Übersetzt aus dem Französischen
Zürich, Oktober 2017
Alfredo M. Bonanno
Wieso nicht?
Jedes Mal, wenn ich zu sprechen beginne, frage ich mich: „Und was, wenn ich zum Beispiel nicht sprechen wollen würde?“
Der Titel von dieser Diskussion lautet “In Richtung Aufstand”. Ich habe mich gefragt, was das heisst, “in Richtung Aufstand”? Ich meine, in Richtung Aufstand, das kann heissen, zu schreiben, oder zumindest doch zu sprechen über, oder hinzudeuten auf eine Richtung, auf etwas, was sich in Richtung Aufstand bewegt. Ich weiss nicht, was sich in Richtung Aufstand bewegt.
Ich weiss, was ich erlebt habe, was ich gesehen habe, Ereignisse, die wie ein im Gange befindlicher Aufstand scheinen mochten. Dann habe ich gemerkt, dass es kein Aufstand war, dass es ein schlichter Krawall war. Sprechen wir also über etwas, das uns in Richtung eines Krawalls antreiben kann, etwas, das einfach so, gleich sofort, aus einem Grund, den wir nicht vorhersehen können, auf der Strasse, auf den Plätzen geschieht, mit hunderttausend Personen, die auf die Strasse gehen, ist es das, worüber wir heute Abend sprechen? Ich glaube nicht. Für mich ist das kein Aufstand. Hunderttausend Personen, die auf die Strasse gehen, die die Stadt kaputtschlagen, die die Läden kaputtschlagen, die über der Ware ihren Kriegsball tanzen – denn wir sind gegen die Ware, wir, die Anarchisten –, ist das ein Aufstand? Nein.
Ein Aufstand (einmal abgesehen davon, dass ich nicht weiss, was das ist, aber trotzdem, ich kann mir etwas vorstellen, was einem aufständischen Projekt ähneln mag) ist eine Bewegung. Eine Bewegung besteht im Wesentlichen aus Projekten, die Projekte bestehen aus Spezifizierungen, aus etwas, was die Realität anbelangt, um zu versuchen, sie vorherzusehen, also um zu versuchen, zu verstehen, wie diese beschissene Realität, die wir vor uns haben, sich entwickeln mag. Was können wir erwarten, wie kann unsere revolutionäre Arbeit aussehen, um diese Realität in Richtung Aufstand zu bewegen. Hier ist es, wo das Wort “Aufstand” für mich beginnt, eine Bedeutung zu haben. Aber es ist nicht so, dass ich in der Lage bin, den Aufstand in Bewegung zu setzen, ich bin in der Lage, in Bewegung zu setzen, zu schreiben, ein Projekt zu realisieren. Ein Projekt besteht aus Frauen und Männern, die sich engagieren, die ihr Leben in das Projekt stecken. Es besteht nicht nur aus Gerede, aus Worten, wie wir es heute Abend tun. Es besteht aus Ideen.
Wenn wir von Zerstörung sprechen, was ein schreckliches Wort ist, ich habe Angst vor der Zerstörung, denn ich bin für das Leben, für das Glück, für die Liebe, aber zur gleichen Zeit frage ich mich, wie kann man in einer Realität wie dieser leben, wie kann man verliebt sein in jemanden in einer Realität, die nur Scheisse produziert und die uns zwingt, in der Scheisse zu leben? Das ist nicht möglich. Also, ich sage, deswegen bin ich für die Zerstörung. Ich bin nicht für die Zerstörung schlechthin, ich bin für die Zerstörung dieser Realität, um eine andere Gesellschaft aufzubauen. Jemand mag zu mir sagen, aber du, wie kannst du dir sicher sein, dass die Gesellschaft, wovon du sprichst, besser sein wird als das, was du gerade als eine beschissene Gesellschaft definiert hast. Ich bin mir nicht sicher, meine Kameraden. Ich bin mir sicher, dass mir diese Gesellschaft nicht gefällt, und dass alle Projekte, die ich seit vierzig Jahren, in meinem Kopf und auch mit meinen Händen, zusammen mit anderen Kameraden entwickle, um zu verändern – aufgepasst, zu verändern [transformer], nicht umzuändern [modifier] –, Zerstörungsprojekte sind. Und sie werden auch in einer neuen, anderen Gesellschaft Zerstörungsprojekte sein, selbst wenn diese Gesellschaft sich Anarchie nennt, denn die Anarchie ist ein Projekt, ist ein Entwicklungsprozess, sie ist nicht etwas Etabliertes, denn ansonsten wäre sie eine neue Form von Repression, selbst wenn sie sich Anarchie nennt. Denn die Anarchisten, die an die Macht gelangt sind, sind die schlimmsten Unterdrücker der Geschichte! Es ist unnütz, von anarchistischer Revolution zu sprechen, wenn wir uns nicht bewusst halten, dass die anarchistische Revolution ein Prozess ist, sie ist nicht ein etablierter Zustand. Und dies ist, worüber ich heute Abend sprechen will, “in Richtung Aufstand”, ich will von einem Projekt sprechen.
Nun, ein Projekt besteht aus Mitteln, aus Kenntnissen, aus Ideen, aus dem Ideenaustausch unter Kameraden, aus der Fähigkeit, den Anderen zu verstehen und zu versuchen, ihn nicht mit seinen Bedürfnissen zu ersticken. Denn ein jeder von uns hat das Bedürfnis, zu leben, und wir gehen auf den Kameraden zu und wir sind sofort dabei, zu sagen, was wir wollen, was wir tun wollen, was wir gerne hätten, dass er für uns tut – wir müssen dem anderen Kameraden einen Raum lassen, um sich zu entfalten und, zur gleichen Zeit, um uns entfalten zu lassen. Dies ist, was sich “Affinität” nennt. Dies ist, was sich “Suche nach Affinität” nennt. Denn alle Themen, worüber wir heute Abend sprechen werden, worüber wir, hoffe ich, in der Lage sein werden zu sprechen, basieren auf dem Konzept der Affinität. Ich will nicht eine Partei aufbauen, ich will nicht einmal eine Bewegung aufbauen, die nach gewissen Regeln, gewissen Projekten, gewissen Programmen aufgebaut ist, und sei es auch das Programm von Malatesta, das ist Scheisse, dieses Programm. Weshalb ist es Scheisse? – Denn Malatesta war ein grosser Revolutionär. Weil es überholt ist, die Zeiten haben sich geändert, die Dinge, die wir heute Abend sagen, werden in den nächsten dreissig Jahren nicht mehr gültig sein. Denn die Zeit ist etwas Schreckliches, wir müssen versuchen, die Realität zu sehen, in welcher sich die Worte, die wir jetzt sagen, platzieren.
Kein Programm, kein ein für alle Mal festgelegtes Projekt. Affinität ist etwas, das gesucht werden muss. Wir sind anarchistische Kameraden, wir wissen, was eine anarchistische Gruppe ist. Sie besteht aus Kameraden, die sich treffen, mehr oder weniger in einem Raum, in einem mehr oder weniger bekannten, mehr oder weniger grossen oder kleinen, mehr oder weniger schmutzigen oder sauberen Raum (ich weiss nicht, normalerweise ist es schmutzig). Sie treffen sich dort, sprechen dort miteinander, sehen sich, schauen sich an, lieben sich, es gibt auch Hass manchmal, Verständnislosigkeiten. Aber die Tatsache, sich gemeinsam in einer anarchistischen Gruppe zu sehen, können wir das als Suche nach Affinität bezeichnen? Nein. Nein, meine Kameraden. Das ist ein sehr bekanntes, sehr weit verbreitetes Quiproquo. Affinität ist etwas anderes. Es ist eine Suche, die vom einzelnen Individuum ausgeht, das sich bewegen muss, um seine Kameraden zu suchen. Selbstverständlich ist die anarchistische Gruppe – in Theorie – ein privilegierter Ort. Ich suche in der anarchistischen Gruppe meine Kameraden, um Sachen zu machen, und ich kann nicht den ersten Kameraden umarmen, der heute Abend kommt, und den ich in meinem Leben noch nie gesehen habe, und ihm vorschlagen, zusammen einen Banküberfall zu machen. Ich wäre wahnsinnig, wenn ich das tun würde. Ich muss also versuchen, mit ihm eine Kenntnis aufzubauen. Aber diese Kenntnis ist nicht eine Freundschaft, ist nicht eine Liebschaft, ist nicht eine Kenntnis, die auf der Bildung begründet ist, auf dem Vermögen, unsere Lebensgeschichte, meine Probleme, meine Bedürfnisse, meine Verlangen zu verstehen... Nein, es ist nicht das. Es bedeutet, aufzubauen auf der spezifischen Kenntnis der... – ich habe gerade an das Wort “Physischkeit” gedacht. Ich habe einen Mann, eine Frau vor mir, es ist ein Körper, den ich vor mir habe, jemand, der mit mir spricht, aber die Worte sagen mir nichts, jemand, der kleine Gesten hat, kleine Reaktionen. Ich muss sie messen, diese Reaktionen, ich muss Nachforschungen darüber anstellen, um zu sehen, was er für ein Typ ist, welche Fähigkeiten er hat, und erst dann beginne ich, ihn zu kennen, ich habe einen gewissen Umgang, ich mache kleine Erfahrungen mit ihm, banale, alltägliche, wenn ihr so wollt, dumme Erfahrungen. Wie kann man sagen... Wir essen zusammen, zum Beispiel, ich sehe, wie er isst, was er isst, dieser Kamerad, ob er beginnt, mir auf den Sack zu gehen mit seiner Essenswahl und all dem, ob für ihn dies das Wichtigste in seinem Leben ist, nun gut, das ist kein guter Affinitärer, mit ihm habe ich keine Affinität, das ist nichts für mich. Zum Beispiel, um die Dinge beim Namen zu nennen, wenn ich einen Kameraden vor mir habe, der Vegetarier ist, und der die ganze Zeit über seine Essensprobleme redet, dann ist das eine Sache, die mich nicht interessiert. Aber wenn er beginnt, mit mir über Dinge zu sprechen, die wir gemeinsam tun können, darüber, wie wir die Instrumente finden können, um gemeinsam Dinge zu tun – verstehen wir uns, wenn ich das allgemeine Wort “Dinge” gebrauche? Selbstverständlich Dinge, die versuchen, die Realität zu verändern, die wir vor uns haben. Jemand hat einmal zu mir gesagt: „Aber das sind doch Kleinigkeiten, was willst du die Realität verändern mit einer Kleinigkeit, mit der Suche nach kleinen Instrumenten, um Dinge zu tun, oder bloss, um zu trainieren, eine Art revolutionärer Sport?“ Ich war nicht einverstanden mit solchen Aussagen. Dumme Aussagen, wenn ihr mich fragt. Denn es sind diese kleinen Dinge, die die Bereitschaft, die Fähigkeit erkennen lassen. Es geschah, zum Beispiel, dass ich mich mit Kameraden, von denen ich glaubte, sie gut zu kennen, in der Situation befand, gemeinsam eine Aktion zu studieren, was auch immer sie sei, über die Details sprechen wir nicht, versteht sich, sie zu studieren in allen Details – oh, vergessen wir nicht, dass wir hier dabei sind, über Affinität zu sprechen. Wir haben also alles studiert, der Tisch voll mit Papieren, mit Dingen, mit Bemessungen, die Berichte vom Vorbeigehen, hingehen, um zu schauen, und all das. Und dann, vor der Tür angekommen – denn es war erforderlich, da hindurch zu gehen – blockiert der Kamerad, er bleibt vor der Türe stehen. Das ist nicht sein Fehler, es ist mein Fehler. Ich meine, es ist mein Fehler, weil wir da durch müssen, ich kann da nicht alleine durch, ich muss mit ihm da durch. Wenn er diese Türe nicht durchschreiten will und er blockiert, dann ist das mein Fehler. Es ist mein Fehler, weil ich die Affinität mit ihm nicht ermittelt habe. Ich habe mich getäuscht, das ist alles. Wir versuchen also, das Problem zu lösen, auf die eine oder andere Weise, und kehren wieder um.
Nun, um auf unser Problem zurückzukommen: Affinität ist die Grundlage, um Kameraden zu suchen, mit denen ich fähig bin, mein revolutionäres Projekt zu entwickeln. Das ist nicht eine Frage von Zahlen. Es ist nicht so, dass man mit fünfzig Kameraden sein muss. Es gibt selbstverständlich nicht eine ausreichende Stufe, um zu sagen: „Ok, jetzt sind wir imstande, uns zu bewegen und etwas zu tun, denn wir sind drei Personen, und falls wir zwei wären, können wir nichts tun.“, nein. Selbst zwei Personen, zwei Kameraden, selbst drei, vier, sind eine Affinitätsgruppe. Die Affinitätsgruppe muss sich am Leben der anarchistischen Gruppe, innerhalb welcher sie sich befindet, beteiligen, sie muss alles tun, was die anarchistische Gruppe tut. Revolutionäre Propaganda, Diskussionen, Debatten, Demonstrationen, alles, was ihr wollt. Aber sie muss auch das Bewusstsein haben, etwas ein wenig anderes zu sein, und sich die Mittel für die Aktion verschaffen, welche sie in der Gegenwart oder in der Zukunft, ganz alleine als Affinitätsgruppe, realisieren will. Und sie muss versuchen, zu verstehen, was Beziehungen mit anderen Affinitätsgruppen sein können, welche sich in derselben anarchistischen Gruppe oder anderswo in einer anderen Gruppe, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land formen; und versuchen, Beziehungen zur Zusammenarbeit aufzubauen. Denn gewisse Ziele können mit einer blossen Gruppe von zwei, drei Kameraden nicht erreicht werden. Für gewisse Ziele muss man vielleicht vierzig Personen sein, und dann gibt es vielleicht vier, fünf, zehn Affinitätsgruppen. Diese arithmetische Mechanik, die von aussen betrachtet ein Bisschen abstossend sein mag, ist etwas Essenzielles, um zu sehen, wie der Mechanismus von einem Projekt funktioniert. Es ist etwas, das eine organisatorische Grundlage haben muss. Es kann nicht der Spontanität von einer jeden Person, von einem jeden Kameraden überlassen werden. Ich bin stets der Ansicht gewesen, dass wir über die Schwierigkeit, das Konzept der Affinität zu verstehen, nicht ausreichend nachgedacht haben. Denn es gibt stets Quiproquos, die wiederaufkommen, denn die Kameraden fragen sich: „Aber weshalb kann das nicht gemeinsam mit der ganzen anarchistischen Gruppe getan werden, weshalb?“, „Weshalb können wir nicht über Dinge sprechen, die wir alle gemeinsam in einer Gruppe tun können, oder, wenn nicht noch schlimmer, auf dem Platz mit den Leuten, und all das?“. Nein, wenn ihr mich fragt, müssen wir lernen, unterschiedliche Ebenen zu etablieren, auf welchen wir handeln. Auf unterschiedliche Weise.
In Richtung Aufstand zu gehen, bedeutet, oder ich glaube, es kann bedeuten, sich in Richtung von einer Situation zu bewegen, die anders ist als diejenige, worin wir uns befinden. Aber sich ganz alleine bewegen? Sich nur mittels der Affinitätsgruppen bewegen? Nein, denn irgendwann endet die einzelne Affinitätsgruppe darin, eine Arbeit rund um den eigenen Schwanz zu beenden, sie dreht sich im Kreis, und das bedeutet nichts. Zum Beispiel verfügen sie über Mittel, die sie benutzen können, aber die unbenutzt bleiben. Sie haben Kenntnisse, Studien über die Realität, Recherchen. Und mit Realität meine ich auch die Topographie. Die Topographie. Zum Beispiel habe ich in meinem Leben noch nie einen Anarchisten gekannt, der eine Militärkarte lesen kann. „He, eine Militärkarte, was! Die wurde von der Armee erstellt“. Und siehe da, wie er sich auf dem Land befindet und er die Militärkarte nicht lesen kann, er verwechselt einen Baum mit einem Loch und er fällt ins Loch. Also, aber das genügt nicht, denn was heisst das schon, dass ich eine Militärkarte lesen kann, und ich tue nichts? Nun, es gibt die Situation, in welcher es die Macht ist, die uns eine Neigung gibt und die uns ein repressives Modell vorschlägt, das für uns inakzeptabel ist – legen wir den Begriff der Leute für den Moment beiseite, es ist inakzeptabel für uns, für die Anarchisten, inakzeptabel. Aber es kann auch sein, dass es die Anarchisten selbst sind, die ein Angriffsziel suchen, wieso nicht? Zum Beispiel hier gibt es das repressive Projekt des Maxi-Gefängnisses, welches sie bauen wollen, dabei handelt es sich um einen Vorschlag, den der Staat gegen die Realität gemacht hat, um sie, zu seinen Gunsten, selbstverständlich, gemäss seinen Projekten zu verändern, und das ist eine Sache. Aber die Initiative kann auch von der anarchistischen Gruppe ergriffen werden, von den Affinitätsgruppen, die untereinander koordiniert sind und all das, dies kann auch geschehen, oder nicht? Das bedeutet Studium der Realität, wir können nicht “in Erwartung der Repression” sein, wir können die Initiative ergreifen. Natürlich, die Sache ändert sich, ändert sich sehr, denn jemand hat manchmal zu mir gesagt: „Ok, es gibt zu jeder Zeit Formen der Repression, die schlichte Existenz des Staates ist eine repressive Handlung, es ist also leicht für uns, irgendetwas anzugreifen.“ Ich bin nicht allzu einverstanden damit. Was kann es bedeuten, den Bullen anzugreifen, der gerade auf der Strasse vorbeigeht, das ist ein Ausdruck des Staates, das ist der Staat, der da vor mir schreitet. Das ist eine extrem komplizierte Erwägung der Entwicklung der Repression, die da gerade in einem einzelnen Individuum dahinschreitet, mit seiner Uniform und all dem. Nein, das gefällt mir nicht, das scheint mir eine Kleinigkeit, das scheint mir eine Feigheit, das scheint mir ein Analysefehler vielmehr als eine Feigheit. Das macht mir den Anschein, als ob man nicht etwas tun konnte, was wichtiger ist, und deshalb das Kleinere, Einfachere, Nähere, Greifbarere tut. Nein, denn das Moment, wovon wir hier sprechen, ist die Analyse, sprich das Projekt, und das Projekt muss eine gewisse, wie soll ich sagen, Entwicklungsfähigkeit haben. Und in der Entwicklung selbst des Projektes kann man sehen, wie viel getan werden kann, um anzugreifen, vor oder neben dem Moment, in dem wir angegriffen werden. Wir sind Anarchisten, unsere DNA (entschuldigt mir dieses Wort) ist der Angriff, ist nicht das Warten. Ich schaue die traditionellen anarchistischen Organisationen an, die wir manchmal als Synthesenorganisationen bezeichnet haben. Es sind Organisationen, die warten, sie warten darauf, sich zu entwickeln, gross, zahlreich zu werden. Zum Beispiel die spanische Situation von 1936 hat sich aufgrund der Quantität, meiner Meinung nach, auf eine schreckliche Weise entwickelt. Denn, wenn ihr denkt, innerhalb der CNT gab es eine Million und zweihunderttausend Mitglieder, die auf die Organisation drängten: „Ok, macht etwas, oder?“, „Geht und leitet unsere Situation, wir dürfen die Führung nicht in die Hände der vierzigtausend anwesenden Kommunisten abordnen, wir sind eine Million und zweihunderttausend.“ Also dann, man tritt der Regierung bei, man tritt dem Krieg bei. Dem traditionellen Krieg, mit der Armee. Es sind die Anarchisten, die diese Dinge getan haben, es sind nicht die Gesandten vom Planeten Mars, es sind die Anarchisten. Aber es sind nicht sie, die armen Burschen, es ist die Quantität. Die Quantität ist etwas Positives, aber gleichzeitig ist sie etwas sehr Negatives. Denn sie blockiert die Entscheidung, zu handeln. In gewissen Momenten denkst du, dass der Zeitpunkt gekommen ist, der Zeitpunkt, wo du vom Trottoir steigst und auf die Strasse gehst, fertig. Wenn du darauf wartest, drei, dreissig oder dreissig Millionen zu sein, ist es vorbei.
Ich werde eine kleine Geschichte erzählen, die ich persönlich erlebt habe. Ich bin Sizilianer. In einer kleinen Stadt, Castelvetrano, in der Nähe von Palermo, hat es in den fünfziger Jahren anarchistische Kameraden gegeben, die eine anarcho-syndikalistische Arbeit machten. Und an einem gewissen Punkt sind sie repräsentativ geworden in der kleinen Stadt, es waren die Gemeindewahlen. Und die Leute sagten ihnen: „Ok kommt, jetzt zieht ihr in den Gemeinderat ein, auf diese Weise verwirklicht ihr, worüber ihr seit dreissig Jahren gesprochen habt.“ „Ah nein“, antworten die Kameraden, „wir sind Anarchisten, wir beteiligen uns nicht an Wahlen.“ Die Leute sagten sich, die sind doch verrückt, diese Anarchisten. Während dreissig Jahren sprechen sie darüber, dass man die Dinge verändern muss, und dann, wenn sie die Dinge im Gemeinderat verändern können, wollen sie nicht hingehen. Es ist dies der Widerspruch, seht ihr. Wenn du einen gewissen Diskurs führst, einen quantitativen Diskurs, dann kann ein Punkt kommen, wo die Leute einverstanden sind mit dir, aber dann musst du bis zum Ende gehen, denn wenn du nicht bis zum Ende gehst, bist du ein Arschloch. Kann man nicht biologisch sprechen? Was ist es denn, wovon du sprichst, wenn du dabei bist, von deinem Beginn an Scheisse zu reden?
Also, kehren wir zu unserer Diskussion zurück. Das Projekt ist etwas, was sich von der Affinität ausgehend entwickeln muss. Aber wenn es da ein Projekt des Staates, der Repression gegen eine gewisse Realität gibt – weshalb sage ich eine gewisse Realität, denn die Macht hat offensichtlich ein repressives Gesamtprojekt, das die ganze Realität anbelangt, doch an einem gewissen Punkt beginnt man, Nuancen zu sehen, die gewisse Seiten, oder einen gewissen Teil betreffen, zum Beispiel die Bevölkerung von einem gewissen Ort, das geschieht immer. Zum Beispiel hier gibt es die Frage des Maxi-Gefängnisses, das betrifft nur einen Teil von Belgien, das betrifft nicht ganz Belgien. Also haben wir eine spezifische repressive Aktion vor uns. Der Staat will mit einer spezifischen Aktion, die einen gewissen Teil des Territoriums, eine gewisse Menge der Bevölkerung betrifft und all das, sein allumfassendes repressives Projekt realisieren. Die Anarchisten, wir können uns selbstverständlich organisieren, um etwas zu unternehmen, um dieses Projekt zu verhindern. Sollen sie sich ganz alleine organisieren oder mit den Leuten? Das ist ein grosses Problem, das ist nicht einfach zu entscheiden. Denn, schaut, es gibt Kameraden, die nicht damit einverstanden sind, Dinge mit den Leuten zu tun. Ich kenne viele davon. Sie sind selbstverständlich einverstanden damit, Dinge in einer Situation von einem spezifischen Kampf zu tun, jedoch parallel dazu. Denn sie denken: „Ok, es ist nicht möglich, zweihundertfünfzigtausend Personen zu Anarchisten zu machen.“ Und ich bin einverstanden, das ist nicht möglich. Aber ist das die einzige Lösung? Sich heraushalten? Oder beginnen wir, mit den Leuten zu sprechen? Und dann, wir kommen zu einem der wesentlichen Punkte unserer Überlegung, nur sprechen? Oder versuchen wir, organisatorische Ideen weiterzureichen, die für den Anarchismus charakteristisch sind, Ideen, die selbstverständlich auf dem Angriff, auf der Selbstorganisation begründet sind? Auch das ist nicht einfach. Denn unser Diskurs, wir sprechen mit den Leuten, unser Diskurs überzeugt die Leute, die Leute werden sich darüber bewusst, was das bedeutet, der Umsturz von einem solchen Projekt der Macht, welches in einem Quartier eintreffen kann, welches Quartiere zerstören kann, welches das Leben von hunderttausend Personen verändern kann, und dann denken sie darüber nach, etwas zu unternehmen. Eine jede von diesen zweihunderttausend Personen hat einen Kopf. Ein Kopf ist eine ganze Organisation. Ein jeder hat seine Vorstellung. Ein jeder will etwas anderes machen als der andere. Das ist normal, so ist der Mensch gemacht, wir sollten das bewundern, auch wir, die wir in diesem Raum sind, wovon sprechen wir eigentlich? Von etwas, was im Kopf von einem jeden verschieden ist, wir sehen es auf eine andere Weise, und es ist gut, dass dem so ist.
Wie kann sich also realisieren, dass die Leute sich auf eine anarchistische Weise organisieren können, ohne Anarchisten zu werden, ohne den anarchistischen Gruppen beizutreten, ohne dass sich die Leute selbst darüber bewusst werden, der anarchistischen Auffassung zuzustimmen? Denn, wenn ich auf jemanden zugehe und sage: „Hör zu, es braucht Angriff, das ist ein anarchistisches Konzept“, dann antwortet mir der Typ: „Das interessiert mich nicht, ich bin einverstanden mit dir, was den Angriff betrifft, aber es interessiert mich nicht, zu wissen, ob der Angriff ein anarchistisches Konzept ist.“ Wenn ich mit jemandem über einen Angriff spreche, der auf der permanenten Konflikthaltung, der permanenten Konfrontation beruht, dann muss ich mit ihm über all das sprechen, was die permanente Konfrontation ist, ich muss mit ihm darüber sprechen, dass es keine Fristen gibt, dass es keine Zeitpunkte gibt, an denen man zufrieden sein kann mit dem, was getan wurde, und der Kampf vorbei ist. Es gibt da einen Kampf, der in der Zeit weitergeht, unablässig. „Permanente Konfrontation, das ist ein anarchistisches Konzept“. Und der Typ sagt zu mir: „Was soll das heissen, das sagt mir nichts, dass das ein anarchistisches Konzept sein soll, für mich ist das Konzept ok, ich will es realisieren.“ Worüber wir hier sprechen, ist nicht Gerede, es ist etwas Wichtiges, denn wir gelangen zum Konzept von einer Organisation der Leute auf eine anarchistische Weise, ohne dass die Leute sich darüber bewusst werden, dass sie sich gerade auf anarchistische Weise organisieren. Denn ansonsten sind wir dabei, eine politische Partei aufzubauen, das heisst, wenn wir mit den Leuten sprechen gehen, müssen wir, um uns verständlich zu machen, eine symbolische Sprache verwenden, müssen wir sehr frappante Flugblätter verwenden, müssen wir Symbole verwenden, oder andernfalls müssen wir Ideen verwenden. Im ersteren Fall sind wir dabei, eine Partei aufzubauen, es ist unwichtig, ob sie gross oder klein ist, oder sich anarchistisch nennt oder anders, es ist noch immer eine Partei. Im zweiteren Fall sind wir dabei, eine spontane Organisation aufzubauen. Spontan, auch wenn mit unserer Interpretation, mit unserer Präsenz, sie ist spontan, da wir versuchen, anarchistische Ideen unter den Leute weiterzureichen, ohne den Stempel draufzudrücken, dass es etwas Anarchistisches ist. Das ist nichts Neues, was wir hier angehen. Bakunin hat sich vor 150 Jahren schon daran gemacht. Wir müssen verstehen, dass wir keine Politiker sind, wir sprechen keine politische Sprache, aber gleichzeitig sind wir auch nicht einfach Leute, die mit dem Herz in der Hand daherschreiten, nein, wir sind Leute, die gleichzeitig nachdenken. Es genügt nicht der Enthusiasmus, es genügt nicht, all unsere Bereitschaft zu haben und sich in die erste Reihe zu stellen, um sich allen Risiken zu stellen, sich mit den Bullen zu konfrontieren, Krawall zu machen. Nein, das genügt nicht. Es interessiert mich nicht der Kamerad, der die Dinge so angeht und danach ist er zufrieden damit, er landet im Gefängnis, dreht sich in seinem Bett auf die andere Seite und schläft ein, weil er seine Arbeit getan hat. Nein. Jedenfalls muss in einer solchen Situation die Arbeit erst noch beginnen. Es interessiert mich derjenige, der nachdenkt, der versucht, seine Verständnisfähigkeit, seinen Kopf zu benutzen. Dann muss er eine Erfahrung haben, die man mit der Zeit macht, natürlich, aber auch auf der Strasse, eine Erfahrung und eine revolutionäre Bildung. Ich habe eine schreckliche Erfahrung mit vielen Kameraden, die mir sagen: „Das interessiert mich nicht, die Büchlein, das interessiert mich nicht, diese Bücher, ich habe nichts am Hut mit dieser Geschichte vom Lesen, es interessiert mich nur das Handeln.“ Ich bin nicht einverstanden. Man kann nicht handeln, wenn du zuvor nicht verstanden hast, und um zu verstehen, musst du Anstrengungen machen. Du musst Bücher lesen, du musst studieren, aber, hör zu, das Buch, das du am studieren bist, das kann zu einer Entschuldigung werden, um zu schlafen, um immer mit den Büchern in der Hand zu verbleiben. Aber an einem gewissen Punkt musst du die Bücher zuklappen und sagen: „Genug der Bücher!“. “Genug der Bücher” heisst nicht “keine Bücher”.
Das Projekt also. Das revolutionäre Projekt entsteht mit der Bildung, der Kenntnis, der Erfahrung, der Fähigkeit, auch dem Herzen, damit, an einem gewissen Punkt zu sagen: „Ok, genug“. Das alles ist ein Zusammenspiel, das nicht leicht zu verstehen, das es nicht leicht ist, in Stücke zu schneiden und sich zu sagen: „Ok, ich habe diese kleine Sache getan, den kleinen Teil meiner Arbeit, ich bin zufrieden, ich will nichts anderes tun“, nein. Der Anarchist ist ein vollständiger Mann, ist eine vollständige Frau, er kann nicht in kleinen Stücken definiert werden. Zum Beispiel habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Kameraden, die zu lesen und zu schreiben verstehen und die die anarchistische Geschichte und all das kennen, aber die kein Auto fahren können. Aber was hat das jetzt mit meinem Diskurs zu tun, die Frage, ein Auto, oder ein Motorrad fahren zu können. Hört zu, meiner Meinung nach hat es durchaus damit zu tun. Und wenn jemand in diesem Raum kein Auto fahren kann, dann täte er gut daran, es zu lernen. Es ist dasselbe wie mit der Militärkarte, worüber wir vorhin sprachen.
Nun, ich glaube, dass ich nicht über den Aufstand gesprochen habe, wie immer, das passiert mir immer, aber ich versuche dieses lange Gerede zu beenden. Lasst uns sagen, dass die Anstrengung, die es zu machen gilt, wenn ihr mich fragt, insbesondere hier, im Kampf, den ihr am entwickeln, am realisieren seid, darin besteht, einen direkten Beitrag zu erbringen, aber nicht schwerfällig, nicht mit der anarchistischen Fahne, zum Aufbau von Gruppen, welche ihr selbst, wenn ich mich richtig erinnere, Kampfkreise genannt habt, welche sich, ganz alleine gelassen, nicht in Richtung eines Angriffs gegen euer Ziel bewegen können – dies ist ein Diskussionsvorschlag. Wir, zum Beispiel, sind zweieinhalb Jahre in einer Stadt in Sizilien geblieben, um in Comiso gegen den amerikanischen Militärstützpunkt zu kämpfen, und wir haben während zweieinhalb Jahren einen Kampf entwickelt. Ich hatte in diesem Kampf nicht verstanden, was sich während diesem Kampf entwickeln konnte. Ich war zweieinhalb Jahre dort geblieben, in dem Versuch, Affinitätsgruppen, Basiskerngruppen aufzubauen, wir haben den Stützpunkt angegriffen, wir haben unseren Anteil Prügel erhalten, wir sind ins Spital gegangen, ein jeder hat seinen Teil beigetragen, aber eine Sache hatte ich nicht verstanden, die sie [eine Gefährtin, die im Raum anwesend ist] verstanden hatte: dass unser Projekt die Möglichkeit eines Aufstands hatte. Nicht lokal, sondern eines generalisierten Aufstands. Wieso nicht von einer solchen Entwicklung träumen? Wieso sollte sich in dieser kleinen Stadt von Sizilien nicht danach ein anderer Kampf entwickeln, anschliessend in einer anderen Stadt, anschliessend in Italien, in Europa, auf der ganzen Welt? Ein generalisierter Aufstand, wieso nicht? Nun gut, die Anarchisten sind die einzigen Menschen auf der Welt, die sich eine solche Enormität erträumen können, die irrenhausreif ist.
In Richtung Aufstand, wenn das eine Bedeutung hat für mich, dann ist es dies: von einem spezifischen Kampf ausgehen, nach welchem man nicht weiss, was passieren mag. Normalerweise gehen wir ins Gefängnis, normalerweise. Aber man kann nicht sagen: „Nein, eine solche Entwicklung, das ist nicht möglich“, wieso nicht?
[Die lange Diskussion, die auf diesen ersten Redebeitrag folgte, wurde auf Gesuch der anwesenden Kameraden und Kameradinnen nicht aufgenommen.]