Herausgeber*in: Anarchistisches Netzwerk Südwest* - Das Anarchistische Netzwerk Südwest* ist in der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA) organisiert.
Anarchistisches Netzwerk Südwest*
Anarchismus!
Eine Einleitung.
„Anarchie – Moment, das ist doch eh nur Chaos und Randale?“
„Wenn Anarchie nichts mit Chaos zu tun hat, womit denn dann?“
„Aber das war doch schon immer so!“
„Aber wie wollt ihr dann leben?“
„Aber ohne Regierung bricht doch alles zusammen!“
„Aber so funktioniert doch gar nichts mehr, oder?“
„Das klingt aber ziemlich anstrengend und zeitaufwendig!“
„Aber ich hab doch dafür keine Zeit.“
„Also wollt ihr den ganzen Tag nur faulenzen?“
„Also geht es euch nur um weniger Arbeiten?
„Also seid ihr selbstlose Samariter?“
„Warum nennt euch dann jede*r Chaoten? Ihr seid doch gar nicht so schlimm.“
„Anarchie – Moment, das ist doch eh nur Chaos und Randale?“
Das ist wohl das gängigste Vorurteil, mit dem Anarchist*innen[1] aus aller Welt zuerst konfrontiert werden. Dies hat seine Gründe, aber dadurch noch lange keine Berechtigung. Richtig ist, dass Anarchie weitläufig mit Chaos und Gewalt gleichgesetzt oder zumindest gemeinsam verwendet wird. Generell erzeugt der Begriff „Anarchie“ ein meist negatives Gefühl.
Doch schon Wikipedia beschreibt Anarchie bzw. Die dahinterstehende Überzeugung „Anarchismus“ als „eine politische Ideenlehre und Philosophie, die Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie als Form der Unterdrückung von individueller und kollektiver Freiheit ablehnt“.
Und selbst der Verfassungsschutz – der nun wirklich nicht zu den Befürworter*innen des Anarchismus zählt – beschreibt das Ziel des Anarchismus als „eine herrschaftsfreie Gesellschaft, die ... auf der Basis völliger Freiwilligkeit geordnet werden soll. Es wird jede Form der Regierung abgelehnt und behauptet, dass Menschen auch ohne gesellschaftliche Regeln konfliktfrei zusammenleben können.“
Solche Aussagen beinhalten doch deutlich mehr als Chaos und Gewalt. Genauer gesagt spielt Chaos oder Gewalt in diesen Definitionen gar keine Rolle. Welche Ideen für uns hingegen eine Rolle spielen, wollen wir im folgenden Text zeigen.
„Wenn Anarchie nichts mit Chaos zu tun hat, womit denn dann?“
Anarchismus bedeutet für uns erst mal, mit dreierlei Dingen nichts zu tun zu haben:
Herrschaft von Menschen über Menschen
Wir finden es nicht richtig, dass manche Menschen mehr Macht besitzen als andere und über Schwächere regieren, sie kontrollieren und/oder ausgrenzen. Das geschieht zum Beispiel durch eine Regierung, die den Menschen vorschreibt, wie sie sich zu verhalten und wie sie zu leben haben. Falsch finden wir auch, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Sexualität ausgegrenzt werden.
Kapitalismus[2]
Wir finden es nicht richtig, dass nur wenige von den theoretisch ausreichend vorhandenen Ressourcen profitieren. Gerade durch die technologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte wäre es ein Leichtes, nicht nur allen Menschen Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser oder Wohnraum zu gewährleisten, sondern den Lebensstandard an sich zu erhöhen. Im bestehenden System – dem Kapitalismus – werden Menschen in einen immer größeren und brutaleren Konkurrenzkampf gezwungen, der wenige Gewinner*innen und viele Verlierer*innen hervorbringt. Dies bedeutet wachsenden Reichtum von wenigen und steigende Armut von vielen.
Umweltzerstörung
Wir finden es nicht richtig, dass der Mensch den Lebensraum, den er selbst und seine Nachkommen bewohnen, rücksichtslos verschmutzt, vergiftet und zerstört. Der Mensch verhält sich der Natur und anderen Lebewesen auf dem Planeten gegenüber absolut ignorant und stellt wirtschaftliche Interessen über den langfristigen Erhalt der Ökosysteme. Dies geschieht zum Beispiel durch das Festhalten an ineffizienten, klimaschädlichen Energiequellen wie Kohle, Erdöl oder Atomkraft, durch die systematische Abholzung von Wäldern, der Vergiftung von Gewässern, durch die Auswüchse der Agrarindustrie in der Massentierhaltung und Gentechnik oder der Überfischung der Meere.
„Aber das war doch schon immer so!“
Das ist ein gern genutztes Argument, aber das macht es dennoch nicht weniger falsch. Und das aus vielerlei Gründen, von denen zwei besonders zu nennen sind:
Noch nie war etwas „schon immer so“. Wenn wir uns die Geschichte der Menschheit anschauen, gab es schon viele verschiedene Gesellschaftsformen, von denen viele wohl von sich selbst behauptet haben „schon immer da gewesen“ zu sein und sich deshalb auch nie ändern könnten.
Doch wenn wir diese Gesellschaftsformen mit ihren Nachfolgern vergleichen, fällt uns auf, dass keine Gesellschaftsform so fest zementiert ist, dass sie ewig Bestand hat und niemals verändert werden kann. So waren Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind, für die meisten Menschen vor 150 Jahren vollkommen undenkbar: z. B. die Sozialversorgung, das Mehrparteiensystem mit seiner parlamentarischen Demokratie, die Abschaffung der Monarchie etc. Und wenn wir von dieser Gesellschaft noch einmal 150 Jahre zurückgehen, dann wäre es für die damaligen Menschen unvorstellbar, in einer Gesellschaft zu leben, in der Gott nicht den Mittelpunkt der Welt darstellt.
Das zeigt, dass jede Gesellschaft sich ändern kann und wird. Meist waren es anfangs belächelte Ideen, die nach und nach immer mehr Menschen begeisterten oder bewegten, dass sie schließlich auch von Seiten des Staates oder der Kirche nicht mehr ignoriert oder bekämpft werden konnten und schließlich erlaubt oder anerkannt werden mussten. Dass dies nicht immer zwangsläufig fortschrittliche Formen annehmen muss, zeigen genügend Beispiele, wie z. B. die Machtübernahme durch Adolf Hitler und die NSDAP.
Im Gegenzug gibt es genügend andere Beispiele, die leider weit weniger bekannt sind, aber trotzdem ganzen Gesellschaften mehr Freiheit brachten. Beispielsweise existierten in Spanien 1936[3], in der Ukraine 1920[4] aber auch in Deutschland 1923 große Gebiete, in denen zumindest eine Zeit lang „anarchistisch“ gelebt wurde, d. h. ohne Regierung und Autorität von oben, aber in gegenseitiger, gleichberechtigter Zusammenarbeit.
„Aber wie wollt ihr dann leben?“
Wir haben keinen fertigen Plan oder ein abgeschlossenes Konzept für eine vollkommen neue und andere Gesellschaft. Das wollen wir auch gar nicht, denn wir denken, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann und soll, wie, wo und mit wem er oder sie gerne leben möchte.
Dies bedeutet jedoch nicht, das wir uns diese Gesellschaft als gesetzlosen Fleck vorstellen, in dem jeder Mensch tun und lassen kann, was er oder sie möchte, ganz ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Wir haben gewisse Ansprüche an die Gesellschaft, die wir uns wünschen, und einige Ideen, wie diese zu organisieren und zu gestalten sein könnte: der freiwillige Zusammenschluss von selbstbestimmten Individuen.
Das klingt zunächst kompliziert, meint aber nichts anderes als eine Gesellschaft von Menschen, die sich miteinander verbinden/organisieren können, wie sie es für richtig oder nötig erachten. Diese Gesellschaft ist nur möglich, wenn die Freiheit und die Selbstbestimmung des Einzelnen nicht durch andere eingeschränkt wird.
Oder ganz einfach gesagt: Ich kann tun, was ich will, solange ich damit niemand anderem schade oder ihn oder sie in irgendeiner Art einschränke.
„Aber ohne Regierung bricht doch alles zusammen!“
Natürlich reicht eine solche Vorstellung allein nicht aus. In der heutigen Gesellschaft ist nicht alles schlecht, und die Vorzüge, die es zweifellos gibt, sollen mit der Gesellschaft, die wir uns vorstellen, nicht verschwinden. Wir finden es praktisch, dass wir unser Essen nicht erst selbst anbauen und ernten müssen, um satt zu werden, dass es Medikamente und medizinische Versorgung gibt, und dass wir schnell und weit reisen können, ohne monatelang mit Pferden oder Schiffen unterwegs zu sein.
Aber solange diese Errungenschaften in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft genutzt werden, sind sie nun mal auf diese ausgelegt. Also darauf, Gewinn zu erwirtschaften und davon möglichst immer mehr. Das bedeutet, dass Faktoren wie Nützlichkeit, Umweltfreundlichkeit oder eine bedarfsorientierte Produktion gegenüber dem Interesse an Gewinn in den Hintergrund treten. Menschen, die nichts zum Profit der Hersteller*innen und Verkäufer*innen beitragen können (also kein Geld haben, um sich solche Produkte zu leisten), sind von vornherein davon ausgeschlossen.
Wir wünschen uns nicht, Dienstleistungen und die Produktion von Gütern abzuschaffen, sondern sie sinnvoll und an den Bedürfnissen orientiert einzusetzen und allen Menschen bedingungslos zugänglich zu machen.
Deshalb wird es auch in der Gesellschaft, die wir uns wünschen, notwendig sein, sich zu organisieren, um Bedürfnisse zu klären und Abläufe zu planen. Es sollen natürlich weiterhin Nahrungsmittel produziert, Waren hergestellt, Züge und Straßenbahnen betrieben werden oder Krankenhäuser und Arztpraxen geöffnet haben.
Aber wir sind der Überzeugung, dass wir dafür keine Regierung, Chef*innen oder Konzerne brauchen, die das „für uns“ machen und das meist auch mehr schlecht als recht. Wir wissen selbst, was wir wollen und was am Besten für uns ist, und das kann und soll auch niemand anderes für uns entscheiden.
„Aber so funktioniert doch gar nichts mehr, oder?“
Wie oben erwähnt, haben wir kein festes Konzept, wie die Organisation einer solchen Gesellschaft aussehen soll. Was wir sicher wissen ist, wie sie nicht aussehen soll und wie sie vielleicht aussehen kann.
Zum Beispiel finden wir die Idee gut, dass sich Menschen einfach mit anderen Menschen verbinden, die in irgendeiner Art eine Rolle in ihrem Leben spielen. Das können Mitschüler*innen, Arbeitskolleg*innen oder Freund*innen, aber auch Nachbar*innen oder Mitglieder im Sportverein sein. Diese Menschen besprechen gemeinsam die Dinge, die sie in diesem Zusammenhang betreffen und finden, sofern es nötig ist, eine Entscheidung, mit der alle Beteiligten leben können. Das nennt sich dann „basisdemokratisch“. Es ist eine Entscheidungsfindung, die alle Betroffenen gleichberechtigt mit in die Lösung einbezieht.
Das kann im kleinen Rahmen stattfinden, wenn sich beispielsweise alle Bewohner*innen eines Hauses regelmäßig zusammensetzen und Angelegenheiten besprechen, die das Haus betreffen. Sind von einer Angelegenheit gleich mehrere Häuser oder gar ein ganzes Viertel betroffen, bespricht zuerst jedes Haus für sich den Sachverhalt. Das Ergebnis wird dann durch Delegierte in z. B. eine Stadtteilversammlung getragen. Die Delegierten haben hierbei keine Entscheidungsmacht und feste Amtszeit, sondern sind Mittler*innen zwischen den verschiedenen Ebenen und können jederzeit abberufen werden. Durch den Einsatz von Delegierten kann die Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit zahlenmäßig großer Gruppen, Gemeinden oder Städten erhalten werden, ohne die Belange Einzelner zu ignorieren.
Dieses Prinzip lässt sich immer weiter denken, auch für Probleme oder Entscheidungen, die weltweit getroffen werden müssen: Das Internet kann dafür ein Werkzeug sein, um Zeit zu sparen. Aber es kann natürlich auch ganz anders kommen, das entscheiden am Ende die betroffenen Menschen ...
„Das klingt aber ziemlich anstrengend und zeitaufwendig!“
Natürlich klingt das zunächst anstrengend. Zumindest anstrengender, als politische Fragen einfach jemand anderem zu überlassen oder vom*von der Chef*in diktiert zu bekommen, wie mensch seine Arbeit richtig macht. Aber wir denken, dass sich der Aufwand lohnt. Schließlich können wir uns dadurch aktiv in Prozesse einbringen, können Dinge, die uns stören, konkret angehen und sehen, dass die eigene Meinung respektiert und berücksichtigt wird. Ein Leben, in dem wir nicht ständig genervt sind, weil irgendwelche Dinge an unseren Bedürfnissen vorbei entschieden werden, ist unserer Meinung nach den Mehraufwand wert.
„Aber ich hab doch dafür keine Zeit.“
Kaum jemand hat heute noch Zeit. Warum ist das so? Schule, Ausbildung, Universität, Lohnarbeit, Jobsuche: Die meiste Zeit verbringen Menschen in ihrem Leben mit der Vorbereitung auf Arbeit, der Suche nach Arbeit und der Arbeit an sich. Seit einigen Jahren steigt die Arbeitszeit des Einzelnen wieder enorm, während gleichzeitig der Lohn immer weiter sinkt - und das während immer mehr Menschen entweder arbeitslos sind oder in Arbeitsmaßnahmen, Minijobs oder Zeitarbeit für einen Hungerlohn schuften.
Viele Arbeitsfelder würden durch die Überwindung des Kapitalismus wegfallen. Die komplette staatliche Verwaltung, GEMA, GEZ, die Werbeindustrie, das komplette Finanzwesen, das Militär und vieles mehr. All diese freigewordene Zeit und Energie könnten wir sinnvoll nutzen.
Wir sind der Ansicht, dass das Leben zu kurz ist, um es vollständig auf Lohnarbeit auszurichten. Wir haben keine Lust mehr darauf, dass wir nur unseren Vorlieben und Hobbys nachgehen können, wenn „wir etwas dafür getan“ haben, ganz nach dem Motto: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“.
Wir verstehen nicht, wieso unser Leben daraus bestehen soll, mit immer mehr Leuten, um immer weniger Arbeitsplätze zu konkurrieren, wenn wir doch alle gemeinsam die Arbeit, die getan werden muss, erledigen könnten. Gleichzeitig denken wir, dass vieles an Arbeit sowieso wegfallen würde, wenn Arbeit nicht mehr darauf ausgerichtet wäre, Gewinn zu erzielen.
Wir sind der Überzeugung, dass Arbeit dazu da sein sollte, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Sie soll dafür sorgen, dass wir satt und zufrieden in einem warmen, gemütlichen Bett einschlafen können und mehr nicht. Wir wollen arbeiten, um zu leben und nicht leben, um zu arbeiten.
„Also wollt ihr den ganzen Tag nur faulenzen?“
Wer würde das nicht gerne tun? Oder zumindest die Möglichkeit dazu besitzen?
Dennoch denken wir nicht, dass in einer Gesellschaft, die nicht mehr auf Arbeit, Geld und Macht ausgerichtet ist, alle Menschen nur noch herumliegen und nichts tun. Wie oft hast du dir schon gewünscht, Dinge zu tun, für die du entweder keine Zeit oder kein Geld hattest? Wie viele Orte wolltest du schon besuchen, wie oft wolltest du mehr Zeit mit Freund*innen verbringen, wie viele Bücher wolltest du schon lesen, wie viele Filme anschauen? Was, wenn es das alles nicht nur umsonst geben würde, sondern du auch plötzlich über deine Zeit selbst bestimmen könntest?
Wie viele soziale Kontakte sind eingeschlafen, wie viel Vereinsamung und Anonymität ist entstanden durch die Gleichsetzung von Arbeit und Lebenssinn und den damit einhergehenden, ständigen Konkurrenzdruck mit allen und jedem. Sei es in der Schule oder Uni um die besten Noten und somit die besten Berufsmöglichkeiten, im Berufsleben im Kampf um die besten Jobs, aber auch im Kampf um die besten und billigsten Wohnungen?
„Also geht es euch nur um weniger Arbeiten?
Nein. Wir sind der Überzeugung, dass Lohnarbeit und der Kapitalismus zentrale und wichtige Themen sind, denn sie hindern uns an dem Leben, das wir uns vorstellen. Doch haben sich durch und neben dem Kapitalismus viele weitere Arten von Ungerechtigkeiten etabliert, mit denen wir uns eine befreite Gesellschaft auch nicht vorstellen können und wollen.
Dazu gehören, z. B. alle Arten von Hierarchien und Unterdrückung, also etwa Rassismus[5], Sexismus[6], Antisemitismus[7], Homophobie[8] etc. Denn wir wollen ein schönes Leben mit allen Menschen, egal welcher Hautfarbe, welcher sexuellen Orientierung oder welchen Geschlechts. Jeder Mensch soll unabhängig von diesen Attributen ein sorgenfreies Leben führen und sich an den Orten austoben können, wo und wie er oder sie das möchte.
„Also seid ihr selbstlose Samariter?“
Natürlich nicht. Denn von einem Leben, so wie wir es uns wünschen und fordern, profitieren wir natürlich auch selbst. Dennoch sind wir der Überzeugung, dass ein Leben, in dem wir uns selbstbestimmt entfalten können, nur funktioniert, wenn alle Menschen dieses Leben führen können. Denn wenn – und da wären wir wieder beim heutigen System – dies nur wenige können, entsteht Konkurrenz, weil natürlich jede*r eine*r der wenigen sein möchte. Und die meisten bleiben auf der Strecke...
„Warum nennt euch dann jede*r Chaoten? Ihr seid doch gar nicht so schlimm.“
Jedes System, auf das eine Gesellschaft aufbaut, versucht natürlich sich selbst zu erhalten und sich als alternativlos, endgültig darzustellen. Das liegt im Interesse der Menschen und Strukturen, die direkt von diesem System profitieren. Im Kapitalismus und dem politischen System, das diesen stützt, sind es zunächst natürlich Wirtschaft und Politik, die sich nur durch diesen erhalten und mit dem Ende des Kapitalismus auch ihre eigene wirtschaftliche und/oder politische Macht einbüßen müssten.
Dazu kommt die Akzeptanz derer, die eigentlich auch unter die Räder des Kapitalismus geraten sind oder es mehr schlecht als recht schaffen, sich über Wasser zu halten. Durch den wachsenden Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, die permanente Kürzung von Sozialleistungen usw. wurde ein umfassender Existenzkampf geschaffen, der den Blick des/der Einzelnen nur noch auf das eigene Wohlergehen, bzw. Überleben lenkt. Ideen, die auf eine solidarische und herrschaftsfreie Gesellschaft hinarbeiten, werden nicht ernst genommen. Konkreter Widerstand gegen das bestehende System wird von den meisten Menschen als chancenlos abgetan, u. a. weil wir ständig damit beschäftigt sind, selbst über die Runden zu kommen.
„Euch finde ich gut, wo kann ich beitreten?
Anarchismus ist keine Partei und will auch keine sein. Es gibt Gruppen, die sich selbst explizit „anarchistisch“ nennen und versuchen, die Idee des Anarchismus zu verbreiten, sich in Konflikte mit ihrer Sicht der Dinge einzumischen und eigene Projekte, die auf anarchistischen Prinzipien beruhen, zu starten. Es gibt aber auch unzählige andere Menschen, die Dinge sagen oder tun, die wir als anarchistisch bezeichnen würden, sie selbst aber nicht.
Es geht nicht darum, sich selbst ein Label zu geben, sondern erst einmal darum, die Welt und vor allem die Ungerechtigkeiten zu hinterfragen, die jeden Tag aufs Neue geschehen. Es geht darum, sich selbst zu fragen, was jetzt konkret stört und dort anzusetzen. Wenn wir davon überzeugt sind, dass eine andere, eine bessere Welt möglich ist, dann sollten wir nicht darauf warten, dass sie irgendwann einmal kommt, sondern jetzt und heute dafür einstehen. Wir müssen uns nicht der kapitalistischen Logik beugen und wegen egoistischer Interessen die Interessen aller anderen Menschen ignorieren oder gar bekämpfen. Wenn wir, statt aufeinander loszugehen, uns solidarisch zeigen und uns mit anderen Menschen vernetzen, dann können wir die ganze Bäckerei fordern und müssen uns nicht nur um die übrig gebliebenen Krümel auf dem Tisch schlagen. Der ganze Kuchen ist für alle da.
[...][9]
[1] Das in diesem Text verwendete „*innen“(Gender Gap) soll die Funktion haben, dass nicht nur weiblich oder männlich sozialisierte Menschen beachtet werden, sondern auch Menschen, die sich selbst zwischen bzw. außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit verorten.
[2] Der Kapitalismus ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Privateigentum (an Produktionsmitteln), Konkurrenz, Ausbeutung und dem Zwang zur Profitmaximierung basiert. Er produziert auf der einen Seite einen Überfluss an Reichtum, auf der anderen Seite Elend, Hunger und Umweltzerstörung.
[3] Im Verlauf des spanischen Bürgerkrieges gegen den Franco-Putsch kam es in Spanien zu einer sozialen Revolution, die maßgeblich von Anarchist*innen (etwa der Gewerkschaft CNT mit damals 1,5-2 Millionen Mitgliedern) getragen wurde. Vor allem in Katalonien (samt Hauptstadt Barcelona) und Aragon, aber auch anderswo in Spanien wurden Fabriken und das Land vergesellschaftet und durch freie Räte verwaltet.
[4] Weite Teile der Ukraine (Bevölkerung ca. 7 Millionen Menschen) wurden durch eine nach dem Anarchisten Nestor Machno benannte anarchistisch-bäuerliche Partisanenarmee befreit und in selbstverwalteten Kommunen organisiert. Güter und Land wurden vergesellschaftet und unter der Bevölkerung aufgeteilt.
[5] Rassismus bezeichnet die Abwertung, Stereotypisierung und sonstige Diskriminierung von Menschen nach biologischen (Abstammung, Äußeres) und/oder kulturellen Gesichtspunkten (projizierte Zugehörigkeit zu einer Nationalität, Ethnie oder anderer bei den jeweiligen Rassist*innen verhassten, kulturellen Gruppe).
[6] Unter Sexismus verstehen wir einerseits jede Form von Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und andererseits Identitäts- und Verhaltensanforderungen an eine Person oder Gruppe von Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung.
[7] Der Antisemitismus ist eine antimoderne Weltanschauung, die in der Existenz der Jüd*innen die Ursache aller Probleme sieht und beschreibt alle (historischen) Formen der Judenfeindschaft. Die Geschichte des Antisemitismus reicht dabei über 2.800 Jahre zurück, wobei die krasseste Erscheinungsform die Shoa mit mehr als 6 Millionen industriell ermordeten Menschen jüdischen Glaubens darstellt.
[8] Homophobie beschreibt die ablehnende Haltung der Gesellschaft zur Homosexualität und bezeichnet eine soziale, gegen gleichgeschlechtlich empfindende Menschen gerichtete Feindseligkeit.
[9] Anmerkung von der @bibliothek: im letzten Paragraphen wird auf Links und Lesetipps am Ende der Broschüre verwiesen, nachdem wir diese nicht hinzufügen, haben wir auch den Paragraphen gekürzt.