noch nicht gekommen ist, ihre Flaggen zu hissen, so stimmten sie mit dem Willen nach Restauration der Nation rund um neue Werte, die bei vielen und vor allem in der Mittelklasse sehr verankert sind, in breitem Maße überein. In der Praxis äußerte sich dies beispielsweise in der Tatsache, auf die Multinationalen zu zeigen, um von den Angriffen der lokalen Kapitalisten und ewigen Mitverwalter abzulenken. In einem Klima, das vom Ende einer Regierungsperiode und von einer Krise des menemistischen Modells geprägt ist, wohnt man schließlich einer politischen Neuzusammensetzung bei. Die Kirchner Regierung verstand es, bei den reformistischsten Parteien und den Politikern der so genannten „sozialen Bewegungen“ Unterstützung zu finden, um die Idee einer die Menschenrechte respektierenden Demokratie wieder aufzugreifen, während eine gewisse Nostalgie für den Wohlfahrtsstaat à la Perón geweckt wurde. Dies zeigte, wie sehr der Glaube an und das Streben nach einem regulierenden Staat fortbestand, der sich darum sorgt, die Arbeitsplätze zu schützen und den Binnenmarkt zu entwickeln,und der in seinen Rahmenfunktionen von denjenigen akzeptiert wird, die noch immer darauf hoffen, von ihm zu profitieren. Den andern bleiben die klientelistischen Netzwerke, deren Aufgabe es ist, sie in Schach zu halten, falls sie nicht akzeptieren, sich für ein paar Krümel zu verkaufen. Übrigens tauchte bei vielen verängstigten „Bürgern“, nachdem die Empörung einmal vorüber war, Desinteresse, ja sogar Feindseligkeit gegenüber den Revolten der Ärmeren auf, und sie forderten vom Staat, sie vor der „Unsicherheit“ zu beschützen. Parallel dazu zogen die linken Parteien, Organisationen und Grüppchen erneut den alten Hut der Renationalisierung der öffentlichen Dienste und der Unternehmen „unter Arbeiterkontrolle“ hervor, während sie ihrerseits die Rolle des Staates relegitimierten, der die Auswirkungen des Kapitalismus angeblich lindern, ja sogar menschlicher machen soll. Auch wenn man die insurrektionellen Vorstöße nicht ausschließlich am Maßstab des Resultats bemessen kann, zu dem sie führten, so ist dieses dennoch oft ein Hinweis auf gewisse Grenzen, die nicht überwunden wurden. Innerhalb dieser Dialektik zwischen dem Ziel, das man sich vornimmt, und dem Weg, den man geht, um dahin zu gelangen, beabsichtigen wir, uns mit einem der bezüglich der Auflehnungen in Argentinien und Bolivien oft betonten Aspekte zu befassen, nämlich der Selbstorganisation. *** Selbstorganisation Das „argentinische Modell“ wird oft als ein Beispiel von Horizontalität genannt, welche ihrerseits häufig als Form beweihräuchert wird. So unterschiedliche und wenig vergleichbare Erfahrungen wie die Tauschbörsen, die wiederangeeigneten Fabriken, die Piquetero-Bewegungen oder die Viertelversammlungen werden kreuz und quer nebeneinandergestellt, als wären sie Teil ein und desselben „Kampfes“, der zur Autonomie führen wird. Nun, die mehr oder weniger gewollte Verwirrung von Begriffen wie Selbstverwaltung, Selbstorganisation und Autonomie, sowie die Tatsache, unterschiedliche Erfahrungen auf dieselbe Stufe zu stellen, ohne deren Inhalte, Bestreben und Perspektiven zu berücksichtigen, kann nur zur falschen Gegenüberstellung zwischen einer bedingungslosen Lobpreisung und einer pauschalen Ablehnung führen. Im Bezug auf die insurrektionellen Tage vom 20. und 21. Dezember wurde oft (auch von den Protagonisten selbst) die Tatsache betont, dass „Unbekannte“ aus unterschiedlichen Umfeldern zusammenfanden, um spontan gemeinsam zu handeln. Es sind übrigens diese Begegnungen in einer gemeinsamen Auflehnung, die sich hervortun und Möglichkeiten öffnen, die man manchmal gar nicht erst in Betracht gezogen hätte. Um das Beispiel von Buenos Aires aufzugreifen: die Aufständischen, die das Stadtzentrum besetzt halten, werden sich während zwei Tagen aufgrund von Praktiken der Unruhestiftung und gegenseitigen Selbstverteidigung zusammenfinden. Ein Teil der Ausschreitungen konzentriert sich auf und um den Plaza de Mayo, der gleichzeitig das symbolische Zentrum der Ausübung der politischen Macht und ein bekannter Schauplatz von Massendemonstrationen ist. Andere Gruppen von Aufrührern jedoch – während sie frontale Zusammenstöße vermeiden – bevorzugen die Mobilität, um anzugreifen, zu plündern und zu zerstören. Jene, die eine gewisse Gewohnheit in der Konfrontation mit den Bullen bei den Piquets und in den Vierteln hatten, kämpfen an der Seite von Leuten, für die diese Situation viel ungewohnter ist, die sich aber auch danach fühlen, ihre Flügel auszustrecken. Jeder beteiligt sich auf seine Weise, wenngleich auch die Affinitäten, die schon im Vorhinein bestanden, intervenierten: um die Angriffe der Kavallerie und die Bewegungen der Panzer zu behindern, werden inmitten der Straßen Stahlseile gespannt und überall, wo sich die Umgebung dafür anbietet, Barrikaden errichtet; die Bullen werden von allen Seiten bedrängt: aus den Fenstern fallen Beschimpfungen auf sie nieder, manchmal begleitet von kochendem Wasser, an allen Straßenecken regnet es Pflastersteine und Molotovs und die Motoqueros[11], während sie die Aufrührer mit Verbänden, Zitronen gegen das Tränengas, usw. versorgen und sie über die Manöver des Feindes informieren, durchbrechen einige Absperrreihen mit Komplizen hinten drauf, welche mit Steinschleudern und Schraubenmuttern bewaffnet sind. Die Antwort darauf werden richtige Kugeln sein. Die Gewalt ohne politische oder gewerkschaftliche Mediation erschien den meisten Leuten legitim, jedoch unter der Bedingung, dass sie gegen bestimmte Orte der Macht, gegen Niederlassungen ausländischer Interessen und gegen die Ordnungskräfte, denen man entgegensteht, ausgeübt wird. Die Uneinigkeiten bezüglich der Angriffsziele, die von diesem Moment an auftauchen, sind die Widerspiegelung von grundlegenderen Meinungsverschiedenheiten darüber, was man als Feind identifiziert. Während einige ihre Wut gegen jene richten, die sie als Verantwortliche für die Situation der aktuellen Krise betrachten und bezeichnen – nämlich die Politiker an der Macht, die Finanz- und Auslandskapitalisten und natürlich die Bullen, die sie beschützen –, wollen andere das angreifen, was sie im Alltag am Leben hindert und viel umfassender ist. Abgesehen vom Problem des Interklassismus und der reellen oder integrierten Interessenunterschiede, das wir bereits erwähnten, stellt dies unweigerlich die Fragen der Perspektiven, sowie des Raumes und der Zeit, die im Innern der Revolte befreit werden können, um diese Perspektiven zu vertiefen und zu artikulieren. Denn das Gefühl einer Aufhebung der Zeit und der Kategorien, das im Allgemeinen diejenigen verspüren, die sich an großen Aufständen beteiligen, bietet, indem es das Feld des Unbekannten öffnet, gleichzeitig eine Unendlichkeit an Möglichkeiten und stellt alle und jeden vor seine Ängste und vor die Richtung, in die man gehen will. Gewisse Grenzen zu überschreiten und gewisse Schritte zu machen, die die Rückkehr zur Normalität erschweren, ja sogar unmöglich machen, erfordert oft, dass sich die Revolte in ihrer Dauer ausdehnt und hängt vor allem von dem ab, was jeder dazu beiträgt. Nun, diese Bewegung der Revolte ging nicht weit genug, damit die Veränderung gewisser Beziehungen von einer tatsächlichen Infragestellung der sozialen Verhältnisse von Ausbeutung und Herrschaft hätte begleitet werden können. Und diese Problematiken kommen eben dann zum Vorschein, wenn wir auf die horizontalen Organisationsformen eingehen, die sich während und manchmal vor oder nach diesem Aufstand gebildet haben. Das Beispiel des Tauschhandels zeigt, wie eine informelle und verbreitete Praxis, die in gewissen Vierteln aus der Notwendigkeit entstand zu überleben, nach und nach mit einer neuen Bedeutung aufgeladen wurde. Gewisse Menschen, die darin das Nonplusultra der Gegenseitigkeit sahen, versuchten, ihn in sehr unterschiedlichen Vierteln zu verbreiten und zu homogenisieren, um ihn schließlich als ein alternatives System zu institutionalisieren. Dadurch billigten und verstärkten sie einen neuen Markt, während sie die Werteskala der unterschiedlichen Produkte und Dienstleistungen reproduzierten, bis hin zur Einführung einer neuen Währung, dem Credito, der den ganzen Tausch regulieren sollte. Diese Leute, die behaupteten, dadurch mit dem Kapitalismus zu brechen, ließen ihn somit in seiner rohen Form auftauchen – einschließlich der Klassenunterschiede. Die selbstverwalteten Unternehmen sind ein weiteres Beispiel eines Funktionierens innerhalb des Systems, und kommen letztendlich seinen Anforderungen entgegen. Im Gegensatz zu gewissen Annäherungen, die mit Arbeiterräten gemacht wurden, die im Verlaufe von revolutionären Prozessen die Produktion auf ganzen Gebieten in die Hände nahmen, sind diese Erfahrungen nicht das Ergebnis von Enteignungen, und nicht einmal von Kämpfen. Die Fabriken wurden übernommen, nachdem sie vom Boss und der Mehrheit des Führungspersonals aufgrund eines mehr oder weniger betrügerischen Bankrotts verlassen wurden. Den Angestellten ging es also darum, sie wieder in Betrieb zu nehmen, um sich ein Einkommen zu sichern. Bestimmt löste die Tatsache, sich gemeinsam seinen Arbeitsplatz zurücknehmen, zahlreiche und wertvolle Diskussionen aus, die sich vor allem um die Organisation der Arbeit, die Hierarchie und die Lohngleichheit und auch um die allgemeineren Lebensauffassungen drehten. Ebenso haben die Besetzungen, um die Fabrikübernahmen gegen die Räumungsversuche durch den Staat zu verteidigen, der diesen Experimenten ungern zuschaut, neue Verbindungen geschaffen. Aber dennoch, jenseits der Fragen, die uns der Begriff der Selbstverwaltung von Produktionsstätten im Allgemeinen stellt, funktioniert die kaum infrage gestellte Tatsache, innerhalb des kapitalistischen Rahmens zu produzieren, nicht, ohne unüberwindbare Probleme aufzuwerfen. Egal welche Statuten sie sich gaben – einige definierten sich als Kooperativen, während andere die Nationalisierung unter Arbeiterkontrolle forderten –, und auch wenn diese Unternehmen oft den gesamten Herstellungsprozess beherrschten, hat sich das Was produzieren, für wen und wie, falls diese Fragen von den Arbeitern aufgeworfen wurden, an den Regeln des Marktes und der Konkurrenz gestoßen. Dies war der Fall bei Textilfabriken wie der Bruckman, bei der sinnbildlichen Zanon und ihrer Keramik, sowie bei den besetzten Hotels usw. Auch wenn am Rande einige Änderungen vorgenommen wurden, jene, die dort arbeiten, mussten sich und müssen sich noch immer, für den Verkauf und die Absicherung ihres Lebensunterhalts, ein Minimum an Absatzmärkten und somit auch an Rentabilität sichern, mit all den Folgen, die dies auch für die Arbeitsbedingungen, die Arbeitszeiten, usw. bedeutet. Die Tatsache, sein eigener Boss zu sein, löst offensichtlich weder die Frage der Lohnarbeit noch die Ausbeutungsverhältnisse, ebenso wie die Existenz von selbstverwalteten Unternehmen die bestehenden sozialen Verhältnisse nicht im Geringsten verändert. Die Verknüpfung dieser Erfahrungen untereinander und mit anderen Personen kam vor, während und nach dem Volksaufstand zustande. Selbstverständlich beteiligten sich darin auch einige Arbeiter, deren Individualität sich nicht mit der Kategorie „selbstverwalterischer Arbeiter“ zusammenfassen lässt, und die Situation provozierte zahlreiche Debatten und Stellungsnahmen innerhalb dieser Fabriken. Dennoch haben sich die Verbindungen, obwohl sie von den Linken aller Bereiche in den Vordergrund gestellt wurden, um zu versuchen, die verschiedenen Teilkämpfe um Slogans wie „Besetzen, Widerstand leisten, Produzieren“ und „Für das argentinische Volk und die argentinischen Arbeiter“ zusammenzuführen, oft als sehr oberflächlich erwiesen, da sie hauptsächlich von mehr oder weniger beruflichen Militanten abhingen. Ein weiterer nennenswerter Aspekt der argentinischen Auflehnung war die quasi sofortige und möglichst langfristige Einführung von Versammlungen. Diese antworteten anfangs auf das Bedürfnis zusammenzukommen, um über das zu sprechen, was gerade am passieren ist, das weitere Vorgehen zu erwägen, ja sogar verschiedene Aktivitäten zu koordinieren. Da sich die Versammlungen hauptsächlich auf Basis der Viertel bildeten, waren sie selbstverständlich die Widerspiegelung der Sorgen der Vecinos [Nachbarn], welche sich vor allem je nach Moment und je nach sozialer Zusammensetzung unterschieden. So übten die ärmsten Einwohner während des Aufstands und darüber hinaus durch direkte Aktionen gegen die Erhöhungen der Preise oder die Abschaltungen von Wasser, Gas oder Strom einen verstärkten Druck auf die lokalen Institutionen oder Unternehmen aus, praktizierten aber manchmal auch Enteignungen von Medikamenten, Lebensmitteln oder Grundstücken, während die Betonung stets auf die Wiederaneignung ihrer eigenen Überlebensmittel und die Eigenproduktion gelegt wurde. In anderen Vierteln wiederum nahmen die Versammlungen sehr bald Anwandlungen einer Gegenmacht an und die Debatten wurden strikt politisch – während die verschiedenen Parteien und Grüppchen von ihnen profitierten, um sie als Vermittler ihrer eigenen Interessen zu verwenden. So drängten sie in Richtung eines Zentralisierungsprozesses, wie zum Beispiel mit der Schaffung einer viertelübergreifenden Versammlung, welche die Entscheidungsinstanz für den weiteren Verlauf der „Massenbewegung“ darstellen sollte – ein Raum, den sie unverzüglich für sich beanspruchten. Sie spielten darin ihre traditionelle Rolle, die darin besteht, – für die Eroberung der Macht – jede individuelle oder kollektive Initiative in die Zwangsjacke elender Forderungen, wie die klassische konstituierende Versammlung, zu zwängen. Diese allzu bekannten Funktionsmechanismen (endlos lange Wortergreifungen und Abstimmungen, um zu einem sinnentleerten Konsens zu gelangen, usw.) riefen nicht selten, während sie eine allgemeine Lähmung bewirkten, die Abneigung der ernsthaft betroffenen Teilnehmer hervor. Die interbarrial Versammlung, eine bloße leere Hülse, erlosch schließlich ziemlich bald von selbst. Doch das Verschwinden der meisten Versammlungen kann nicht nur niederträchtigen politischen Manövern angerechnet werden. Sie stießen ganz im Allgemeinen auf die Schwierigkeiten, in dem engen Spielraum fortzubestehen und zu agieren zu versuchen, den ihnen ein Staat, der die Kontrolle wieder ergriffen hat, noch übrig lässt. Dieser Letztere verstand es gut, für diejenigen unter ihnen, die ihm als bequeme Abhilfe dienten oder im assoziativen, humanitären Bereich akzeptierbare Forderungen an ihn richteten, die üblichen Hebel der Integration nach Art einer „partizipativen Demokratie“ zu bewegen. Gleichzeitig schlug die Peitsche hart über denjenigen nieder, die, mittlerweile isoliert, noch immer beabsichtigten, ihre Angelegenheiten selbst in die Hände zu nehmen. Im allgemeineren Sinne waren die vor allem aus armen Vierteln kommenden Einwohner, die sich in Versammlungen oder Arbeitslosenbewegungen zusammenschlossen, um zu versuchen, die Probleme des Alltags auf ihre Weise zu lösen, oft mit bereits bestehenden fürsorglichen Netzwerken konfrontiert – seien diese peronistisch, kommunistisch, katholisch oder protestantisch –, die auf dem Klientelismus basieren und die Viertel im Griff halten, indem sie den sozialen Frieden erkaufen und die soziale Kontrolle von nahem sicherstellen. Gewisse Piquetero-Bewegungen gaben in Argentinien eine Vorstellung davon, was die Selbstorganisation des und innerhalb des Kampfes bedeuten kann. Mehrere Gruppen von Arbeitslosen – die bei weitem nicht die Mehrheit waren – haben sich unabhängig von oder sogar in Opposition zu den Parteien, Gewerkschaften und anderen vertikalen Organisationen gebildet, und weigerten sich, deren Arbeitskraft und Treibriemen zu sein. Die Verbindungen, die bei wiederholten Straßensperren für die sofortige Zufriedenstellung von Grundbedürfnissen, mit all den Praktiken direkter Aktionen, die das mit sich bringen kann, entstanden sind, führten in gewissen Städten oder Vierteln zu längerfristigen Zusammenschlüssen, die sich, über die Selbstverteidigung gegen die Bullen aller Art hinaus, auch um das Alltagsleben im Viertel kümmerten. In der Phase des Zurückweichens, die auf den Dezember 2001 folgte, wurde die Verwaltung der Arbeitspläne zentral. Angesichts der Repression, die alle Piquets traf, die etwas anderes als nur symbolisch waren, dachten einige Arbeitslosenbewegungen, dass die beste Art, den Kampf weiterzuführen, darin bestand, nach einer gewissen materiellen Unabhängigkeit gegenüber dem System zu streben, das heißt, ihre eigenen Überlebensmittel innerhalb der Viertel, die oft Slums waren, zu entwickeln. Die finanzielle Unterstützung, die man kollektiv erhielt, wurde für die Schaffung von Projekten zur Eigenproduktion wie Bäckereien und andere Werkstätten eingesetzt, während Land besetzt wurde, um daraus gemeinschaftliche Gemüsegärten zu machen und Volksküchen zu versorgen – lauter Art und Weisen, um besser überleben zu versuchen, ohne dem allzu klassischen Krieg zwischen Armen zu verfallen, die unbestreitbar vielen Gedanken Anstoß gaben und Veränderungen in den Beziehungen, hauptsächlich in den Geschlechterverhältnissen auslösten. Es geht also nicht darum, künstlich zu unterscheiden, was Teil der Verwaltung des Bestehenden ausmacht und was strikt dem Kampf zuzuordnen ist, da diese beiden Aspekte eng miteinander verbunden sind. Die Landbesetzungen beispielsweise, die vom Staat als Eingriff in das Eigentum betrachtet werden, können nur eine Errungenschaft sein. Dennoch muss man feststellen, dass das Wettrennen auf die Subventionierungen oft die punktuellen Kräfteverhältnisse ersetzte, wodurch sich die Reproduzierung der Repräsentations-, Mitläufer- und Assistenzmechanismen entwickeln konnte. Im Kontext einer mano dura Politik [mit eiserner Hand] der Regierung, die sich auf die Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung stützen konnte, welche den Kampf gegen die Kriminalität gegenüber dem „Alle zusammen“ und „Pfannen und Piquets, ein und derselbe Kampf“ aus dem Dezember bevorzugten, traten viele Bewegungen wieder von der Bühne, um zu Gesprächspartnern der Macht zu werden. Die meisten „Führer“ stürzten sich in die etwas mehr oder weniger links von der Linken gelegenen Wahlparteien. Dies ist, wie der Übergang von einer offensiven Perspektive zur simplen Verwaltung dessen, was errungen wurde, zugleich den Charakter und die Art, sich zu organisieren, veränderte. Dort, wo eine breite und offene Konfliktbereitschaft dazu beitrug, die Separierung in Kategorien teilweise zu durchbrechen, und sogar ermöglichte, das aufzuwerfen, was es bedeuten kann, sich sein Leben wiederanzueignen, haben sich die tiefergehenden Bestrebungen nach einer anderen Welt an der Rückkehr zur Ordnung und zur Normalität gestoßen. Daher sagt der generische Begriff der horizontalen Organisation nichts über die Inhalte und Perspektiven aus, die das, was im Wesentlichen eine Form bleibt, in sich trägt (als ein etwas übertriebenes Beispiel hat man in Argentinien kürzlich gesehen, wie Grundbesitzer ihrerseits Straßenblockaden organisierten, um die Abstimmung einer neuen Steuer zu verhindern). Die Selbstorganisation bleibt gewiss eine Notwendigkeit, um sich der staatlichen und parastaatlichen Apparate, sowie der Mechanismen, die jegliche Umwälzung dieser Welt unmöglich machen, zu entledigen. Aber ebenso wichtig ist es, darauf zu achten, dass man sie nicht reproduziert, selbst auf kleinster Ebene, indem man in die Falle der Verwaltung der Konfliktbereitschaft fällt – die schnell zur Kontrolle, ja sogar zur Führung werden kann *** Gemeinschaften oder Kampfgemeinschaften? Im Gegensatz zu Argentinien hat Bolivien kaum eine Tradition als Wohlfahrtstaat. Allgemein betrachtet beruhte dort die Ausbeutung weitgehend auf der Plünderung der natürlichen Ressourcen und auf der ziemlich brutalen Ausbeutung der Arbeitskraft, ohne große Notwendigkeit oder Absicht, einen Binnenmarkt und einen Dienstleistungssektor zu entwickeln. So sind ganze Gebiete von den Straßen-, Medizin- und Schulinfrastrukturen abgeschottet geblieben. Dies bedeutet sicherlich nicht, dass der Staat dort abwesend wäre, aber dass sich ihre Bewohner organisieren müssen, um den alltäglichen Bedürfnissen entgegenzutreten. Die Indiogemeinschaften in Bolivien, vor allem die Aymara, werden oft als Beispiel oder sogar als Modell der Selbstorganisation genannt. Ohne auf die Details dieser gemeinschaftlichen Lebensweisen eingehen zu wollen, deren ganze Komplexität wir im Übrigen nicht kennen, scheint es dennoch, dass jene, welche ein bedingungsloses Loblied auf sie singen, nicht nur die Herrschaftsverhältnisse außer Acht lassen, die in jeder Kollektivität bestehen können, die von Regeln und Normen regiert wird, die oft durch die Tradition erstarrt und denen sich unterzuordnen die Individuen gebeten sind, sondern auch die Tatsache, dass diese Gemeinschaften nicht außerhalb der von Staat und Kapital bestimmten Verhältnisse leben. Tatsächlich haben die verschiedenen kapitalistischen Umstrukturierungen die sozialen Verhältnisse bis in die entlegensten Regionen der Anden tiefgehend verändert, und sei es nur durch die Migrationen, die sie aufzwangen. Außerdem kommen Kirchen, Rathäuser und Präfekturen im Allgemeinen neben den traditionellen bäuerlichen Strukturen zu stehen, mit denen sie in Konkurrenz treten. Dies geschieht vor allem, wenn es darum geht, Konflikte zu lösen, und einige spielen manchmal das Gericht gegen die Gemeinschaftsjustiz aus, unter anderem dann, wenn die Strafe die ganze Familie betreffen soll, an die das Individuum oft unvergänglich gebunden ist; ohne erst die auf Alter und Geschlecht beruhenden Hierarchien zu erwähnen... Andere versuchen beiden zu entgehen, da die Wahl mindestens schwierig ist zwischen Gefängnis und Lynchung, wenn man des Diebstahls beschuldigt wird – während die zweite Option auch notorisch korrumpierte Polizisten und Bürgermeister treffen kann. Natürlich, diese gemeinschaftlichen Strukturen, die auch auf der gegenseitigen Hilfe basieren, haben zahlreichen Menschen nicht nur ermöglicht, trotz immer schwereren Bedingungen weiterhin dort zu leben, wo sie es wünschten, sondern auch, kollektiv gegen einen Teil der Unterdrücker, deutlicher gegen die repressiven Kräfte des Staates zu kämpfen. Dies zeigte sich besonders klar während des Aymara-Aufstands im September-Oktober 2000. Tatsächlich haben sich die Mobilisierung und der Kampf in etwa einem Dutzend Provinzen des Departements von La Paz über die Gemeinschaftsversammlungen organisiert, und mit ihrer Hilfe konnte die Blockierung von etwa hundert km Straße 18 Tage lang anhalten. So ermöglichte beispielsweise ein Turnussystem von 24 Stunden den verschiedenen Gruppen, sich auszuruhen oder sich den landwirtschaftlichen Aufgaben zu widmen. Im Altiplano wurden schätzungsweise etwa 500 000 Personen mobilisiert. Diese gemeinsame Beteiligung am Kampf hat selbstverständlich die Solidaritäten gefestigt und den Zusammenhalt gestärkt, während sie gleichzeitig den Austausch und die Debatten förderte. Diese letzteren waren sicherlich nicht ohne Widersprüche und Konflikte, welche der Praxis der direkten Demokratie inhärent sind. Dennoch, auch wenn die Basis regelmäßig über die Kontinuität der Mobilisierung befragt wurde, kann man nicht leugnen, dass die Führung dieses Kräftemessens mit dem Staat vor allem an einigen wenigen lag, mit Hilfe einer strengeren Strukturierung: die Delegierten von dutzenden Gemeinschaften bilden Unter-Zentralen, welche Repräsentanten ernennen, die in einer Provinzföderation gruppiert sind; anschließend sind 4 interprovinzielle Räte errichtet worden; und schließlich bildeten sich Blockadekomitees, die sich aus diesen Räten herausbildeten und aus Repräsentanten der „kampferprobtesten und am besten mobilisierten“ Zonen bestanden, um einen wahren Führungsstab zu bilden, der die verschiedenen Gemeinschaften koordiniert, nicht nur auf einer militärischen Ebene, um die Verteidigung gegen den Vormarsch der Armee zu organisieren – bis hin zur Drohung, die Kasernen leer zu räumen –, sondern auch, um Forderungen zu vereinbaren und das politische Leben in allen aufständischen Zonen zu kontrollieren. Das staatliche Autoritätssystem (Unterpräfekturen, Rathäuser, Polizeiposten...) wurde auf dem ganzen Altiplano aufgelöst und durch das ihm vorangehende kommunale Autoritätssystem ersetzt, das nach der Logik der abwechselnden öffentlichen Verantwortung funktioniert und an die Legitimität des familiären Landbesitzes gebunden ist. Einmal abgesehen von seinen normativen Neigungen, ist diese Form von alternativer Macht auch vom gewerkschaftlichen Funktionieren beeinflusst worden, das in Gebieten weit entwickelt ist, in denen die lange an der Macht sitzenden populistischen Parteien unter anderem daran arbeiteten, die Gewerkschaft als Treibriemen durchzusetzen. Es ist also gewiss kein Zufall, wenn unter den wichtigsten Führungspersonen, die sich hervortaten und vor allem nach La Paz gingen, um mit der Regierung zu verhandeln, Felipe Quispe an der Seite von anderen Führungspersonen der CSUTCB (Bauernbund von Bolivien) auftauchte, welche auch die Koordinationstreffen mit anderen Sektoren (Bildung auf dem Land,Transport,...) organisierten. Ein anderes, für Bolivien oft genanntes Beispiel von Selbstorganisation, ist jenes der Selbstverteidigung in den cocaleras Gebieten, einem weiteren Konfrontationsterrain mit dem Zentralstaat und seinen Repressionskräften. Aber was bedeutet der Begriff Selbstorganisation, wenn man weiß, dass der generische Name Cocalero vorsätzlich sehr reelle Klassenwidersprüche verhüllt? Zwischen dem ausgebeuteten Kokapflücker-Tagelöhner oder Pisacoca und dem Bankier gibt es eine ganze Welt von Ackerbauern, die (je nach Oberflächenbeschaffenheit und Anzahl der Parzellen, plus damit einhergehendem Einkommen) in Schichten unterteilt und hierarchisiert ist. Die hunderttausenden Kleinbauern, die im Chapare und der Region der Yunga „eigenhändig“ Koka anpflanzen und konsumieren, kommen also mit neuen Reichen in Berührung – die Schwarzhändler, welche die nötigen guten Beziehungen mit Polizisten, Richtern und Führungspersonen aller Art pflegen. Kann man ernsthaft meinen, dass sich die Kleinproduzenten hätten selbstorganisieren können, wenn sie auf die mafiöse Einrichtung und die enormen finanziellen und machtgebundenen Fragen gepfiffen hätten, die der Handel mit Koka und seinen Derivaten bedeutet?[12] Wenn zahlreiche Bauern bereit sind, sich mit Zähnen und Klauen gegen die Zerstörung ihrer letzten Überlebensmittel zu wehren, versteht man vielmehr alles Interesse, das einige haben mögen, die Revolte von jeglicher Anwandlung einer Infragestellung der direkten Ausbeutungsverhältnisse wegzulenken, um sie auf das alt bekannte und viel rentablere Terrain des Anti-Amerikanismus zu bringen: „Es Lebe das Koka und Tod den Yankees!“ In diesem Sinne spielt die mächtige Cocalero- Gewerkschaft eine zugleich essenzielle und ambivalente Rolle. Stark durch eine aus den Minen stammende Kampftradition und durch die Legitimität, die ihnen ihre konsequente Opposition gegen die Regierung – auch durch Angriffe und Hinterhalte gegen die Bullen – verlieh, beteiligt sie sich ebenso tatkräftig an der Kontrolle des Territoriums und an der Aufrechterhaltung der bestehenden Machtstrukturen. Beispielsweise nahm sie an den Druckausübungen auf die Bauern der Region der Yunga teil, die das „Paradies der Früchte“ war, bis das Koka schließlich auf Kosten der zur Ernährung dienenden Kulturen vorherrschte. Übrigens wird der große Rivale von Felipe Quispe an der Spitze der CSUTCB, ein gewisser Evo Morales, gestützt auf seine Ausstrahlung als Cocalero-Führer, für die lokalen und später nationalen Wahlen kandidieren. Er wird einen sicheren Erfolg haben, auch unter den Gegnern des Neoliberalismus, die, über diese Verzerrung unbekümmert, den neuen Präsidenten der Republik und „das heilige Erbe einer althergebrachten Kultur“ en bloc unterstützen werden, während sie den zumindest „globalisierten“ Handel ignorieren, den er geworden ist. Die soziale Explosion, die aufgrund des Wasserproblems ausbrach, warf diese Frage der Selbstorganisation auf eine andere Weise auf. Menschen aus unterschiedlichen Tätigkeiten haben sich zusammengefunden, um gemeinsam für ein reell geteiltes Ziel zu kämpfen: den freien Zugang zu einer lebenswichtigen Ressource, in einem Gebiet, in dem sich die Frage des Privaten gegenüber dem Öffentlichen kaum stellt. In Cochabamba waren es, abgesehen von den Bauerngemeinschaften, hunderttausende Personen, die, sich in den Armenvierteln ohne Leitungsnetze zusammenballend, um ihre Wasserversorgung kümmern mussten. Durch die Schaffung von hunderten Wasserkomitees – Kooperativen oder Vereine, die in den meisten Fällen keine juristische Existenz haben – hoben sie Brunnen aus, installierten sie Pumpen, bauten sie Sammelbehälter und Verteilungsnetze, um sich danach den Leitungsanschlüssen und der Instandhaltung der Kanalisation anzunehmen. Dies löste unweigerlich zahlreiche Debatten über die Regulierung des Wassergebrauchs, die Verwaltung der Bedürfnisse, die kollektiven Entscheidungsfindungen und die individuellen Entscheidungen, und im allgemeineren Sinne über die Frage der Autonomie aus. Es ist also nicht nur im Namen der Zufriedenstellung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse, dass sich zur gleichen Zeit Hausfrauen, Bauern, Arbeiter mit unterschiedlichem Status, Handwerker, Arbeitslose und Studenten gegen die Kapitalisten und den Staat auflehnten, welche mittlerweile den Anspruch erheben, über eine Ressource zu verfügen, die im Alltag als denjenigen gehörend, die sie brauchen, wahrgenommen wird. Auch wenn diese Ablehnung nicht von Anfang an unbedingt das Eigentum infrage stellte, so hat das Zusammentreffen auf solchen Grundlagen in einem direkten und offensiven Kampf unbestreitbar Diskussionen und Möglichkeiten geöffnet, in der allgemeinen Kritik am System tiefer zu gehen. Und es lag sowohl an der Entschlossenheit wie an der Vertiefung der Bewegung, dass die Regierung schließlich nachgab. Eine Methode, um zu verhindern, dass dieser Kampf ein breiteres Ausmaß annimmt, bestand darin, rechtzeitig die Hauptforderung der Nicht-Privatisierung zu erfüllen. Dazu kam, dass sich die im Kampf geschaffenen Verbindungen nach und nach in Richtung einer politischen Vereinheitlichung und Wiedereingliederung entwickelten, hauptsächlich durch die EMP (Estado Mayor del Pueblo), eine Instanz, die die „Proteste und Forderungen verschiedener Sektoren koordinieren“ sollte und später einen harten Kern der MAS[13] bilden wird. Einmal an der Macht, wird sich diese letztere bald dafür einsetzen, die Wasserfrage durch ein System der gemeinsamen Verwaltung mit den öffentlichen Diensten und anderen NGO‘s wieder zurück in den Schoss des Staates zu tragen. Wenn wir zuletzt auf das zu sprechen kommen, was der Gaskrieg genannt wird, ist das nicht aus reiner chronologischer Sorgfalt, und auch nicht, weil er durch sein Ausmaß zum Sturz einer Regierung führte, obwohl diese von den Vereinigten Staaten unterstützt wurde. Was in dieser Auflehnung in Sachen Organisation auffällt und zum Nachdenken anregt, ist die Art und Weise, wie Gruppen wie die Minenarbeiter, die Cocaleros oder auch die von dem Altiplano kommenden Bauern mit ihren Organisationsformen, ihren Interessen und ihren spezifischen Aktionsformen – wie der ziemlich verbreitete Gebrauch des Dynamits in der Minentradition, die häufigen Bloqueos [Blockaden] in der Bauernbewegung und die bewaffnete Verteidigung gewisser Gebiete – mit anderen kollektiven und individuellen Realitäten interagierten, die ebenfalls auf ihre Weise ihre Wut und ihre Revolte zum Ausdruck brachten. In dieser Hinsicht sagt der Fall von El Alto recht viel aus. Als typisches Produkt der Auflösung der Bauern- und Arbeitergemeinschaften, ist dieses Slumgebiet oberhalb von La Paz ein Beispiel der neuen, ausgehend vom Kapital gebildeten Gemeinschaften, in denen sich ein Gefühl der Zugehörigkeit im Negativen zu einem Territorium gebildet hat, während es komplexe kulturelle Identitäten und Referenzen vermischt, die ebenso an die „ursprüngliche“ Gemeinschaft gebunden sind, wie an den momentanen sozialen Status – der umso mehr Schwankungen unterworfen ist, da zahlreiche Jugendliche Kleinhandel, Schmuggel und je nach Saison und Bedürfnissen Lohn- oder Landarbeit unter einen Hut bringen müssen. So stehen Jugendklubs neben anderen kulturellen Vereinen, Zentren von Anwohnern aus unterschiedlichen Regionen neben Gewerkschaften, sowie Quartierkomitees neben Gemeinschaftsradios, welche während den Unruhen eine wichtige Rolle spielten, um die Aufrufe zur Revolte und wertvolle Informationen über die Bewegungen der Truppen zu verbreiten. Auf gleiche Weise beruht die Organisation der Produktion in dieser Stadt auf unterschiedlichen Ausbeutungsformen, die sich überlappen und ergänzen. Die vorherrschende informelle Ökonomie deckt die Zulieferdienste von formellen Sektoren in klandestinen Werkstätten unter noch günstigeren Ausbeutungsverhältnissen, aber auch eine Vielheit von Aktivitäten: von Verkäufern von Empanadas bis hin zu Wanderärzten, Zeitungshändlern, Scherenschleifern, etc. All dies drückt sich gleichzeitig über Verbindungen von Gegenseitigkeit und Konkurrenzprinzipien aus – ein großer Teil der Aktivitäten beruht auf dem Geld, sei es im Rahmen der familiären Ausbeutung oder mehr oder weniger mafiöser Beziehungen (das Recht, Schuhe zu wachsen, muss beispielsweise ebenfalls erkauft werden). Es wäre also ebenso sinnlos wie vergebens, zu definieren zu versuchen, ob die Bewohner von El Alto, als sie sich 2003 auflehnten, dem Eindringen der bewaffneten Kräfte Widerstand leisteten und schließlich gemeinsam und in Gruppen von Leuten, die einander kennen, nach La Paz hinunter gingen, als Indios gegen die „weiße“ Zentralmacht, als alte Minenarbeiter oder deren Kinder, schlichtweg als Proletarier der Viertel gegen die Reichen der Hauptstadt handelten, oder aus noch ganz anderen Gründen, die jeder für sich selbst hat... Das Wichtige ist, dass im Laufe dieser aufständischen Tage eine gewisse Summe an entfremdeten Beziehungen – ebenso sehr in Bezug auf die Konsumgüter, welche nicht mehr bloß angeeignet, sondern zerstört worden sind, wie unter sich, beispielsweise zum Alkohol, der zu normalen Zeiten bei zahlreichen Armen Verwüstungen anrichtet – im Kampf und der Revolte überwunden wurden. Bleibt noch die Frage, welche Türen dies für den weiteren Verlauf öffnen konnte. *** Zur Schlussfolgerung... In Kontexten, in denen der soziale Krieg tobt und die Instabilität ein integraler Bestandteil der Verwaltung ausmacht, dreht sich die Frage nicht so sehr um den Grad an Gewalt[14], als um die Perspektiven, die außerhalb des Bürgerkriegs und der Politik auftauchen können. Wenn wir hier von diesen Kämpfen und Aufständen erzählen, die gewiss eine vertieftere Analyse verdienen würden, tun wir das nicht, um ihnen gute oder schlechte Punkte einzuräumen, und auch nicht, um in ihnen irgendwelche Rezepte darüber zu finden, wie man eine Insurrektion macht, sondern, um zu verstehen zu versuchen, worüber sie gestolpert sind. Es ist auch, um auf ein paar Fährten zu stoßen, die uns ermöglichen könnten, in der sowohl theoretischen wie auch praktischen Kritik am Bestehenden weiter voranzukommen und – wer weiß – uns auch hier an der Untergrabung der Realität zu beteiligen, die uns erstickt. Die Atomisierung und die Trennungen, die vom Kapitalismus induziert wurden, mit der Zerstückelung des physischen Raumes und der sozialen Organisation, zählen heute zu den Hindernissen, auf die alle stoßen, die von einer generalisierten sozialen Umwälzung träumen. Wahrscheinlich ist dies die Erklärung für eine gewisse Nostalgie und ein erneutes Schwärmen für die „Gemeinschaften“. Nun, es geht hier weder darum, das Verschwinden der „Gemeinschaften von einstmals“ mit all ihren Grenzen und Widersprüchen zu beweinen, noch uns daran zu erfreuen, und auch nicht darum, diejenigen, die sich innerhalb des Kapitals bilden, einbinden oder imitieren zu wollen, sondern darum, mit Nüchternheit nach dem zu suchen, was uns einander im Klassen- und Alltagsantagonismus näherbringen kann, und was der Ausgangspunkt von wirklich subversiven Kämpfen, ja sogar von sozialen Explosion von großem Ausmaß sein kann. Dafür ist es notwendig, dass wir uns weigern, uns die beschränkten Plätze und Schubladen eigen zu machen, die uns in dieser Gesellschaft zugewiesen werden. Denn eine wirkliche soziale Umwälzung impliziert auch das Zurücklassen der Kategorien und Rollen, und die Emanzipationsperspektiven befinden sich außerhalb der falschen Alternative – und der Entscheidung, die keine ist – zwischen einem atomisierten Individuum und einem auferlegten und erduldeten Kollektiv. Es versteht sich von selbst, dass die Frage der Selbstorganisation, vor allem, wenn man Bewegungen entgegen blickt, die eine große Anzahl Menschen miteinbeziehen, und wenn man die rekuperierende Absicht und Fähigkeit derjenigen kennt, die beabsichtigen, die Führer von Morgen zu werden, eine entscheidende Frage wird. Bleibt noch zu wissen, was man unter Selbstorganisation versteht und sich, über die Frage des Wie sich organisieren hinaus (was die unentbehrlichen Überlegungen rund um die Delegations- und Repräsentationsmechanismen und um die Art und Weisen miteinschließt, sich frei zusammenzuschließen, während man die Reproduzierung von Machtverhältnissen bis zum Maximum vermeidet), die Frage des Wofür und um Was zu tun zu stellen. Diese paar Beispiele aus Argentinien und Bolivien, die viele andere Situationen wiedergeben, erinnern uns daran, falls es nötig war, dass sich selbst zu organisieren an sich nicht bedeutet, die Welt, so wie sie (nicht) funktioniert, zu bekämpfen. Dies will nicht heißen, dass die Erfahrung es nicht wert sei, versucht zu werden – abgesehen von der Notwendigkeit, ist die Selbstorganisation auch eine Antwort auf das Verlangen, näher bei dem zu leben, was wir uns wünschen –, aber möge sie die Aufrechterhaltung einer Spannung zwischen den Mitteln, die wir uns hier und jetzt geben und den Zielen, die wir anstreben, miteinschließen. Diese Bestrebungen können nicht in eine hypothetische sonnige Zukunft abgeschoben werden, von der gewisse Gruppen angeblich heute bereits Embryos am Rande des Systems sein sollen. Schließlich nähern wir uns den emanzipatorischen Perspektiven dadurch, dass wir uns von Tag zu Tag mit dem konfrontieren, was ihnen zuwiderläuft. Neben der Frage der Selbstorganisation außerhalb der Machtstrukturen ist die Frage der Autonomie, in einer Welt, in der wir uns immer mehr der Gesamtheit unserer Existenz enteignet sehen, schließlich eine weitere essentielle Frage, die sich uns stellt. Ganz konkret stellt uns der Zugang zu grundlegenden Ressourcen wie Land, Energie oder Wasser nicht nur vor die Realitäten des Staates und des Kapitals und ihrer Verteidigung des Eigentums, sondern auch vor die Ausplünderung und Zerstörung von dem, was uns ermöglicht, zu leben. In Lateinamerika wie sonstwo bleibt das Land eine natürliche Quelle zahlreicher Bauernkonflikte, es ist aber ebenso mit dem Überleben in den Metropolen und Slums verbunden. Und dennoch, selbst während den letzten insurrektionellen Vorstoßen, wurde diese Frage kaum in ihrer Gesamtheit und mit allem, was sie bedeutet, aufgegriffen. Es ist vielleicht paradox, aber wenig überraschend, wenn wir an die Interessen und an den Einsatz denken, um die es dabei geht: schon seit jeher teilen sich Staat und Machthabende die Territorien auf und verteidigen sie diese mit der Waffe in der Hand. Die Tatsache, dass diese Frage die soziale Organisation wirklich an die Wurzel zurückführt, erklärt wohl, wieso keine „Revolution“ je das ausstehende Landproblem gelöst hat... Abgesehen davon läuft heutzutage die bloße Tatsache, sich die Frage der Überlebensmittel zu stellen, darauf hinaus, sich unmittelbar mit der modernen Welt und ihren Schädlichkeiten zu konfrontieren. Zurückgekommen von den fortschrittlichen Mythen, müssen wir uns heute nicht nur eine Welt vorstellen, in der die Ausbeutung nicht durch die Maschine aufgelöst sein wird, sondern auch eine, in der wir uns, so weit wie möglich, der techno-industriellen Monster entledigen müssen, die das Leben zugrunde richten. Das Ausmaß dieser Aufgebe mag als doppelten Effekt die Verstärkung des Willens und der Entschlossenheit haben, all dem, was uns zerstört, ein Ende zu setzen, sowie im Gegensatz einige dazu verleiten, Rückzuglösungen zu suchen, die sich am „geringeren Übel“ orientieren, obwohl das Desaster bereits hier ist. Diese Problematiken bewegten Kameraden von „dort“, sowie sie auch bei uns fortwährend Fragen aufwerfen. Die Antworten sind nicht einheitlich und hängen von den Möglichkeiten, sowie vom persönlichen Interesse und vom Sinn ab, den man darin sieht, in diesen oder jenen Kontext zu intervenieren, während man weiß, dass gewisse Gebiete aus unterschiedlichen Gründen besonders vermint, und andere besser geeignet scheinen können. Darüber, sowie über die Art und Weise des Agierens nachzudenken, die man für am angebrachtesten hält, bedeutet selbstverständlich nicht, sich unendlichen Berechnungen darüber hinzugeben,was letztendlich Hypothesen bleiben, sondern muss ermöglichen, sich gewissen Fallen und Hindernissen bewusst zu werden, um sie besser meiden oder bekämpfen zu können. Ebenso interessiert es uns wenig, zu verstehen, wie die konterrevolutionären Kräfte operieren, nur um festzustellen, „dass sie schlussendlich immer gewinnen“, sondern vielmehr, um darauf mit dem besten zu antworten, was wir entgegenzusetzen haben: mit der Verbreitung der Kritik in Worten und Taten des Staates und des Kapitals in all ihren Formen und Masken, dem Arbeiten an der Untergrabung der Autoritätsverhältnisse und dem Teilen von Verbindungen aus wirklicher Komplizenschaft, Gegenseitigkeit und Affinität, für eine Welt freier Individuen, die sich frei organisieren. [1] Arbeitspläne bedeuten hier, dass der Staat, oder anfänglich die Gemeinden, gegen etwa zwanzig Stunden Arbeit wöchentlich einen Betrag auszahlen. Später ändert sich diese Stundenanzahl. [2] Wie der Cordobazo oder der Rosariazo 1969, der Santiagueñazo 1993 oder der Cutralcazo 1996. [3] Vor allem die Hauptstadt und ihr riesiges Stadtrandgebiet, die fast 13 von insgesamt 36 Millionen Einwohnern zählt. [4] Ein Einfrieren der Bankkonten, das den Geldbezug begrenzte, oder sogar verunmöglichte, um dem Mangel an flüssigem Geld entgegenzuwirken. [5] Präsident von 1989 bis 1999. Als liberaler Peronist schob er vor allem den persönlichen Erfolg und das leicht verdiente Geld in den Vordergrund. [6] Handlanger der Parteien, die abwechselnd an der Macht sind (Peronisten und Radikale), die darüber wachen, dass die Leute, die durch verschiedene klientelistische Netzwerke gekauft wurden, auch wirklich für die richtige Person abstimmen gehen. Während sie in einigenVierteln eine wahre Kraft zur sozialen Überwachung bilden und bei Gelegenheit Hand in Hand mit der lokalen Polizei arbeiten, sind sie durchaus fähig, je nach den politischen Interessen des Moments auf Befehl Unruhen auszulösen. [7] Die letzte Militärjunta tritt im Oktober 1983 von der Regierung zurück, nach der schweren Niederlage des Falklandkrieges und nach den Wahlen, die den Radikalen und Raúl Alfonsín den Sieg bringen. In einem ökonomisch und sozial angespannten Kontext finden in den folgenden Jahren noch zwei bedeutende militärische Erhebungen statt. 1987 lehnen sich die caras pintadas in der großen Kaserne von Campo de Mayo gegen die Einsperrung gewisser Verantwortlichen der Diktatur auf. Eine Menge von 400 000 Personen läuft folglich auf dem Plaza de Mayo zusammen und der Präsident findet schließlich eine Übereinkunft mit der Hierarchie der Armee. Im Dezember 1988 bricht eine neue Revolte aus, mit dem Oberst Seneildin am Kopf der Elitetruppen. Alfonsín muss erneut beträchtliche Zugeständnisse machen. Er führt Gesetze ein, die den Soldaten, die für Verbrechen und Folter angeklagt sind, eine Art Amnestie gewähren (Ley de Obediencia Debida en Ley de Punto Final; verpflichteter Gehorsam und Endpunkt). In diesem Klima wird im Januar 1989 die Kaserne La Tablada angegriffen und von einer bewaffneten Gruppe besetzt, die von Enrique Gorriaran Merlo organisiert wird, einem alten Führer der PRT-ERP [einer marxistisch-leninistischen bewaffneten Gruppe]. Nachdem sie innert zwei Tagen umzingelt, bombardiert und klein gemacht wurden, werden viele dieser Militanten ermordet, nachdem sie sich ergeben haben. [8] Abgeleitet von dem Wort „Pfanne“, bezeichnet dieser Begriff die Praxis, so viel Lärm wie möglich zu machen, um zu protestieren, indem man auf das schlägt, was man zur Hand hat [9] Übername von Sánchez de Lozada, der auf seine Beziehungen mit den Vereinigten Staaten verweist. [10] Im nationalistischen Katechismus von Bolivien wird Chile als Erbfeind betrachtet, seit es Bolivien nach dem „Pazifikkrieg“ vom Ende des 19. Jahrhunderts seines Seeküstenstrichs beraubte. [11] In Buenos Aires sehr zahlreiche Laufjungen auf Motorrädern, die unter extremen Bedingungen und für einen Hungerlohn arbeiten. [129 Der Beitrag des Koka-Netzes zum Bolivianischen BIP ist um einiges größer als derjenige der Industrie. Er ist äußerst wichtig für den externen Handel und umfasst ganze Teile der formellen und informellen Ökonomie.Wenn man den bereits genannten Kategorien noch die Transporter, die Verarbeiter und die anderen Mittelspersonen anfügt, schätzt man, dass auf nationaler Ebene mehr als 10% der tätigen Bevölkerung im Koka-Kokain-Sektor angestellt sind. [13] Diese Partei, die 1999 von Evo Morales unter dem Namen MAS-IPSP (Bewegung für Sozialismus-Poitisches Instrument für die Souveränität des Volkes) kreiert wurde, ist aus bestehenden „sozialen Bewegungen“ begründet und als eine Massenorganisation entworfen worden. 2004 wird sie die größte Partei von Bolivien. [14] In Bolivien trägt der Präsidentschaftspalast aufgrund der zahlreichen Male, die er in Brand gesteckt wurde, den süßen Übernahmen Palacio Quemado [Verbrannter Palast]. Im Übrigen hat man aufgehört, die Allianzen unter verschiedenen Interessengruppen zu zählen, die die unterschiedlichen Regierungen stürzen wollen.