Anonym
Radikale Linke, ich trenne mich von dir!
Nach mehreren Jahren, die ich als Anarchistin in der radikalen Linken zugebracht habe, weil ich dachte, dass ich dort Leute finde, die meine Ideen teilen (was teilweise durchaus auch passiert ist), bin ich heute an einem Punkt, an dem ich frage, wie ich jemals glauben konnte, dass Anarchismus und die radikale Linke irgendwie kompatibel sind. Dass ich diesem Irrtum erlegen bin, liegt dabei auch an der selbstverständlichen Teilhabe vieler anarchistischer Menschen an der radikallinken Bewegung und der Selbstverständlichkeit, mit der der Anarchismus als Teil linker Ideologien verstanden wird (vielleicht auch verstärkt durch den Verfassungsschutz, der beides – die linksradikale Bewegung und den Anarchismus – als „linksextremistisch“ einstuft). Dabei versammeln sich unter dem Begriff der radikalen Linken komplett konträre Ideen. Autoritärkommunist*innen von der DKP, der FDJ oder der MLPD, die Partei Die Linke und ihre vielen Sub- und Jugendorganisationen und Stiftungen, autonomere kommunistische Gruppen und libertäre Kommunist*innen, autonome und postautonome Gruppen und Anarchist*innen, all diese Menschen und Ideen werden unter dem Begriff „Die radikale Linke“ oder „Die linksradikale Bewegung“ zusammengefasst. So gehört der Anarchismus für viele linksradikale Menschen zur radikalen Linken irgendwie dazu, auch wenn er von vielen als naiv und theorielos belächelt wird, dem mensch lediglich zugestehen müsse (wobei das längst nicht alle tun, die sich der linksradikalen Bewegung zugehörig fühlen), dass seine Kritik am Autoritarismus vielleicht doch nicht vollkommen verkehrt sein könnte. Jedoch, so seufzt mensch kopfschüttelnd, würden Menschen, die sich ausschließlich für Anarchismus interessierten, nicht sehen, dass die anarchistische Theorie die Komplexität der Welt nicht umfasse, was mensch daran erkennen könne, dass Anarchist*innen keine solche Bibel wie Marx‘ „Kapital“ vorweisen könnten und keine kompliziert schreibenden intellektuellen Autoritäten hätten, die den akademischen Diskurs mitgestalten würden und in der universitären Landschaft Ansehen genießen würden. Mal abgesehen davon, dass es leider schon Menschen gibt, die meinen zu Anarchismus ihren Beitrag leisten zu können, indem sie zu Anarchismus forschend die Karriereleiter im Wissenschaftsbetrieb erklimmen, so ist es natürlich klar, dass Anarchist*innen mit ihrem Misstrauen gegenüber Autoritäten jeglicher Art und ihrem Hass gegenüber staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen sowie dem Lehrbetrieb und dem Vertrauen auf ihr eigenes Urteilsvermögen und ihr Vermögen für sich selbst und nur für sich selbst zu sprechen, keine solchen Publikationen oder Theorien vorweisen können. Anarchismus wird häufig (je nach Individuen auch nur bis zu einem gewissen Grad) diffamiert, jedoch gleichzeitig vorgeblich integriert. Kommunismus mit anarchistischen Elementen zu würzen halten viele für die fruchtbarste Kombination aus beiden. Dabei werden anarchistische Ideen bis zur Unkenntlichkeit verfälscht, bis auf einmal außerparlamentarische Opposition, angemeldete Demonstrationen und Kundgebungen, Forderungen an den Staat, durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Projekte, feste Gruppen, Plena mit Redeleitung und Redeliste, kapitalistische Verlage, symbolische Handlungen wie das Zünden eines Bengalos auf einer Demo usw. – das ganze langweilige Repertoire linken Aktivismusses – auch für Menschen, die sich als anarchistisch betrachten, zum Inbegriff anarchistischer Rebellion wird.
Zwar mögen viele ab und zu auch mal Kritik an autoritären Strukturen innerhalb der radikalen Linken üben, jedoch sind sie immer noch der Meinung, dass sie grundsätzlich dieselben Ideen teilen. Jahrelang habe auch ich das geglaubt, jedoch wird mir in letzter Zeit immer mehr bewusst, dass wir einfach rein gar nichts gemeinsam haben. Wie der Name der radikalen Linken bereits verrät, verortet diese sich weit links innerhalb eines parlamentarischen (Parteien-)Systems und versteht sich als außerparlamentarische Opposition. Das bedeutet, dass Menschen sich dafür entscheiden, außerparlamentarisch für ihre Positionen einzustehen und auch mal – in einem gewissen Rahmen – über die Grenzen des Legalen hinauszugehen und damit Veränderungen innerhalb des Systems zu erzwingen. Für viele schließt das auch die Zusammenarbeit mit politischen Parteien und ihren diversen Unterorganisationen nicht aus. Das bedeutet aber natürlich immer noch am parlamentarischen Prozess teilhaben zu wollen, nur eben außerhalb der Parlamente. Außerparlamentarisch ist eben nicht antiparlamentarisch. Es bedeutet keine radikale Absage an den Staat und Herrschaft im Allgemeinen. „Links“ zu sein macht nur im Kontext eines parlamentarischen Verständnisses Sinn. Klar ist ein Begriff erst einmal nur ein Begriff und viele Leute, die sich der radikalen Linken zugehörig fühlen, verstehen sich klar als Anarchist*innen und lehnen Staat und Herrschaft ab. Außerdem gehört grundsätzlich zur radikalen Linken (im Gegensatz zur demokratischen Linken) der Wunsch nach einer Veränderung oder sogar einem Umsturz des aktuell vorherrschenden Systems. Da jedoch die Basis der radikalen Linken kommunistischer Natur ist, eint die meisten dabei die Vision einer neuen, „gerechteren“ Gesellschaftsordnung, die je nach Personen und Ideen diffus bis sehr konkret ist und unterschiedlich autoritär, selten aber eine Ablehnung jeglicher Ordnung umfasst. Außerdem geben sich viele (vorerst) mit dem Einstehen für Reformen oder mit Teilkämpfen zufrieden oder hoffen wohl auch darauf, dass aus solchen Teilkampf-Bewegungen irgendwann eine „revolutionäre Masse“ entsteht, die das aktuelle System ins Schwanken bringt.
Doch kann Anarchismus deswegen nicht trotzdem Teil der radikalen Linken sein? Wenn ich mir diese Frage stelle, dann halte ich es für lohnenswert darüber nachzudenken, inwiefern Kommunismus und Anarchismus – die Ideen, die Basis der radikalen Linken sind – sich unterscheiden. Und das ist eindeutig die Haltung gegenüber Herrschaft und Staat. Anarchismus lehnt beides klar ab, während der Kommunismus beides als Mittel zum Zweck annehmbar findet. „Die radikale Linke“ im Gegensatz zum Kommunismus ist dabei die diffusere, durch die Erfahrungen mit den realsozialistischen Regimen sowie durch demokratische und anarchistische Einflüsse weniger einheitliche, weniger autoritäre Weiterentwicklung des klassischen autoritären Kommunismus, mit mehr Diversität, mehr unterschiedlichen Meinungen, einem weniger konkreten Plan als bei den alten klassischen kommunistischen Kadern. Basis der radikalen Linken bleibt allerdings der Kommunismus, wenn auch für die meisten mit deutlich weniger autoritären Ideen.
Damit kann für mich Anarchismus aber nicht Teil der radikalen Linken sein, denn Anarchismus bedeutet für mich, Herrschaft in jeglicher Form abzulehnen und anzugreifen. Das bedeutet auch den Staat und alle seine Organe und Institutionen als meine Feind*innen zu betrachten. Es bedeutet für mich auch mich dem politischen Spiel in seiner Gänze zu verweigern. Weder möchte ich für andere sprechen oder mich für die Rechte einer Gruppe einsetzen, noch für Rechte im Allgemeinen, da das Justizsystem und seine ganze Ideologie herrschaftsvoll ist. Ich schließe keine Bündnisse, ich gründe keine Gruppe oder gar eine Partei, ich unterwerfe mich keiner Ideologie und keinen Anführer*innen, ich verhandle nicht, ich gehe keine Kompromisse ein, ich präsentiere mich nicht als Avantgarde oder Alternative. Ich kämpfe für meine Freiheit und ich suche nach Kompliz*innen, mit denen ich mich verschwören kann. Ich möchte keine neue Gesellschaftsordnung, denn die Vorstellung einer Gesellschaftsordnung ist bereits autoritär, sondern ich möchte mich befreien von jeder Ordnung und Moral, die mich in meinem Handeln einschränkt. Das bedeutet für mich aber auch besonders absolute Kompromisslosigkeit bezüglich meiner herrschaftsfeindlichen Ideen. Das ist aber nicht kompatibel mit der radikalen Linken, die in großen Teilen keine klare Feindschaft zur Herrschaft hat, ja teilweise sogar Herrschaft begrüßt, wenn sie von den „richtigen“ Leuten ausgeübt wird. Mich als Teil der radikalen Linken zu verstehen oder mich da entsprechend zu verorten oder teilzuhaben, bedeutet für mich diese Kompromisslosigkeit aufzugeben. Es bedeutet, dass ich vermittle, dass Anarchismus und autoritäres Gedankengut – und dazu gehört auch sich für oder gegen einzelne Gesetze stark zu machen oder Bündnisse mit demokratischen oder sonstigen nicht herrschaftsfeindlichen Personen einzugehen – kompatibel sind. Das widerspricht der anarchistischen Idee grundlegend – und macht sie damit zur hohlen Phrase, die keinen Inhalt mehr hat. Ich bin überhaupt kein Fan davon sich mit irgendeiner Identität zu schmücken oder sich irgendeine schicke Bezeichnung zu geben und besonders sich einer Gruppenideologie unterwerfen, trotzdem werde ich misstrauisch, wenn Menschen Vorbehalte gegen den Begriff des Anarchismus‘ oder der Anarchie hegen und sich lieber innerhalb der radikalen Linken als die vermeintlich „losere“ Zugehörigkeit verorten, denn da für mich Anarchismus bzw. Anarchie nicht mehr als die radikale Ablehnung von Herrschaft in jeglicher Form bedeutet ganz im Gegensatz zum Begriff der radikalen Linken, kann das für mich nur bedeuten, dass diese Person Herrschaft nicht grundsätzlich feindlich gegenüber steht. Damit teilen wir aber sicher keinen Konsens, nicht einmal minimal, was unsere Ideen betrifft.
Was bringt es mir Anarchismus als Teil der radikalen Linken zu sehen? Wieso gibt es überhaupt einen solchen Überbegriff, der so viele unterschiedliche Ideen unter einem allgemeinen Namen vereint? Der Anarchismus und der Kommunismus haben eine lange gemeinsame Geschichte. Vom Anarchosyndikalismus und Anarchokommunismus bis zum Plattformismus haben viele Menschen versucht Anarchismus und Kommunismus miteinander zu vereinen. Von Anfang an gab es aber auch immer Anarchist*innen, die keine Gemeinsamkeiten mit den Kommunist*innen entdecken konnten. Die ihre individuelle Freiheit durch die autoritären Ideen des Kommunismus und entsprechender anarchistischer Akteur*innen bedroht sahen und die sich bis heute nicht als Teil der linksradikalen oder kommunistischen „Bewegung“ sahen. Der Kommunismus ebenso wie die kommunistischen Varianten des Anarchismus bedürfen immer einer „Masse“, dass also eine ganze Menge Menschen sich zusammentun, um gemeinsam mit einem Ziel zu handeln und durch ihre Masse Veränderungen zu erzwingen. Wie zu solch einer Größe kommen, insbesondere wenn die goldenen Zeiten der Massenorganisationen vorbei sind? Da scheint es auf jeden Fall praktisch alle möglichen Ideen unter dem Begriff der „radikalen Linken“ zu versammeln. Wer die Diskurse innerhalb der radikalen Linken zumindest ein bisschen verfolgt, wird wohl nicht umhin kommen, immer wieder die Rufe nach Einheit und die Warnung vor Spaltung zu vernehmen. Angeblich hätten doch alle dasselbe Ziel und mensch müsse sich ja nicht wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in die Haare kriegen. Wie oft habe ich diesen Ruf vernommen, wenn ich oder andere Kritik an etwas übten. Sei es Kritik an der Roten Hilfe, orthodoxen Marxist*innen, an Antisemitismus oder autoritärem Verhalten, gerade wenn diese Kritik auch publizistisch geäußert wurde, bekam ich zu hören, dass mensch solche Streitigkeiten ja „intern“ führen könne, aber doch nicht nach außen getragen werden müssten, und dass mensch ja trotzdem mit allen solidarisch sein müsse. Gerade in Zeiten des Rechtsrucks, heißt es momentan beispielsweise, müssten doch alle „progressiven“ oder „emanzipatorischen“ Kräfte zusammenhalten. Schon ein raffinierter Move, erst Anarchist*innen in das Universum der radikalen Linken mit aufzunehmen, um dann Kritik mit dem Vorwurf der Spaltung zu begegnen und zu konformem Verhalten zu ermahnen, denn nur in der Masse und in der Einheit sei mensch stark, ansonsten würde mensch den „konterrevolutionären“, den „faschistischen“ Kräften oder aktuell der AfD in die Karten spielen. Ein Trick, den Kommunist*innen im revolutionären Russland 1917 bis 1921 angewendet haben oder in Spanien 1937 und der bis heute wunderbar funktioniert. Wer auf Gegenmacht setzt, braucht Einheit und Masse. Wer, wie ich und wie ich Anarchismus verstehe, jede Macht bekämpft und nur für sich, als Individuum steht, jeglicher Masse, jeglicher Einheit misstrauend und die Erstickung von inhaltlicher Kritik mithilfe von rhetorischen Tricks verachtet und sich dem politischen Spiel widersetzt, die*der spielt weder rechten noch linken autoritären Arschlöchern in die Hände, sondern kämpft egal, von woher der politische Wind weht, für seine*ihre eigene Freiheit. Auch deswegen wehre ich mich so vehement gegen die Zuordnung des Anarchismus zur radikalen Linken. Denn ich sehe, wie Menschen dadurch versuchen mich und meine Kritik zum Schweigen zu bringen, mich zu politischem Kalkül ermahnen, mich für sich und ihre Ideen, die nicht die meinen sind, zu benutzen. Ich sehe, dass Menschen, mit denen ich nichts gemeinsam habe, die autoritäre Ideen vertreten, der Meinung sind, dass WIR auf derselben Seite einer einheitlichen Front stehen würden. Ich sehe, dass viele nicht an einer ernsthaften Diskussion rund um Ideen interessiert sind, sondern nur als Sieger*innen aus einer Debatte hervorgehen wollen, sich nur profilieren wollen, Autorität erlangen wollen. Ich sehe, wie all diese Dynamiken lähmen und ersticken.
Deshalb erkläre ich meinen Bruch mit der radikalen Linken! Möge sie an ihrer Einheitsfrontmentalität und ihrer Sympathie für den Kommunismus und Politik im Allgemeinen zugrunde gehen!