Titel: Anarchismus und Kapazitismus/Ableismus
Untertitel: Zwei Kapitel aus: "La lucha contra el capacitismo"
Quelle: https://digitalresist.blogspot.com/2023/01/anarchismus-und-antikapazitismus.html

1. Wenn über „Behinderung“ geredet wird, ist es unvermeidlich über Kapazitismus zu reden. Das ist ein Begriff, der mehr und mehr in den sozialen Bewegungen auftaucht, aber in seiner eigentlichen Bedeutung nicht näher betrachtet wird. Kapazitismus ist das soziale, politische und wirtschaftliche System, welches „behinderte Menschen“ diskriminiert, weil sie „behindert“ sind. Es ist ein System, in dem Körper und Bewusstsein nach den Standards der Normalität, der Intelligenz und der Vortrefflichkeit (Auserlesenheit) bewertet werden. Dieser Werte werden vom Kapitalismus ( und dem Staat) festgelegt. So entsteht die Idee einer „perfekten Person“, perfekt in dem Sinne, dass sie eine maximale Verwertbarkeit für das System darstellt Unser Wert bemisst sich also an der Nützlichkeit für andere. Jede Person, die diese Verwertbarkeit nicht erfüllt oder erfüllen kann, wird diskriminiert und behindert, als „Person“ diskreditiert und verliert all ihre Rechte. Deshalb sagen wir, dass „Behinderung“ nur ein soziales Konstrukt ist, dass durch Diskriminierung und Behinderung nicht normativer Menschen entsteht. Eine Person wird nicht „behindert“ geboren, sondern durch seine Beziehung im gesellschaftlichen Kontext und wie dieser die „Behinderung“ definiert. Einige dieser Gewaltstrategien, die dabei verwendet werden, sind Sterilisation, Inhaftierung bis hin zum Mord. Diese Strategien entwickelten sich wie sich das kapitalistische System entwickelte. Entstanden aus der Notwendigkeit des Kapitalismus, die Idee eines „perfekten Körpers“ zu schaffen und zu fördern,dazu gedacht, einen maximalen wirtschaftlichen und sozialen Nutzen herauszupressen. In der Industrialisierung wurde der Körper vorrangig als Arbeitskraft gesehen. Die Wirksamkeit wurde durch medizinische Gesundheitsstandards definiert, einzig auf die Funktionalität des Körpers zur wirtschaftlichen Produktivität ausgerichtet..

Mit dem Konsumkapitalismus verwandelt sich die „Gesellschaft der Produzenten“ in die „Gesellschaft der Konsumenten“, wo Werbung, Image und ästhetische Ideale vorherrschen. Der soziale Erfolg verbindet sich mit dem physischen Erfolg und der soziale Aufstieg spiegelt sich darin wider, wieweit ihr Körper dem ästhetischen Ideal entspricht, sich dieser Norm anpasst. Die Tatsache, dass es sich zu einem Konsumkapitalismus entwickelt hat und damit sich die medizinische Gewalt verändert, impliziert nicht, dass die Ideen der Industrialisierung nicht mehr präsent sind, sondern sie koexistieren weiter. Die Medizin wird im Konsumkapitalismus für die Förderung der Gesundheit in Verbindung mit der ästhetischen Sphäre zuständig sein: jeder Körper, der der entsprechenden Vorstellung von Konsumschönheit ähnelt, wird als gesund angesehen. Dies führt dazu, dass die Medizin den Körper normalisiert, um sowohl Gesundheit als auch Schönheit zu erreichen und so das Ideal eines gesunden, schönen, gut aussehenden und schlanken Körpers schafft. Die Körper werden so reguliert, dass sie diesem Standard entsprechen und das Unberechtigte legitimieren. Diese Regulierung führt oft dazu, dass wir die Kontrolle über unseren Körper verlieren. „Behinderte“ Menschen wurden schon immer reguliert und für die Medizin rehabilitiert mit dem Hintergrund, ein Heilmittel zu finden, das uns der körperlichen Anerkennung nahe kommt. Pathologierung der Kapazität und Etablierung einer Logik von Unterwerfung und Hierarchisierung.


2. Der antikapazitistische Kampf und der Anarchismus sind insofern miteinander verbunden, weil sie bestimmte Aspekte in der gesellschaftlichen Analyse gemeinsam haben , wie z.B. die Abschaffung der Ausbeutung durch Arbeit oder der Kampf gegen die Ideologie der Normalität, aber das war, was letzteres betrifft, nicht immer der Fall Der Anarchismus war bis vor relativ kurzer Zeit kein sicherer Raum für Menschen mit „Behinderungen“ und ist es wohl in bestimmten Umgebungen weiterhin nicht, wo Aktivist*innen in ihrem Reden und Handeln weiterhin ableistische Ideen aufrechterhalten. In der spanischen Revolution von 1936 wurden Gefährten, die im Kampf verwundet wurden, nach Hause zu ihren Frauen geschickt, damit „diese sich um sie kümmern“, weil sie nutzlos waren und unfähig, irgendetwas zum Kampf beizutragen ( so kapazitistisch und machomässig diese Entscheidung auch war). Oder auch von Emma Goldmann selbst, die wir sehr schätzen und die für viele von uns eine Referenz ist, verteidigte die Verteilung und Verwendung von Verhütungsmitteln mit der Begründung, das „ wenn die Geburtenkontrolle nicht durch den Staat gefördert wird oder die Internierung von „Behinderten“ die Anzahl von Bedürftigen, Syphilitikern, Epileptiker, Krüppeln, Kranken zu einem Ärgernis ( eine „Behinderung“) für die Gesellschaft werden kann.“ Aber inzwischen sind durch neue Problemstellungen innerhalb desAnarchismus wirkliche Lösungen zum Kapazitismus gefunden und ist eine der Bewegungen, die sich am meisten mit dem Thema befassen. Die Zerstörung des Prinzips „Kapazitismus“ wird als klares und reales Ziel formuliert. Die anarchistische Bewegung erweist sich dafür kompatibel, weil sie, wie wir eingangs festgestellt haben, auf die Zerstörung der Lohnarbeit und des Staates zielt, beides die Hauptelemente, die uns „Krüppel“ unterdrücken. Der Staat ist ein Faktor der Unterdrückung, weil er derjenige ist, der bestimmt, wer diskriminiert wird und wer nicht, der diskriminierte Personen institutionalisiert, der entscheidet, wer Unterstützung erhält, und über Sonderschulen und Segregation

Die Medizin als Mittel zur Förderung der Eugenik durch das Ideal des gesunden und fitten Körper als den einzig gültigen Körper ermutigt Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen. Der Anarchismus wirft nicht nur die Frage des Kampfes gegen diese Art von staatlich geförderter Gewalt auf, sondern entwickelt auf der anderen Seite die Idee der Kollektivierung von Aufgaben, Pflege und Barrierefreiheit. Es existiert eine kollektive Verantwortung, die es ermöglicht, die Bedürfnisse aller zu erfüllen. Eine der vorgeschlagenen Lösungen sind die Unterstützer*innenkreise.Es handelt sich hier um ein Bündnis zwischen ( in der Regel zwei nicht „behinderte“ und ein „behinderter“ ) Menschen, die miteinander befreundet sind und für alle für die Barrierefreiheit, Zugänglichkeit sorgen, die die „behinderte“ Person braucht. Diese Idee basiert auf Horizontalität, bei der alle Personen aktive Komponenten der Beziehung sind, eine Beziehung auf Gegenseitigkeit, wo sich „behinderte“ als auch nicht behinderte Menschen gegenseitig unterstützen. Da unterscheidet sie sich von der Position de „persönlichen Assistenten“, wo die Beziehung immer einseitig ist. Der Aspekt, die Lohnarbeit abschaffen zu wollen, beeinflusst die Veränderung der Auffassung von Wert und Fähigkeiten, die den Menschen zugeschrieben werden. Durch die Abschaffung des Begriffs ,,Arbeit" wird nicht mehr jene Person als wertvoll angesehen, die den größten wirtschaftlichen Nutzen erbringt,sondern die Menschen werden als wertvoll und als Teil der Gesellschaft angesehen,einfach weil sie Menschen sind. Am wichtigsten ist, dass sie als politische Subjekte und nicht als bloße Beobachter der Realität gesehen werden. Die Abschaffung der Lohnarbeit wird dem Nützlichkeitsdenken ein Ende setzen.Die Menschen werden nicht mehr gezwungen, zu Nutzen zu sein, sie werden tun, was sie können und wollen, ohne Angst zu haben verurteilt zu werden und ohne Schuldgefühle sich selbst gegenüber. Einige der vorgeschlagenen Lösungen desAnarchismus, endlich dem Kapazitätsdenken ein Ende zu bereiten sind: - <i>Eine aktive Rolle für Menschen mit „Behinderungen“, denn das ist etwas, was versucht wurde, zum Schweigen zu bringen, durch Wegsperren und dem Auslöschen ihrer Geschichte. - Aufbau einer anarchistischen und kritischenVorstellung von „Behinderung“ und Neurodivergenz, die es uns ermöglicht, sie von allem Stigmata und Stereotypen zu befreien,die momentan vorherrsche. - EineAnalyse der Arbeit von Aktivist*innen und Erforschern der „Behindertenbewegung“ - Möglichkeiten schaffen für Vorträge, Konferenzen, Schriften und Aktionen. - Erstellt anarchistisches Material zusammen, wie z.B. eine radikale Pädagogik, die das Kapazitätsprinzip dekonstruiert. - Aufbau von Krisenhäusern, Selbstfürsorgegruppen, - Gegenseitige Hilfe als Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen - Legt Wert auf Ruhe und Siestas. Die Nickerchen sind insofern revolutionär, da sie uns ermöglichen,uns von all der Gewalt, die das System auf uns ausübt, zu erholen. - Die Dekonstruktion der nicht diskriminierten Menschen