Titel: Im Käfig der Dogmen…
Datum: 2011
Quelle: Entnommen am 7.10.2015 von http://unruhen.org/im-kafig-der-dogmen/
Bemerkungen: Dieser Text wurde im Rahmen der Subversiven Büchermesse im Oktober 2011 in Brüssel veröffentlicht.

Es war nicht nur die soziale Befriedung die unsere revolutionäre Vorstellungen während all der Jahre in eine Zwangsjacke drängte. Es war nicht nur die Welt der Macht und des Geldes, die unsere wildesten und eigensinnigsten Träume erstickte und eintauschte für Ware die unmittelbar zu konsumieren ist. Es war auch nicht nur das grosse Gesprächscafé der demokratischen Meinungen, das unsere Ideen daran hinderte zu wachsen und sich auszubreiten. Genauso war es auch bei weitem nicht nur die allgemeine Verschiebung nach Rechts, die uns das Schweigen auferlegte und uns dazu zwang, unsere tiefsten Verlangen, Gedanken und Wörter hinunter zu schlucken.

Es sind eben so sehr die Dogmen unserer eigenen Bewegung die uns unsere Hände jahrelang gefesselt und uns am Sprechen gehindert haben, uns wie ein Klotz am Bein gehangen haben. Wir haben zu lange geglaubt, dass das verbreiten unserer Ideen etwas Schlechtes ist weil wir nicht Stalin oder Hitler haben ähneln wollen. Wir haben zu lange geglaubt, dass wir unsere Ideen nicht verbreiten dürfen, da wir bang gewesen sind mit Missionaren verglichen zu werden. Genauso wie man Wasser mit dem anti-autoritären Wein vermengt, um niemanden zu schockieren. Zu lange, viel zu lange, haben wir uns selbst ein Tuch um die Augen gebunden und geglaubt, dass unsere Ideen nicht zugänglich, unverständlich für „die Massen“sind. Wir hatten vergessen, dass unser befreiender Weg bei einem individuellen Verlangen nach Freiheit und Experiment begonnen hat und, dass die Konfrontation mit anti-autoritären Ideen uns einen Stoss nach vorne gegeben hat. Eingeschlossen in unseren Ghettos, unseren Gedanken, denkend so anders als der ganze Rest zu sein. Dass die Spuren dieser Ghettos, in einer jungen Bewegung die sich selbst davon frei gebrochen hat, noch immer anwesend sind, ist nicht verwunderlich. Nicht verwunderlich, aber doch störend. Sie hindern uns daran unseren Stolz zu voller Blüte aufblühen zu lassen, unser Stolz uns auf anti-autoritäre Ideen zu stützen, als Anarchisten unter freiem Himmel, in der Welt. Die Ghettos haben dafür gesorgt, dass wir nicht mehr in Worte fassen konnten was in uns sitzt, dass wir uns selbst als Marginale betrachtet haben. Innerhalb der Ghettos wurde uns verboten nach zu denken, denn das war etwas für Intellektuelle. Es wurde uns verboten zu schreiben, denn das taten nur Studierte. Und so lernten wir, abhängig davon mit wem wir sprachen, uns in anderen Worten auszudrücken, drehend mit dem Wind, immerzu drehend mit dem Wind.

Für all jene die nachts über die Revolution fantasierten, war es schwierig, diesen Traum im Leben zu halten. Denn die Welt um uns herum wurde immer totalitärer. Gefährten sagten, dass wir unsere jugendlichen Träume begraben mussten, da es schlussendlich doch keinen Sinn hatte. Verlangen nach Revolution, wurde gesagt, war nichts anderes als warten auf den grossen Abend. Selbst sprechen über ein Verlangen nach Revolution durfte man nicht, denn das bedeutete, den Menschen eine Fata Morgana vors Gesicht zu halten, grossmäulerisch Säcke voll mit Luft zu verkaufen. Einige Gefährten beschlossen nicht warten zu wollen, vergassen jedoch, dass dies nicht bedeutete unsere revolutionären Träume auf die Seite legen zu müssen. Das Handeln im Hier und Jetzt wird manchmal durch das Greifen nach dem Unmittelbaren eingeschränkt, während das carpe diem nicht bedeuten muss, dass es keine Zukunft gibt. Dass gerade das Erobern des Jetzts der einzige Weg nach einer freien Zukunft ist und dass wir es dafür tun.

Und so wurden die Dinge in unserem Kopf zu einem festen Block gemeisselt. Und wir begannen zu glauben, dass wir den anderen, jenen Menschen die nicht zu unserem Klub gehörten, keine Vorschläge machen durften. Denn wir wollten keine Politiker sein, keine Autoritären. Wir wussten, dass die Selbstorganisation uns wichtig war, wollten andere jedoch, zimperlich wie wir waren, nicht mit unseren Erfahrungen bereichern. Und wir vergassen, dass vielleicht auch noch andere waren, die uns bereichern könnten. Aus lauter Angst etwas zu sein, das wir nicht sein wollten (und sowieso auch nicht sind), errichteten wir Mauern rund um unsere Füsse herum.

Zusätzlich zu den anderen Dogmen kam auch noch jenes hinzu das besagt, dass wir beim Hören von Neuigkeiten über Revolten, nicht zu enthusiastisch sein mussten, denn wir mussten uns alle daran erinnern und sogar bekräftigen, dass dies keine anarchistischen Revolten waren. Wir sind keine Supporters der Massa, warten nicht auf den Moment bis wir endlich mit genug Leuten sind, bevorzugen individuell geteilte Wege und nicht anonyme Kollektivität, bevorzugen das Entwickeln befreiender Ideen, nicht die sich ins Unendliche erstreckende Vagheit, die ein idealer Nährboden für neue Führer ist, aber…Eine grosse Gruppe Menschen ist nicht gezwungenermassen eine Massa und kann genau so gut eine Gruppe Individuen sein. Eine Revolte negativ zu qualifizieren weil es eine Gruppe Menschen betrifft, basiert sich auf Nichts und nochmals Nichts. Ihre Protagonisten jedes Mal aufs Neue auf Abstand mit den anarchistischen Massstäben zu messen, macht den Anarchismus zu einer Nervensäge, einer paralysierenden Meinung und nimmt ihm die Lebendigkeit des Kampfes.

Und schlussendlich hatte auch die Solidarität diesen einen Weg zu begehen: ihr wurde den Stempel des Aktivismus aufgedrückt, anstatt zu versuchen, ihr ihren revolutionären Inhalt zurück zu geben.

…hilft dem Wind des Aufstandes uns zu befreien..

Heute sind Dinge am Gange, die etwas tief in uns wach rütteln. In vielen von uns sitzt da noch immer der alte Traum: kämpfen für die Freiheit. Halb nackt aber jeder mit seinem Bündel voll Erfahrungen, versuchen wir über Aufstand und Revolution nachzudenken. Es gibt so einge die sagen, dass uns das alles nichts angeht, dass in Nordafrika Aufruhr herbeigeführt wird, wie im Mittleren Osten. Warum sollten wir uns mit Dingen beschäftigen die sich in anderen Kontinenten vor tun? Um zu beginnen, lasst uns zuerst einmal deutlich machen, dass es sich hierbei nicht einfach um Dinge handelt, sondern um einen Volksaufstand, um Menschen die sich organisieren, die ihren Rücken richten, gegen die Macht und gegen ihre jahrelange Unterdrückung. Wenn wir uns als Anarchisten hierin nicht erkennen können, sollten wir uns besser die Frage stellen, wohin unsere Kampflust sich verflüchtigt hat, ausgetrocknet. Darüber hinaus sind wir Internationalisten. Lasst uns die Grenzen, die der konstant steigende Nationalismus auch in unsere Köpfe gekerbt hat, herausfeilen. Dann kommt noch hinzu, dass diese Aufstände auch für uns, hier und jetzt, einen magischen Charakter haben. Sie haben die Möglichkeit des Aufstandes wachgerüttelt. Diese mutigen Menschen auf der andern Seite des Mittelmeeres und anderen Orten, haben uns geholfen die Mauern unseres Horizonts herunter zu reissen, und zusammen mit uns, viele andere auch. In den Strassen der Stadt wo wir wohnen, findet das Wort Revolution einen ungekannten Wiederklang. Schlussendlich kann niemand tun als ob die Situation dort nicht in direkter Verbindung mit unserer Situation hier steht. Die Politiker und Kapitalisten von überall sind nicht nur die Führer überall und verbinden unsere Situation daher auch mit denjenigen an anderen Orten in der Welt, es ist zum Beispiel auch eine Tatsache, dass die Aufstände in Nord Afrika eine Zeit lang die Tore vom Ford Europa zu stürmen vermochten. Durch das Verschwinden von Ben Ali und Mubarak und der unter Bezwang stehende Macht Khadafis, ist die Autorität, die Europa dabei half ihre himmlischen Tore zu bewachen, verschwunden. Für wie lange weiss man nicht. Lampedusa strömt voll, Berlusconi verteilt Übergangs Visa’s, Frankreich stoppt Züge an den Grenzen, in Paris besetzen Tunesier ein Gebäude, Belgien will schärfere Grenzkontrollen, und so weiter. Die Situation in unseren Ländern verändert sich de facto durch die Aufstände anderswo.

Zur gleichen Zeit brodelt es auch schon eine Weile auf dem europäischen Kontinent. Proteste gegen die Sparmassnahmen, das finale Demontieren des Wohlfahrtsstaates wie wir ihn gekannt haben. Von Portugal über Frankreich, England, Kroatien, Serbien, Albanien bis hin zu Griechenland. Überall in Europa gibt es unzählige Menschen, die all jenes worin man ihnen sagte zu glauben (hart arbeiten, konsumieren und sparen und dann in Pension gehen, verdiente Ruhe), vor ihren Augen in Luft aufgehen sehen. Wir könnten alle möglichen Katastrophen Szenarios voraussehen. Davon ausgehen, dass dieser historische Moment in Exzessen des überall anwesenden Fremdenhasses münden wird. Pogrome, massenhafte Ausschaffungen, was weiss ich. Aber es besteht auch eine Chance, dass jene letzten Aufstände etwas anderem Leben einblasen können. Etwas das weder mit Protektionismus noch mit Rassismus zu tun hat. Besteht die Möglichkeit, dass all diese brodelnden und potenziell explosiven Situationen einander beeinflussen können?

Ein anderes Domszenario ist jenes, welches bereits seit Jahren zur Realität geworden ist: das bauen neuer Gefängnisse und Ausschaffungslagern überall. Das sähen von Kameras überall. Die Ausbreitung der Kontrolle und des Repressionsapparates überall. Das Eindringen der Kontrolltechnologie ins „soziale Leben“. Die Antwort von Staaten auf Aufstände ist deutlich: Repression, auch präventiv. Aber während eines Aufstandes ist so vieles möglich. Das haben die tausenden, in den letzten Monaten, aus dem Gefängnis ausgebrochenen Gefangenen bewiesen. Zugleich ist es während eines Aufstandes besonders einfach, die repressive Infrastruktur des Feindes aus dem Weg zu räumen. Sie experimentieren mit Mitteln, um die Metropolen kontrollieren zu können. Aber was passiert wenn ihr Kameranetzwerk nicht mehr funktioniert? Es besteht keine einzige Metropole wo die Bullen beliebt sind und es gibt auch keine Metropole wovon man sagen kann, dass sie vollständig unter der Kontrolle des Staates steht. Während eines Aufstandes erblühen erneut alte revolutionäre Taten: Taten der Solidarität, Selbstorganisation, Angriffe auf feindliche Strukturen..

…und den Inhalt unserer Praxis zurück geben…

Es gab Zeiten, wo man gewisse Worte und Taten nicht von ihrem revolutionären Inhalt scheiden konnte. Es erschien einfach um, mit Hilfe der anarchistischen Ideen, die Welt in Worte zu fassen.

Es waren Zeiten worin die ant-autoritären Ideen und Taten, die auf die Umsetzung dieser Ideen ausgerichtet waren, lebten.

So können Menschen heutzutage die Solidarität mit Aufständen und gefangenen Gefährten als Aktivismus betrachten, während die Solidarität essenziell ist für jeden Aufstand und jede Revolution und somit auch für jedes revolutionäre Projekt. Wenn Aufständische in der einen Stadt, in Solidarität mit der anderen Stadt, auf die Strasse kommen, brauchen wir nicht zu zweifeln. Dies ist ein notwendiger Bestandteil der revolutionären Praxis.

Heutzutage bleiben wir jedoch oft in einer endlosen Beschreibung aller hässlichen Dinge der Welt stecken. Wir sprechen zurecht z.B. über einen Bullenmord aber oftmals kommen wir nicht weiter als die Tatsache, gegen das Gefängnis und die Bullen zu sein. Wir teilen weder die Basis von unserem Willen zu Handeln noch unser Verlangen nach einer Welt ohne Autorität mit anderen Menschen. In der Stadt in der wir wohnen z.B. liebt beinahe niemand die Bullen und das Gefängnis. Zu wiederholen, dass wir gegen das Gefängnis sind, wird uns in diesem Fall nicht viel weiter bringen. Wir haben mehr zu sagen, viel mehr. Sicher jetzt wo sich ein grosser Teil des wahren Gesichtes des Staates an vielen offenbahrt, können wir auch über andere Dinge sprechen. Dinge die die Untergrabung dieser Gesellschaft stimulieren.

…in einem Kampf ausgerüstet mit einer revolutionären Perspektive…

Was benötigen wir für einen Aufstand oder eine Revolution? Was müssen wir uns aneignen und welche Aneignung können wir bei anderen stimulieren? Wie können wir revolutionäre Vorstellungen schüren? Wie können wir die anti-autoritären Ideen und Taten zu etwas denkbarem und lebendigem machen? Wie können wir dafür sorgen, dass wir von einer starken Basis aus handeln, eine Basis der Qualität eher dann Quantität. Wie können wir die Konfliktualität ankurbeln und mit unseren Ideen mengen? Wie können wir die Selbstorganisation mit Affinität stimulieren und Solidarität anfachen? Wie können wir die Grenzen hinter uns lassen und Internationalisten werden? Wie steht es mit Terrainwissen? Können wir auch mit anderen Arten des Kampfes als dem spezifischen Kampf experimentieren? Wie kann der spezifische Kampf in Austausch stehen mit Konfliktualitäten die sich ausserhalb dieses spezifischen Terrains entwickeln? Können wir die Momente in denen die Linien Form bekommen stimulieren und entwickeln, die Linien zwischen jenen, die für die Autortät und jenen die dagegen kämpfen?

Ein Projekt mit einer revolutionären Perspektive richtet sich nicht nach einem Sieg, sondern ist ein permanentes Ereignis. Was jedoch nicht sagen will, dass sich die Akteure blindlings ins Gefecht werfen. Nachdenken über das wo, wann und wie kann nicht einfach als „pure Theorie“ abgetan werden.

Die konkrete Einfüllung eines Kampfes mit diesen Perspektiven variiert van Kontext zu Kontext. Die bewusste Anwendung von Mitteln hängt sowohl von der Vorliebe von Gefährten, wie auch vom Kontext, worin sie agieren, ab. Viele haben sich verschiedene Mittel angeeignet und es liegt an uns darüber nachzudenken wie wir diese anwenden wollen.

Wir merken, dass das Wort Revolution durch viele in den Mund genommen wird, während der Inhalt ihrer Revolution uns abschreckt (die Indignees und ihr unzähmbares Rekuperationsvermögen hängt uns zum Hals heraus). Wenn wir über Revolution sprechen, können wir die Ideen die uns dabei inspirieren nicht davon loslösen. Revolution ohne Inhalt ist eine gefährliche Hülle, was jedoch nicht im geringsten sagen will, dass uns das daran hindern wird, uns den heutigen Herausforderungen zu stellen. Und Herausforderung gibt es zu genüge. Sie entfalten sich wie Blumen vor unseren Augen. Wir werden dem Wein kein Wasser beimengen aber das Bewusstsein, dass die Dinge weder schwarz noch weiss sind (es gibt wenige Anarchisten aber viele Menschen die ein Bedürfnis nach Freiheit haben und die genug von diesem elendigen Bestehen haben) befähigt uns zu probieren, zu entdecken. Immerhin haben wir so einiges zu bieten. Jahrelange Erfahrungen in verschiedenen Kämpfen (sei es in der Besetzerbewegung oder in spezifischen Kämpfen wie z.B. gegen die Ausschaffungslager) aber auch in Experimenten mit Mitteln und der Suche nach neuen Möglichkeiten und Einfallswinkeln bei der Entwicklung von Affinität und Ideen,…Dies hat nicht zum Ziel uns selbst in den Himmel zu jubeln. Aber wie kommt es, dass jedes Mal wenn uns Menschen auf der Strasse fragen: „Was können wir tun?“, wir nicht wissen was darauf zu antworten? Wir, die besessen sind durch die Frage was wir tun können, sind nicht in der Lage auf diese Frage einzugehen…

Aus tiefsten Verlangen, eine Welt der Freiheit