Titel: Arbeiter und Gelehrte
Datum: 23 . April 1887
Bemerkungen: Aus: Die Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. No. 13 2. Jahrg. London, 23 . April 1887.

So vernunftwidrig es auch erscheinen mag, so ist es doch eine Thatsache, dass sich gerade die einfachsten Wahrheiten am schwersten Bahn brechen. Der heftige Widerstand gegen unsere so einfachen Ideen gerade bei den Arbeitern — denen allein sie am meisten zu Gute kommen — beweist, wie viel der Mensch, Dank der Staats- und Gottescivilisation, der Natur entfremdet wurde. Je "civilisirter" derselbe ist, desto schwerer begreift er die anarchistischen Ideen. Da werden die drolligsten Fragen über das "Wie," "Was" und "Wenn" aufgeworfen, welche einem oft zur Verzweiflung an dem gesunden Menschenverstande bringen könnten. Selbst in unseren eigenen Reihen werden aber auch nur zu oft die confusesten Ansichten entwickelt, die, wenn realisirt, die Anarchie zu einem Zerrbild machen würden.

Wie wird da z.B. oft über "Familie," "freie Liebe" und "Kindererziehung" raisonirt? Bald wird die Zusammengehörigkeit der Eltern, Kinder und Gatten bestritten, die anarchistische Gesellschaft als ein grosser Harem betrachtet, wo die Kinder geschäftsmässig je nach Bedarf erzeugt werden; bald als eine Horde Wilde, wo jeder Einzelne fortwährend auf dem Sprunge ist, seinen Nächsten zu zerfleischen, und ähnlicher Unsinn mehr.

Es liegt uns ferne für die Zukunft Dogmen aufzustellen oder die Gesellschaft nach unserer Schablone zu drechseln zu wollen, da wir selbst Produkte unserer Zeit und Umgebung sind und nur noch zu oft durch die Gläser anerzogener Vorurtheile gucken. Allein unsere Aufgabe ist, der Menschheit den Weg zu ihrer Befreiung zu bahnen, weshalb wir auch gezwungen sind — um auch unseren Gegnern gewachsen zu sein — Natur und Menschen zu studiren, um eine gesunde Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu finden.

Wie nun aber aus dem seit Jahrtausenden ausgesponnenen Lügengewebe die Wahrheit herausfinden, welche von den herrschenden Klassen besudelt, entstellt oder auch ganz unterdrückt wurde? Jeden Tag können wir beobachten, wie Geschichte "gemacht," Naturgesetze "erklärt" werden; wie wenig wir also den hohen "Gelehrten" und ihren zahllosen Büchern glauben dürfen!

So oft wir den wahren Ursprung oder die Zweckmässigkeit einer Erscheinung ergründen wollen, sehen wir uns trotz aller "wissenschaftlichen" Werke auf unsere eigene Denkkraft angewiesen, weil unsere "Gelehrten" und Forscher alle "wissenschaftlichen" Anstrengungen machen, die Wahrheit zu verhüllen. Jeder vernünftige, denkende Mensch empfindet dies und fragt sich erstaunt, wie das möglich sei: warum?

Die Ursache ist hier, wie bei allen gemeinschädlichen Wirkungen, das herrschende Gesellschaftssystem. Dasselbe bedarf zu seiner Erhaltung ausser der Gewaltmacht besondere noch die der geistigen Verknechtung, die Soldknechte der Wissenschaft.

Der Fluch der Missachtung, welcher heute auf der physischen Arbeit lastet, hat eine dummstolze Selbstüberhebung eines jeden Dintenkleksers zur Folge, die sich vor der Mächtigen speichelleckend zu Füssen werfen.

Dieses soziale Laster wird von der herrschenden Gesellschaft systematisch gepflegt und die besser situirten Eltern sind ängstlich bemüht, ihre Kinder zu etwas "Besserem" zu machen. Ehrgeiz, Ruhmsucht und Habgier werden durch allerhand Auszeichnungen und Gunstbezeugungen gepflegt und so der letzte Rest des natürlichen Rechtsgefühles im Menschen erstickt. Während der Soldat Blut und Leben opfert, um Gesetz und Autorität zu vertheidigen, prostituirt der Gelehrte sein Wissen, um deren Nothwendigkeit "wissenschaftlich" zu beweisen. Die schändlichsten Verbrechen und Menschenmetzeleien werden durch diese Intelligenzen glorifizirt; Scheusale in Menschengestalt als Heroen beweihräuchert, und wahre Tugenden in den Koth gezerrt.

Man wird uns vielleicht entgegnen, dass sich doch der Sozialismus und insbesondere der Anarchismus aus den wissenschaftlichen Forschungen, besonders der Naturwissenschaft, entwickelt habe. Gewiss! Aber wie lange und wie vieler bitterer Kämpfe hat es gekostet, die handgreiflichsten Thatsachen constatiren zu dürfen, und dies geschah dann auch nur in Perioden, in welchen der Staat seinen gelehrten Schreibknechten den Brodkorb zu hoch gehängt, oder im verborgenen Kämmerlein, von wo das Ohr des Volkes nie ihre Stimme vernahm. Nie wagten sie die volle und ganze Wahrheit auszusprechen. In der Regel blieben sie, als fürchteten sie sich vor ihren eigenen Gedanken, auf halbem Wege stehen, oder gingen, erschrocken über sich selbst, schüchtern zu Ende, um in ihren Schlussfolgerungen das Resultat ihrer eigenen Forschung abzuschwächen oder zu entkräften.

Nehmen wir z.B. einen in der Naturwissenschaft wahrhaft revolutionären Forscher: Darwin, welcher die gesammte organische und anorganische Welt von dem mystischen Schöpfungsschwindel befreit und schliesslich doch dem göttlichen "Schöpfer" als Urheber derselben seinen Tribut zollt und als ein "frommer Christ" sein Leben beschliesst.

Wir sehen daraus, dass die Arbeiter von den "Gelehrten" — abgesehen von den verschwindenden Ausnahmen — für ihre geistige Befreiung nichts zu erwarten haben und auf ihre natürliche Intelligenz angewiesen sind. Sie haben das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden und sie allein haben den Muth, die Wahrheit bis zur äussersten Consequenz zu vertreten. Dafür setzt die herrschende Klasse ihre ganzen Machtmittel in Bewegung, sie zu zermalmen. Wo der Pfaffe und Büttel nicht ausreicht, muss der "Gelehrte" aushelfen, um den Geist des Arbeiters in den Fesseln der Knechtschaft zu erhalten. Gesetz und Henker besorgen den Rest.

Trotzdem aber unverzagt, die herrschende Klasse soll an dem Gifte, welches wir der Wissenschaft auszupressen vermögen, ihren Tod finden.

M.