#title An die Besessenen #autor Anonym #SORTauthors - #SORTtopics Egoismus, Individualismus, Maschine, Technologiekritik #date 1895 #source Entnommen am 17.06.2016 aus [[https://blackoutblog.noblogs.org/files/2014/03/Wolja1Farbe.pdf][https://blackoutblog.noblogs.org/files/2014/03/Wolja1Farbe.pdf]]; ganzer Artikel #lang de #pubdate 2016-06-17T12:41:07 #notes Original in: Londoner Arbeiter-Zeitung. No. 2; 16. November 1895 (Hrsg. [[https://anarchistischebibliothek.org/category/author/frohlich-conrad][Conrad Fröhlich]], Stephanus Fabijanovic) DIE heutige Zeit wimmelt von allerhand -isten, welche die unterdrückte Menschheit befreien wollen. Manche haben den Herrgott im Himmel verloren, und einen neuen Herrgott auf Erden gefunden. Sie beten die Menschheit an. Die Menschheit, ja die Menschheit über Alles [1]. Sie wollen Andern die Freiheit geben, und machen sich dadurch selber zu Sklaven der Andern. Diese Quatschköpfe haben noch nicht einmal verstanden, dass die Freiheit kein Handelsartikel ist, den man ohne weitere Bedingungen an Andere verschachern kann. Um frei zu sein, muss man unumgänglich den Willen dazu haben. Welch thörichtes Unternehmen, die Freiheit demjenigen geben zu wollen, der sie nicht haben will! Ich bin Ich. Ich bin nicht ein Theil, sondern bin ich: d. h. einzig, ausschliesslich, vollständig. Erst wer zu dieser Erkenntnis gekommen, kann wirklich frei sein. Solange er sich als Theil, als Glied wähnt, ist seine Freiheit nur illusorisch. Wenn ich frei werden will, so muss ich zu allererst meine innern Fesseln brechen. Ich muss erst erkennen, dass ich nicht der Andere bin, und dass in Folge dessen seine Sache nicht meine Sache ist. Indem ich mich hier als Egoist bekenne, wird mir mancher sagen, dass dies shocking sei; würde ich aber die Hingebung und Aufopferung predigen, so würde man mir sagen, ich sollte für meine Sache sehen und andere Leute in Ruhe lassen. Dies zeigt eben, dass man es nicht allen Leuten recht machen kann, und dass es viele Leute giebt, die das Widersprechen sich zum Prinzip gemacht haben. Prinzipielle Verschrobenheit und Verworrenheit scheint ein Hauptmerkmal unserer degenerirten Zivilisation zu sein. Und ist dies etwa nicht egoistisch? Oder will jemand behaupten, dass die dominirende höhnische Theilnahmslosigkeit aus Altruismus geschehe? Die heutigen Egoisten sind jedoch recht schlechte Egoisten. Wir leben eben im Zeitalter der Maschinen, und dies mag den Menschen so beeinflusst haben, dass er selbst ein Stück gefühllose Maschine geworden ist. Wenn er nur heute sein Beefsteak verzehren kann, was kümmern ihn die Andern? was kümmert es ihn, ob er morgen auch noch was hat? was kümmert es ihn, ob ihn morgen der Teufel holt? Der Maschinenmensch ist selbst theilnahmslos sich selbst gegenüber. Kein Weinen weint ihm, und kein Lachen lacht ihm. Er ist gefühllos, soweit es seine rudimentären Instinkte zulassen. Er ist gefühllos gegenüber der Schmach, welche er selbst erleidet. Und er ist reflektionslos. Sein Ideal ist sein Beefsteak, sein Thee und sein Bier. Das Thier der Wildniss frisst seine Beute begierig und mit Lust, er aber, der Maschinen-Egoist, er befriedigt seinen Hunger maschinenmässig, er hat dabei das Gefühl seiner Maschine. Er umarmt seine Geliebte mit dem Gefühl, das er vor seiner Maschine hat. Er liebt lieblos. Oh, Du maschinirter Egoist! Du bist ein Egoist wie Deine Maschine. Nur immer zu! Verhöhne Alles! und verhöhne dich selbst. Denn Du lebst weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft, Du lebst auch nicht in der Gegenwart, sondern Du lebst im maschinirten Cynismus. Oh, Du maschinenbesessener Egoist, Du kannst den Alkohol bald entbehren, er ist bald nicht mehr nöthig, um Deine Sinnen abzustumpfen; Du bist bald vollständig verflacht. Oh nur vorwärts auf Deiner Bahn! Wenn es möglich ist, versteinere ganz. Und Du wirst den lebensfähigen Egoisten den Weg zur Freiheit bahnen, sie werden Dich leichter überwinden. Denn es giebt noch ander Egoisten, als euch Maschinisten. Es giebt noch Egoisten aus unmaschinirtem Fleisch und Blut, mit einem Herz im Leibe. Ihr Maschinisten geht in Euerm Egoismus so weit, dass Ihr Euch selbst vernichtet; ich aber will Egoist sein, um mich und die Welt zu geniessen. Als Egoist bekämpfe ich den Staat, weil er meine Eigenheit bekämpft. Der Maschinist wird mich höhnen, ich sei ja machtlos und es sei ja doch alles vergebens. Der Maschinist sieht kaltblütig zu, wie er erwürgt wird, und mach ein höhnisches Maschinengesicht. Ich aber versuche auf jed mögliche Weise gegen den Staat anzukämpfen, weil ich weiss, dass er eine beständige Gefahr für mich und jeden Andern ist. Mancher wird zwar sagen: „Nach mir die Sündfluth.“ So hat schon Mancher gesprochen, und die Sündfluth kam zu früh, und hatte ihn verschlungen. Nein, als Egoist will ich einer drohenden Gefahr gegenüber nicht unthätig sein. Als Egoist bekämpfe ich das kapitalistische System, weil ich weiss, dass es auch für mich eine Gefahr ist. Als Egoist bekämpfe ich die heutige Gesellschaft, welche Noth und Elend um die Paläste pflanzt. Als Egoist interessire ich mich für die Beseitigung des Elends, weil dessen Anblick meine Freude trübt. Der Maschinen-Mensch mag höhnisch lächeln, und mag es auch selbst thun, wenn er einst von seiner Maschine in Stücke zerrissen wird, oder wenn er vor Hunger im Strassengraben krepirt, auf meine Nerven hat jedoch das Elend Anderer einen peinigenden Eindruck, und deshalb kämpfe ich gegen diese Belästigung. Als Egoist bekämpfe ich das Gesetz mit seinen Richtern und Polizisten, weil ich weiss, dass Niemand vor diesen Dämonen sicher ist. Ich bekämpfe das Gesetz, weil es ungerecht und brutal ist; ich bekämpfe es, weil ich die Ungerechtigkeit und Brutalität hasse. Und ich hasse die Ungerechtigkeit und Brutalität, weil ich nicht ungerecht und brutal behandelt sein will. Als Egoist wünsche ich das Verschwinden der Ungerechtigkeit und Brutalität, weil ich dann, wie jeder Andere, sicher wäre. Ich empöre mich gegen die Barbarei, weil ich noch nicht vermaschinirt bin. Ich empöre mich gegen die Herrschaft, weil ich als Egoist mein Eigner sein will. Als Egoist will ich nicht zum Staate gehören, ich will mir gehören; wenn ich dem Staate gehöre, kann ich mir nicht gehören. Als Egoist verwerfe ich die Obrigkeit, weil ich nichts über mich gehen lassen will, weil ich mir selbst der Höchste bin. Schliesslich bereitet es mir eine besondere Freude, einem Schuft zu sagen, dass er ein Schuft ist; als Egoist rebellire ich gegen jede herrische Anmaassung, weil ich ein Eigener und ein Freier sein will. Ihr Maschinirten, könnt ihr Euch von dem Einfluss Euerer Maschinen wirklich nicht frei machen? Oh, wagt es doch nur einen Tag, nur einen frei zu sein! [1] Diejenigen, welche ihre Worte wirklich ernst nehmen und geben, sind zwar eine sehr kleine Anzahl, umso grösser ist die Nummer derjenigen, welche mit dem Menschheits-Kultus nur eine lächerliche Farce spielen, indem sie nur zu oft knauserige und engherzige Kerle sind, und ihren Theorien direkt zuwider laufen.