Titel: Das alltägliche Blutbad der Ausbeutung
AutorIn: Fernweh
Datum: Mai 2020
Quelle: Entnommen aus: Fernweh - Anarchistische Straßenzeitung; Nr. 33, Mai 2020, München.

Die neue Wirklichkeit

Jemand meinte einmal, die Unterdrückbarkeit des Menschen kenne keine Grenzen. Der Mensch ist ein Gewöhnungstier und nach einem kurzen Schock, scheint er sich an jeden Zustand anpassen und gewöhnen zu können, egal wie erniedrigend und beengend dieser auch sein mag. Eine Weltbevölkerung unter Quarantäne, Regieren per Ausnahmezustand, Verbot jedes sozialen Lebens – und nach einigen Wochen fühlt es sich schon fast normal an. Man gewöhnt sich an die Einschränkungen – an das Home Office ebenso wie an den Verlust der Bewegungsfreiheit. In dieser harten Stunde rücken wir zusammen, zeigen uns einsichtig und zollen der Kanzlerin Respekt, dass sie den Schutz der Gesundheit über den Schutz der Wirtschaft stellt…

Moment mal… waren wir denn vor dieser Krise alle gesund, glücklich und frei?

Die zur Zeit durch Medien und Staat erzeugte Fiktion und Angst, dass uns ein Massensterben droht, wenn wir uns nicht einschränken, blendet aus, dass der globale Kapitalismus tagtäglich Massensterben produziert. Mehr als eine Milliarde Menschen leidet weltweit an Hunger, wovon täglich tausende sterben, während in Deutschland täglich circa ein Drittel der Lebensmittel im Müll landet… Mehr als 700.000 Menschen krepieren jährlich an HIV, obwohl es bereits Gegenmedikamente gibt, die aber wegen der Monopole der Pharmaindustrie nicht bezahlbar verkauft werden… Jeden Tag verrecken Menschen durch in Deutschland produzierte Waffen in Kriegen im Jemen, Mexiko, Afghanistan oder Syrien… und tausende werden von US-amerikanischen Drohnen, die von Deutschland aus gesteuert werden, im Nahen Osten in Stücke zerfetzt… In den letzten fünf Jahren sind mehr als 20.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken, da es keine legalen Fluchtrouten nach Europa gibt… und weltweit sterben jedes Jahr 2,4 Millionen Menschen durch Arbeitsunfälle, ermordet durch das Gewinnstreben der kapitalistischen Ordnung. Und eben diese Ordnung, die täglich all dieses Leid und Elend hervorbringt, soll nun plötzlich unsere Gesundheit schützen? Ich glaube es wäre unser psychischen und physischen Gesundheit am dienlichsten, diese verpestende und krank machende Ordnung zu meucheln!

Regieren durch Angst

Das Erzeugen von Angst ist seit jeher eine der wichtigsten Herrschaftstechniken. Ein Mensch, der sich nicht nur fürchtet, also im Angesicht einer konkreten Gefahrensituation angespannt ist und nach einem Ausweg sucht, sondern in permanenter Ängstlichkeit lebt, ist einfach zu regieren. Wer in ständiger Angst lebt, hat weniger Selbstbewusstsein, isoliert sich mehr, macht sich abhängig und unselbstständig, sucht nach Schutz und starken Führern, hat Angst vor dem Unbekannten und Fremden, versinkt in Lethargie, Depression und Ohnmacht – und hat vor allem Angst zu rebellieren. Zu solch gehorsamen Sklaven werden wir nicht nur erzogen und sozialisiert, so eine Angst wird uns regelrecht antrainiert, indem konkrete Ängste geschürt und dann verallgemeinert werden. Die Angst vor der Zukunft, die Angst vor den Fremden, die Angst vor dem Terror, die Angst vor dem Virus… Während wir innerhalb des derzeitigen Ausnahmezustandes mehr und mehr voneinander isoliert werden, einsam vor Bildschirmen vergammeln, um unsere Zukunft und Jobs bangen und jegliche Regung und Emotion hinter einer Atemschutzmaske verbergen, füllen sich die Straßen mit starken und uniformierten Beschützern. Die Gesetze und Regelungen ändern sich so schnell, dass man letztendlich mit allem rechnet, schließlich alles toleriert und sich an die Willkür der Staatsmacht gewöhnt. Ob die Uniformierten nun Spaziergänger verscheuchen oder nicht, überall laufen Securities und Bullen herum, ob im Supermarkt, im Park oder an der Grenze… man gewöhnt sich nicht nur an ihre Präsenz, sondern auch daran, dass sie in einen Moment Leute von der Straße verscheuchen und im nächsten die sich nach draußen Wagenden nur mit milden und wachsamen Blicken beehren. Indem wir voneinander isoliert und gleichzeitig überwacht und zur Passivität gedrängt werden, verstärkt der Staat seine soziale Kontrolle und Macht. Egal wie sich die nächsten Monate entwickeln, diese Maßnahmen der Militarisierung werden bleiben und immer alltäglicher werden, denn dem Staat ist immer daran gelegen die Macht seiner Institutionen und repressiven Organe auszuweiten und seine Ordnung zu verewigen.

Vor der Krise, nach der Krise

Seit es den Kapitalismus gibt, bringt dieser immer Krisen hervor. Wenn die Weltwirtschaft nun kollabiert, tut sie dass nicht wegen Corona. Es war klar, dass es irgendwann eine Weltwirtschaftskrise geben wird, diese Krise ist nur der Auslöser, die Schuld trägt das Wirtschaftssystem selbst und nicht der Virus. Denjenigen, die zukünftig ohne Job und Cash dastehen, wird man vorhalten, dass die Ursache dafür in der „Corona-Krise“ liege – obwohl Krisen unvermeidlicher Teil der kapitalistischen Wirtschaft sind. Der Kapitalismus nutzt solcherlei Krisen und Unterbrechungen nicht nur, um die nicht überlebensfähigen Firmen auszusortieren und sich neu zu ordnen, sondern um sich maßgeblich weiterzuentwickeln und dem nächsten Wirtschaftswachstum eine neue Richtung zu geben. Die Themen, die sich gerade am Horizont der jetzigen Krise ankündigen, werden uns noch lange begleiten: Die Abschaffung des Bargeldes und die Einführung digitaler Identitäten. Ein Virus bietet hierfür den idealen Anlass. Doch die westlichen Staaten sind sich der Gefahr sehr bewusst nicht in das Fettnäpfchen der „Überwachungsstaaten“ á la China zu tappen und versuchen ihre Innovationen langsam, selbstkritisch und unter Einbeziehung von Pseudo-Kritik einzuführen. Und natürlich nicht verpflichtend, sondern immer „freiwillig“… und Stück für Stück kann man nur noch bargeldlos bezahlen und an Sachen teilnehmen (Reisen, Nahverkehr, Schulen, Unis, Konzerte, Bibliotheken etc.), wenn man sich „freiwillig“ einen E-Ausweis erstellt bzw. einen elektronischen Immunitätsnachweis oder Impfnachweis etc.

Lassen wir uns nicht von dem orwell‘schen Doppelsprech verwirren, dass uns weis machen will, dass es ein großer Unterschied wäre, ob Bewegungs- und Kontaktdaten nun zentral oder dezentral gespeichert werden – Überwachung ist Überwachung und Kontrolle ist Kontrolle und unvereinbar mit Freiheit.

Gegen die Rückkehr zur Normalität!

Jetzt mal ehrlich: Haben wir nicht alle in den letzten Wochen interessante Momente erlebt? Die Erfahrung, dass etliche Menschen gewillt sind die vom Staat auferlegten Regeln zu brechen, wenn sie für sie keinen Sinn ergeben… die Gewissheit, dass wir für uns selbst entscheiden können, ob und wann wir heraus gehen wollen und welches Verhalten für uns angemessen erscheint… der Wille, selbst Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen, auch wenn diese als kriminell Verstöße abgestempelt werden könnten… und dann diese unverhoffte Solidarität, wenn Unbekannte am Isarufer vor herannahenden Bullensschweinen warnen! Und hat nicht auch diese Polarisierung etwas erleichterndes, etwas ehrliches? Jeder hat sich im Angesicht des Ausnahmezustandes und der staatlichen Maßnahmen zu positionieren, niemand kann sich verstecken… man sieht, wie die Leute der Freiheit und den Freiheitsberaubern generell gegenüber stehen, wer für sich selbst entscheiden und denken kann und wer sich als Denunziant erweist… und wer wie ein Lamm nach neuen Hirten sucht und alten Erklärungsmustern im neuen Gewand hinterherläuft.

Während in den Pariser Banlieues Bullen aus den Straßen vertrieben werden und lodernde Barrikaden die Nacht erhellen, schreien Revoltierende im Libanon im Schein brennender Banken und Militärfahrzeuge aus vollem Halse: „Die Politiker lenken unsere Aufmerksamkeit mit dem Coronavirus ab, um uns weiter bestehlen zu können!“ Und in dieser Parole scheint einiges an Wahrheit zu stecken: Auch wenn theoretisch jeder an dem Virus erkranken und sterben kann, sind es diejenigen, die wirklich hart von der Krise betroffen sind, die auch davor für den Kapitalismus nur Auszubeutende und zu Bestrafende gewesen sind – die Armen, die Lohnabhängigen mit beschissenen Jobs, alle, die nicht im reichen Westen sitzen und zur Elite gehören und vor allem alle in Flüchtlingslagern und Knästen Eingeschlossene. Vielleicht wäre es Zeit einzusehen, dass alle Armen und Ausgebeuteten weltweit schon immer diejenigen waren, die am meisten an der todbringenden Pest des Kapitalismus leiden und vom bewaffneten und kriegsbringenden Staat dazu gezwungen werden, weiter zu schuften und ihre Lebenszeit für den Preis des Überlebens aufzuopfern.

Ich denke es ist Zeit, das Leben zu umarmen und den Aufstand gegen die Schlächter und Bluthunde der alltäglichen Ausbeutung zu wagen!