Titel: Weder Sieg noch Niederlage
Datum: 15. Juli 2018
Quelle: Entnommen aus: „In der Tat – Anarchistische Zeitschrift“, Nr. 2, Hamburg, Januar 2019, S. 1-4.
Bemerkungen: Originaltitel: „Sans victoire ni défaite“ erschienen in „Avis de Tempetes - Bulletin anarchiste pour la guerre social“, Nr. 7, 15 juillet 2018.
Englische Übersetzung in „The Local Kids“, Nr. 2, Autumn 2018. Übersetzt aus dem Englischen, überarbeitet mit dem französischen Original.

Die Anarchisten haben immer schon verloren, niemals etwas gewonnen“. Nicht selten hört man diese Worte, auch aus den widerwilligen und reuigen Mündern von Feinden der Autorität. Diese sehr endgültigen Sätze beenden so manche Diskussion über aktuelle Kämpfe und tauchen quasi unvermeidbar in den Diskussionen über die Beiträge von Anarchisten zu vergangenen Aufständen, Unruhen und Revolutionen auf. In grüblerischer Bitterkeit denken wir an die siegessicheren Milizionäre, die im Juli 1936 von Barcelona auszogen. Ein nostalgischer Seufzer, der uns direkt in die Melancholie führt – charakteristisch für so viele Anarchisten – um mit den fatalistischen Worten eines berühmten Sängers zu schließen: „Wir verlieren immer, wir sind die schwarzen Schafe der Geschichte.“

Dennoch, auch wenn die Hoffnung immer wieder in der Lage war, ihre liebevollen Herzen zu entzünden, sollten wir nicht vergessen, dass viele Reisen der Anarchisten von Verzweiflung begleitet waren. Verliebt in die Idee und mit mindestens ebenso starkem Hass auf die Unterdrückenden. So ging mit der leidenschaftlichen Liebe, die ihre Leben in Brand setzte, ein grausamer Hass einher, der ohne Rücksicht und Skrupel das Blut von Tyrannen, ihren Lakaien und Verehrern zu vergießen imstande war. Aber warum sprechen wir in der Vergangenheitsform? Haben sich dieses Universum, dieses Vokabular, diese innere Welt der Anarchisten wirklich verändert? Sind nicht während der Aufstände Hunderttausender gegen die Herrschenden vieler Länder, dem sogenannten „arabischen Frühling“, die Hoffnungen wieder entflammt? War es nicht die Verzweiflung, diese Aufstände durch eine mannigfaltige Reaktion niedergeschlagen zu sehen, die viele von ihnen wieder bewaffnete, um abermals zuzuschlagen? Der Fatalismus lauert an anderer Stelle, wie wir sehen werden…

Wenn die anarchistische Idee die Zerstörung der Autorität und der auf ihr begründeten sozialen Beziehungen vorschlägt, impliziert das nicht notwendigerweise den Glauben an den berühmten, irreversiblen „Anbruch der Freiheit“. Tatsächlich ist die Anarchie, entgegen der Logik von Sieg und Niederlage, vor allem eine Spannung, eine praktische Idee, die fortwährend auf der Zerstörung der Macht beharrt. Das hat mit „Glauben“ nichts zu tun. Wenn der Horizont der Anarchie nicht bei der Revolte endet, sondern sich in Richtung der sozialen Revolution öffnet, dann weil jegliche Macht zerstört werden muss – und dafür reicht eine Aneinanderreihung individueller Revolten nicht aus. Sicherlich, wer von der „sozialen Revolution“ spricht und von der individuellen Revolte schweigt, hat einen Kadaver im Mund und wird sich vermutlich als einer der ersten das Maul zerreissen, wenn ein Individuum – oder eine Handvoll Individuen – Ideen und Praxis zu verbinden wissen. Allerdings davon auszugehen, dass die Perspektive einer sozialen Revolution bedeuten muss, dem blinden Glauben an eine endgültige Lösung zu verfallen, führt uns nur wieder in die gleiche Logik von Sieg und Niederlage und verneint jegliche Spannung – oder adaptiert den gefährlichen marxistischen Determinismus (wegen dem die kommunistischen Proletarier im letzten Jahrhundert das schlimmste ausgehalten haben, ganz im Geiste der „unvermeidbaren historischen Notwendigkeit“).

Wenn ein Aufruhr, ein Aufstand imstande ist, die Spannung in Richtung der Freiheit zu akzentuieren, zu vertiefen und möglicherweise sogar zu generalisieren, warum sollten wir darauf verzichten diesen Prozess zu beschleunigen, anzutreiben? Können wir im Angesicht der historischen Amnesie, der technologisierten Abstumpfung und der Verflachung von Herz und Bewusstsein nicht umso mehr auf der Notwendigkeit und den Verlockungen der Revolte beharren, sie als begehrenswerter denn je verteidigen, um den Dingen wieder eine Perspektive zu verleihen? Der Refrain über die veränderten materiellen und sozialen Bedingungen, die in der Tat nicht mehr die gleichen sind wie zu Anfang des letzten Jahrhunderts, oder die angeblich finale Überlegenheit des Staates bringen die Diskussion allzu häufig zum Erliegen, anstatt sie voranzubringen. Die Anarchisten wurden melancholisch, bis zu einem Punkt, an dem sie nur noch die Hindernisse auf ihrem Weg sehen, dadurch vergessend, dass es darum gehen muss, ihnen eigenhändig im Hier und Jetzt eine anarchische Perspektive entgegenzustellen. Andernfalls würde es weder Kampf noch Revolte noch irgendetwas heißen ausser – im marxistischen Jargon gesprochen – dem alten, langsam sterbenden Maulwurf beim Graben zuzusehen. ([Anm. aus der englischen Version] Der „alte Maulwurf“ war eine von Marx in einer Rede gebrauchte Metapher für die sozialen Kräfte, die an der Revolution wirken).

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Doch lasst uns zur ursprünglichen Frage zurückkehren – sind die Anarchisten, mit ihrer Idee der Freiheit und der Zerstörung der Autorität, zum Scheitern verurteilt? Dazu verdammt, zuzusehen, wie all ihre Mühen, Opfer und Initiativen dahingerafft werden, in verhältnismäßig friedlichen wie revolutionären Zeiten? „Es war schon immer so“, sagen die Pragmatischen. „Man soll eben nicht an die Massen oder die Revolution glauben“, sagen die Zynischen. Nichtsdestotrotz mag eine weitere Möglichkeit den Anarchisten näher sein: Im Gegensatz zu Katzen haben wir nur ein Leben, und wir wagen zu behaupten, dass es in diesem einen Leben darum geht, zu kämpfen, diese Spannung hin zur Zerstörung der Autorität zu leben. Wir realisieren uns selbst, wir werden wir selbst, indem wir uns bewegen und indem wir Pfade beschreiten, für die wir uns selbst entschieden haben. Es ist die Qualität, die in unser Leben eindringt, die Qualität von Handlungen und Ideen, die zusammenkommen. Sieg oder Niederlage haben nichts verloren, wo es nur Beharrlichkeit oder Aufgabe, Durchhalten oder Resignation, leidenschaftliche Liebe und Hass oder politische Auslöschung gibt. „Zu Handeln bedeutet nicht bloß mit dem Hirn zu denken – es geht darum, das ganze Wesen zum Denken zu bringen. Zu Handeln bedeutet, sich dem Traum zu verschließen, um sich der Wirklichkeit zu öffnen, wo die tiefreichendsten Quellen zum Wissen zu finden sind“, sagte Maeterlinck. In der Tat Träumen Anarchisten mit weit geöffneten Augen – und bewaffnen so ihre Leidenschaften, Überzeugungen und Entscheidungen, um sie zu realisieren. Es kann passieren, das andere Ausgebeutete, nachdem sie ihren Durst nach zerstörerischer Wut gestillt haben, zum Anbeten von Führern zurückkehren, sich wieder einem Gott beugen und eine neue Macht festigen. Das kann passieren, und die Reaktion wird alles tun, um dies geschehen zu lassen. Aber das macht den ursprünglichen Versuch, die Brüche zu vertiefen, die Autorität an ihrer Wurzel zu zerstören, nicht zunichte. Auch wenn es sich bloß um einige Tage, Wochen oder Monate handelt. Diese Gelegenheit diese Aufregung zu erleben, in voller Qualität zu Leben kann gar nicht anders als die leidenschaftlichen Liebhaber der Freiheit anzuziehen.

Wenn Anarchisten sich nun aber dafür entscheiden, diese Qualität, diese antiautoritäre Spannung in Richtung Freiheit gegen eine von der Politik entliehene Logik von Sieg und Niederlage einzutauschen, geht es steil bergab. Die Grundlagen der anarchistischen Idee erodieren, kollabieren und verfliegen. Der erste, der in mehr oder weniger libertärem Gewand daherkommt (und wer heftet sich dieses Adjektiv heutzutage nicht an), gewinnt die Wette, indem er eine starke Organisation, das Werk der Massen, angeblich eindrucksvolle militärische Effizienz, das Ende der „Isolation“ verspricht. Der Anarchist, der die unerfüllte Liebe in seinem Herzen, die Knaststrafen für „wenig bis nichts“, den so wenig Komplizenschaft vorbringenden Hass und das Unverständnis seiner ebenfalls am Boden zerstörten Gefährten satt hat, greift nach der vergifteten Hand, die ihm gereicht wird. In dem Glauben verhaftet, dass endlich die Starrheit und ideologischen Blockaden überwunden sind. Hier finden wir den einzigen Fatalismus der existiert: Der Anarchist, der der Anarchie abschwört, indem er sie versucht mit dem Konzept von Sieg oder Niederlage in Einklang zu bringen. Die Liebe für die Idee wird nurmehr als jugendliche Torheit abgetan, wunderschön und leidenschaftlich, aber alles andere als praktisch.

Andererseits muss das Leben von Anarchisten auch nicht unbedingt so aussehen wie der Flug eines Kometen, der innerhalb von Sekunden in der Atmosphäre verglüht. Sicherlich liegt die Entscheidung bei dem Einzelnen. Es ist wohl durchaus besser in Flammen aufzugehen, als auf die Revolution wartend zu verenden. Aber lasst uns davon absehen, absolute Gegensätze zu konstruieren, wo eigentlich keine sein müssten. In der Vergangenheit sind einige Anarchisten mit dem Kopf durch die Wand gegangen und wir bezweifeln, dass das schnelle Ende ihr ursprüngliches Ziel war. Warum auf eine zeitnahe Beendigung der Auseinandersetzungen hoffen, wenn wir sie ausweiten können, ohne uns selbst zu verraten? Wenn die Zeit für bestimmte Anarchisten sehr früh gekommen ist, dann meistens, weil die repressiven Kräfte, die sie eingekreist haben, schnell zuschlugen – zu schnell. Und nicht etwa, weil sie ihre Kämpfe so bald als möglich beenden wollten oder aus Prinzip auf ein tragisches Ende bestanden.

Die Leidenschaft für das Leben kann, mitunter zu schnell, mit den Kräften kollidieren, die es vernichten wollen: der Hass auf die Unterdrückung kann uns dem lauernden Tod gefährlich nahe bringen. Das sind die Folgen, die sich aus der Entscheidung ergeben, sein Leben aufs Spiel zu setzen – zu leben, anstatt zu überleben. Wir Rebellen par excellence, wir Anarchisten sollten keinen Kult der verbundenen Augen entwickeln. Wir haben ein Hirn, um zu denken, ein Herz, um zu fühlen und Arme, um zu Handeln. Warum sollten wir uns einer dieser Fertigkeiten entledigen? Zwischen dem Leben im Moment und dem Verlangen nach einer besseren Zukunft liegt ein ganzes Meer an Möglichkeiten. Wenn wir uns in den Kampf stürzen, wild, wenn nötig, dann nicht mit verbundenen Augen, sondern mit der Welt, die wir zerstören wollen im Blick. Wildheit misst sich nicht im Grad der Blindheit, sondern in den Perspektiven, die unsere Leben antreiben und die wir in unsere Bemühungen einfließen lassen. Wenn wir Kometen sein müssen, nun gut – aber lasst uns nicht unser eigenes Ende vorbestimmen. Unser Weg auf dieser Erde ist kurz, lasst uns alle Potentiale und Möglichkeiten auskosten. Es ist nicht tödlich, die Felsen zu treffen, sondern festzustellen, dass man keinen Kompass in der Tasche hat, wenn der Sturm losbricht. Entgegen der Logik von Sieg und Niederlage, entgegen dem Fatalismus einer angeblichen Effizienz, die jegliche anarchistische Spannung aufgibt bleibt es möglich, über unsere Schritte nachzudenken, unsere Erkundungen zu planen und unsere Bestrebungen zu umreißen. Die Liebe zu unseren Ideen und der Hass auf die Autorität gehen perfekt einher mit einer Projektualität, einer mittel- und langfristigen Reflexion um unserer Passage auf diesem Planeten zu nachhaltigerem, kräftigerem und wagemutigerem Atem zu verhelfen.

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Um eine vergangene Jahrhundertwende entwickelte ein Anarchist zusammen mit einigen Komplizen einen eindrucksvollen Plan. Nach einigen mehr oder weniger erfolgreichen Diebstählen suchte Alexandre Marius Jacobs Blick nach neuen Horizonten. Er hatte eine verrückte Idee: anstatt sich mit ein wenig Diebstahl hier und da (bereits gut) zufriedengeben zu müssen, sollte es doch möglich sein, ein massives Enteignungs-Projekt im ganzen Land umzusetzen (um einiges besser). Am Ende waren diese Arbeiter der Nacht zu Hunderten und raubten mindestens ebenso viele Häuser der Bourgeoise aus. Sie planten ihre Raubzüge minutiös und ihre Infrastruktur schloss eine Silber- und Gold-Gießerei ebenso ein wie eigens gegründete Antiquitäten- und Eisenwarengeschäfte, nicht zuletzt um die neuesten Errungenschaften der Safe-Industrie in Ruhe zu studieren. Alexandre Jacob hätte sich mit Gelegenheitsdiebstählen zufrieden geben können, das hätte ihm vermutlich die Deportation nach Guyana erspart. Doch er wollte höher hinaus. Nichts war einfach auf dieser Reise, kein Aufwand wurde gescheut, bestimmte Hoffnungen wurden enttäuscht und die so sehnlich gewünschte, generalisierte Expropriation fand nicht statt. Na und?


Lasst uns nicht vor Schwierigkeiten zurückschrecken. Lasst sie uns konfrontieren, geführt von unseren Perspektiven. Lasst es uns wagen, die grenzenlosesten Projekte umzusetzen – lasst uns Anarchie leben!