Titel: Anarchie und praktischer Sozialismus
Datum: 15. Januar 1887 - 9. April 1887
Quelle: Aus: Die Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. 2. Jahrgang. London.
Bemerkungen: Erschienen in 7 Teilen: I: No. 6, 15. Januar 1887; II: No.7, 29. Januar 1887; III: No. 8, 12. Februar 1887; IV: No. 9, 2, 26. Februar 1887; V: No. 10, 12. März 1887; VI: No.11, 26. März 1887; VII: No.12, 9. April 1887.

      I.

      II.

      III.

      IV.

      V.

      VI.

      VII.

I.

So oft Anarchisten mit Sozialdemokraten in Discussion über die sozialen Probleme geraten, werfen sich die Letzteren gar mächtig als Vertreter des "wissenschaftlichen" Sozialismus in die Brust, um in der Kegel zu der Schlussfolgerung zu gelangen: die Anarchisten seien Utopisten, Schwärmer oder Fanatiker, mit einem Wort: "unpraktische" Leute. Es ist daher gewiss nicht uninteressant, wenn wir uns mit dieser Frage etwas eingehender beschäftigen. Wir werden dabei Gelegenheit haben, unsere beiderseitige Stellung in der Gegenwart wie für die nächste Zukunft etwas genauer zu präzisiren, als dies leider bisher der Fall war, denn eine grosse Anzahl — wenn nicht die meisten — der deutschredenden Sozialisten sind immer noch der irrthümlichen Meinung: Sozialdemokraten und Anarchisten wollen dasselbe und unterscheiden sich nur durch die Mittel und Wege, um zu demselben Ziele zu gelangen. Viele glauben sogar, der Unterschied sei in der Verschiedenartigkeit der individuellen Temperamente zu suchen, so dass die hitzigeren, ungeduldigeren leichter zur Gewaltanwendung neigen.

Wir betonen hierauf zum vornherein — wie wir dies schon unzählige Male gethan — dass die Gewaltanwendung dem Anarchismus durchaus nichts distinkt eigentümliches ist, ja mit dem anarchistischen Prinzip nichts zu thun hat. Die Geschichte der Alt- und Neuzeit beweist, dass noch alle Parteien die Gewalt angewendet, um ihre Ziele zu erreichen. Die Gewaltanwendung in dem grossen sozialen Befreiungskampfe ist, wie wir noch in der Folge zu zeigen Gelegenheit haben werden, einfach eine nothwendige logische Folge der sozialen Verhältnisse, oder besser, der aus den sozialen Verhältnissen gegebenen Stellungen beider Kampfesheere: der Herrschenden und Beherrschten selbst.

Allein, was diese irrtümlichen Meinungen über die Unterschiede zwischen Anarchisten und Sozialdemokraten (resp. Collectivisten, Communisten etc.) verursacht, sind zwei verschiedene Umstände: Erstens, strebt die grosse Masse der zum Klassenbewusstsein gelangten Arbeiter, geleitet von den allgemeinen, grossen Humanitätsgefühlen, nach der höchstmöglichsten Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, ohne viel zu fragen, wie und auf welche Weise sie dahin gelangt. Daraus erklärt sich, dass jede Partei, welche im Ernste oder auch nur zum Schein dieses Ziel auf ihre Fahne geschrieben, einerlei ob die Mittel und Wege gut oder schlecht sind, begeisterte Anhänger in der grossen Masse der Geknechteten findet. Zweitens, ist die Kritik des Bestehenden von beiden Schulen fast genau dieselbe. Nur in der Kritik des herrschenden Autoritätsprinzipes unterscheiden sich die Anarchisten wesentlich von den Sozialdemokraten. Da es die herrschende Klasse seit undenklichen Zeiten und mit ausserordentlichem Geschick verstanden hat, jede Selbstständigkeit im Denken und Handeln der grossen Masse der Völker zu brechen und dadurch die Gewohnheit des Gehorchens gewissermassen zur zweiten Natur wurde, ist der Glaube an die Nothwendigkeit irgend einer Autoritär so fest gewurzelt, dass die meisten Menschen tatsächlich glauben: die Menschheit würde in einen Zustand wilder Barbarei versinken, wenn nicht "Etwas" existirt, was da "regelt" und "ordnet."

Wir haben bereits in früherer Nummer die Grundlosigkeit solcher Befürchtungen in allgemeinen Zügen nachgewiesen; wir werden aber nun im Laufe dieser Artikel-Serie an der Hand von Tatsachen und allgemein verständlichen Beispielen noch weiter den Beweis liefern, dass die Lösung des sozialen Problems, die soziale Harmonie und Gerechtigkeit nur auf der Grundlage vollständiger Autoritätslosigkeit möglich und die Anarchie die einfachst logische Gesellschaftsform ist, welche all die völkerbewegenden Freiheitsideen in sich verkörpert.

* * *

Wir haben bereits erwähnt, dass die Kritik der bestehenden Gesellschaft fast dieselbe ist, welche Sozialdemokraten oder Anarchisten machen. Sie ist ganz dieselbe in dem wirthschaftlichen Theile. Beide haben Xmale zur Evidenz nachgewiesen, dass die bestehenden Eigenthumsverhältnisse das Produkt von Raub, Betrug und Vergewaltigung seien; dass die bestehende Eigenthumsform fatalerweise die Anhäufung aller Reichthümer in wenige Hände und die Verarmung der grossen Masse des Volkes zur Folge haben müsse; dass durch die natürliche Entwickelung der Produktionstechnik immer grössere Massen des Volkes einfach dem Hungertode preisgegeben und der andere Theil zur kümmerlichsten Existenz verurtheilt ist; dass unter diesen furchtbaren Gesetzen die gesammte arbeitende Klasse physisch, geistig und moralisch verkommen und so zu willenlosen Opfern einer privilegirten Ausbeuterklasse sinken muss; kurz, Beide sind darüber einig, dass, solange das Privateigenthum nicht aufgehoben wird, Freiheit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft unmöglich sind. Man sollte nun denken, dass sie da auch in der Consequenz einig sein müssen: Alles aufzubieten, die Beseitigung des Privateigenthums so rasch und so gründlich als möglich herbeizuführen! — Allein, ihre Meinungen theilen sich schon bei dem nächstliegendsten Punkte. Während die Anarchisten — gestützt auf die Geschichte — den Staat als das nothwendige und logische Produkt der Institution des Privateigenthums, als eine Organisation zum Schutze der Klassenprivilegien betrachten, ist der Staat in den Augen der Sozialdemokraten eine Organisation "zum Schutze des Schwachen gegen den Starken, zum Wohle der Gesammtheit, welcher nur durch die privilegirten Klassen zum Schaden der Völker gehandhabt wird.“

Wir Anarchisten suchen das Privateigenthum mit dem Staat zu stürzen, weil Beide unzertrennlich mit einander verwachsen, die Existenz des Einen diejenige des Andern bedingt; während die Sozialdemokraten das Privateigentum durch den Staat vernichten wollen, mithin die Existenz des Staates verteidigen. Dadurch stehen sich Anarchisten und Sozialdemokraten diametral gegenüber.

Wenn auch dieser Standpunkt der Sozialdemokraten zum Staat noch niemals ernstlich hat behauptet werden können — weil mit den Thatsachen der Geschichte, also der "Wissenschaft" im Widerspruch — wird derselbe doch mit merkwürdiger Hartnäckigkeit als "praktisch" verteidigt. Wir brauchen uns wohl nicht länger darüber theoretisch aufzuhalten. Die Geschichte ist da, um zu entscheiden.

Die gesammte sozialistische Kritik des bestehenden Gesellschaftssystems gipfelt in dem ehernen ökonomischen Lohngesetz, dessen Wirkungen nur mit der Ursache, dem Privateigentum, beseitigt werden können. Daher gibt es auch keine Reformen, welche die Wirkungen beseitigen oder auch nur zu lindern vermögen. Der ganze Staatsapparat mit allen seinen Hebeln und Gesetzen vermag auch nicht ein Jota daran zu ändern. Weshalb die Anarchisten niemals Reformen verlangen. Im Gegenteil perhorisziren sie dieselben, weil jede Reformbewegung die Massen mit neuer Hoffnung auf Besserung innerhalb der bestehenden Gesellschaft erfüllt, und die Thatkraft für die Vernichtung dieser Gesellschaft lähmt.

Die "praktischen" Sozialdemokraten, welche gleichfalls das "eherne ökonomische Lohngesetz" anerkennen, haben seid fast 20 Jahren ihre ganze Kraft auf Reformen verwendet und — die Lehren der "unpraktischen" Anarchisten haben sich vollständig als richtig erwiesen. Trotz zwanzigjähriger Reformkämpfe ist die Lage der arbeitenden Klassen schlechter und schlechter geworden.

II.

“Normalarbeitstag, Abschaffung der Zuchthaus- und Gefängnissarbeit, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, Haftpflichtgesetze u.s.w.,” das sind die “praktischen” Mittel, durch welche die materielle Lage der Arbeiterklasse innerhalb der bestehenden Gesellschaft verbessert werden soll.

Seit vielen Jahren stehen diese Forderungen im Vordergründe der Programme aller sogenannten “vorgeschrittenen” Parteien aller Länder. Alle gesetzgebenden Körperschaften haben sich Jahre lang damit beschäftigt, ohne auch nur das Geringste an der Lage der Arbeiter zu ändern. In Ländern, welche kein allgemeines Wahlrecht etc. haben, wird die Schuld auf die politische Unfreiheit geschoben, ohne zu berücksichtigen, dass in Ländern der politischen Freiheit, wie die Schweiz, Amerika und auch Frankreich die Arbeiter mit derselben Noth, demselben Elend zu kämpfen haben. Da wie dort sind Hunderttausende arbeitslos, während andere Hunderttausende kaum das Nothwendigste zur Erhaltung ihrer miserablen Existenz verdienen. Da wie dort werden Frauen und Kinder bis auf’s Knochenmark ausgebeutet. Betrachten wir England, wo die Sonntagsruhe fast bis zum Blödsinn getrieben wird, wo Zucht- und Armenhäusler der Industrie beinahe gar keine Concurrenz machen, wo Gesetze zum Schutze der Frauen und Kinder existiren, und ob durch alle diese Massregeln der kapitalistischen Ausbeutung auch nur das geringste Hinderniss gemacht worden. — Im Gegentheil ist allgemein bekannt, dass sich gerade in England die grosskapitalistische Ausbeutung am furchtbarsten entwickelt hat, wie ja die immer häufiger auftauchenden Hungerrevolten zur Genüge bestätigen.

Allein, alle diese Thatsachen vermögen nicht, die Vertreter des “wissenschaftlichen” Sozialismus abzuhalten, den Arbeitern die Wunderwirkungen ihrer “praktischen” Forderungen plausibel zu machen. Man scheut sich sogar nicht, die Anarchisten, welche gegen solchen Reformschwindel Front machen, als die Aliirten, als Agenten der Reaktion zu bezeichnen.

Die Ursachen der Fruchtlosigkeit aller dieser wirtschaftlichen Reformisterei lassen sich in Kürze wie folgt zusammenfassen:

Die ungeheueren Fortschritte, welche auf allen Gebieten der Produktionstechnik gemacht werden, haben einerseits die Tendenz: die menschliche Arbeitskraft überflüssig zu machen, anderseits, die gesellschaftliche Arbeit mehr und mehr zu coalisiren. Da diese Coalation der gesellschaftlichen Arbeit, unter dem bestehenden System des Privateigenthums nur den Grosscapitalisten möglich ist, werden alle die Fortschritte nur für diese ein Segen, der Arbeiterklasse zum Fluch. Der Nationalreichthum, d.h. die produzirten Güter, welche im Besitze der Kapitalistenklasse bleiben, wachst in allen Ländern in’s Riesige, während auf der andern Seite das Elend der Arbeiterklasse in demselben Verhältniss steigt. Während sich die Productionskraft durch die Entwickelung der Technik fort und fort steigert, sinkt die Consumptionskraft der Völker — durch die entwickelte Technik überflüssig gemachte Arbeitskraft — im gleichen Grade. Der Weltmarkt ist mit Produkten aller Art überfüllt. Es entsteht ein toller Kampf unter den Kapitalisten selbst und zwar auf Kosten der Arbeiter. Es gilt, die höchste Billigkeit zu erzielen, und das geschieht auf zweifache Art: 1. durch höchstmöglichste Ausnutzung der Produktionstechnik (Massenproduktion, Anwendung der besten und vollkommensten Maschinen und Werkzeuge, Arbeitsteilung etc.) um soviel als möglich menschliche Arbeitskraft zu ersparen; 2. durch die höchstmöglichste Ausbeutung der zur Produktion nöthigen menschlichen Arbeitskraft (geringe Löhne für höchstmöglichste Leistung, Frauen- und Kinderarbeit etc.). In diesen entsetzlichen Wettkämpfen der Kapitalisten ist es gerade der Staat, welcher die Hauptrolle spielt.

* * *

Der Staat, als Sammelpunkt aller Monopole, Privilegien und Vorrechte, hat seinem ganzen Wesen nach nur den Zweck, die Interessen der Bevorrechteten zu schützen. Diese Aufgabe erfüllt er nicht nur im Innern, sondern auch nach Aussen. Er hat in dem internationalen Concurrenzkampfe mit allen ihm zu Gebote stehenden Machtmitteln die Interessen seiner privilegirten Ausbeuterklasse, gegen diejenige anderer Staaten zu fördern und zu beschützen.

Daraus erklären sich die ewigen Zoll- und Handelskriege, die Concurrenz-Eroberungskriege in ferne Welttheile, um den respektiven Ausbeutern eines Staates alte Ausbeutungsgebiete zu sichern oder neue zu erobern. Endlich erklärt sich daraus die allgemeine Bereitwilligkeit der besitzenden Klasse aller Länder, dem Staate immer mehr Mittel zu seiner Machtentfaltung zu bewilligen, denn je mehr Machtmittel einem Staate zur Verfügung stehen, mit desto mehr Nachdruck vermag er die Interessen seiner “Schützlinge” zu vertreten. Die kleinlichen Scheinkämpfe, welche regelmässig überall bei den Budget-Debatten von den verschiedenen Bourgeoisparteien geführt werden, sind nichts als frivole Comödien, darauf berechnet, dem Volke Sand in die Augen zu streuen, um bei demselben den Glauben zu erhalten, es geschähe Alles in seinem Interesse; endlich dienen diese Kämpfe auch der Befriedigung persönlicher Interessen.

Jede Budget-Debatte endigt mit der Bewilligung alles Dessen, was verlangt wird, selbst wenn dabei eine am Ruder sich befindliche Partei durch ihre neidischen Widersacher gestürzt wird, erhält der Staat das Verweigerte auf diesem oder jenem Wege bewilligt.

Alles dieses vollzieht sich auf Kosten der Arbeiterklasse zu Gunsten der Ausbeuterklasse, aber im Namen aller Staatsangehörigen, unter der heuchlerischen Maske des Gesammtinteresses.

Von diesen selben Staaten verlangen nun die Vertreter des "wissenschaftlichen" Sozialismus, er solle internationale Massregeln zum Schutze der Arbeiterklasse einführen — ! Und diese Leute haben die — Stirne, solchen horrenden Unsinn den Arbeitern als “praktischen” Sozialismus zu preisen! — ! —

III.

Alle wirtschaftlichen Reformen zur Verbesserung der Lage des arbeitenden Volkes innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems bedingen eine vollständige Veränderung dieses Systemes selbst, sofern solche Reformen erfolgreich sein sollen.

Nehmen wir z.B. die Verkürzung der Arbeitszeit (Normalarbeitszeit) auf 8 Stunden — eine der Lieblingsforderungen aller Reformapostel — welche Wirkung dieselbe in der bestehenden Gesellschaft logischer weise haben muss.

Wie wir vor allen Dingen, in letzterer Zeit in den verschiedensten Ländern beobachten konnten, sträubt sich die grosse Mehrheit der Ausbeuter gegen die Einführung einer solchen Massregel. Alle Jenen, welche sich in dem allgemeinen Konkurrenzkämpfe nur durch möglichst lange Arbeitszeit über Wasser zu halten vermögen, werden für sich und ihren Industriezweig Ausnahmen verlangen und erhalten. Dass ein Arbeiter unter den gegenwärtigen Verhältnissen in 8 Stunden ebensoviel Arbeit leiste als in 10 oder 12 Stunden, ist mehr als zweifelhaft. Die stets wachsende Reservearmee beschäftigungsloser Arbeiter ermöglicht es den Ausbeutern, die beschäftigten Arbeiter auf das Höchste auszubeuten und sind sie nicht mehr leistungsfähig genug — ausgenützt — wieder durch frische zu ersetzen. Wo anderseits bei kürzerer Arbeitszeit die Arbeitsleistung intensiver wird, d.h. bei täglich längerer Ruhezeit, in 8 Stunden die gleiche Menge Arbeit zu leisten vermag als bei 10- oder 12-stündiger Arbeitszeit, ist der Vortheil doch offenbar mehr zu Gunsten der Ausbeuter als der Arbeiter. Aber angenommen, es würde durch die Einführung einer kürzeren Arbeitszeit in einem Lande oder Staate auf eine Zeitlang eine grössere Anzahl Arbeitskräfte Verwendung finden, so würden dadurch die Herstellungskosten der Produkte gesteigert und die Kapitalisten wären vor die Alternative gestellt, entweder diese Mehrkosten auf den Preis der Waaren zu schlagen, wodurch sie von ihren Konkurrenten anderer Länder aus dem Felde geschlagen würden, oder sie müssen sich entschliessen, sich mit einem verhältnissmässig schmäleren “Kapital-Profit” zu begnügen. In beiden Fällen hiesse dies für die Kapitalisten ihre Ausbeuternatur verläugnen und gehört somit schon zum Vornhinein zu den Unmöglichkeiten. Solange es in einer Gesellschaft Kapitalisten gibt, bleiben diese auch Ausbeuter.

Das wirtschaftliche Leben der modernen Gesellschaft ist eben in seinem ganzen Wesen international geworden; eine nationale Absonderung ist absurd, unmöglich. Es bliebe nur noch die Frage einer internationalen Regelung der Arbeitszeit offen. Wir haben bereits in einer vorhergehenden Nummer[1] darauf hingewiesen, dass der Staat als nationaler Gesammtausdruck der Ausbeuterklasse wohl die Interessen der Ausbeuter schützt und befördert, dieselben auch durch internationale Verträge regelt, niemals aber die Interessen der Arbeiterklasse, weil dies gegen sein Wesen und seine Tendenz selbst wäre.

Allein, nehmen wir an, eine solche internationale Massregel käme wirklich zu Stande, was würden die Arbeiter dabei gewinnen? — Nichts! — Würde dadurch die materielle Lage der Arbeiter gebessert werden? — Würden die Arbeiter dadurch weniger Lohnsklaven der Ausbeuterklasse werden? — Nein! Und wir werden sofort sehen warum nicht. Die soziale Frage dreht sich bekanntlich nicht um den Mangel an sozialen Gütern; dieselben sind im Ueberfluss vorhanden und werden in Ueberfluss erzeugt, sondern die soziale Frage dreht sich um die ungerechte Vertheilung dieser Güter. Wo und soviel also die Arbeiterklassse gewinnt, dort muss die Ausbeuterklasse ebensoviel verlieren. Die vermehrten Erzeugungskosten der Waaren, durch eine nothwendig gewordene Vermehrung menschlicher Arbeitskraft zu ihrer Herstellung, werden der Ausbeuterklasse nur ein Sporn sein, diesen Ausfall ihres Profites durch eine raschere Vervollkommnung der Productionstechnik zu ersetzen. Sehen wir uns doch ein bischen näher in unserem wirtschaftlichen Leben um. Da sehen wir, dass eine Masse Dinge heute anstatt in Fabriken mit Maschinen, mit der Hand gemacht werden; nicht weil es hierzu an Maschinen fehlt, sondern weil die Arbeitskräfte für die Handarbeit in der “Hausindustrie” so billig sind, dass mit Maschinen nicht billiger gearbeitet würde. Wir verweisen nur auf die Textilindustrie in Sachsen, Schlesien, der Schweiz, Belgien und selbst in England.[2] Kurz, noch bevor eine internationale Massregel zur Beschränkung der Arbeitszeit und der damit verbundenen theilweisen Erhöhung der durchschnittlichen Lohnrate durchgeführt würde, wäre die menschliche Arbeitskraft durch Anwendung vollkommenerer Produktionstechnik im gleichen Verhältniss ersetzt. Endlich sind Staat und organisirte Ausbeuterklasse, wie wir in unseren ferneren Betrachtungen noch zeigen werden, so identisch, dass Alles, was dieser Klasse im Produktionsprozess am Raub der Arbeitsfrüchte entgeht, durch den Staatsausbeutungsapparat (mittelst Steuern etc.) doppelt und zehnfach wieder zufliesst.

Und so wie mit dem “Normalarbeitstag” ist es mit allen sogenannten wirtschaftlichen “Reformen.” Wir wollen hiermit noch in Kürze eine andere nicht minder als “wichtig” bezeichnete wirtschaftliche Reform des "praktischen" Reformsozialismus: die Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, beleuchten. Eine Frage, welche nicht nur von Arbeitern und Sozialisten, sondern auch von allen Sorten unserer Bourgeois-Philanthropen täglich breitgetreten wird.

Unstreitig ist die Ausbeutung der Frauen und Kinder eine der barbarischsten und unsittlichsten Pestbeulen, welche die heutige Gesellschaft auszeichnet. Allein, man vergisst in der Regel, dass dieselbe eine nothwendige Folge der modernen privatkapitalistischen Productionsweise ist. Sie ist von derselben so unzertrennlich, wie die Ausbeutung des Besitzlosen durch den Besitzenden selbst. In der wirthschaftlichen Arena ist die einzige Waffe der Kapitalisten untereinander: die Billigkeit. Mit der technischen Entwickelung werden die noch nothwendigen, menschlichen Arbeitsleistungen immer einfacher und leichter, so dass dieselben weder besondere geistige noch physische Anstrengungen erfordern und von Frauen und Kindern besorgt werden können. Diese werden verwendet, weil ihre Arbeitskraft billiger ist. Wie bei der Beschränkung der Arbeitszeit vermag auch kein einzelner Staat, selbst wenn er wollte, die Frauen- und Kinderarbeit aufzuheben, weil er sich nicht zu isoliren vermag und auf dem Weltmarkt durch die internationale Konkurrenz erdrückt würde. Eine internationale Massregel zur Beschränkung resp. Aufhebung der Frauen- und Kinderarbeit gibt die kapitalistische Ausbeuterklasse aus den bereits angeführten Gründen aber ebensowenig oder noch weniger zu, als die der Arbeitszeit. Sie müsste da wie dort auf einen Theil ihrer Raubbeute verzichten und das thut sie niemals gutwillig.

Wir haben jedoch diese Fragen noch von anderen Gesichtspunkten aus zu betrachten. Die Frauenarbeit in der Produktion kann von einem Sozialisten niemals ernsthaft verurtheilt werden. Denn soll die Frau sozial mit dem Manne gleichberechtigt sein, darf sie auch nicht ökonomisch von ihm abhängen; sie muss also an der Produktion der gesellschaftlichen Güter theilnehmen können. Die Ausbeutung der Frauenarbeit ist nun aber nicht unsittlicher als die des Mannes und um die Ausbeutung allein handelt es sich bei der Arbeiterklasse in ihrem sozialen Emanzipationskampfe. Solange die Arbeiter den Zielpunkt ihres Kampfes nicht einzig und allein in der gründlichen Vernichtung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überhaupt suchen, sind auch alle Anstrengungen, die Ausbeutung der Kinder zu beschränken, vergebliche.

Betrachten wir England, wo die “Fabriksakte" zum Schutze der Frauen und Kinder für die Kapitalisten kaum noch existiren, und alle Proteste und Reklamationen der Arbeiter fruchtlos sind. Fruchtlos, weil das arbeitende Volk bei dem herrschenden Elend keine moralischen Machtmittel besitzt, die Kapitalisten zur Befolgung dieser, ganz gewiss sehr bescheidenen Beschränkungen der Kinder- und Frauenausbeutung in den Fabrikakten zu zwingen. In der That fühlen sich die meisten Eltern glücklich, wenn ihre Kinder Arbeit finden, um zur Erhaltung ihrer und der Familie Existenz etwas beizutragen. Und das ist überall der Fall.

Welchen Propagandawerth kann unter solchen Umständen eine solche Forderung haben?

Kurz, wir sehen, dass alle wirthschaftlichen Reformbestrebungen innerhalb der bestehenden Gesellschaft nutzlos und erfolglos sind.

* * *

Das hier Gesagte ist nichts als die logische Consequenz der sozialistischen Kritik des bestehenden Wirthschaftssystemes, wie sie unzählige Male bereits von allen Sozialisten gemacht worden. Wir haben nicht einmal etwas Neues gesagt. Und dennoch predigen Sozialisten, welche ebenso wie wir von den Gesetzen dieses Systemes überzeugt sind, den Arbeitern fort und fort diese “Reformen” als "praktischen” Sozialismus. Man wendet uns ein: “Man dürfe die Menschen nicht vor den Kopf stossen, durch solche Forderungen sei die Masse leichter zu gewinnen.” Und seit zwanzig Jahren wird dieser Refrain ewig wiederholt. Ein Beweis wie lügenhaft derselbe ist. Warum ist die Masse in diesen zwanzig Jahren noch nicht für diese Reformen gewonnen? — Weil die Masse aus Erfahrung weiss, dass trotz aller Reformen ihre Lage schlechter und schlechter geworden, und weil sie dadurch instinktiv zu dem Bewusstsein gekommen ist, dass das herrschende Elend nur durch eine energische Radikalkur beseitigt werden kann! Darum ist die Begeisterung der Massen überall für die revolutionärsten Redner und Schreiber am grössten, weil sie die Gefühle der Massen aussprechen.

Doch man wendet uns auch ein: dass die wirthschaftlichen Reformen darum erfolglos sind, weil das Volk noch zu wenig politische Macht besitzt, und deshalb sei es nöthig, sich zuerst die zur Durchführung wirthschaftlicher Reformen nöthige politische Macht zu erringen.

Wir werden daher in einem nächsten Artikel auch diese Forderungen der “praktischen” Sozialisten beleuchten.

IV.

Wie wir in unseren vorhergehenden Artikeln[3] gezeigt, ist die geringste wirtschaftliche Reform zu Gunsten der Arbeiter innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystemes ohne eine totale Veränderung des Letzteren rein undenkbar. Die Interessen der Arbeiter stehen den Interessen der Kapitalisten diametral gegenüber. Die Kapitalistenklasse, im Besitze aller moralischen und physischen sozialen Machtmittel, gebraucht, dieselben zur Erhaltung und Befestigung dieses Systemes und alle Anstrengungen der Arbeiter, die Folgen desselben abzuschwächen, sind vergebens. Der wissenschaftliche Sozialismus hat dies auch längst nachgewiesen, weshalb dessen sein wollende Vertreter den Grundsatz aufgestellt haben: die Arbeiterklasse habe sich die politischen Machtmittel anzueignen, um ihre ökonomischen Forderungen verwirklichen zu können.

Bevor wir auf die einzelnen Forderungen dieser Art eingehen, wollen wir uns erst diesen Punkt etwas im Allgemeinen betrachten. Was ist politische Macht? Wie entstand dieselbe? Was ist ihr Wesen, ihr Zweck und ihre Ausdrucksform? Ist sie eine der Menschheit nützliche oder nothwendige soziale Einrichtung oder nicht?

Dieses Alles sind Fragen, welche sich der denkende Arbeiter zuerst stellt, bevor er sich für die Erkämpfung der politischen Macht begeistert. Und die Antwort darauf ist sicherlich nicht darnach, Begeisterung zu erwecken. Er betrachtet sich die Aeusserung der politischen Macht in allen ihren Formen und er findet nichts als Betrug, Vergewaltigung und Unterdrückung. Er sieht wie der Geist der Völker mittelst Schule und Kirche, Literatur und andere tausendfältige Mittel, durch Aberglauben und Vorurtheile verkrüppelt wird: wie mittelst Gesetze und eingesetzter Autoritäten, durch Kasernen, Richter und Büttel die Menschen von der Stunde ihrer Geburt bis zum Grabe zu willenlosen Sklaven gedrillt und gebüttelt werden; kurz, er sieht, wie der ganze politische Machtapparat, ob in einer absoluten Monarchie oder einer demokratischen Republik, in allen seinen Aeusserungen eine Vergewaltigung des Individuums wie der Menschheit überhaupt ist. Sein Ursprung war die Sucht einiger Wenigen, ihre Nebenmenschen zu unterdrücken und sein Wesen: die Herrschaft des Menschen über den Menschen; folglich sein Zweck diese Herrschaft zu erhalten. Politische Macht ist daher nur für Diejenigen nothwendig und nützlich, welche ihre Nebenmenschen beherrschen und unterdrücken. Denn die Mittel, die Fähigkeit eines Volkes, sich gegen äussere Feinde zu schützen, ist nicht durch seine politischen Machtinstitutionen bedingt. Denn, wie uns die Geschichte lehrt, war die politische Macht nur immer in den Händen der Feinde des Volkes, und wurde von denselben immer nur dazu benutzt, das eigene Volk wie fremde Völker zu knechten. Ein freies, ohne Herrschaft lebendes Volk, bildet durch seinen Solidaritätssinn schon an und für sich eine Macht, welche unsere modernen Kasernenstaaten wie Thau von den Strahlen der aufgehenden Junisonne verschwinden lassen.

Und Angesichts dieser Thatsachen fragen wir uns: Kämpft denn das Proletariat um die Herrschaft, will dasselbe gleich der Bourgeoisie eine andere neue Gesellschaftsklasse nach seinem Siege unterdrücken? — Nein, tausendmal nein! Das Proletariat kämpft um keine Herrschaft, es kämpft für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen!

"Ganz recht," wird man uns einwenden wollen, “aber das arbeitende Volk braucht die politische Macht zur Unterdrückung der herrschenden Tyrannei, der herrschenden Klasse!” Als wenn Belzebub durch Satan vernichtet werden könnte. Die politische Macht der herrschenden Klassen ist von der ökonomischen so unzertrennlich wie Seele und Leib, Kraft und Stoff in der Natur.

Je mehr die Arbeiterklasse von der besitzenden ökonomisch abhängig ist, desto ohnmächtiger steht sie derselben im politischen Kampfe gegenüber. Die erste Vorbedingung der politischen Unabhängigkeit ist die ökonomische Freiheit und diese ist nur möglich, wenn das ganze bestehende Gesellschaftssystem gestürzt wird.

* * *

Wir könnten dieses Kapitel mit dem oben Gesagten schliessen, wäre es dem politischen Gaunerthum nicht gelungen, durch eine Jahrzehnte dauernde Hirn Verkleisterung, jedes logische Denken in den Arbeitermassen systematisch zu ersticken. Wir sind darum wohl oder übel gezwungen, wenigstens auf die hauptsächlichsten der politischen Reformforderungen des sogenannten “praktischen” Sozialismus speziell einzugehen, um an der Hand der tagtäglichen Erfahrungen und thatsächlichen Verhältnisse deren Erbärmlichkeit zu illustriren.

Durch die Fülle der sozialen Ungerechtigkeiten treten als die markanntesten politischen Forderungen folgende hervor: Vollste Glaubens- und Gewissensfreiheit; Freiheit, des Gedankenaustausches in Wort und Schrift (Press- und Redefreiheit); Coalisations- und Versammlungsfreiheit; freier und unentgeldlicher Unterricht in allen Schulen; Abschaffung der stehenden Heere; Unentgeldlichkeit der Rechtspflege, mit vom Volke erwählten Richtern; Gesetzgebung durch das Volk, u.s.w. Da nun jeder einzelne dieser Punkte ein Machtfaktor der herrschenden Klassen zum Schutze und zur Befestigung ihrer Herrschaft bildet, ist es selbstverständlich, dass sie auch nicht die Geringste derselben freiwillig zu Gunsten des Volkes preisgibt, sondern im Gegentheil alles aufbietet, dieselben zu ihrem eigenen Vortheile zu erhalten und zu entwickeln, wie dies ja in der That überall geschieht. Um das Volk zu beschwichtigen, verkündet die herrschende Klasse feierlichst vollste Glaubens- und Gewissensfreiheit und zwingt die Kinder in der Schule immer mehr Stunden zum Religionsunterricht, dotirt die Pfaffen, schleppt die Bürger wegen Gotteslästerung und Religionsstörung in die Kerker, protegirt und unterstützt den Mucker und Betbruder, wenn er auch noch so ein grösser Schurke ist, und massregelt, schickt den Freidenker aus der Arbeit, um ihn dem Hungertode preiszugeben. Sie garantirt ebenso feierlich die freie Meinungsäusserung und verfolgt Jeden, der nicht ihrer Meinung ist, dass die bestehende Weltordnung göttlich sei. Sie erklärt die Wissenschaft frei und hungert den Gelehrten aus, der nicht die Göttlichkeit dieser Weltordnung besingt. Sie garantirt Versammlungs- und Coalationsrecht — für Mucker und Speichellecker und schiesst und knüppelt im Namen der “Ordnung” Alles nieder, was sich erlaubt, mit dem Bestehenden unzufrieden zu sein. Sie gibt auch unentgeldlichen Unterricht in den “Volksschulen," um die armen Kinderschädel mit Gottes-, Gesetzlichkeits- und Demuthsmist vollzupfropfen, und presst durch neue Steuern das Doppelte des Schulgeldes aus dem Volke heraus. Sie hält es auch mit der Volksbewaffnung, solange das Volk dumm genug ist, sich in ihrem Interesse todt oder zum Krüppel schiessen zu lassen. Sie ist sogar mit der Gesetzgebung durch das Volk einverstanden, nur sorgt sie dafür, dass sich das Volk selbst seine eigenen Ketten schmiedet. Kurz, die herrschende Klasse bewilligt alle politischen Forderungen, wenn es sein muss, solange sie im Stande ist, dieselben durch ihre ökonomische Macht zu ihren Gunsten auszubeuten.

Alle diese Forderungen haben also keinen Werth für das Volk, solange das Volk nicht die Macht hat, dieselben selbst, das ist: ohne die herrschende Klasse und ihren Staat, durchzuführen.

Die Vertreter des “praktischen" Sozialismus sagen uns, das sei Alles durch das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht zu allen Vertretungskörpern möglich und wir werden uns in unserer nächsten Nummer mit diesem Punkte etwas näher beschäftigen.

V.

Das allgemeine Wahlrecht ist nach dem letzten Wahlmanifest der hohen Priester des "praktischen” Sozialismus der “Ausdruck der Volkssouverainität...., die einzige Waffe, durch welche das Volk seine Forderungen zur Geltung bringen kann." Fragen wir jedoch: welche Forderungen das Volk durch das allgemeine Wahlrecht errungen hat? so bleibt man uns die Antwort auf diese Frage schuldig.

In Deutschland besteht dasselbe seit 20 Jahren und mit jeder Wahl feiert die Bourgeoisie — die Reaktion — neue Triumphe. In der Schweiz — der freien demokratischen Republik — wo alle Vertretungskörperschaften, vom Friedensrichter und Gemeindebüttel bis zum Bundespräsidenten, vom Volke gewählt werden; wo jedes Gesetz der Sanktion des Volkes bedarf, bevor dasselbe Rechtskraft besitzt; wo das Volk selbst Gesetze vorschlagen kann; feiert die Reaktion Orgien auf Orgien! Die freie demokratische Republik, in welcher die meisten der politischen Forderungen unserer “praktischen” Sozialisten längst verwirklicht sind, traktirt die um Verbesserung ihrer Lage kämpfenden Proletarier mit Säbel und Blei, mit Büttel und Kerker, wie im absolut despotischen Russland, oder constitutional despotischen Deutschland. Die schweizer Arbeiter keuchen und stöhnen unter dem Joche sozialer Knechtschaft, wie ihre Klassenbrüder anderer Länder. Das soziale Parasiten- und Blutsaugerthum zehrt ebenso unersättlich am Mark und Blut des Volkes, als in irgend einem monarchischen Staate.

Fragen wir, warum das Schweizervolk seine politischen Rechte noch nicht dazu benutzt hat, sich seiner Peiniger zu entledigen, warum es noch nicht gerechtere soziale Zustände geschaffen? so bleibt man uns ebenfalls die Antwort schuldig, oder sucht sich mit einigen sophistischen Phrasen um diese Fragen herumzudrücken. Denn die Antwort müsste sein: weil alle politischen Rechte für das Volk illusorisch sind, solange dasselbe wirtschaftlich rechtlos ist. Die politische Macht ist, wie wir bereits gezeigt, von der wirtschaftlichen unzertrennlich. Solange das Volk seine Rechte auf sogenanntem legalen Wege erreichen will, steht es den herrschenden Klassen ohnmächtig gegenüber. So oft es glaubt einen Sieg errungen zu haben, genügt die Erfahrung weniger Jahre, sich bitter enttäuscht zu sehen. Der scheinbare Sieg des Volkes wird zu einem Triumph seiner Tyrannen. Wo immer das Volk wirklich einen Sieg errang, wo es eine seiner Forderungen erreichte, wo das Volk seine Souveränität zeigte, war es mit den Waffen in der Hand, auf den Leichen seiner Feinde!

* * *

Das allgemeine Wahlrecht ist eine spezifisch der heuchlerischen Bourgeoisherrschaft entsprungene Einrichtung, das Volk leichter in der Knechtschaft zu erhalten. Es ist ein integrirender Theil des Repräsentativ-Regierungssystemes (gewählte Regierung) selbst. Zuvor kannten die Völker kein anderes Mittel sich von einem unerträglichen Joche zu befreien, als die Gewalt.

Die um die Herrschaft ringende Bourgeoisie des vorigen Jahrhunderts musste daher von Vornherein darauf bedacht sein, einmal ihr Ziel erreicht, den Volksmassen das wirklich “einzige” Mittel ihre Freiheit zu erringen — die Gewalt zu eskamotiren. Sie erfand das Repräsentativsystem. “Das Volk wählt sich seine Regierer, macht sich seine eigenen Gesetze, das Volk wurde 'souverain.’” Leider glaubte dies das Volk in seiner treuherzigen Naivität. “Die Stimme des Reichen, des Fürsten und Feldmarschalls zählt ja bei der Wahl nur ebensoviel, wie die Stimme des Holzhackers, des Bettlers — ! Die Institutionen, die Gesetze und Einrichtungen der Gesellschaft sind fortan der Ausdruck des Volkswillens oder doch zu mindest der Ausdruck der Majorität!” —

Das Recht der Rebellion gegen Tyrannei und Vergewaltigung, welches früher von allen Völkern anerkannt wurde, wurde nun zum “Verbrechen” gestempelt! Denn in einer Gesellschaft, “wo ein Jeder (am Stimmkasten) souverain ist, rebellirt der Rebell nicht mehr gegen die Tyrannen, sondern gegen die Gesammtheit, welche durch ihre gewählten Vertreter ihren Willen vollzieht.”

Dieses heuchlerische, schamlose Lügenprinzip wurde zum Fetisch des gesammten sozialen Parasitenthums. Durch alle Poren drang dieses entnervende Gift in den sozialen Körper. Anstatt mit Energie und Kampfesmuth seine Rechte gegen Vergewaltigung mit Gewalt zu vertheidigen, wie dies ehedem geschah, macht das Volk ohnmächtige Demonstration am Stimmkasten, ekelhafte Petitionen vor seinen selbstgewählten “Vertretern” in den Parlamenten.

Die Tyrannen, welche vor den kampfesmuthigen Völkern zitternd und winselnd auf den Knieen lagen, sind durch das Repräsentativsystem heute mächtiger denn je und setzen den Völkern im frechsten Uebermuthe den Fuss auf den Nacken! Und wie bei der grossen französischen Revolution von den Robespierren und Jakobinern Jeder als ein Agent der Reaktion gebrandmarkt wurde, der an der Allmacht und Unfehlbarkeit des Convents zweifelte, oder sein gutes Recht auf eigene Faust zu vertheidigen suchte, so wird heute Jeder von den modernen Jakobinern, den “praktischen” Sozialisten, als ein Agent der Reaktion gebrandmarkt, der es wagt, den infamsten Vergewaltigungen Gewalt entgegenzusetzen.

In der That haben die Herren Vertreter des “praktischen” “wissenschaftlichen” Sozialismus in den letzten zwanzig Jahren mehr zur Verknechtung, zur moralischen Entnervung, mithin zum Triumphe der Reaktion, durch ihren Wahlschwindel beigetragen als die Bourgeoisie selbst. Denn sie sind es, welche das Gift des Parlamentarismus in die Volksmassen getragen; sie sind es, welche die noch im Volke gebliebene Thatkraft durch ihre “praktische” Stimmkastenpolitik erstickten; sie sind es, welche die im Volke herrschende Sympathie für den Sozialismus dazu ausnutzten, jeden Akt männlicher Entschlossenheit und kühnen Kampfesmuthes als “Handlangerdienste der Reaktion,” als “Auswüchse des Lumpenproletariats” zu brandmarken; endlich, gerade sie sind es, welche in den Arbeitermassen die feigste Demuth gegenüber den unverschämtesten Brutalitäten zur “heroischen Tugend” erhoben und als einzig erfolgreichen Widerstand, als einziges Kampfesmittel, den lumpigen Stimmzettel priesen.

Seit 20 Jahren predigt dieses moderne Jakobinerthum, das Volk könne sich durch das allgemeine Wahlrecht — auf alle Fälle müsse es sich vorerst — der politischen Herrschaft bemächtigen, um durch dieselbe seine soziale Befreiung zu vollziehen. Seit 20 Jahren werden lächerliche Reformgesetze vorgeschlagen, um die Lage der Arbeiter innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu verbessern. “Um Himmels willen keine revolutionäre That, sonst werden diese Reformen nicht durchgeführt,” das ist der ewige Refrain dieser Revolutionskastraten. Und das arme, aus tausend Wunden blutende Volk beherrscht mit übermenschlicher Anstrengung seinen Zorn, lässt immer und immer wieder die erhobene Faust sinken, mit welcher es seine Peiniger zerschmettern könnte, um seine letzte Kraft im entnervenden Wahlkampfe zu vergeuden. Denn seine aufrichtigsten Freunde, die Sozialisten — die “wissenschaftlichen” Sozialisten — sagten ihm ja, es muss an der Wahlurne siegen, wenn es nur schön ruhig, schön geduldig, die auf ihn niedersausenden Peitschenhiebe verträgt.

So wurde die Arbeiterklasse mit rapider Schnelligkeit in den Sumpf der Bourgeoispolitik hinabgetrieben. Die mit dem Parlamentarismus unzertrennlich verbundene Opportunitätspolitik bedingt, dass die Arbeiter bald für diese oder jene Bourgeoispartei Stellung nehmen, paktiren. Findet es die Regierung oder eine der reaktionären Parteien in ihrem momentanen Interesse, die Stimmen der Arbeiter zu ködern, so wird schnell eine der “Arbeiterforderungen” zur Gesetzesvorlage gemacht; die “Vertreter” der Arbeiter triumphiren à la Liebknecht, das sei das “spitze Ende des dicken Keiles” der sozialistischen Gesellschaftsumwandlung und gehen mit der betreffenden Partei. Findet es später die Regierung oder eine dieser Parteien nöthig, einen Gewaltakt am Volke auszuüben, so suchen die “Arbeitervertreter” wieder die Oppositionsparteien zu unterstützen, wie bei den letzten Wahlen. In jedem Falle ist das Volk, die Arbeiter, betrogen. Aber der Hass gegen die gesammte herrschende Klasse ist. Durch diese Schaukelpolitik gebrochen! Der Kampf hat aufgehört ein Klassenkampf zu sein, er ist zur ekelhaften parlamentarischen Partei-Prostitution herabgesunken.

Das ist die naturnothwendige Frucht des Parlamentarismus, des Repräsentativsystemes überhaupt.

VI.

Wir haben in den vorhergehenden Artikeln gezeigt, dass alle Anstrengungen der “praktischen” Sozialisten, die Lage der Arbeiter innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems zu verbessern, nicht nur ohnmächtig, utopische sind, sondern dass dieselben nothwendigerweise den im Volke lebenden revolutionären Geist brechen und auf das ideale Streben desselben corrumpirend wirken müssen. Wir haben dabei gar nicht nöthig, die Beweise in abstrakten philosophischen Argumenten zu suchen; die Thätigkeit der deutschen Parlamentssozialisten während der letzten zehn Jahre, welche vor Jedermanns Augen sich gezeigt, genügt vollständig, um diese Behauptung zu beweisen.

Dienten früher die Wahlen nur der Propaganda, um dem Volke die Ungerechtigkeit des Bestehenden und dessen nothwendige Beseitigung zu beweisen; von der Reichstagstribüne dem Volke das zu sagen, was ausserhalb der Reichstagsmauern nicht öffentlich gesagt werden durfte, so änderte sich diese Taktik nur zu bald dahin, dass man durch allerhand billige Versprechungen zu machender Reformgegetze soviel als nur irgendmöglich Stimmvieh zu gewinnen suchte. Die Beseitigung des bestehenden Raubsystemes wurde immer mehr zu einem imaginären Zukunftsideale, wie die ewige Seligkeit des christlichen Mysticismus, in eine unabsehbare Ferne gerückt. Die im Reichstage gehaltenen Reden waren nicht für das Volk, sondern für die Vertreter der herrschenden Klassen im Reichstage bestimmt, um dieselben von der Ungefährlichkeit der Sozialdemokratie zu überzeugen. Die Agitation unter den Arbeitern selbst galt nicht mehr der nothwendigen Beseitigung des bestehenden Raubsystemes, sondern der Bekämpfung einzelner politischer Parteien, einzelner am Ruder stehenden Personen und der Erreichung “praktischer" Reformpflästerchen, um die schärfsten Härten des fluchwürdigen Gewaltsystemes abzuschwächen. Und um den herrschenden Klassen ja recht deutlich ihren “versöhnlichen” Charakter zu beweisen, war ihre erste That — nachdem sie durch die 84ger Wahlen eine zünftige “Fraktion” geworden — sich in die verschiedenen Commissionen wählen zu lassen, in welchen sie wacker an der Erhaltung dieser göttlichen Weltordnung mithalfen. Balken um Balken im Schweisse ihres Angesichtes herbeischleppten, um den faulen, in allen Fugen krachenden Bau ja noch recht lange zu erhalten. Ha! mit welcher selbstbewussten Freude sie sich als die Todtfeinde jener zernagenden Rattenbrut — der Anarchisten — in die Brust warfen, um würdig in den Orden der herrschenden “Ordnungs”-Auguren aufgenommen zu werden! — Eine Partei, deren mit diktatorischen Machtbefugnissen ausgerüsteten Führer so “vernünftige,“ “praktische“ Leute sind, hat aufgehört eine direkte Gefahr für die herrschende “Ordnung” zu sein. Die nach der direkten Herrschaft strebenden Bourgeoisparteien suchten sich deren Bundesgenossenschaft gegen die am Ruder befindlichen Parteien zu versichern, was die Herren Vertreter des “praktischen” Sozialismus nicht wenig schmeichelt. Sie fühlen sich ein “Machtfaktor” und bemühen sich mit Aufgebot aller verfügbaren Kräfte, sich auf den Schultern der Arbeiter in dieser Stellung zu erhalten.

Man erinnere sich aller in den letzten Jahren gehaltenen Reichstagsreden, offizieller und nicht offizieller Artikel, Schriften, Manifeste etc., welche aus dem Hohenpriester-Rathe der sozialdemokratischen Partei kamen, ob sie nicht alle bis auf das letzte Wahlmanifest, ohne Ausnahme, dieses Gepräge tragen!

Da handelt es sich nicht um Ausbeuter und Ausgebeutete, nicht um Unterdrücker und Unterdrückte, nicht um Parasiten und Arbeiter, sondern um Bismarck und Opposition, um Partei gegen Partei! Der Klassenkampf ist Nebensache, der Parteikampf Hauptsache geworden.

Das ist nun aber keine zufällige Erscheinung, sondern sie ist durch das Wesen des Parlamentarismus bedingt.

In dem Momente, wo eine Partei — mag dieselbe noch so weitgehende Ideen haben — dem Volke innerhalb der bestehenden Gesellschaft Reformen, Verbesserungen verspricht, übernimmt sie auch die moralische Verpflichtung: mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften dieses Versprechen zu erfüllen. Sie bedarf hierzu der Hilfe der ihr näher stehenden Parteien. Da alle anderen Parteien den fundamentalen Grundsätzen des Sozialismus feindlich gegenüberstehen, werden selbst die radikalsten Bourgeoisparteien die Reformvorschläge der Sozialisten nur dann unterstützen, wenn die Letzteren ihre Umsturzideen soweit als möglich in die Ferne rücken. Auch müssen diese Ideen vor der Masse darum verborgen gehalten werden, um sich die Sympathie der “radikalen” Bourgeoisie nicht zu verscherzen und soviel als möglich “Stimmen” zu ergattern. Darum die ekelhafte Courmacherei vor dem Mittelstande und der deplacirten Bourgeoisie — der sogenannten “geistigen Elite des Proletariats” — jener zweifelhaften Materie, aus welcher sich die “radikale” Bourgeoisie zumeist zusammensetzt, und endlich jene hochmüthige Verachtung für das “Lumpenproletariat,” welche die Vertreter des “praktischen” Sozialismus so unverfroren zur Schau tragen! Wollen sie von den andern Parteien beim Volke nicht als Lügner gebrandmarkt werden, so müssen sie auch durch eine direkte aktive Theilnahme an der Gesetzgebung der herrschenden Klassen zeigen, dass sie es mit ihren Reformgesetzen ernst meinen; und so hatten wir das schmachvolle Schauspiel, dass die Vertreter des revolutionären Proletariats wie Hunde unter den Peitschenhieben winselten, die revolutionären Grundsätze abschworen, unter den Arbeitern abwiegelten, um sie zu einer Partei der Bourgeois-“Ordnung” zu degradiren.

Die Folgen dieser “praktischen" Politik konnten nicht ausbleiben. Anstatt dem Volke an der Hand der wissenschaftlichen Kritik zu beweisen, dass es innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystemes, sowie von den herrschenden Klassen nichts zu erwarten habe, dass sein einziger Rettungsweg zur Freiheit und zum Wohlsein nur in der Vernichtung dieses Systemes und diese Vernichtung nur durch eine gewaltsame Revolution zu suchen sei — wurde alles aufgeboten, die Hoffnung auf eine Besserung durch allerhand Reformen im Volke zu erhalten und zu pflegen! Anstatt den Hass gegen das Bestehende zu entflammen, wurden die Lehren der gewaltsamen Revolution als “Tollhäusler-Ideen” oder als “reaktionäre Provocationen” verdammt. Was Wunder, wenn die Volksmassen ihre Stimme lieber den reaktionären Parteien geben, welche ihnen ja ebenfalls “Reformen” versprechen und obendrein die Macht haben, dieselben durchzuführen? — Was Wunder, wenn das Volk das Vertrauen in die Revolution verliert, wenn die angeblichen Apostel der Revolution nichts besseres als den Stimmzettel zu bieten haben? — ! — Was Wunder endlich, wenn das Volk, durch solch schmachvolle Demagogen-Politik irre gemacht, sein Heil bei den mächtigen reaktionären Parteien sucht, wie bei den letzten Reichstagswahlen ? — ! —

Uns wundert dies nicht. Das sind die nothwendigen Folgen des “praktischen” Sozialismus, über welchen der Anarchismus endlich als triumphirender Sieger hervorgehen muss!

VII.

Häufig wird die sozialistische Reform-Propaganda durch die im Volke herrschenden Vorurtheile entschuldigt; “die grosse Masse sei leichter für “praktische” Reformen zu gewinnen und dabei werde das Volk allmählig für den Sozialismus erzogen.”

In der That waren die Völker von den heuchlerischen Bourgeoisidealen befangen; sie glaubten mit deren Verwirklichung jene Basis gefunden zu haben, auf welcher die Menschheit schrittweise zur höchstmöglichsten Freiheit und culturellen Entwickelung friedlich gelangen könne. Sie glaubten, sie hätten im Repräsentativsystem die Leitung ihrer Geschicke in eigenen Händen; es bedürfe nur der richtigen Auswahl geeigneter “Repräsentanten," welche als die “Diener des Volkes” dessen Wünsche und Bedürfnisse befriedigen würden.

Die Völker haben sich getäuscht, d.h. wurden getäuscht! Ihre vor der Wahl so ergebenen Diener wurden ausnahmslos nach der Wahl zu ihren Herren. Alle Formen des Repräsentativsystemes führten zu den gleichen Consequenzen: Tyrannei und Knechtschaft, Bereicherung und Verarmung. Anstatt Wohlstand und Freiheit, brachten alle Repräsentativsysteme den Völkern verdoppeltes Elend, Misere und verdoppelte Knechtschaft!

Was hat jedoch der Sozialismus mit den Reformen, mit dem Repräsentativsystem, mit dem ganzen Humbug der Bourgeoispolitik zu thun? — Der Sozialismus, welcher als Todfeind des ganzen herrschenden Gesellschaftssystemes und speziell der kapitalistischen Bourgeoisherrschaft, dem Schoose der Humanität entsprang, dessen Sein und Wesen die soziale Gleichberechtigung aller Menschen bildet?

War es nicht der Sozialismus, welcher an der Hand der geschichtlichen Erfahrungen und der Wissenschaft mit unerbittlicher Logik die infame Ungerechtigkeit der bestehenden sozialen Organisation nachwies?

War es da nicht die Pflicht eines jeden aufrichtigen Sozialisten, die im Volke herrschenden Vorurtheile und trügerischen Illusionen über diese Gesellschaftsorganisationen rücksichtslos zu bekämpfen, anstatt dieselben durch Reformpropaganda zu pflegen und zu bestärken? —

Allein, persönlicher Ehrgeiz, Eigenliebe und Selbstsucht machten ihre Einflüsse geltend. Man hätte müssen der bestehenden Gesellschaft den Krieg bis auf’s Messer, sich als deren Todfeind erklären; und man wollte deren Anerkennung geniessen. Man wollte “Pioniere der Freiheit” spielen, ohne seine Haut zu Markte zu tragen. Man wollte die bestehende Gesellschaft bekämpfen und doch persönlich deren Vortheile geniessen. Diese Elemente bemächtigten sich als Vertreter des “praktischen" Sozialismus der sozialistischen Bewegung.

Und da wir Anarchisten die Folgen dieser gefährlichen, falschen Propaganda voraussehend, dieselbe bekämpften; weil wir den fundamentalen Grundsätzen des Sozialismus treu blieben und dem ganzen bestehenden Gesellschaftssysteme unsere Todfeindschaft erklärten; jeden Compromiss mit den herrschenden Klassen, unbekümmert der persönlichen Gefahren, verächtlich zurückwiesen, wurden wir als “Tollhäusler," als “Fanatiker” als “Utopisten" etc. verdammt.

Man hatte nicht versäumt, die mit der bestehenden Gesellschaft unzufriedenen Elemente in “stramm disziplinirte" Organisationen zu drillen, durch welche es möglich wurde, jede andere Meinung, speziell aber die anarchistischen Ideen fern zu halten. Es gab nur eine alleinseligmachende Kirche: die “Sozialdemokratie!"

Obwohl damit eines der heiligsten Rechte des Menschen: die freie Meinung, das freie Denken, mit Füssen getreten wurde, die grosse Masse der Arbeiter merkte es nicht, bis sie durch die erschütternde Macht der Enttäuschungen nun endlich beginnen aus ihrem Vertrauensdusel zu erwachen.

“Oh, das ist alles ganz schön — sagt man uns schliesslich — aber die Menschheit macht in ihrer Entwickelung keine Sprünge, man dürfe und könne der historischen Entwickelung nicht vorgreifen," und man sucht dann “wissenschaftlich" nachzuweisen, wie das Volk dieses oder jenes Landes in seiner politischen und wirtschaftlichen Entwickelung “zurück" sei, um so die “historische” Nothwendigkeit der verschiedenen Reformforderungen der Arbeiter einzelner Länder zu rechtfertigen.

Auffällig genug dabei ist, dass die herrschenden Klassen genau dasselbe, oft sogar mit denselben Worten, gegenüber den bescheidensten Forderungen der Arbeiter behaupten. Thatsächlich entspringt diese Sentenz aus der modernen Weltanschauung der herrschenden Klassen, welche die Menschheit nie als etwas Ganzes, sondern als etwas, nach Nationen und Staaten Zusammengeflicktes betrachtet, von welchen das Volk jedes einzelnen Landes oder Staates seine spezielle Entwickelungsbahn zu gehen habe.

Diese kulturhistorische Fälschung wird im Interesse der herrschenden Klassen zu dem Zwecke betrieben: den Nationalitätenkultus, den Patriotismus im Volke zu pflegen, um so die Menschheit zu einander in feindlichen Lagern zu erhalten. Die Beweise dafür kann Jeder mit seinen eigenen Augen in den realen Zuständen wahrnehmen.

Nach welchem Lande oder Staate unser Blick auch schweifen mag, sehen wir unter den mannigfaltigsten äusseren Formen gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen. Wir sehen das arbeitende Volk der demokratischen Republik Schweiz ebenso unter dem kapitalistischen Tyrannenjoche der besitzenden, herrschenden Klasse keuchen, als wie in irgend einem monarchischen Staate. Ueberall das arbeitende Volk im Elende verkümmernd, während eine übermüthige Parasitenklasse im Ueberflusse schwelgend das Volk mit Füssen tritt. Ueberall mit denselben Mitteln: durch den Staat und seine Büttel in Uniform und Kutte; durch Gesetze und Autorität.

Wir sehen, wie überall die geknechteten Völker von einer Idee durchdrungen nach einem gemeinsamen Ziele streben: sich von allen geistigen, ökonomischen und politischen Fesseln zu befreien, um als eine einzige Menschenfamilie ein Reich der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu gründen; und wir sehen endlich, wie die herrschenden Klassen aller Länder sich zu Schutz und Trutz über alle Grenzpfähle hinweg die Hände reichen.

Alle schulgelehrten Deduktionen der “wissenschaftlichen” Sozialisten vermögen diese Thatsachen nicht abzuschwächen. Man mag uns hundertmal nachzuweisen suchen, dass z. B. in Oesterreich die grosskapitalistische Produktionsweise oder der Grossgrundbesitz noch lange nicht so hoch entwickelt sei als in England, weil noch nicht so und so viel Maschinen verwendet oder noch so und so viel kleine Grundeigenthümer mehr existiren u.s.w.; man wird uns damit aber niemals beweisen, dass das arbeitende Volk in Oesterreich ökonomisch besser gestellt, dass Noth und Elend in Oesterreich weniger hart sei als in England. Man mag uns hundertmal den Beweis liefern, dass die politischen Institutionen Amerikas unendlich höhere sind als diejenigen Russlands; man wird uns aber damit nicht überzeugen, dass der amerikanische Arbeiter weniger Sklave der besitzenden Klasse sei als der russische.

Die Form mag verschieden sein, das Wesen ist dasselbe. Und das ist es gerade, was den Sozialismus zu einer Idee der Humanität der gesammten Menschheit macht, weil er sich ausschliesslich gegen das Wesen der sozialen Knechtschaft und nicht gegen deren Formen richtet.

Wer daher das Wesen der Knechtschaft bekämpft, muss die Herrschaft in jeder Form bekämpfen; kann keine Reform innerhalb der bestehenden Gesellschaft wollen, weil er damit einen Verrath an seinen eigenen Prinzipien begeht; kann nur mit Aufgebot aller Kräfte und Mittel an der Vernichtung des bestehenden auf dem Prinzip der Herrschaft des Menschen durch den Menschen aufgebauten Gesellschaftssystemes arbeiten, um der Menschheit ihr heiligstes Recht der Selbstbestimmung zu garantiren. Wer dafür wirkt, ist — gleich uns — Anarchist!

[1] Siehe 6 und 7.

[2] Z.B. die Maschinen zum Ausladen von Getreideschiffen, Strassenreinigen etc. werden fast gar nicht verwendet, weil die menschliche Arbeitskraft billiger ist. Und so ist es mit einer ganzen Masse anderer Arbeitszweige.

[3] Siehe Nr. 6, 7 und 8 dieses Blattes.