Titel: Ich weiss, wer den Kommissar Luigi Calabresi getötet hat
Datum: Dezember 1998
Quelle: Entnommen aus: Alfredo M. Bonanno: Ich weiss, wer den Kommissar Luigi Calabresi getötet hat, Kontraband Editionen, Zürich, September 2017.
Bemerkungen: Original: Alfredo M. Bonanno, Io so chi ha ucciso il commissario Luigi Calabresi, erste italienische Ausgabe bei Edizioni Anarchismo, Dezember 1998.
Zweite ital. Ausgabe: Februar 1999
Dritte ital. Ausgabe: April 2007
Vierte ital. Ausgabe: November 2013
Übersetzt aus dem Italienischen.

Einleitung zur ersten italienischen Ausgabe

Ich weiss, wer den Kommissar Luigi Calabresi getötet hat, am 17. Mai 1972, vor seinem Haus an der via Cherubini 6 in Mailand, morgens um viertel nach neun.

Die Behauptung ist schwerwiegend, nicht wegen der möglichen juristischen Folgen, um Himmels willen, darum schere ich mich nicht im Geringsten, sondern aus ganz anderen Gründen, und es sind diese Gründe, in die ich meine aufmerksamen Leser einweihen will.

Im Grunde genommen, wenn wir ein wenig nachdenken, wessen können wir uns schon sicher sein? Morgens wachen wir auf, stellen die Füsse neben das Bett, frühstücken in Eile, hasten zur Schule, zur Arbeit, zu den nächsten Gärtchen, um uns mit Freunden zu treffen, kurzum: jeder zu seinen alltäglichen Angelegenheiten. Abends, wenn wir die Schultern wieder aufs Bettlacken legen, fast immer das gleiche wie am Tag zuvor, wessen, von all den Dingen, die wir während des ganzen Tages vor unseren Augen vorbeiziehen sahen, können wir sagen, dass wir uns sicher sind? Kaum fokussieren wir uns auf ein Ereignis, so simpel es auch sein mag, auf den Kaffee, den wir am Morgen in der Bar getrunken haben, und schon wird das ganze Drumherum verworren, tendiert es dazu, in seinen Details zu verschwimmen, und jeder Aspekt entschwindet in einem unerfüllten Verlangen nach Präzision.

Alles in allem haben wir eine Erinnerung an das, was uns passiert ist, an das, was wir getan haben, aber unsere Behauptungen, bezüglich der einzelnen Ereignisse, sind dermassen unzulänglich, dass sie uns schlussfolgern lassen, uns keiner Sache sicher nennen zu können.

Aber wie ist das möglich, mag vielleicht jemand sagen?

Die Antwort ist einfach. Sicher sind wir uns, und stets innerhalb von manchmal konsistenten und äusserst gravierenden Grenzen, nur dessen, was uns wirklich betrifft, dessen, was unseren persönlichen Empfindungen, Bedürfnissen, Begehren, Träumen, Projekten so nahe gekommen ist, dass es einen Schlag in den Bauch darstellte. Wir erinnern uns nur an die Schläge in den Bauch.

An und für sich behält uns das Leben nicht sehr viele Schläge in den Bauch vor, und das ist vielleicht auch besser so.

Stellt euch vor, was wäre ein Leben ständig am Limit der Gefühlsspannung gelebt, bis man vom Adrenalin überwältigt quasi explodiert. Ein bisschen Ruhe, um Himmels willen.

Aber, da wir keine Lasttiere sind, sondern Männer und Frauen, die begierig darauf sind, es zu leben, dieses Leben, nun, so betrachten wir es auf selektive Weise. Wir filtern die Ereignisse, die um uns herum geschehen, nicht nur jene, die wir direkt mit unseren eigenen Augen sehen, sondern auch jene, die die grossen modernen Prothesen der Zeitungen und des Fernsehens uns wahrzunehmen gestatten, Ereignisse, die Tausende von Meilen entfernt liegen, räumlich weit weg und doch so nahe, als geschähen sie im Hinterhof unseres Hauses.

Wir haben uns gewöhnt an diese Ereignisse, aber es gibt manche darunter, die sich auf solche Weise präsentieren, dass sie uns tief im Innern treffen.

Was soll das bedeuten, dieses Getroffen-Sein, und noch dazu im tiefen Innern? Es bedeutet, dass wir mit offenem Mund dastehen, während eines Gefühls von Schmerz, von Beklemmung, von Empörung, von Abscheu, oder auch, was das Gleiche ist in Hinsicht auf die biologischen Mechanismen, die in unserem Körper ausgelöst werden, von Freude, von Enthusiasmus, von Rausch, etc.

Diese Ereignisse dringen in uns ein und versiegeln sich dort in unserer Gewissheit.

Ich weiss sehr wohl, dass es keinerlei Gewissheit gibt, wenn man diese in Sachen objektiver Gewissheit versteht, die für alle gültig ist, wenn man beansprucht, diese mit der Waage des Apothekers zu überprüfen, aber, wenn das Blut in unseren Adern kocht wegen der fünfzehn Toten, die im Zentralraum der Banca dell’Agricoltura an der Piazza Fontana in Mailand zerfetzt wurden, und vergingen auch hundert Jahre, wir würden uns dennoch einer nichtswürdigen Tat gewiss fühlen, die nur armselige Diener des Staates begehen konnten.

Es ist diese Art Gewissheit, wovon ich sprechen will.

Jedes Mal, wenn ich an Pinelli denke, wie er aus dem Fenster des Zimmers von Kommissar Calabresi in den Innenhof des Polizeipräsidiums an der via Fatebenefratelli in Mailand geworfen wird, kocht mir das Blut in den Adern.

Also auch dessen bin ich mir sicher. Tausend Rechtsverdreher, die sich gemeinsam organisieren, um mir die Gründe zu erklären, weshalb der arme Kommissar, verdutzt über Pinellis gewaltigen Nierenstoss, an der Mailänder Nachtluft eine Runde drehen ging, können mich nicht überzeugen. Ich brauche nicht einmal die Zeugenaussagen der Gefährten zu lesen, welche in den anderen Zimmern anwesend waren und das Erhitzen des Verhörs, und das Gefluche, welches der Tötung von Pinelli voranging und folgte, gehört haben. Sie fügen meiner Gewissheit nichts hinzu, diese Zeugenaussagen.

Genauso wenig ändern daran die gerichtlichen Entlastungen, oder die kindlichen Erklärungen von jungen Männern, die im Schatten der väterlichen Schuld aufgewachsen sind, oder die schweissigen Erinnerungen einer Witwe, für die ich noch nie Mitleid empfunden habe.


Ein entschlossener, selbstsicherer Mann, der sogar in einem Film karikiert wurde, aber Herr der Lage. Er war das Kronjuwel des Mailänder Polizeipräsidiums zum Zeitpunkt, als die Bomben hochgingen, er war es, der sich über dem Drängen der Ereignisse zu schaffen machte, die vielleicht grösser waren als er, aber mit Sicherheit nicht fähig, sein Herz hin zu einer Regung von Korrektheit abzuwenden, in erster Linie gegenüber sich selber. Zu welcher Korrektheit soll denn ein Bulle fähig sein, und noch dazu ein Bulle, der um jeden Preis Karriere machen will?

Niemand spricht mehr auf konkrete Weise von dieser Person, wenn sie nicht wie ein Mythos erscheinen kann, so erscheint sie zumindest wie ein Phantasma. Die Jahre, die vergingen, haben die Persönlichkeit verwässert, der Tod scheint die Charakterzüge in einer Staatsmärtyrer-Ikonographie verflacht zu haben.

Der arme Calabresi, vierunddreissig Jahre alt, eine Blüte von einem Gentleman, mit einer schwangeren Frau und zwei Kindern. Eine kleine Wohnung im dritten Stock der Nr. 6 der via Cherubini, ein bescheidenes Haus. Nach seinem Tod musste die Gattin fast ein Jahr warten, bis sie 156'000 Lira pro Monat Pension erhielt. Wie traurig.

Aber der arme Calabresi betrachtete das Leben aus einer anderen Perspektive. Er wollte ein Gewinner sein, er spielte schmutzig, und es gelang ihm, um sich herum den Ruf eines Harten, eines Unschlagbaren aufzubauen. Überall kam er zuerst, zermürbte die ganze Konkurrenz, seine Mitarbeiter hassten ihn, seine Übergeordneten fürchteten ihn. Als Mann des Karates und des Stärkekults war er derart heuchlerisch gegenüber allen, dass er sich für einen Sentimentalen, für einen praktizierenden Katholiken, für einen Gottesfürchtigen ausgab. Diese Lektion hatte er in Amerika gelernt, wo er gewesen war, um bei der CIA zu arbeiten. Eine Erfahrung, die zu jener Zeit nur wenige italienischen Superpolizisten machten.


In jenen fiebrigen Tagen nach dem Massaker von Mailand hatten alle Angst vor allen. Das Zeichen des Terrors begann zum ersten Mal, auf ernsthafte Weise, das provinzielle und einfältige Kilma unseres Landes zu durchdringen. Auch die Industriestadt par excellence hatte im Grunde noch nie eine Zeit wie jene erlebt, die sie sich anschickte zu erleben. Und die Leute fühlten ihn quasi auf der Haut, diesen tragischen neuen Diskurs, der sich am eröffnen war.

Weshalb Pinelli? Wir wissen nicht, wir werden niemals wissen, weshalb. Es hätte auch einen anderen Gefährten treffen können. Die Probe, jemanden vom selben Fenster des Arbeitszimmers von Calabresi herunter zu werfen, wurde Monate zuvor mit Braschi gemacht, es hätte auch er sein können, der hinunterfällt und aufs Kranzgesims prallt. Für ihn ging es glimpflich aus. Der Kontext der Attentate an der Fiera campionaria [Mustermesse] war nicht auf der Höhe von jenem der Piazza Fontana.

Es war seine Aufgabe, so gut es geht die These von einer anarchistischen Fährte zusammenzuschustern, er war der Spezialist für die mailändischen Anarchisten, und für die anderen, welche mit den Gefährten von Mailand zu tun hatten. Wer besser als er hätte die Fäden des Diskurses zusammenführen können, der von Ventura bereits begonnen wurde mit der Veröffentlichung von anarchistischen Texten, besorgt von einem erklärt faschistischen und vom Ministerium finanzierten Verlagshaus?

Im Grunde war die Wahl der Anarchisten bereits seit Monaten am Laufen, die Generalprobe wurde mit den Bomben an der Fiera campionaria gemacht. Die Gefährten im Gefängnis eben zu jenem Zeitpunkt waren viele. Und da drum herum, die Dinge ordentlich umrührend, der arme Calabresi, mit seinem frisch gebügelten Anzug, seiner gebildeten und harten Haltung, seiner Kultur (so sagt man sich, doch es gelang ihm immer, hier und dort etwas auszuleihen), seiner Schnelligkeit im Treffen von Entscheidungen.


Die Schnelligkeit in den Entscheidungen. Ein Mann, der bei der CIA gearbeitet hatte, konnte nur die Schnelligkeit der Männer der CIA haben, unerbittlich und kalt im Ausführen ihrer Arbeit. Erst uns sehr viel nähere Zeiten haben diese Gemeinplätze demontiert und aufgezeigt, wie die Geheimdienste, von der CIA bis zum MI5, bis hin zum berüchtigten Mossad, nichts anderes sind als angeheuerte und durch die staatliche Immunität abgesicherte Mörderbanden, oft auch ein Haufen Unfähiger und Unbedarfter, ausgestattet mit Mitteln, die sie an einem gewissen Punkt grösser und stärker machen, als sie es tatsächlich sind.

Nun, der Kommissar Luigi Calabresi war einer von diesen angeheuerten und abgesicherten Mördern. Um ihn herum hatte sich der Mythos der Unschlagbarkeit kreiert, der dezisionistischen Stärke, die alle Hindernisse vor sich niederreisst.

Einen ersten Sprung erhielt dieser Mythos beim Prozess gegen “Lotta Contiua”, wo Calabresi sich in Schwierigkeiten zeigte. Er wurde eben dessen angeschuldigt, was wir hier sagen, nämlich, Pinelli getötet, oder zumindest zu seiner Tötung beigetragen zu haben. Das Gestotter von Antwort befindet sich noch immer in der Erinnerung von vielen Gefährten.


Der 17. Mai war ein unheilvoller Tag für den grossen Kommissar. Es schien, als sollte alles wie immer ablaufen, die gewöhnliche Morgenroutine: das Frühstück, der Abschiedsgruss an die schwangere Frau, die beiden Kinderchen, ein zwei-jähriges und ein elf-jähriges, was für ein Familienszenchen.

Auch der Henker hat eine Familie. Es scheint unmöglich, aber so ist es. Und die Familie des Henkers sieht die Arbeit des Henkers wie jene von irgendeinem Staatsfunktionär an, noch dazu von einem gewissen Rang, da schliesslich die Arbeit eines Henkers Spezialisierungen erfordert, die nicht alle erfüllen können. Hinter der Maske, die den Henker verbirgt, gibt es auch Platz für die gebärfreudige Frau und den zahlreichen Nachwuchs.

An jenem unheilvollen Tag, mehr oder weniger um neun Uhr morgens, betritt der Kommissar Luigi Calabresi die Strasse. Dort erwartet ihn sein Schicksal, genau um neun Uhr fünfzehn, in Form von zwei Kugeln, eine erste und eine danach.

Der Befund: Schädel- und Hirnhautfraktur durch Schusswaffenprojektil (Bereich rechtes Hinterhaupt).

Der Ambulanzwagen des Croce Bianca von Vialba heulte seine Dringlichkeit durch die Strassen der Metropole. Um neun Uhr und siebenunddreissig Minuten stirbt der Kommissar Luigi Calabresi im Spital San Carlo.

Die Autopsie von Pinellis Leichnam wurde von den Professoren Ludovi, Mangigli und Falzi vorgenommen. Wer sind diese Männer? Ich weiss es nicht. Irgendwelche beliebigen Knochenschneider? Ich glaube nicht, wenigstens einer von ihnen war ein Mann vom Geheimdienst, wie aus einer Randbemerkung hervorging, welche Jahre später von den Zeitungen veröffentlicht wurde.

Wieso diese Anwesenheit? Weil sie sich einmal mehr nicht sicher fühlten, dass alles nach Gebühr erledigt worden ist (zu viele Leute im Zimmer von Calabresi?), und sie wollten so schnell wie möglich abschliessen, in aller Eile noch das massakrierend, was von unserem Gefährten übrig blieb.

Eine Sache ist sicher, und zwar, wenn die Arbeit von Calabresi eine makabere Pfuscherei war (plötzlich stellte sich heraus, dass Pinelli drei Schuhe an den Füssen trug), so wurde diejenige der Sezierer mit Präzision erledigt. Kein Gegengutachten war danach mehr möglich.


Calabresi geht, nachdem er aus der Haustüre getreten ist, auf die Verkehrsinsel in der Strassenmitte zu, wo der Cinquecento der Frau parkiert war. Auf den beiden Seiten ein Primula und ein Opel. Der erste Schuss trifft ihn an der rechten Schulter, er fällt, der zweite fegt ihm einen Teil des Schädels weg. Der Bereich zwischen dem Cinquecento und dem Opel füllt sich allmählich mit Blut.

Die anwesenden Leute rennen nicht sofort herbei, sie haben die Schüsse fast nicht gehört. In der Frühlingsluft schienen sie wie Knalle eines alten Autos. Dann erspäht jemand den bäuchlings daliegenden Körper, das Blut, das seinen purpurnen Fleck weiter ausweitet. Man ruft die Polizei, die Carabinieri, den Ambulanzwagen, kurzum, es geschieht all das, was für Gewöhnlich in solchen Fällen geschieht, wie in einem alten, abgedroschenen Drehbuch. Nur dass dieses Mal auch die hohen Führungsebenen der mailändischen Polizei herbeieilen. Guida hat Augen voller Tränen. Der alte Aufseher der faschistischen Haftanstalten, erfahren in so vielen Missetaten und so vielen Foltern, rührt sich beim Anblick des am Boden liegenden Körpers des treuen Mitarbeiters, ins eigene Blut getaucht.


Das Begräbnis des Kommissar Fenster ist prunkvoll, Unmengen an Blumenkränzen. Der Leichnam wird in die Kirche getragen. Der Hilfsbischof von Mailand hält den Begräbnisritus ab: „Ein strahlendes Beispiel der Hingabe an die Pflicht“. Es ist unglaublich, wie diese Leute nicht das geringste Gefühl für Scham haben.

Der Kardinal Colombo, sich auf eine Erklärung der Signora Gemma Calabresi beziehend, bekräftigt: „Die schönste Blume, die über dem Blut des getöteten Kommissars erblühte, ist das Vergeben der Witwe“. Unglaubliches Zeugs.

Vergeben. Welch magisches Wort. Wir werden Jahre warten müssen, um es erneut wiederholen zu hören, von anderen Leuten, in anderen Kontexten, aber noch immer bezüglich dem Tod von Calabresi.

Aber gehen wir der Reihe nach.


Von jener Morgenstunde im Mai scheint sich jemand, nach vielen Jahren, an etwas zu erinnern. Welch prächtiger und wundervoller Mechanismus ist doch die Erinnerung. Die Erinnerung der Geständigen, ausserdem, verdiene eine Studie für sich. In der Gegend von Massa gibt es einen Typen, der Crêpe verkauft, der einen Crêpestand hat, vielleicht wird er auch Coca-Cola und Limonaden verkaufen, das weiss ich nicht, jedenfalls macht er ganz den Eindruck eines ehrlichen Ladenbesitzers, der sich durchschlägt. Aber unter seinem gutmütigen Blick verbirgt sich ein gefährlicher Krimineller.

Mehr noch, dieser gefährliche Kriminelle spricht, er erzählt Geschichten, er berichtet von dem, was er am Morgen von jenem 17. Mai 1972 in der via Cherubini tat, als er an der Seite eines Autos wartete, und wartete, und wartete.

Aber auf wen wartete er?

Unser Freund nennt einen Namen, dann nennt er zwei weitere, wobei er in diesen letzteren die Mandanten der Ermordnung von Calabresi angibt.

Er selber war bloss der Gehilfe, der Fahrer des materiellen Ausführers der Tat.

Ach komm jetzt, mein lieber reumütiger Freund, ist es denn möglich, dass die Carabinieri nur eine einzige Platte haben und dass sie alle, welche es für ein paar Groschen akzeptieren, die Weste des Infamen überzuziehen, immer dieselbe Geschichte aufsagen lassen?

Dasselbe gilt für jenes Mädchen, welches im Prozess von Rom gegen die Anarchisten (noch immer im Gange beim Geschworenengericht), zwischen den ständigen „ich erinnere mich nicht“ lediglich wiederholt, was sie aus den Berichten auswendig gelernt hat, die von den Carabinieri vorbereitet wurden.


Nun, es gibt da etwas, was die Richter nicht wissen, was selbst der Geständige nicht weiss, was niemand weiss, und das ist, dass ich weiss, wer den Kommissar Luigi Calabresi getötet hat, am 17. Mai 1972, vor seinem Haus an der Via Cherubini 6 in Mailand, morgens um viertel nach neun. Und das stösst dem Fass den Boden aus, endgültig. Das Grossmaul des Geständigen plappert nur ein miserables Drehbuch nach.

Aber eilen wir nicht voraus.

Was auf den Kommissar wartete in der via Cherubini, war Rache.

Eine totale Stille empfing am 20. Dezember 1969 Pinellis Leichnam beim Ausgang der Leichenhalle. Es war Viertel nach drei. Es begann zu regnen.

Wir bogen in die via Preneste ein.

Die Ehefrau Licia hatte eine Mitteilung ausgestellt: „Ich wünsche mir von Herzen, dass die Begräbnisriten von Pino Pinelli, obschon offen für alle Freunde, die daran teilnehmen möchten, in erklärt privater Form erfolgen, ohne die Beteiligung von organisierten Gruppen, von Delegationen oder Symbolen.“

Ich weiss nicht, wieso sie dazu kam, diese Erklärung zu machen, gewiss nicht aus den Gründen, weshalb ich von alleine, in meinem Herzen, auch selber zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt war: Symbole, Transparente von Gruppen, vielleicht selbst die Fahnen im Wind, wären fehl am Platz gewesen.

Eine einzige schwarze Fahne hätte anwesend sein müssen, am Ende stellte sich heraus, dass an Fahnen mehr als genug da waren.

Ein Blumenkranz trug ein kleines Schriftband: „Die Anarchisten werden dich alle nie vergessen“.

Ich fragte mich, ob wir Pinelli, oder das, was ihm angetan wurde, nicht vergessen würden. Der Zweifel blieb bis zum Grossen Friedhof.

Grab 434, Feld 76.

Dort hatte ich keine Zweifel mehr. Und gemeinsam mit mir hatten die tausend anwesenden Gefährten keine Zweifel mehr.

Calabresi musste getötet werden.

Addio Lugano bella.

Rache ist eine Frage der Würde. Die Ungeheuerlichkeit der Tat darf nicht bloss am Tod von Pinelli, und vielleicht nicht einmal am Massaker der fünfzehn Toten und der neunzig Verletzten selbst bemessen werden. Das wäre ein reines juristisches Algebra, vielleicht ein ganz klein wenig korrekter als jenes, welches die Gesetzbücher vorsehen. Und in diesem Sinne würde es mich nicht interessieren.

Rache ist ein Exzess, an sich, nicht im Angriff, den sie realisiert. Folglich, wenn man das Verhältnis im entgegengesetzten Sinne betrachtet, ist die Ermordung von Calabresi selbst keine bemessene Rache gewesen, bemessen an den Toten der Piazza Fontana oder am Tod von Pinelli. Auch wenn man die Dinge auf diese Weise sieht, verfällt man wieder dem juristischen Algebra von vorhin.

Rache ist also ein Exzess.

Nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn, was bereits im biblischen Wortlaut eine Rationalisierung von vorangehenden unvorhersehbaren Racheverhalten, also eine regelrechte Gesetzesvorschrift darstellte, während es den meisten, fälschlicherweise, wie eine Rache schien und mehr nicht.

Der Exzess, der in der Rache enthalten ist, räumt das Feld von jeglichem Äquivalenzverhältnis, von jeglicher Bemessung. Es ist nicht Rache, wenn sie nicht ins Unermessliche, in die barbarische Auslöschung des Feindes, in seine Eliminierung oder zumindest in ein Ihm-Schaden-Zufügen von solcher Tragweite überläuft, dass ihm das Vergessen unmöglich wird.

Wenn Rache bemessen würde, dann wäre es das soziale System als Ganzes, was sie mir auferlegt, und schon sehe ich mich also eingeschlossen in einer Gesetzesvorschrift, und sei sie auch nicht niedergeschrieben, aber dennoch in einer Gesetzesvorschrift. Das Umfeld würde mich dazu verpflichten, den Regeln folgend Rache zu nehmen, denn anderenfalls würde ich schief angeschaut und schlecht geachtet werden, falls ich mich nicht rächen oder falls ich mich übermässig rächen würde, Rückwirkungen herbeiführend, die schädlich für das Umfeld sind.

Wenn aber das, was mich zur Rache antreibt, meine beleidigte Würde ist, dann ist es nur sie, gegenüber der ich verantwortlich bin, und ist es sie, also der beleidigte Teil meiner selbst, mein Gewissen, womit ich abrechnen muss. Und mit mir selber gibt es keine halben Massnahmen, ich bilde mit mir selber eine unauflösliche Ganzheit, ich bin die Welt, die Ganzheit der Welt, und wer meiner Würde eine Beleidigung zufügt, löscht die Welt aus, zerstört mich als Bewusstsein der Welt durch mich selber, und verdient es, aus der Welt getilgt zu werden.

Sicher, es gibt nur wenige, die den tiefen Sinn der eigenen Würde erfassen. Es ist dies das Mysterium gewisser Verhaltensweisen, die uns unerklärlich erscheinen. Nietzsche fühlt sich beleidigt in seiner Würde als Mensch angesichts des Spektakels eines Kutschers, der sein Pferd auspeitscht, und, da er sich angesichts der eigenen Welt, die von diesem gefühllosen Rohling getötet wird, nicht zur Wehr setzen kann, beschliesst er, sie auszulöschen, diese Welt, die eigene Welt auszulöschen, sich im Wahnsinn auszulöschen. Aus demselben Grund löschen andere Gefährten angesichts ihrer beleidigten Würde die Welt auf eine andere Weise aus, löschen sie sich im Selbstmord aus.

Diese Lebensansicht entwickelt sich und wird schliesslich essenziell, je mehr man sich allmählich bewusst wird über die Absurdität der formalen Regeln, welche die sogenannte Gesellschaft sanktionieren, ganz zu schweigen von den Gesetzen, welche die Daseinsbedingungen des Staates festlegen. Gesetze und Verhaltensweisen, die auf die Dauer nicht als Instrumente des Feindes erscheinen, um jenes bisschen Freiheit zu ersticken und zu verunmöglichen, das es auch in einer verwalteten und kontrollierten Gesellschaft möglich ist zu entreissen, sondern in sich selbst, als wahre Verdrehtheiten, abwegige Verhaltensweisen, auch wenn sie als vom besten Willen beseelt erscheinen.

Die Kritik des Alltagslebens erzeugt ein Bewusstsein, das mit der Zeit immer geschärfter und sensibler, immer emsiger darin wird, weitere Gebiete der Trostlosigkeit und der Vereinzelung zu entdecken. Rund herum fallen so die Gemeinplätze des demokratischen Possibilismus, die Illusionen der Politik, die Positivitäten der historischen Bewegung, die institutionellen Zugeständnisse, die Sterilität von gewissen Anerkennungen. Man bricht alle Brücken nieder, und dann muss man sich entscheiden. Wenn das eigene Bewusstsein in der Lage ist, in die Realität einzudringen, wenn es das Gewebe ausfindig macht, welches den Stoff der sozialen Beziehungen bildet, jenes feine und kaum wahrnehmbare Gewebe, welches oft mit den appetitlichen Farben des Angebots überdeckt ist, womit das Elend der Herrschaft sich kleidet, wenn es ihm gelingt, diese zeitlose Nacht zu klären, dann fühlt es sich beleidigt, tief im Innern beleidigt.

Es ist die Beleidigung der Jahrtausende von Sklaverei und Einsperrung, der Jahrtausende Leiden und Genozide, der Jahrtausende Unterwerfung unter wenige Herrschergruppen. Nichts von dem, was unsere Vergangenheit gewesen ist, verdient es, gerettet zu werden, nichts ist mir gegeben worden, und nichts ist es mir gelungen, dem Feind zu entreissen, es sei denn unter dem Gesichtspunkt eines konkurrenziellen Zugeständnisses seinerseits, darauf ausgerichtet, mir Zugang zum Bankett zu verschaffen, wenn auch nur für ein paar Krümel, für ein paar völlig marginale Statusanerkennungen, für ein paar Streifen auf der Mütze, für ein paar Verbeugungen von dummen Scheinheiligen, die sich für schlau halten.

Und du kannst über diese Probleme auch Jahre für Jahre nachdenken, lesen und nachdenken, bis du dich müde und traurig fühlst, und es gibt da keine Buchseite, kein Wort, keine Geste eines Mannes oder einer Frau, die dir nahe sind, welche dir etwas Klares, etwas endgültig Klares sagt. Du kannst während Jahren in der Dunkelheit bleiben, wie die Galeerensklaven von einstmals, bis zum äussersten Ende, bis du tot über dem Ruder umfällst, ohne dass die anderen es merken.

Aber es kann geschehen, dass ein Ereignis dir für einen Augenblick den Grund des Weges beleuchtet, dass eine grausame Tat dir in Filigran aufzeigt, wie der Feind wirklich ist, aus welchem Holz er geschnitzt ist, aus welchem höllischen Schmelztiegel seine Seele hervorgekommen ist. Wenn ein solches Ereignis geschieht, wenn da auch du bist, gemeinsam mit vielen anderen wie dir, von denen du weisst, dass sie gerade dieselbe traumatische Erfahrung durchleben, und du sie siehst, grosse Kerle mit schwieligen Händen, Burschen, die versuchen, sich eine Haltung zu geben, reife Frauen, die mit den Gedanken zu den Jahren des Krieges, zu den hingeschlachteten Kindern schweifen, Mädchen, die ihre Liebe sehen, die sie verspüren wie ein Zeichen von Reinheit der Welt, quasi verschmutzt von so viel Anmassung, und du siehst sie, alle mit Tränen in den Augen, ohnmächtig, aber mit angespannten Muskeln, wenn ein solches Ereignis geschieht, mit dir drin, dann ist es nicht mehr irgendein Ereignis, eine Tatsache unter anderen (Millionen von Personen sterben barbarisch getötet und werden mehr oder weniger eilig auf den Friedhof gebracht), sondern diese Tatsache hat eine andere Ladung, bringt eine Spannung mit sich, die es dir nicht erlaubt, Waffenstillstand zu haben, sie weckt dich in der Nacht verschwitzt auf und, auf dem Bett sitzend, fragt sie dich, was du da machst in deinem Bett, und ob per Zufall vielleicht nicht du der Tote bist, der sich im Grab umdreht, während lebendig, ganz lebendig, eigens Pinelli ist, mit seinem naiven Bahnarbeiterbart.

Ich bin mir bewusst, dass all dies wie eine Auflistung von Gefühlen erscheinen kann, die von einem exaltierten Verstand empfunden werden, von mir, der ich, ich muss es eingestehen, an jenem Abend am Grossen Friedhof, Grab 434, Feld 76, ohne Zurückhaltung angefangen habe zu weinen. In Ordnung, stellen wir es so hin, es handelt sich um Erinnerungen, die unter dem Einfluss des Gefühlszustands des Moments stehen, und oft übersetzen sich diese exaltierten Gefühlszustände, da sie sich nicht unverzüglich in etwas Tatkräftigem ausdrücken können (einen Polizisten verprügeln, zum Beispiel), in eine Frustration, die einen in Tränen ausbrechen lässt. In Ordnung, ich bin einverstanden.

Aber indem man so räsoniert, entgeht einem etwas Wichtiges, indem man alles auf eine Summe von einzelnen Personen reduziert, die einzelne Gefühlszustände durchleben, legt man das Wesentliche beiseite, jene aussergewöhnlich wichtige Kraft, die hervorkommt aus vielen Personen, welche dieselben emotionalen Empfindungen verspüren. Angeregt von Gefühlen, die sehr ähnlich sind (keines identisch, aber ich bitte euch, das weiss ich sehr wohl), fühlen sie sich zueinander hingezogen, um ein homogenes Ganzes zu formieren, welches, um sich zu formieren, keine Pakte oder geschriebene oder ausgesprochene Verträge braucht. Plötzlich taucht diese kollektive Kraft auf und ist da, greifbar, ich kann sie berühren, ich kann ihre Stimme hören, ich kann mich von ihren Suggestionen ergreifen lassen, den Blick dahin richten, wo sie mir sagt, dass ich hinschauen soll, mit ihren Augen, die aus tausend Pupillen bestehen, sehen, was meine armen kurzsichtigen Augen nicht sehen, an das erinnern, woran mein armes Gedächtnis alleine nicht erinnern kann.

Plötzlich, wie aus dem Kopf von Zeus, bis auf die Zähne bewaffnet, tritt die Idee der Gerechtigkeit hervor. Aber es ist eine recht seltsame Idee, denn sie basiert auf keinem Pakt, auf keiner Vorzugsordnung. Es ist nicht eine Idee, die die Dinge wieder zurück an ihren Platz stellen, den Leichnam von Pinelli mit jenem von Calabresi austauschen will, das sind nicht fungible Güter. Es ist nicht eine Idee, die der revolutionären Aktion, generisch betrachtet, eine Fortsetzungslegitimität gewährleisten will: was für ein Vertrauen können die Ausgebeuteten in Revolutionäre haben, die sich ohne zu reagieren wie eine Schachtel alten Zeugs aus dem Fenster werfen lassen. Nein, auch das nicht. Es ist nicht eine Idee, die von den Leuten gekannt, angeeignet werden will, so sehr, dass es da keine Bekennerschreiben oder politischen Schwätzereien von spezifischen Organisationen irgendeiner Art gibt, und es sei gesagt, dass es um jene Zeit von aufkommenden Strukturen diverse gab. Es ist nicht eine Idee, die sich über die anderen erhebt, um zurück zur Ordnung zu rufen, welche vom nicht regelkonformen Verhalten, von den von einem gewissen Kommissar Calabresi begangenen Missetaten gestört wurde, schliesslich ist es ja sicher nicht normal, dass ein Festgenommener auf dem Präsidium, während eines Verhörs, aus dem Fenster geworfen wird.

Wenn diese Welt auf der bemessenen Gerechtigkeit basiert, auf den zahlenmässigen Berechnungen eines Gebens und eines Habens, eines Bestrafens aufgrund des getanen Unrechts und Unrechttun aufgrund der erlittenen Strafe, so handelt es sich um eine Welt, die nichts zu tun hat mit jener Idee von Gerechtigkeit, die in jenem Moment, an jenem Abend, auf dem Grossen Friedhof von Mailand, kollektiv hervorgekommen ist. Es kam also an jenem Abend, ohne dass irgendjemand es wollte oder es wusste, eine Idee von Gerechtigkeit hervor, die zuvor nicht da war, eine Idee, die überbordet und das einzelne Verlangen, die einzelne Phantasie davon, dem guten Kommissar Calabresi in den Mund zu schiessen, belächelnswert macht, ein Verlangen und eine Phantasie, die ganz sicher von praktisch allen Anwesenden gehegt wurden, aber die wie alle Verlangen und alle Phantasien, wenig später, mit der Rückkehr zum Alltagsleben, im Nichts entschwunden sind.

Aber diese Idee von Gerechtigkeit (die man als “proletarisch” definieren könnte, wenn nicht, wie richtig darauf hingewiesen wurde, sich der Staub der Jahrhunderte über diesen Begriff gelegt und ihn unverwendbar gemacht hätte), welche wir, da wir nicht wissen, wie wir sie nennen sollen, weiterhin so, schlicht, Gerechtigkeit nennen werden, diese Idee von Gerechtigkeit hat in allen von uns ihren Weg fortgesetzt, sie hat uns alle zusammen vereint behalten, Gefährten, die mir nie nahe gewesen sind, die dort an jenem Abend anwesend waren, die ich anschliessend wenige Male anderswo gesehen habe, vielbeschäftigt mit ganz anderen Sachen, sie und ich, Gefährten, für die ich, sagen wir es offen, sehr wenig Achtung habe, wenn nicht geradewegs Abneigung und Verachtung, nun, aufgrund der schlichten Tatsache, dass an jenem Abend dort auch sie waren, fühle ich jedes Mal, wenn die entfernte, aber sehr lebendige Stimme der Gerechtigkeit mich ruft, und mein Herz in Aufruhr versetzt, auch jene Gefährten wieder nahe.


Dies ist, weshalb ich weiss, wer den Kommissar Luigi Calabresi getötet hat, am 17. Mai 1972, vor seinem Haus an der via Cherubini 6 in Mailand, morgens um viertel nach neun.

Jene tausend und mehr Gefährten, die am Grab 434, Feld 76, des Grossen Friedhofs von Mailand anwesend waren, wir alle haben auf den Abzug gedrückt.

Kein Vergeben. Kein Mitleid.

Addio Lugano bella.

Catania, 12. Juli 1998

Alfredo M. Bonanno

Pinelli und das Staatsmassaker

Am 12. Dezember vor achtundzwanzig Jahren, am Nachmittag, betrat eine Person die Banca Nazionale dell'Agricoltura an der Piazza Fontana in Mailand. Sie hinterliess eine Tasche und ging davon. Wenige Minuten später explodierte die Tasche und verursachte fünfzehn Tote, wenn ich mich recht erinnere – denn die Toten, mit dem Vergehen der Zeit, verblassen schliesslich in der Erinnerung – und neunzig Verletzte, womit sie im damaligen sozialen Gewebe eine Wunde aufriss, die in gewisser Hinsicht bis heute unheilbar und unverständlich ist.

Heute Abend, hier auf diesem Platz, befinden wir uns selbstverständlich nicht in der Lage, bis aufs Letzte aufzuklären, was die Kräfte des italienischen Staates, in jenem so heiklen Moment unserer Geschichte, dazu gebracht hat, an jenem Ort, an jenem Abend, jene Bombe zu legen, und jenes Massaker herbeizuführen.

Aber wir befinden uns in der Lage, ein weiteres Mal, zu bekräftigen, was unverzüglich, nur wenige Minuten nach dem Massaker gesagt wurde, nämlich, dass dieses Massaker die Organe des Staates begangen hatten, dass es der Staat in erster Person begangen hatte, dass es ein Mann des Staates zur Vollendung gebracht hatte.

Und wir müssen versuchen zu verstehen, weshalb sich der Staat, an einem gewissen Punkt, zu einer solchen Geste entschliesst: aus Leichtsinnigkeit, aus purer Grausamkeit, etwa aus Dummheit? Oder aus hinterlistigem politischem Kalkül? Nun, diese Frage hat uns während achtundzwanzig Jahren geplagt und sie plagt weiterhin, nicht nur die Gewissen der Revolutionäre, sondern die Gewissen von jedem rechtschaffenen Menschen, der in der italienischen Gesellschaft lebt, der diese letzten achtundzwanzig Jahre miterlebt hat und der sich weiterhin fragt: „Aber ist es denn möglich, dass die machiavellischen Pläne eines Verbrecherstaates bis zu diesem Punkt gelangen können? Ist es denn möglich, dass man für einen politischen Plan das Risiko eingeht, das Leben von Dutzenden, von Hunderten von Personen aufs Spiel zu setzen? Und dann weshalb dieser politische Plan? Was machte so sehr Angst, um zu diesem Schritt anzutreiben?“.

Und hier müssen wir eine kleine Überlegung anstellen, einen kleinen Schritt zurück machen, um zu versuchen, die Fäden von dem zu erfassen, was zu diesem Zeitpunkt, im Dezember 1969, die Situation war, um zu verstehen, wie der Staat funktioniert, um zu verstehen, wie der Staat, einige Teile des Staates, diejenigen, die den obersten Machtentscheiden substanziell näher stehen, handeln, das heisst, um zu verstehen, wie die Exekutivstrukturen des Staates funktionieren, um es zu vermeiden, uns hinters Licht führen zu lassen, um es zu vermeiden, dass sie sich als etwas ausgeben, was sie nicht sind, sich als demokratischen Ausdruck der Kräfte der Nation präsentierend, während sie doch einzig der Ausdruck der hinterlistigsten, repressivsten und verbrecherischsten Kraft der Herrschaftsstrukturen sind.

Das Jahr 1969 ist das Jahr, welches auf die Erfolge der Studentenbewegung folgte, die 1968 ausbrach. Das Jahr 1969 ist das charakteristische Jahr, welches die italienische Gesellschaft zu einem Wendepunkt führt. Das Jahr '69, besonders anfangs Herbst, ist das Jahr der gewerkschaftlichen Kämpfe; es ist das Jahr, in welchem es der Fähigkeit zu einer Beziehung zwischen der Studentenbewegung und den fortgeschrittensten Fraktionen von einer gewissen Kritik der Gesellschaft gelingt, ein Minimum an Koordination mit den gewerkschaftlichen und nicht-gewerkschaftlichen Produktionsstrukturen der Fabriken aufzubauen. Es ist das Jahr, in welchem die Produktionswelt sich in Rebellion befindet und mit verschiedenen Energien brodelt. Doch diese Energien sind nicht, wie uns häufig erzählt wird, diejenigen, die nach strukturellen Veränderungen, nach Lohnverbesserungen fragen, die Druck ausüben auf eine in ihren Umgestaltungen, in ihren Restrukturierungen ziemlich langsame Struktur des Kapitals, sie sind nicht nur das. Diese Energien sind fähig, sich selbstzuorganisieren. Dies ist, meiner Meinung nach, das Schlüsselwort, um zu verstehen, was 1969 passiert ist, man findet es heraus, indem man das Konzept der Selbstorganisation vertieft. Die Produktionsstrukturen waren zu dieser Zeit nicht selbstorganisiert, sowie sie es auch heute nicht sind, das ist klar, aber sie sendeten Signale von selbstorganisatorischen Fähigkeiten aus. Diese Signale wurden ausgesendet durch eine radikale Kritik an gewissen, von den Gewerkschaften manifestierten regierungsfreundlichen Haltungen, und gaben das Vorhandensein von einer Fähigkeit zu verstehen, sich in den Kämpfen selbstzuorganisieren. Unzählige autonome Streiks brachen aus und die Repression des Staates erfolgte nicht nur in den grossen Fabriken des Nordens, sondern auch im Süden, in Avola, wo die Polizei auf die Arbeiter schiesst, in Battipaglia, wo die Polizei auf die Arbeiter schiesst. Sie tötet in Avola und sie tötet in Battipaglia.

Das Jahr 1969 ist das Jahr, in welchem der Staat weiss, dass er dabei ist, eine radikale, eine wichtige Partie zu spielen, und diese Partie wird nicht nur um die Fähigkeit gespielt, dem Feind von jeher, der Arbeiterbewegung in ihrem generischen Aspekt als Forderung nach Verbesserungen, nach Veränderungen entgegenzutreten, sondern auch etwas Hintergründiges, etwas, auf dieser Ebene, nicht Klares, angesichts der Fähigkeit, die bei diversen Gelegenheiten von den Arbeiter- und Produzentenmassen bewiesen wurde, sich selbstzuorganisieren, auch in kleinen Dingen, in kleinen, scheinbar nebensächlichen Aspekten.

Nun, ich frage mich, Gefährten, die ihr mir zuhört, diese Fähigkeit, unter einem theoretischen Gesichtspunkt und unter einem praktischen Gesichtspunkt, wer besitzt sie seit jeher? Sie ist seit jeher ein Patrimonium der anarchistischen Bewegung, es sind die Anarchisten, die seit jeher die Notwendigkeit davon verfochten haben, sich im Kampf selbstzuorganisieren, sich die Kampfstrukturen anzueignen und kämpferische Bewegungen ins Leben zu rufen, und nicht an Gewerkschaften gebunden zu bleiben, welche nicht anders als Wasser auf die Mühle der Regierung leiten können. Dies ist, weshalb die Anarchisten, zu jenem Zeitpunkt, für den Staat ein Dorn im Auge waren, und nicht nur zu jenem Zeitpunkt.

Dies ist, weshalb sie uns auch heute ins Gefängnis stecken, weil wir die mögliche Referenz für einen selbstorganisatorischen Raum der Kämpfe bilden. Nicht weil sich zu diesem Zeitpunkt, wie im Jahr 1969, diese selbstorganisatorische Form der Kämpfe in Realisierung befindet, sondern weil sie sich in nuce in der kleinen möglichen Idee befindet, welche morgen zu einem Samen werden kann, übermorgen zu einem Baum werden kann, und dann Äste treiben und die revolutionären Früchte einer sozialen Umwälzung hervorbringen kann. Dies ist, wovor der Staat sich fürchtet. Dies ist, weshalb der Staat den Blick mit Aufmerksamkeit auf die Anarchisten richtet, dies ist, weshalb da ein Mann ist, in jener Nacht, oder besser gesagt an jenem Abend des Jahres 1969, mit jenem seinem Aktenkoffer, dies ist, weshalb diese Bombe, weshalb diese Toten, weshalb das Staatsmassaker. Dies ist, weshalb bereits vor dem 12. Dezember von vor achtundzwanzig Jahren eine Verantwortlichmachung der Anarchisten begründet wurde. Denn 1969 ist nicht nur das 1969 der Tötungen durch die Polizei in Acola und in Battipaglia; es ist auch das Jahr, in dem es in ganz Italien zu hundertfünfzig Attentaten kommt, an diversen Orten und in vielen Bahnstationen, kleine Attentate, die meist nur Schäden verursachen. Und dann war da das Exempel, die Vorbereitung, die grosse Probe im Hinblick auf das, was man am 12. Dezember tun wollte: das Attentat vom 25. April.

Die Bomben an der Fiera campionaria von Mailand sind also die Generalprobe: die Bomben explodieren, nur wenige Verletzte, es hätte ein Massaker sein können, es hätte Tote geben können. Es werden die Anarchisten verhaftet. Weshalb die Anarchisten? Das Ehepaar Corradini, welches in der Redaktion des Verlagshauses Feltrinelli arbeitete, wird verhaftet, und gemeinsam mit ihnen weitere vier, sehr junge anarchistische Gefährten, sie werden fast zwei Jahre im Gefängnis sitzen, um anschliessend mit einem Freispruch rauszukommen, weil der Tatbestand nicht vorliegt. Jener Tatbestand lag nicht vor, jene Bomben hatten die Anarchisten nicht gelegt, aber das Ziel war erreicht. Es bestand darin, einen Bezugspunkt, einen Sündenbock zu bilden. Um die Anarchisten arbeitete der Staat schon seit Langem im Verborgenen, nicht nur mit seinen Aufmerksamkeiten, die er stets auf uns richtet (während ich spreche, befinden sich hier auf diesem Platz, in diesem Moment, Stellvertreter in Paradeuniform, die dabei sind, aufzunehmen, was ich sage, die dabei sind, jene zu fotografieren, die wir hier sind, und so weiter), also nicht bloss diese Aufmerksamkeiten, sondern andere Aufmerksamkeiten, jene der Geheimdienste, die Aufmerksamkeiten jenes Geheimdienstes, der damals in Italien der Vorherrschende war, nämlich des amerikanischen Geheimdienstes, der CIA, die Aufmerksamkeiten der Faschisten, welche sich organisierten, um zu versuchen, den äusserst schweren Repressionsschlag in Richtung der Anarchisten zu lenken.

Ihr kennt zum Beispiel, und sie können euch unmöglich nicht bekannt sein, die Namen Freda und Ventura, weitbekannte Faschisten, die mehrmals wegen dess Staatsmassakers angeschuldigt und freigesprochen wurden – man weiss ja nie –, in einigen von jenen zahlreichen Prozessen, die es im Laufe der letzten Jahre zu diesem Thema gegeben hat. Nun, jener Ventura, mit dem Look eines Gefährten, mit Bart und Kapuzenjacke, im Unterschied zu seinem Kumpane Freda, der hingegen einen typisch faschistischen, typisch geordneten Look hatte, Ventura ist der Herausgeber von einigen anarchistischen Texten, schon lange vor dem 12. Dezember '69. Ventura hängt sich rein, kontaktiert Gefährten, zum Beispiel kontaktiert er einen Gefährten in Palermo, um sich eine Einleitung zum Einzigen von Stirner anfertigen zu lassen, den er wenig später herausgeben wird. Doch der anarchistische Gefährte aus Palermo weist ab und er lässt sie sich von einem anderen Gefährten anfertigen, kein Anarchist, der damals die Zeitschrift “Che fare?” leitete, welche ebenfalls bei Feltrinelli herausgegeben wurde, dieser Gefährte war Roberto Di Marco, der so die Einleitung zum Einzigen von Stirner unterzeichnet. Ebenfalls das faschistische Verlagshaus von Ventura publiziert ein anderes anarchistisches Buch: Die gegenseitige Hilfe, wenn ich mich recht erinnere, oder Die Eroberung des Brotes von Kropotkin, aber ich glaube Die gegenseitige Hilfe von Kropotkin.

Weshalb tun die Faschisten das alles, lange vor dem 12. Dezember 1969? Weshalb erhalten sie Finanzierungen vom Innenministerium, um das zu tun? Um im Vorhinein, in unverdächtigen Zeiten, also 1968 und in den ersten Monaten von 1969, die Aufmerksamkeit auf die Anarchisten zu begründen und zu lenken. Die Anarchisten machen also Angst. Sie machen Angst, weil sie die Referenz, das konkrete Potential von dem bilden, was die Selbstorganisation der Kämpfe ist.

Nun ich frage mich, ob sich jemand der Anwesenden daran erinnert, vielleicht nicht persönlich, aber vom Hörensagen oder weil man es in den Büchern gelesen hat, sich an etwas erinnert, was, gegen Ende der Siebzigerjahre, auf eine Fähigkeit der revolutionären Organisationen, der mehr oder weniger studentischen Bewegungen, der sogenannten revolutionären Parteien von damals deuten konnte, die treibende Kraft von einer möglichen Selbstorganisation der Kämpfe darzustellen? Abgesehen von den Anarchisten nein, denn, wenn ihr sie eine um die andere betrachtet, so waren diese Organisationen alles pyramidenförmige Strukturen, Parteistrukturen. Lotta Continua selber war eine Organisation, die in gewisser Hinsicht, aufgrund einiger libertären Charakteristiken, fähig war, kleine Fraktionen von Gefährten zu faszinieren, im Wesentlichen blieb sie aber eine pyramidenförmige Struktur, mit einem ganz präzisen Programm, mit parteilichen oder para-parteilichen Führungsstrukturen. Einzig die Anarchisten haben seit jeher, als persönliches Kampfpatrimonium, die Selbstorganisation der Kämpfe gehabt, und dies ist folglich, weshalb der Staat sich gegen die Anarchisten richtete. Dies ist, weshalb einige Tage nach dem 12. Dezember Valpreda verhaftet wird, dies ist, weshalb Pinelli getötet wird.

Giuseppe Pinelli, ein Gefährte, den ich gekannt habe, ein interessanter Mensch, wir teilten wahrscheinlich über viele Details, besonders über die Organisation, nicht dieselben Ideen, aber ein Gefährte, der sehr weit entfernt war von einer gewissen Art, den revolutionären Kampf aufzufassen. Weshalb haben sie Pinelli gewählt? Weshalb haben sie, einmal auf das Präsidium gebracht, eigens ihn getötet? Weil sich auf ihn die Interessen dieses Super-Polizisten gerichtet haben. Weil er das letzte Tüpfchen des Künstlers war. Wenn ein bekannter Mann wie Pinelli, eine anständige Person, sich umbringt, dann konnte es über die Schuldhaftigkeit der Anarchisten keine Zweifel mehr geben. Es war quasi ein Geständnis nach allen Regeln. Wer ist der Architekt dieses ausgeklügelten und schrecklichen Plans? Obacht, wir sprechen hier von Calabresi, von Luigi Calabresi.

Ein junger Mann von 36 Jahren, nicht einmal sehr weit in der Karriere, ein schlichter Kommissar. Und doch war er zu jenem Zeitpunkt, auf allen Plätzen von Mailand, der bedeutendste, der wichtigste Polizist, derjenige, der es sich erlaubte, auf seine Weise zu redigieren und alle Verhöre auf seine Weise zu führen, ungeachtet dessen, was seine Übergeordneten sagten, ungeachtet des Beiseins oder nicht von irgendeinem Justizbeamten.

Es ist er, der die Gefährten befragt, die am 25. April verhaftet wurden, es ist er, der die Gefährten Braschi und Faccioli aufs Land führt und eine gestellte Exekution von Braschi organisiert, ihm die Pistole an den Kopf haltend und eine leere Ladung auf ihn entladend, es ist er, der den Gefährten Braschi auf dem Fenster sitzen lässt, aus welchem, Monate später, Pinelli stürzen wird, es ist er, der sich auf diese Weise den Übernamen “Kommissar Fenster ” zuzieht. Es ist also nicht möglich, was, um ehrlich zu sein mit geringer Scham, und für kurze Zeit, über einen Selbstmord von Pinelli behauptet worden ist. Ich langweile euch hier nicht mit den Beweisen und mit dem, was von den Gefährten als Analyse produziert worden ist, um die Unmöglichkeit eines Selbstmords von Pinelli zu beweisen. Ich spreche euch hier von jener Person: vom Herrn Calabresi.

Ein Kommissar der öffentlichen Sicherheit. Über diese Person ist ein sehr schöner Film gemacht worden: Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto. Wahrhaftig betrachtete er sich als über jeden Verdacht erhaben, als eine Person, die nicht angerührt werden konnte. Einer, der die Stärke liebte, einer, der die willkürliche Gewalt liebte, wie es typisch ist für die stupidesten Instrumente des Staates. Auf ihn konzentrierte sich alle Sorgfalt und alle Aufmerksamkeit, die der Staat auf seine Instrumente richtet. Aufgepasst, Calabresi war kein Polizist wie alle anderen. Er war in Amerika gewesen, er ist in der Schule der CIA ausgebildet worden, er hatte einen anderen Look, der in gewisser Hinsicht täuschen konnte, der auf geschickte Weise täuschte. Ich spreche euch von einer Person, die mich verschiedene Male angehalten hat, die ich persönlich gekannt habe, die jemanden täuschen konnte, der, wenn auch nur für einen Augenblick, die Tatsache aus dem Auge verlor, vor sich einen Feind zu haben, er mochte wie eine demokratisch disponible Person wirken, fähig, anarchistische Texte zu zitieren, aber zur selben Zeit fähig, die leere Ladung einer Pistole an die Schläfe eines Gefährten zu halten. Dies ist, weshalb wir hier über ihn sprechen.

Diese Person ist beim Verhör von Pinelli anwesend. Es ist bewiesen, dass er sich im Zimmer von Pinelli befand. Über all die Heiligsprechungen, die jetzt versuchen, die demokratischen Rechtmässigkeiten des armen Calabresi wiederherzustellen, kann ich nur lachen. Denn der arme Calabresi hatte eine Frau, die ein Kind erwartete: aber auch die Henker haben eine Familie, auch die Henker müssen ihren Kindern zu essen geben. Also lassen wir uns nicht beeindrucken: Henker bleiben Henker, auch wenn sie Familienväter sind, auch wenn sie das Metier, das sie ausüben, ausüben, um ihren Kindern zu essen zu geben. Keine Heiligsprechung, bitte, wenigstens von unserer Seite niemals. Keine Rechtfertigung, nicht einmal jene der Zeit, die Zeit, die vergeht und die so viele Dinge vergessen lässt.

Es gibt da ein Lied, das lautet: «Wir waren drei Tausend an jenem Nachmittag, mit drei Tausend an deinem Begräbnis» , sich auf das Begräbnis von Pinelli beziehend, und vielleicht waren wir mehr als drei Tausend, und alle, an jenem Nachmittag, neben jenem Sarg, jeder in seinem Herzen schwörte, etwas zu tun, damit diese schreckliche Tat, das schreckliche Verbrechen des Todes unseres Gefährten, nicht unbemerkt vorübergeht. Sicher, in dem Zimmer, in dem Pinelli verhört wurde, waren wir nicht, ich war da nicht. Sicher, zusammen mit Calabresi befanden sich in dem Zimmer, in dem Pinelli verhört und gefoltert wurde, noch andere Personen: Brigadiere der öffentlichen Sicherheit, Oberleutnands der Carabinieri. Sicher, wir wissen nicht, welche Gesten begangen wurden. Sicher, wir wissen nicht mit welchen Worten und worüber, und auf welche Weise, versucht wurde, den armen Pinelli festzunageln. Sicher, wir wissen nicht, ob der Schuh, der in den Händen von Panessa blieb, zu den drei Schuhen gehörte, die von Pinellis Leichnam getragen wurden. Das können wir nicht wissen. Sicher, wir wissen nicht, weshalb der Krankenwagen, der den armen Pinelli wegbringen sollte, welcher nunmehr, unten im Innenhof des Mailänder Polizeipräsidiums, im Sterben lag, gerufen wurde, wie es de facto aus der Aufzeichnung der Ambulanz hervorgeht, drei Minuten bevor die beiden Reporter der “L'Unità”, welche zufällig durch den Innenhof des Polizeipräsidiums gingen, herunterstürzen sahen, was auf sie wie eine grosse Kartonschachtel wirkte, aufgrund dessen, wie es senkrecht, schnurgerade herunterstürzte, aufschlagend auf den Simsvorsprüngen der verschiedenen Stockwerke des Mailänder Präsidiums, an der via Fatebenefratelli. Das werden wir niemals wissen.

Aber an jenem Abend, als wir mit so vielen Gefährten zum Grossen Friedhof von Mailand liefen, um Pinellis Sarg zu begleiten, hatten alle und nicht nur wir, die wir bei diesem Anlass zugegen waren, sondern auch anderswo, in allen italienischen Städten, hatten zehntausende Gefährten das absolute, sichere Bewusstsein, ohne welches man im Leben nichts Ernsthaftes tun kann, ein auf perfekte, revolutionäre Weise selbstsicheres Bewusstsein, dass der Verantwortliche für jenen Tod, für den Tod unseres Gefährtens, der im Jahr 1969 im Mailänder Polizeipräsidium amtierende Kommissar Luigi Calabresi war.

Und der Mythos der Stärke, des unschlagbaren, stahlharten Mannes, der Mythos von diesem Übermenschen brach in der via Cherubini, vor seinem Haus, im Mai, am 17. Mai 1972, unter den Schüssen eines Revolvers zusammen.

Ein Revolver, der feuert, setzt der repressiven Tätigkeit dieser Persönlichkeit ein Ende, und es wäre von Seiten der Anarchisten korrekt, würden sie – wie man sagt – einen Stein drüber legen. Aber wir Anarchisten sind nicht korrekt, wir sind unkorrekt. Wir wollen weiterhin nicht nur über den Mord an Pinelli, an unserem Gefährten, durch den Kommissar Calabresi, sondern auch über den Tod dieses letzteren, darüber, wieso er gestorben ist, sprechen. Sicher, wir können nicht sagen, wer ihn getötet hat, da wir das nicht wissen, und falls wir es wüssten, würden wir es nicht sagen. Sicher, wir können nicht dieselben Mutmassungen anstellen, die von denjenigen angestellt wurden, die, mit Eigeninteresse, versuchten, und weiterhin versuchen, vom revolutionären Interesse dieser Geste abzulenken. Zum Beispiel ist über diesem Grab gesagt worden: „Nun, es kann einzig die CIA gewesen sein, die den Kommissar Calabresi getötet hat, denn es ist die CIA, welche Interesse daran hatte, ihn zum Schweigen zu bringen, denn jetzt, da er im Prozess von Lotta Continua festgenagelt war, hätte Calabresi letztlich Eingeständnisse über den Komplott des Staatsmassakers gemacht“. Mein Gott, jeder ist völlig frei, zu denken, was er will – und es hat würdige Personen gegeben, die für diese These eingetreten sind. Uns interessiert diese These nicht. Uns interessieren die Justizbeamten und die mehr oder weniger demokratischen Polizisten nicht.

Tatsache ist, dass sich die Welt in der Zwischenzeit verändert hat. Die Dinge haben sich weiterentwickelt. Das Kapital hat keine Notwendigkeit mehr, die furchterregenden Rückschläge der Produktionsstrukturen abzusichern, es hat jetzt andere Notwendigkeiten, worüber wir zu sprechen versuchen werden. Die Welt hat sich verändert und demnach sind neue Richter aufgekommen, mehr oder weniger erwachsene Burschen. Schaut, einer von diesen Richtern zum Beispiel war Teil der Studentenbewegung. Der Staatsanwalt Salvini war einer von jenen Gefährten, die mit Schlagstöcken und Transparenten durch die Strassen liefen, die Teil der Ordnungsdienste waren, und er hat all seine Gefährten vom Medizinkollektiv der Avanguardia Operaia aus Mailand wegen der Tötung des Faschisten Ramelli verhaften lassen.

Aber kommen wir zum Geständigen Marino, Ankläger von Sofri, Bompressi und Pietrostefani wegen der Ermordung des Kommissars Calabresi. Ob es die Carabinieri gewesen sind, die mit ihm zuerst gesprochen und ihm dann suggeriert haben, zum Priester zu gehen, um zu gestehen, an der Ermordung von Calabresi beteiligt gewesen zu sein, interessiert uns nicht. Es interessiert uns nicht, festzulegen, ob die Version von Marino wahr ist, oder ob die Unschuld von Sofri, Bompressi und Pietrostefani wahr ist, welche deklarieren, nichts mit der Ermordung von Calabresi zu tun zu haben. Uns interessiert es, die folgende These erneut zu bekräftigen: wie auch immer die Dinge gelaufen sein mögen, Calabresi war ein Henker des Staates, und wie auch immer diese Pistole in Funktion getreten ist, sie setzte einen Schlusspunkt hinter die Karriere eines Henkers des Staates. Ein jeder kann in seinem Herzen, ein jeder von jenen dreitausend Gefährten, die an jenem nebligen Nachmittag an jener traurigen Zeremonie auf dem Grossen Friedhof von Mailand teilnahmen, ein jeder von diesen Gefährten kann nur eines bedauern: nicht selber derjenige gewesen zu sein, der auf diesen Abzug drückte.

Aber abgesehen von diesem persönlichen Bedauern gibt es da nichts mehr zu sagen, wohingegen, wie es den Anschein macht, in dem Versuch, die Schuld von sich zu weisen, etwas gesagt wird, in erster Linie von Sofri – es scheint mir nicht, etwas von Pietrostefani oder von Bompressi gehört zu haben, aber offenbar muss es da, wenn ich weiss, dass er im Namen von allen dreien spricht, ein Einverständnis unter ihnen geben – und von den Komitees für die Freilassung von Sofri und Genossen, und dieses Etwas ist diskutabel, denn es greift eine Mentalität wieder auf, die in vielen Umfeldern von Ex-Kombattanten verbreitet ist.

Früher gab es die Vereine von Ex-Kombattanten, welche jene versammelten, die im Krieg gekämpft hatten, und sie trugen alle ein Abzeichen, dasselbe Abzeichen, sie spielten gemeinsam Karten und machten Ausflüge mit dem Reisebus, proppenvoll mit Ex-Kombattanten.

Heute läuft das nicht mehr so, aber im Wesentlichen ist die Mentalität noch immer dieselbe, jene der alten Männlein von früher, welche sagten: „der Krieg ist vorbei und jetzt warte, dass ich dir erzähle, was ich getan habe während des Krieges“ (jeder von ihnen hat Minimum fünfzig Deutsche getötet).

Nun, die Ex-Kombattanten von heute sagen im Wesentlichen dasselbe: „Der Krieg ist vorbei, daher versuchen wir, uns mit dem zu verbrüdern, der der Feind von gestern war; so hatte ich einmal fünfzig Deutsche getötet, aber wenn die deutschen Touristen kommen, so habe ich, der ich einen kleinen Laden habe und, was weiss ich, Ansichtskarten verkaufe, so habe ich ein Interesse daran, den Deutschen Ansichtskarten zu verkaufen.“ Versteht ihr den Gedankengang? Also, ich, der ich ein Ex-Kombattant des Krieges bin, der niemals wirklich geführt wurde, der ich euch die letzten zwanzig Jahre begleitet habe und der ich abgelassen habe, weil ich gedacht habe: „Aber ich, warum tue ich das eigentlich, letzten Endes ist der Krieg vorbei, folglich, worin besteht mein Interesse? Darin, dem Herren Cossiga meine Postkarten zu verkaufen, dies ist mein Interesse von heute, denn der Herr Cossiga kommt mir entgegen, kauft meine Postkarten und sagt mir: du bist ein Ex-Kombattant, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, nun ist der Krieg vorbei, wir sind alle Brüder, wir müssen hier die künftigen Geschicke der Demokratie und des italienischen Staates aufbauen, welcher sich verbessern muss.“

Nun, dies ist ein Gedankengang, der mich noch nie überzeugt hat. Ich persönlich, ich und viele Gefährten, die diese Idee teilen, wir sind gegen das Ablassen. Es stimmt nicht, dass der Krieg vorbei ist. Der Krieg ist nie von irgendwem erklärt worden, denn es gibt da kein Papier, das wir unterzeichnet haben, um unserem Feind, welcher in dem Staat besteht, den Krieg zu erklären. Es gibt da also kein Papier, das wir unterzeichnen können, um damit aufzuhören, gegen den Staat Krieg zu führen, denn der Staat existiert seit jeher und solange es uns nicht gelingen wird, ihn in seinen konkreten historischen Realisierungen zu besiegen, werden wir niemals dahin gelangen, sagen zu können, dass wir den Krieg beendet haben. Das Ende des sozialen Krieges bedeutet für uns die freie Gesellschaft, die Anarchie. Wenn es da irgendeinen Cossiga gibt, der mir anrät, es zu lassen, da wir doch alle Brüder sind und wir uns alle vertragen können, um zu versuchen, diese Gesellschaft zu verbessern, dann kann man sich sicher sein, dass der Krieg nicht vorbei ist.

Die Verteidigungskomitees von Sofri und all die Organisationen, welche versuchen, äusserst beträchtliche Kräfte zu rekuperieren, die laut ihnen im bewaffneten Kampf verschwendet wurden, welcher in den letzten zwanzig Jahren, in den 70er-Jahren, um deutlich zu sein, realisiert wurde: sie sagen folgendes: „Wenn der Krieg vorbei ist, was nützt es da, noch weiter zu kämpfen?“. Aber die wirkliche Schlussfolgerung, worin besteht sie: ich höre auf, ich als einzelner Gefährte höre auf und werde schliesslich zum Diener von Craxi, ja sogar zum Diener der Diener von Craxi, nämlich von Martelli, denn man kann ja sowieso nichts mehr machen. Die Zeiten, in denen viele schrieben: „Es lebe Lotta Continua“, sind vorbei. Weshalb mache ich diesen Gedankengang? Damit derjenige, der mir zuhört, sagen kann: „Schau, dieser hier hat aufgehört, dann höre ich auch auf.“ Dieser Gedankengang ist sonnenklar, denn diese Leute hören nicht nur auf, sie sorgen dafür, dass die anderen aufhören, indem sie von einem alltäglichen, politischen und sozialen Engagement zur Veränderung der Gesellschaft ablassen. Wenn ich von politischem Engagement spreche, meine ich für ein Verständnis der Gesellschaft, denn das grundlegende Konzept der Politik besteht darin, zu verstehen, was in der Realität am geschehen ist, was sich in der Realität am verändern ist, nicht für Politik im Sinne von Regierungspolitik. Nun, wenn ich damit aufhöre, mich für diese Probleme zu interessieren, und in meine kleine individuelle Angelegenheit zurückkehre, was baue ich dann um mich herum auf? Ein Klima des Ablassens. All meine Ex-Gefährten, was würden sie gemeinsam mit mir tun, wenn nicht einen Interessensverband aufbauen, der, gemeinsam mit mir, versucht, sich gegenseitig absichernd zu überleben, und die anderen Ideen zu übermannen. Dies ist, was diesen armen Jungs geschieht. Gestern mit der Illusion, die Welt erobern zu können, den Himmel zu erklimmen, heute eingeschlossen in einer leblosen Dimension, die versucht, die Vergangenheit auf eine unrechtfertigbare Weise rechtfertigend zu überleben, in dem Versuch, in dem vorankommen zu können, was die institutionellen Strukturen des Staates sind. Dies ist, weshalb Cossiga ihnen eine Hand reicht, dies ist, weshalb er versucht, sie zu rekuperieren.

Aber die Anarchisten sind nicht einverstanden. Sie sind nicht einverstanden damit, dass der Krieg vorbei ist, denn er wurde nie begonnen, er ist nie erklärt worden. Der Krieg mit unserem Klassenfeind, mit unserem radikalen, historisch unveränderlichen Feind, der im Staat besteht, existiert seit jeher. Diesen Krieg, den wollen wir auf unsere Weise auch heute weiterführen, mit allen Kräften, die es uns ins Feld zu führen gelingt, wie vor achtundzwanzig Jahren, als wir angeprangert haben, noch am selben Abend wie die Bombe auf der Piazza Fontana hochging, wenige Minuten später, wenige Stunden später, mit einem Flugblatt, das noch heute, aus der Distanz von achtundzwanzig Jahren, von allen Anarchisten unterschrieben werden kann, als wir angeprangert haben, dass diese Bomben der Staat gelegt hatte. Das waren die Bomben der Bosse, der Staat hatte sie gelegt. Dies ist, weshalb für uns, abgesehen von den Verteidigungserfordernissen im Prozess von Sofri und Genossen, oder vom Versuch, dafür zu sorgen, dass der Prozess revidiert oder neu untersucht wird, dies ist, weshalb für uns Anarchisten Sofri und seine Genossen falsch liegen.

Sie liegen falsch, nicht in dem Versuch, aus dem Gefängnis zu kommen, sie liegen falsch aufgrund der Art, wie sie wählen, aus dem Gefängnis zu kommen, eine Art – wohl aufgepasst –, die äusserst komplex und äusserst schwierig zu evaluieren ist. Dem Schein nach wählen sie einen Weg, der kohärent ist, denjenigen der Zurückweisung des Ersuchens um Gnade, aber substanziell sagen sie: „Wie merkwürdig, uns im Knast zu behalten, unter einer Bedingung, in der es nicht mehr die objektiven Elemente gibt, um die Revolutionäre im Knast zu behalten. Weshalb sollte eine wieder befriedete Gesellschaft die Revolutionäre im Knast behalten?“.

Das ist ihr Gedankengang und es ist ein falscher Gedankengang, denn implizit ist er noch schlimmer als jener, um Gnade zu ersuchen. Denn ich kann sagen – und es ist legitim, dass ich das sagen kann – „Einen Moment, stopp, ich pack das nicht mehr.“ Auch ich, mit all meiner Militanz von 30 Jahren, mit all meinen Jahren Knast, auch ich habe das Recht, zu sagen: „ich bin jetzt 60 Jahre alt, ich pack das nicht mehr Gefährten, tut mir leid“. Das ist legitim, denn wir sind Menschen, wir sind keine Übermenschen, wir sind keine Götter. Ich, als Anarchist, möchte gerne weitermachen, aber als Mensch kann ich, an einem gewissen Punkt, die Notwendigkeit verspüren, eine Auszeit zu verlangen. Aber das gilt nur für mich, es darf nur ich sein, der die Folgen davon akzeptiert, vornehmlich ich und mein Gewissen. Ich, der ich mir, mich im Spiegel betrachtend, letztlich sage: „du bist ein Idiot, du packst das physisch nicht mehr.“

Einverstanden, das ist akzeptabel, denn wir sind Menschen. Aber ich kann nicht, ich darf nicht, es wäre verbrecherisch, zu versuchen, diesen Mangel des Menschen, diese Schwäche des Fleisches, diese physische Unmöglichkeit zu rechtfertigen, indem sie als objektive Tatsache maskiert wird, und zu sagen: „Da der Krieg vorbei ist, da es niemanden mehr gibt, gegen den es zu kämpfen gilt, was soll ich da noch tun?“. Und schon rechtfertige ich auf diese Weise mich selber, bringe ich Ruhe in mein Gewissen. Ich ersuche nicht um Gnade, aber ich übe Druck aus auf den Staat, damit er sich bewusst wird, dass es unter einer befriedeten Bedingung unnütz ist, die Revolutionäre drinnen zu behalten. Die Anarchisten machen diesen Gedankengang nicht und, da sie ihn nicht machen, werden sie verhaftet und in den Knast gesteckt.

Das Letzte, was ich euch sagen will, ist dies. Unsere Situation, in ihrer Gesamtheit, hat beträchtliche Charakteristiken von Zersetzung, sowohl sozial wie produktiv. Es ist eine recht unverständliche Situation. Eine politische Formation, wie wir sie heute an der Regierung sehen, die sich mit einigen Charakteristiken einer “zweiten Republik” präsentiert, die sich als eine neue Regierung präsentiert, mit neuen Ideen, die sich als die Regierung präsentiert, auf welche die italienische demokratische Gesellschaft seit vierzig Jahren wartete, die sich als die politische Kraft präsentiert, die den Schwierigkeiten von einem halben Jahrhundert mafiöser Übermacht der Christdemokratie hätte Abhilfe schaffen sollen, diese politische Kraft, je mehr allmählich die Monate vergehen, je mehr allmählich die Zeit voranschreitet, enttäuscht und erweist sich als unfähig, eine konkrete Antwort zu geben, die fähig ist, diese Gesellschaft zu verändern.

Dies ist die Situation, in welcher wir leben, dies ist die Situation, in welcher das Kapital in vollen Zügen die Energien der vorherigen Produktionsumgestaltung verwendet hat, die Möglichkeiten der neuen Technologien, die Möglichkeiten der sogenannten Mobilität in den Fabriken bestmöglich ausschöpfend, welche folglich die Struktur der Fabrik der Vergangenheit zerstört hat, während sie die Produktionskosten um vieles reduzierte, und welche demnach heute mehr Kraft hat, um sich als indirekte Ausbeutungsmethode zu organisieren, die dabei ist, die klassischen Stätten der Arbeitszeit, des Lohnkampfes, einer gewissen Art, sich zu verteidigen, möglicherweise auch des garantierten Einkommens, auseinanderzubrechen. Dieser Aspekt, diese Gesellschaft trägt in sich den Keim von einer möglichen Selbstorganisation der Kämpfe. Das heisst, je mehr auf diesem Weg vorangeschritten wird, welchen das Kapital selbst nicht mehr ändern kann, denn es hat sich auf einen Weg gemacht, der ohne Umkehr ist, desto mehr zersetzt sich die Produktivstruktur selbst, desto mehr weitet es sie über das Territorium aus, desto mehr macht sie objektiv die Bildung neuer Kerne, neuer Strukturen, neuer selbstverwalteter Formen des Kampfes möglich, welche in einer Produktionsgesellschaft wie derjenigen der Vergangenheit, basierend auf der Fabrik, konzentriert in den Abreitsstätten, undenkbar, oder jedenfalls sehr schwer realisierbar war.

Dies ist das neue Konzept, das beginnen muss, sich unter uns Raum zu verschaffen, jenes einer anscheinenden Zersetzung, denn für den Staat ist es nicht eine wirkliche Zersetzung, sondern ist es Restrukturierung, Neukompaktisierung in dezentrierter Form, Ausbildung auf andere Weise der produktiven Kontrolle. In diese produktive Kontrolle werden in den nächsten Jahren auch die Kräfte des Konsums eintreten, Konsumenten und Produzenten werden sich gemeinsam vereinigen, werden dasselbe sein. Nun, in dieser zutiefst veränderten Realität, in rascher und immer neuer Veränderung begriffen, wird die Realisierung von selbstverwalteten Kämpfen möglich sein, von Kämpfen, die eine wesentliche Charakteristik von Selbstorganisation haben. So werden die Anarchisten ein weiteres Mal wieder gefährlich sein.

Der Staat räsoniert auf sehr einfache Weise: diese Art von Struktur, so, wie sie sich konfiguriert, als das, wie sie sich in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird, wird unvermeidlich selbstverwaltete Kräfte und Formen bekunden. Schaut, überall finden sich die Anzeichen davon: zum Beispiel die COBAS bekunden und sind, in gewisser Hinsicht, Rekuperations- und Kontrollversuche dieser Selbstorganisationskräfte, welche versuchen, durch einen peripheren und marginalen Kontrollversuch zu rekuperieren. Aber der Wege, wie man sich auf selbstverwaltete Weise organisieren kann, gibt es viele. Der Staat weiss das, und er weiss auch, dass die historischen Bewahrer die Anarchisten sind, er weiss, dass die überlieferte Erinnerung, die seit jeher innerhalb der Gesellschaft existiert, aus der anarchistischen Bewegung besteht, aus den Anarchisten besteht, welches diejenigen gewesen sind, die im Denken und in der Praxis diese Selbstorganisation der Kämpfe realisiert haben.

Dies ist, weshalb die Anarchisten ein weiteres Mal zu Verantwortlichen werden, dies ist, weshalb wir vor einem Jahr inkriminiert worden sind, fünfzig, sechzig oder vielleicht mehr anarchistische Gefährten in ganz Italien. Noch immer befindet sich der Grossteil im Gefängnis. Ich bin rausgekommen aufgrund einer rein bürokratischen Frage, eines Kontrasts zwischen dem Kassationsgericht und der Staatsanwaltschaft, eine Frage von Daten, die ich euch nicht genau zu erklären vermag. Ich bin unter dieser besonderen Voraussetzung herausgekommen, nicht weil ich für unschuldig gehalten wurde in den Anklagen, die gegen uns gerichtet wurden.

Aber weshalb stehen wir im Zentrum dieser Aufmerksamkeit, weshalb werden die Anarchisten auch heute verhaftet, und nicht nur 1969? Weshalb werden sie auch 1996 noch immer in Massen verhaftet? Weshalb machen sie noch immer Angst?

Sie machen noch immer Angst, weil sie den wesentlichen Referenzpunkt darstellen für den Fall, dass sich die Ausgebeuteten, auf spontane Weise, aufgrund von ihren eigenen Angelegenheiten, der Entwicklung von jenen produktiven und sozialen Widersprüchen folgend, die sich ausserhalb der Vorhersehbarkeit des Kapitals entwickeln können, entschliessen würden, sich selbstorganisierend aufzulehnen. In diesem Falle werden wir unter ihnen sein, werden wir unter denjenigen sein, die, indem sie sich auflehnen, bestimmte Kampfrealisierungen ins Leben rufen, die mit einer speziellen inneren Fähigkeit ausgestattet sind, derjenigen, die für die selbstorganisierte Bewegung typisch ist, nämlich, sich direkt gegen den Staat auszudrücken, nicht bloss die banale Reform einer Lohnverbesserung, einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen fordernd, sondern auf einmal dies zu fordern und gleichzeitig den ganzen Rest, oder alles zu fordern und gleichzeitig die partielle Reform.

Aufgrund von dieser besonderen Charakteristik der Selbstorganisation, die sich nebelhaft, innerhalb der Widersprüche selbst, die aus den Restrukturierungen des Kapitals hervorkommen, zu zeigen beginnt, sind es die Anarchisten, die einen Bezugspunkt darstellen können. Dies ist, weshalb die Anarchisten Angst machen, dies ist, weshalb die Gesellschaft sie als das subversive Element par excellence betrachtet.

Dies ist, weshalb wir angeschuldigt werden, eine bewaffnete Bande gebildet zu haben, eine bewaffnete Bande, die niemals existiert hat, denn wir haben keine bewaffnete Bande gebildet gemäss der von der Regimementalität gewünschten Charakteristik, als das, wie sie es gewohnt worden sind, die bewaffneten Banden der Vergangenheit zu betrachten – erinnern wir uns, um uns recht zu verstehen, um ein Beispiel zu machen, an die bewaffnete Bande namens “Rote Brigaden”. Wir haben niemals eine bewaffnete Bande gebildet. Wir haben seit jeher das bewaffnete Bewusstsein gegen den Staat gebildet. Wir bilden, seit jeher, die bewaffnete reale Kraft, die sich auf radikale, auf subversive Weise im Kampf gegen den Staat befindet. Dies ist unsere Art, “bewaffnete Bande” zu sein, dies ist unsere Art, “subversive Vereinigung” zu sein, dies ist unsere Art, Vereinigung gegen den Staat zu sein. Wir schliessen uns zusammen, wir kommen zusammen, wir versuchen, uns auf der Basis der gegenseitigen Affinitäten, aufgrund der gegenseitigen Kenntnis, aufgrund der gegenseitigen persönlichen Vertiefung kennenzulernen, um gegen den Staat zu kämpfen. Das weiss der Staat und das ist der Grund, weshalb er uns heute, aus der Distanz von achtundzwanzig Jahren, mit all den Ereignissen, die in der Zwischenzeit passiert sind, mit all den Neuheiten, die innerhalb der Produktivstrukturen des Kapitals eingetreten sind, noch immer als seinen Hauptfeind betrachtet, und dies ist, weshalb er uns weiterhin verhaftet und versucht, dafür zu sorgen, dass wir so lange wie möglich im Knast bleiben.

Wir aber fahren einmal mehr damit fort, unsere Überlegungen zu entwickeln. Anarchismus heisst Kampf für die Freiheit. Nicht für einige Freiheiten, nicht für die Redefreiheit, für die Bewegungsfreiheit, für die Freiheit in der Wahl des Ortes, wo man wohnen will, sondern für die Freiheit. Der Freiheitsbegriff bedeutet absolute Freiheit, totale Freiheit, Freiheit ohne irgendein Adjektiv. Wir sind nicht jene politischen Kräfte, die für die Freiheiten kämpfen, wir sind keine Exponenten einer demokratischen Gesellschaft, die versucht, die Freiheiten, wovon die Gesellschaft geniesst, zu vertiefen, zu verbessern, zu vergrössern. Wir sind für die unmittelbare Forderung nach der Abschaffung des Staates, wir sind für die Freiheit. Deshalb machen wir Angst.

[Kundgebung, die am Abend vom 12. Dezember 1997 auf der piazza delle Due torri in Bologna gehalten wurde. Niederschrift der Tonbandaufnahme.]

Die Calabresi-Affäre

Die jüngsten Verhaftungen [1988] von ehemaligen Mitgliedern von Lotta Continua, angeklagt des Mordes am Kommissar Calabresi, wecken in mir Erinnerungen an jene Jahre, in denen praktisch alle Gefährten von dieser Aktion, in positivem Sinne, berührt waren. Heute hat sich vieles geändert. Es sind wenige, die diese Tat als eine korrekte und lobenswerte Richtigstellung betrachten.

Nach sechzehn Jahren also zieht jetzt die italienische Richterschaft, notorisch wenig befliessen gegenüber den grossen Staatsverbrechern und den grossen Mafiosi, die Trumpfkarte hervor und deklariert, zu wissen, wer Calabresi getötet hat, und wie er getötet worden ist.

Die Gefährten werden sich daran erinnern, dass im Mai 1972 jemand den “Kommissar Fenster” vor seiner Haustüre niederstreckte. Jetzt ist da ein “Geständiger”, der angibt, wer der materielle Ausführende der Tat gewesen sei und wer die Mandanten gewesen seien.

In der hierarchischen Sichtweise der Richterschaft decken die Dinge sich perfekt. Die Mandanten können nur jene gewesen sein, die damals an den Führungspositionen des Organigramms jener politischen Organisation verzeichnet waren, welche sich “Lotta Continua” nannte. Die Ausführenden schliesslich können nur Gefährten von geringerem Range sein. Alles gut ausgeklügelt. Der dienstbereite Geständige bestätigt – man beachte wohl, erst nachdem exakt die erforderlichen Jahre verstrichen sind, um aufgrund Verjährung aus dem herauszukommen, was ihm angelastet werden konnte – und es ist dann ja nicht so wichtig, dass die Verhafteten alles abstreiten.

Aber der Schreibende erinnert sich noch sehr gut an das Klima zu jenen Zeiten, als sich die Nachricht der Ermordung des Kommissars ausbreitete. Auch in einer kleinen Stadt im tiefen Süden, wo ich mich befand, waren alle Gefährten, unmittelbar und spontan, erfreut darüber, die Nachricht zu vernehmen, dass Pinellis Mörder endlich jemanden gefunden hat, der das Richtige für ihn ist. Heute, mit der Besänftigung der Herzen und mit dem Vergehen der Zeit, wundert man sich ab jener spontanen Zustimmung, und verspürt man fast schon Scham darüber. Wahrlich, dieser rasche (und weniger rasche) Wandel auf dem Weg nach Damaskus gilt nicht für den Unterzeichnenden, aber ich merke, dass ich nicht in zahlreicher Gefolgschaft bin.

Aber was wollt ihr, ich weiss nicht, was daran ändern. Aus der Distanz von so vielen Jahren bin ich auch heute noch felsenfest, leidenschaftlich davon überzeugt, dass derjenige, der Calabresi getötet hat, etwas Korrektes und Lobenswertes getan hat.

[Veröffentlicht in “Provocazione” Nr. 16., September 1988, S. 1]

Aber wer hat Pinelli getötet?

Es ist gewiss nichts Aussergewöhnliches, dass in den Büros der Polizeipräsidien Überzeugungsmethoden angewandt werden, die so radikal sind, dass sie nicht selten das Ableben jener verursachen, die ihnen unterzogen werden.

Jüngst [1988] in Padua, wo sich vor wenigen Monaten der triste Ritus wiederholt hat, und auch an anderen Orten, in den Kasernen der Carabinieri.

Dies, ohne den systematischen Gebrauch der Foltermethoden, jeglichen Grades, miteinzuberechnen, welche im Vaterland von Beccaria und Verri munter beibehalten werden, während die ganze Welt der fortschrittsgläubigen Herdentiere den Gesetzes- und Verfahrensreformen applaudiert.

Was war da, in einer solchen Situation, Besonderes an der Tatsache, dass Pinelli am 16. Dezember des Jahres 1969, in den Büros des Polizeipräsidiums von Mailand getötet worden ist? Nur ein Fall unter vielen.

Und doch hatte dieser Fall etwas Besonderes. Nicht etwa, weil es sich um einen Anarchisten handelte. Was konnten die anderen Anarchisten schon ausrichten, jene, die sich nach der Provokation der Piazza Fontana wie Schnee in der Sonne auflösten, und jene wenigen, die noch übrig blieben? Nicht viel. Ja, sie haben viel ausgerichtet, wenig danach, sich in eine Meinungsbewegung einbringend, die aus politischen Interessen auch von den Linksparteien unterstützt wurde. Aber an jenem Abend stellten sie gewiss keine Besorgnis dar für die mailändischen Verantwortlichen der öffentlichen Ordnung.

Pinelli wurde also getötet – und sein Selbstmord mit so viel Eilfertigkeit konstruiert, dass es sich als absurd und überschlägig herausstellt, wie es nunmehr als gewiss erscheint –, weniger wegen der Besorgnis über das, was nachher passieren würde, als vielmehr, um das zu verdecken, was bereits passiert ist. Es musste die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Anarchisten gerichtet werden. Die blossen Verhaftungen von Valpreda und Gefährten genügten nicht, es brauchte etwas mehr. Und Pinelli wurde, in der Eile des Moments, dieser unschicklichen Perspektive geopfert. Die Missetaten verdecken, die bereits zur Vollendung gebracht wurden. Die Faschisten verdecken. Die Geheimdienste verdecken.

Werden die Fortschrittsgläubigen von heute den Mut und die von der Zeit hervorgebrachten Milderungsgründe finden, um zu einer, wenn nicht endgültigen, so zumindest teilweisen Klärung zu gelangen? Wir zweifeln daran.

Calabresi tat seine Arbeit. Sie nannten ihn “Kommissar Fenster”, weil er die Untersuchungshäftlinge auf der Fensterbank seines Zimmers sitzen liess – wie Braschi es später bestätigte (Monate vor dem Tod von Pinelli) –, sie dazu ermahnend, sich herunterzuwerfen. Eine Erfahrung, der es nicht gerade einfach ist, sich zu stellen, für jemanden, der sich in einem Zustand von seit Tagen anhaltender, physischer und psychologischer Folter befindet.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die anwesenden Polizisten, und sei es auch nur durch die Exponenten der Geheimdienste, über das Risiko sehr wohl Bescheid wussten, das sie für das eingingen, was auf der Piazza Fontana angestellt wurde. Dies kann sie unmöglich nicht schlecht beraten haben. Ein schlechter Rat, der von ihrem Gewissen als bezahlte Mörder sofort angenommen wurde.

Heute, auf der Welle der Verhaftungen von Sofri, Pietrostefani und Bompressi, redet man viel über Calabresi und die Ermordung von Pinelli. Aber niemand fragt sich wirklich, weshalb er getötet wurde und von wem. Aber die Schwindeleien, die Falschaussagen, die Erpressungen und die Miseren, welche der ganzen Affäre des Massakers von Mailand zugrunde liegen, die hat niemand Lust zu klären, und folglich sind alle damit einverstanden, Pinelli zu vergessen.

[Veröffentlicht in “Provocazione” Nr. 16, September 1988, S. 1]

Weshalb die Kräfte des Gegners aufbauschen?

Sofort nach der Ermordung von Pinelli in den Räumlichkeiten des Mailänder Polizeipräsidiums, und seinem Sturz aus dem Fenster des Zimmers von Kommissar Calabresi, verbreitete sich im Geiste vieler Gefährten, nicht nur der Anarchisten, die Überzeugung, dass der Staat niemals eine wenig wahrscheinliche Suche nach den Schuldigen zuwege bringen wird.

Man war sofort überzeugt, dass der Tod von Pinelli eine weitere Missetat des Staates bleiben würde, wie es zu seiner Zeit der von Salsedo in Amerika war, jenseits der unglaublichen Ähnlichkeit der Sachverhalte.

Einige Jahre später, genau gesagt im Mai des Jahres 1972, wurde der Kommissar Calabresi vor seiner Wohnung in Mailand mit einigen Pistolenschüssen getötet.

Diese Tat wurde, im Geiste der Gefährten, mit der Tötung von Pinelli in Zusammenhang gebracht. Eine korrekte Bestrafung für den Hauptverantwortlichen jenes Todes. Eine korrekte Sache, dachte man damals, und zwar zu vielen.

Dann begann das Geschwätz. Es verbreitete sich die Manie der Distinktion, der politischen Mutmassungen. Man dachte, dass es die Geheimdienste hätten sein können, da der Kommissar über das Massaker von Mailand zu viel wusste. Man dachte, dass es die Faschisten hätten sein können.

Ja manche Gefährten führten letztere Hypothese sogar sehr detailliert aus, wie Stuart Christie, welcher in seinem englischen Buch über Stefano Delle Chiaie – es als sicher hinstellend – darüber spricht, dass der Kommissar Calabresi von Faschisten ermordet wurde.

Effektiv haben wir keine Gewissheit darüber, ob es Gefährten gewesen sind, die Calabresi umgelegt haben. Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass an Pinellis Begräbnis unzählige Gefährten anwesend waren und dass sich alle in ihrem Herzen, auf eine mehr oder weniger bewusste Weise, Calabresis Tod wünschten.

Man kann natürlich einräumen, dass es etwas anderes ist, etwas zu wünschen, als etwas tun zu können. Und das stimmt. Doch wir dürfen nicht die Möglichkeiten der revolutionären Bewegung zu sehr herabsetzen und alle Kräfte der Reaktion und dem Staat zurechnen.

Auch die Revolutionäre können etwas tun, und oftmals tun sie das auch. Leider gibt es in vielen Gefährten die – fast schon masochistische – Manie, die gegnerischen Kräfte aufzubauschen, zu behaupten, die Perfektion der polizeilichen und im Allgemeinen staatlichen Maschinerie sei nunmehr so weit fortgeschritten, dass unsere Möglichkeiten wahrlich nur noch wenige sind.

Gegen diese Art und Weise, den Feind aufzubauschen, muss gesagt werden, dass, wenn es richtig ist, den Feind zu kennen, indem man seine Möglichkeiten und seine Mittel studiert, er deswegen nicht in eine allmächtige Maschinerie verwandelt werden darf, gegen die kaum etwas ausgerichtet werden kann.

[Veröffentlicht in “Provocazione” Nr. 16, September 1988, S. 5, als “Nota redazionale” (“Anmerkung der Redaktion”) zum Artikel: “Pinelli è stato ucciso. Calabresi anche” (“Pinelli ist getötet worden. Calabresi ebenfalls”), unterzeichnet mit Antonio Gizzo]

Eines Morgens in Mailand, vor vielen Jahren

Drei Pistolenschüsse, und Calabresi, der Kommissar der politischen Abteilung des Präsidiums von Mailand, verantwortlich für den Tod des Anarchisten Pinelli, wird beim Verlassen seines Hauses getötet.

Seit jenem Morgen im Mai vor sehr vielen Jahren wurden Mutmassungen und Hypothesen aufgestellt, wurden Fährten verfolgt und Prozesse geführt. Mehr oder weniger fantasievolle Geständige haben sich hervorgetan, um das Ihre zu sagen. Sogar ein Geständiger mit einem Sigel der Wahrscheinlichkeit hat uns erzählt, wie er selber beim Treffen an jenem Morgen in jener Strasse, in der Calabresi seine ruhmreiche Karriere beendete, anwesend war. Nur dass dieser Herr sich nicht als überzeugend erwies, zumindest ist es ihm nicht gelungen, die Richter zu überzeugen, was für jeden Polizisten, ob gekürt oder beruflich, im Leben das höchste zu erreichende Ziel ist.

Jetzt [November 1994] versucht es das Kassationsgericht noch einmal. Der Prozess geht vors dritte Berufungsgericht in Mailand, und die Inszenierung geht weiter. Wir werden ein weiteres Mal Marinos “Wahrheit” hören, welchem es nur darum gelegen ist, dass seine Ex-Gefährten verurteilt werden, die “Klagen” der Gattin des Kommissars, welcher es nur um den guten Namen des Gatten gelegen ist, die technischen Rekonstruktionen über die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Tat, so, wie sie aus der Rekonstruktion des Geständigen hervorgeht, geleistet von Richtern und Anwälten, welchen es, je nach jeweiliger Rolle, nur darum gelegen ist, dass die Angeklagten verurteilt oder freigesprochen werden.

Und Pinelli? Und die kaltblütige Ermordung in Calabresis Zimmer im Mailänder Zentralpräsidium? Und die Verantwortungen von Calabresi und der anderen Ordnungsmänner, die in jenem Zimmer zugegen waren? Und die Rolle des Kapitän La Bruna, nachfolgend anerkannt und verurteilt als Putschist und Mitglied der P2 [Propaganda Due]? Und der Lieblingssport des braven Komissars, der auch mit einem anderen Gefährten von uns, einige Monate vor Pinellis Ende, am selben Fenster den Scherz mit dem Fenstersims machte?

Es kommt uns wahrlich die Übelkeit bei den Versuchen, nach zweiundzwanzig Jahren die Figur des braven Kommissars wieder herzurichten, der getötet wurde, während er seiner Pflicht nachging. Calabresi war einer der brutalsten und erbarmungslosesten von jenen Männer, die den widerlichsten Beruf der Welt ausüben. Er hatte Stil und Fähigkeiten seines Berufes in Amerika perfektioniert, in jenen Zentren der CIA, die überall so viele Wohltaten verstreut haben. In jener Zeit ist er in unserer Erinnerung als das Flagschiff der schlimmsten Repression. Der Faschist Guida, ein Mann des vergangenen Regimes, rezykliert, aber nicht allzu sehr, im Bereich der christdemokratischen Protektion, hatte Calabresi mit sich an einem Verantwortungsposten gewollt, eben aufgrund der ultrarechten politischen Ideen dieses letzteren und aufgrund seiner breiten Erfahrung in den amerikanischen Strategien der sozialen Spannung. Von einem solchen Mann müsste selbst die Erinnerung unangenehm sein für die Macht. Aber die Zeiten ändern sich und wir könnten Kanonisierungen sehen, die in anderen Momenten unmöglich waren.

[Veröffentlicht in “Canenero” Nr. 2, 4. November 1994, S. 2]

“Proletarische Justiz”

In “Provocazione” [Nr. 14, Juni 1990] ist ein Artikel mit dem Titel “Un atto di guerra sociale non abbisogna di giustificazione” [“Ein Akt des sozialen Krieges bedarf keiner Rechtfertigung”][1] veröffentlicht worden, worin ein Gefährte eine vertiefte Kritik am Konzept und am Begriff “proletarische Justiz” entwickelt, Bezug nehmend auf einige Dokumente von “Azione Rivoluzionaria”, welche in der Nr. 22 [November 1989] derselben Zeitung über den Fall Mammoli wiederveröffentlicht wurden, und auf einige Dummheiten, die in einem Brief der Gefährten der Biblioteca Serantini aus Pisa veröffentlicht wurden.

Darüber, dass der Begriff “proletarische Justiz”, abgesehen davon, heute diskutabel zu sein, auch veraltet erscheint, ist nichts zu sagen [Die unterschiedliche Konnotation von Justiz (als Institution) und Gerechtigkeit (als Idee) besteht im italienischen giustizia nicht – Anm. d. Ü.]. Tatsächlich habe ich selber beim Wiedergeben der Dokumente von “Azione Rivoluzionaria”, in einem nebenan veröffentlichten Artikel, unterzeichnet mit “ein sizilianischer Gefährte”, präzisiert, sich die Zeit, die seit der Erfahrung der Gefährten von “Azione Rivoluzionaria” vergangen ist, und die Positionen, die von dieser Organisation geäussert wurden, bewusst zu halten.

Wie auch immer dem sei, so scheint es mir, dass der Begriff, wenn auch mit all seinen Grenzen, trotzdem verwendbar bleibt, und dies deshalb, weil er nicht dem Konzept der schlicht und einfachen Rache gleichkommt.

Der Begriff der “proletarischen Justiz”, in Bezug auf welchen die grössten Perplexitäten das Wort “proletarisch” und nicht “Justiz” betreffen, enthält in sich, als eine kleinere und quasi marginale Dimension, die Hypothese der Rache, mit Recht ein vollwertiges menschliches Gefühl. Die proletarische Justiz ist hingegen etwas breiteres und etwas, das lediglich unter nicht-revolutionären Bedingungen von spezifischen Organisationen oder von einzelnen Individuen gemimt (und folglich zu sehr kleinem Teil realisiert) werden kann, wobei sie oft als kompensatorische Rache und nichts anderes erscheint.

Ich habe mich im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre mehrmals damit abgemüht, zu versuchen, dieses Konzept zu erklären, mit dem Ergebnis, nicht nur nicht in der Lage gewesen zu sein, es zu klären, sondern von der viel zersetzenderen Kritik der Zeit überholt worden zu sein, die darin geendet hat, die Inhalte zu pulverisieren, womit sich der Begriff “proletarisch” einst kleidete.

Besser so. Es fällt mir zu, auf das Thema zurückzukommen, und ich tue es bereitwillig. Wenn es darum gegangen wäre, einen neuen und vielleicht ideologisch geschützten Namen zu geben, dann hätte ich nie, wie eben vor etwa zwanzig Jahren, zum Konzept der “proletarischen Justiz” gegriffen, es hätte genügt, das Konzept des Angriffs gegen die Verantwortlichen der Ausbeutung vorzubringen. Aber der Zweck war, und bleibt, ambitiöser. Und in einem gewissen Sinne haben einige Kritiken diesen Zweck verstanden, indem sie mich anschuldigten, unter eine anti-deterministische Analyse, wie es die meinige stets gewesen ist, ein deterministisches, sprich ein selbstlaufendes Element mischen zu wollen. Natürlich hat auch dieser Einwand kein Fundament.

Unter dem Konzept der “proletarischen Justiz” müsste man, meiner Meinung nach, und ich denke, das Denken nicht weniger Gefährten über dieses Argument zum Ausdruck zu bringen, die Gesamtheit jener Manifestationen verstehen, die in einem bestimmten sozialen Moment beginnen, nach und nach immer konsistentere Entwicklungen anzunehmen, alle auf homogene Weise darauf ausgerichtet, Individuen und Dinge, die für die Ausbeutung verantwortlich sind, anzugreifen. Nur, wenn sich diese Aktionen qualitativ (Wahl der Ziele) und quantitativ (Zahl der erreichten Ziele) entwickeln, fassen sie in sich auch die Aktionen, die von einer agierenden Minderheit, oder von einzelnen Individuen realisiert werden, welche dasselbe Ziel und gleiche Beweggründe haben. Auf diese Weise kann man, in Akt, eine aktive Bewegung sehen, die auf eine immer organischere Weise Aktionen realisiert, auch ohne sich eine spezifische Organisation zu geben und ohne präzisen ideologischen Identitäten anzuhaften. Es gibt, in gewissen historischen Momenten und unter bestimmten sozialen und ökonomischen Bedingungen, eine gegenseitige Anerkennung von Ursachen und Wirkungen, welche über das Sigel und das ideologische Lager hinausgeht, um sich zu verschwören in der praktischen Aktion gegen Individuen und Dinge, die für die Ausbeutung verantwortlich sind.

Wann von der Aktion, die von der spezifischen Organisation oder vom einzelnen Individuum realisiert wird, zu dieser Bewegung übergegangen wird, die fähig ist, sich einen eigenen autonomen Gehalt zu geben, das kann man nicht sagen. Im Allgemeinen ist es erst im Nachhinein einfach, zu Schlussfolgerungen (ob nun exakt oder falsch) zu gelangen. Weshalb man merkt, dass vielleicht autonome Bewegungen von “proletarischer Justiz” wirklich zugegen waren und wir es nicht bemerkt haben, während wir die Präsenz solcher Bewegungen unterstützt haben, als es da nichts anderes als (mehr oder weniger zahlreiche) Aktionen von einzelnen Individuen oder spezifischen Organisationen gab.

Dies ist enthalten im Risiko von jemandem, der sich ein revolutionäres organisatorisches Projekt in Aussicht stellt, sei es im Bereich der minoritären Angriffsaktionen, wie auch im Bereich von Projekten, die einen breiteren Aktionsradius haben (praktische Indikation möglicher Kampfziele, Sabotagen, Angriffe auf differenzierte Ziele, zum Beispiel Produktion-Information, etc.). Man beginnt, indem man gedenkt, dazu beizutragen, eine Bewegung auszulösen, aber man ist sich nie gewiss über den Moment, in welchem sich diese Bewegung in Gang setzt, auch weil es die Bewegung ist, die, einmal eingesetzt, jegliches revolutionäre Projekt mit fortreisst und umwälzt (soweit, bis es den Realisierern selbst unbegreiflich wird).

Ehrlich gesagt, ich weiss nicht, wie viel von der Idee von Justiz (und noch weniger von der Idee von Proletariat, welche als Identifikation einer Klassenschicht noch stärker historischen Wandlungen unterworfen ist) in der Aktion von Einzelnen oder auf spezifische Weise organisierten Gruppen wirklich erfassbar ist. Das sind Bestrebungen, die jeder gemäss den eigenen Ideen, dem eigenen Charakter, den eigenen Verlangen und auch gemäss der eigenen Grenzen konkretisiert. Es lassen sich Grenzen festmachen, die man nicht überschreiten kann, ohne den Justizbegriff der schlichten Freude an der persönlichen Befriedigung zu opfern (wovon sich die Rache offensichtlich nicht loslösen kann), oder auch, ohne jenen Klassengegensatz verschwinden zu lassen, welcher stets der unentbehrliche Leitfaden ist, um die Verantwortlichen (Menschen in Fleisch und Blut) der Ausbeutung zu identifizieren. Grenzen und Einschätzungen verschieben sich mit der Zeit, verändern sich, so, wie auch Terminologien, aber die Verantwortungen und die Klassenzugehörigkeiten bleiben. Und es sind auch diese Fluktuationen, worin das moralische Fundament der proletarischen Justiz erfasst werden kann, auch wenn es heute vielleicht besser wäre, eine andere Definition zu finden, vorausgesetzt, dass mit dem linguistischen Problem nicht auch das viel handfestere Problem der Inhalte hinfort gerissen wird.

Ich denke, dass jeder Beitrag in diese Richtung akzeptabel ist, vorausgesetzt, dass man sich den Skrupel vorbehält, genau zu wissen, wovon man spricht.

[Veröffentlicht in „Provocazione“ Nr. 26, Februar 1991, Nr. 16]

Aktion und Vorsicht

Aufgeworfen von einigen Gefährten, besteht ein Problem der Folgen des revolutionären Kampfes, der möglichen Risiken davon, dass ein Ziel, wie gut gewählt und identifiziert es auch sein mag, zum Zeitpunkt, da es angegriffen wird, sich auf Personen und Dinge ausweiten kann, die völlig unbeteiligt sind. Dieses Problem, das sehr beträchtlich erscheint, weist, kaum wird es aufmerksamer betrachtet, seine Grenzen und folglich auch seine Haltlosigkeit auf.

Ich will damit nicht sagen, dass alles heiter seinen Lauf nehmen kann, während man einzig sich dem Glück empfiehlt und nicht alle Zufallsvariablen berücksichtigt, welche die Realität auf jedem Parcours aussät. Ich will im Gegenteil sagen, dass diese Probleme, welche von strikt moralischer Natur sind, Gefahr laufen, zu werden, was sie in Wirklichkeit sind, abstrakte Überlegungen, die sich die Realität der Tatsachen, die einzelne Alltagsrealität, als das, wie wir sie leben, nicht vor Augen halten.

Ohne auf katastrophale Weise extremistisch sein zu wollen, so gibt es, in dem Leben, das wir alle führen, auf die eine oder andere Weise, oft auf schmerzhaft einheitliche Weise, Verhaltensweisen – ein Auto zu fahren, das Gas anzuzünden, den Fussgängerstreifen zu überqueren und viele andere äusserst normale Handlungen –, die potenziell Risiken für andere Personen kreieren können. Unser wohlbedachtes Bewusstsein kann sicherlich diese Risiken auf ein Minimum reduzieren, zum Beispiel, indem man es vermeidet, dem Missverständnis vieler Suggestionen aus der Werbung zugunsten einer irrwitzigen Fahrtgeschwindigkeit zu verfallen, aber es kann sie nie gänzlich beseitigen. Nur in der konkreten Praxis, in der Repetition von Gesten und Handlungen, in der Gewohnheit, die quasi automatische Fähigkeit wird, Gesten zu realisieren und Handlungen zu vollführen, stellen wir fest, dass diese Gefahren, auch wenn sie nicht vollständig verschwinden, auf ein Minimum reduziert werden können, welches nur das wirklich unvorhersehbare und, im Grunde, unvermeidliche Ereignis in Realität übertragen kann. Jemand, der noch nie ein Auto bestiegen hat, noch nie Gas benutzt hat oder sich noch nie aus dem Heimatdorf hinausgewagt hat, verspürt wahrscheinlich, wenn er von solchen Dingen sprechen hört, ein furchtbares Gefühl von Beklemmung und empfindet daher die Notwendigkeit, sich alle Probleme zu stellen, die aus diesem Gefühl hervorkommen, aber jemand, der diese Handlungen mit einer gewissen Leichtigkeit vollführt, da er sie alltäglich praktiziert, beschränkt sich lediglich darauf, jene Vorsicht aufzuwenden, die ihm seine Sensibilität als bewusster Mensch anrät.

Ich will mit all dem nicht sagen, dass die revolutionäre Aktivität, in gewissen Fällen und für gewisse Gefährten, die routinehafte Leichtigkeit von gewissen Verhaltensweisen erreichen kann, welche das alltägliche Leben uns vor Augen legt. So wird es niemals sein, und im Endeffekt wird es für gewisse Aktionen, die Einsatz, Entschlossenheit, revolutionäres Bewusstsein und Mut erfordern, stets mehr Spannung geben, als für eine objektive Einschätzung der Dinge, die zu tun sind, vielleicht wünschenswert wäre; im Gegenteil, ich will sagen, dass die Probleme nicht aufgebauscht werden dürfen aufgrund der möglichen (ich sage nicht sicheren) Entferntheit von der Realität dieser Tatsachen.

Es könnte nämlich passieren, und tatsächlich ist es oft passiert, dass viele Diskussionen dieser Art, wie die nunmehr klassischen über die revolutionäre Gewalt, eine, ich sage nicht Lösung, denn in diesen Dingen gibt es keine zu findende Lösung, aber zumindest eine korrektere und simplere Aufgleisung finden könnten, also ohne viele unnütze Umschweife und gewundene Formulierungen, würden sich bloss die Gefährten, welche sie entwickeln, oder sie schlicht aufwerfen, die Mühe machen, in den Tatsachen die konkreten Aktivitäten zu überprüfen, worauf jene Diskussionen sich beziehen, und nicht stattdessen als gegeben hinnehmend, dass letztere so oder so wichtig sind, ungeachtet eventuellen vorangehenden praktischen Überprüfungen.

Dies würde dazu führen, herauszufinden, dass die gelebte Wirklichkeit stets simpler ist als die vorgestellte Tatsache, und oft eben deshalb, weil es sich um bestimmte Tatsachen handelt, die mit der Phantasie ausgearbeitet und all jenen Varianten ausgehändigt wurden, welche die moderne Mythologie so fleissig ist zu realisieren. Die Wirklichkeit ist immer fähig, praktische Ratschläge zu liefern, Lehren und Lektionen, die in der Lage sind, nicht so sehr die Phantasie zu zügeln, sondern sie auf jene Intuitionen und jene Vorstellungen auszurichten, die nur dann so schön und so interessant sind, wenn sie es gestatten, eben das vorauszusehen, was in der Wirklichkeit noch nicht existiert, oder, wenn es existiert, erst als Embryo oder als Potenzial. Für den Fall, dass sich die Phantasie trübt in dem – oft auf banale Weise verworrenen – Versuch, innerhalb von dem, was die faktische Wirklichkeit in diversen Details zu sehen gestattet, Rechtfertigungen oder mögliche Missverständnisse zu suchen, verliert sie ihren befreienden Schwung und wird eine Magd der Vorsicht und der Ungewissheit.

Die revolutionäre Aktion hat ihr eigene Probleme, das ist sicherlich wahr, und demnach auch moralische Kehrseiten, die zu diesen Problemen gehören. Keine menschliche Handlung ist bar an moralischen Kehrseiten, ja man könnte sogar sagen, dass sie eben deshalb eine Handlung des Menschen ist, weil sich dieser letztere, indem er sie begeht, Urteile von moralischer Natur stellt. Aber diese Urteile dürfen in unserem Kopf nicht zu Vorurteilen werden, zu Hindernissen für die Entwicklung der Aktion, zu Kontrollen, die wir eben deshalb an uns selber ausüben, weil wir im Grunde Angst vor der Freiheit haben.

Niemand hat das Recht oder, wenn man es bevorzugt, die Freiheit, leichten Herzens mit dem Leben von anderen zu spielen. Aber dieser unumstössliche moralische Punkt, der für die Anarchisten unleugbar ist, kann nicht damit schlussfolgern lassen, dass die Unmöglichkeit, eine Gewissheit über die unmittelbare Nicht-Schädlichkeit einer revolutionären Aktion zu haben, ihrer Unrealisierbarkeit gleichkommt. Die wirkliche Praxis dieser revolutionären Aktivität erlaubt es, in den meisten Fällen, Lösungen zu finden, die, auch wenn sie nicht absolut moralisch einwandfrei sein werden, mit Sicherheit um vieles weniger gefährlich sind, als eine abstrakte Formulierung des Problems es suggeriert.

[Veröffentlicht in “Anarchismo” Nr. 67, Mai 1991, S. 9-10]

Piazza Fontana, viele Jahre danach

Die 70er-Jahre, speziell der letzte Abschnitt, waren nicht nur charakterisiert vom repressiven Projekt, das auf der Piazza Fontana in Mailand verwirklicht wurde, sondern in erster Linie, zumindest soviel ich verstanden habe, von einer grossen Explosion von Lebendigkeit und Schönheit, die ab '68, ab dem Pariser Mai eintrat. Tatsächlich ist auch eine Person wie ich, der ich in diesen Jahren als Industrieführer arbeitete, überwältigt gewesen von einem Ereignis, das dermassen aussergewöhnlich war, dass ich mich innert kurzer Zeit gezwungen sah, die Arbeit niederzulegen und die Realität anders zu sehen. Aber ich war keine Ausnahme. Es gab viele, die denselben Drang nach Veränderung gehabt haben, speziell die Jugendlichen. Ich war damals mehr als dreissig Jahre alt und spürte folglich diesen Wind von Andersheit, der überall wehte, mit grösserer Schwierigkeit, für die Jugendlichen ist es sicher einfacher gewesen, sich von dieser überwältigenden Andersheit faszinieren zu lassen.

In diese Situation, worin sich für den Staat zum ersten Mal, nach vielen Jahrzehnten, das Schreckgespenst der Selbstorganisationsprozesse zeigte – absolut unbegreiflich und, wie alles Unbegreifliche, Ängste betreffend Störungen der sogenannten öffentlichen Ordnung verkündend –, interveniert der Staat auf seine Weise, auf die einzige Weise, wie er zu intervenieren weiss. Wir haben zu jener Zeit zum ersten Mal von dem Wort “Provokation” sprechen hören. Berücksichtigt, dass einige Wörter wie “Provokation”, “Staatsmassaker”, zu diesem Zeitpunkt, in jenen Tagen geprägt worden sind. Der Staat interveniert mittels seines Instruments, das traditionellerweise näher in Griffweite liegt, das heisst: den faschistischen Organisationen. Es stimmt nicht, dass die Initiative aus dem Stegreif startet, in dem Sinne, dass jemand, der listiger ist als die anderen, jemanden damit beauftragt, die Bombe zu legen, sondern sie reicht auf einige Zeit davor zurück.

Das Projekt davon, eine grosse Einschüchterungsoperation anzuwenden, wie es diejenige der Piazza Fontana gewesen ist, um die Selbstorganisationsprozesse nicht nur der Studenten-, sondern in erster Linie auch der Arbeiterkämpfe, den sogenannten heissen Herbst, zu stoppen, ist seit langem aufgegleist. Denkt daran, dass sich die Faschisten mit dem präzisen Entschluss organisiert hatten, die Anarchisten zu involvieren. Ich bin mir sicher, dass sie schon Jahre zuvor, ab Siebenundsechzig, bei den Edizioni NS, damit begonnen haben, anarchistische Texte herauszugeben, Texte wie Der Einzige von Stirner, Die gegenseitige Hilfe von Kropotkin, usw., um zu beweisen, wie eine Vermischung zwischen rechts und links möglich sein konnte. Dieses Projekt wurde auf sehr artikulierte Weise realisiert.

Was schliesslich das spezifische Legen der verschiedenen Bomben betrifft, so beginnt dieses nicht mit der Piazza Fontana, es beginnt Monate davor, genau gesagt ebenfalls in Mailand mit den Bomben an der Messe. Diverse Anarchisten werden verhaftet und bleiben mehr als ein Jahr im Gefängnis unter der Anklage des versuchten Massakers, welche schliesslich ins Nichts zusammenfallen wird.

Aber weshalb verspürt der Staat die Notwendigkeit, bei gewissen Gelegenheiten zu gewissen besonderen Mitteln zu greifen, weshalb kann es auch heute sein, dass es da irgendwo, in irgendeinem Zimmer der Macht, irgendeinen Bürokraten gibt, der wacher ist als die anderen, der gemeinsam mit anderen Mitstreitern dabei ist, ein Projekt zu organisieren, das anders ist als das, was wir als normale Repression definieren könnten. Es ist offensichtlich, dass es auch in den repressiven Techniken eine Entwicklung, ein Anwachsen von technischen und wissenschaftlichen Verfügbarkeiten gibt. Es mag sein, dass sich dies in Realisierung befindet. Es mag sein, dass viele Nachrichten, die wir in den Zeitungen lesen, viele Ereignisse, die wir wiedergegeben und kommentiert sehen, eine Reproduktion nach anderen Modellen von dem sind, was Neunundsechzig passiert ist. Das heisst, dass sie der Ausdruck von einer Verhaltensweise der Macht sind, gegenüber der wir jedes Mal verstört dastehen. Wir müssen verstehen, dass es vielen von uns, einschliesslich den Anarchisten, und in einem gewissen Rahmen besonders den Anarchisten, welche bereit sind, der Realität aufrecht und ehrlich entgegenzutreten, dass es viele gibt, denen es nicht gelingt zu verstehen, wie es Personen von solchem Schlag geben kann, wie es ein Individuum geben kann, das an der Realisierung von einem Projekt wie jenem der Piazza Fontana arbeitet, mit mehr als fünfzehn Toten und Aberdutzenden von Verletzten, am Abend klappt er das Aktenbündel zu, das er auf dem Tisch liegen hat, um zur Familie heimzukehren, um seine Kinder zu streicheln. Nun, uns gelingt es, glücklicherweise, nicht, etwas solches zu verstehen. Aber die berufliche Deformation des Polizisten, des Carabinieri, des Menschen vom Geheimdienst, gelangt so weit. Es ist überflüssig, diese Situation und diese Individuen als Monströsitäten zu bezeichnen, denn das erklärt nicht, vor was wir uns ein weiteres Mal befinden könnten, wie an jenem Abend in Mailand.

Aber die Gefährten, welche sich an jenem Abend in Mailand befanden, versammelt mit sehr wenigen, nicht mehr als drei oder vier, denn die anderen waren gänzlich verschwunden, schrieben ein Flugblatt, das heute noch teilbar ist, nicht ein Flugblatt, das drei Jahre danach geschrieben wurde, als alle nunmehr wussten, dass es sich um eine von den Faschisten und vom Staat gesponnene Machenschaft handelte, sondern wenige Stunden nach dem Ereignis. Und in diesem Flugblatt kommt der Ausdruck “Staatsmassaker” vor, ein Massaker, das vom Staat, und von seinen Dienern den Faschisten, beabsichtigt, realisiert und organisiert wurde.

Weshalb hatte man dies gedacht, wenige Stunden nach dem Hochgehen der Bombe in der Banca dell'Agricoltura an der Piazza Fontana? Weshalb haben diese Gefährten sofort verstanden, was es auf Seiten des Staates bedeutet, vor Situationen von Angst zu stehen, für den Staat wohlverstanden? Nun, diese Gefährten hatten verstanden, dass sich der heisse Herbst am 12. Dezember sicherlich an einem Wendepunkt befand. Die Gewerkschaftsfront hatte nachgegeben. Berücksichtigt, dass ich zu diesem Zeitpunkt im Chemiesektor arbeitete, ich war Leiter einer pharmazeutischen Industrie des augenärztlichen Sektors, auf meinem Tisch lag eben jener vom Chemiesektor gutgeheissene Vertrag, welcher den Bruch mit den noch immer nicht akzeptierten Vorschlägen aus dem Metallarbeitersektor festlegte. Dieser Bruch hätte im Land einen äusserst harten Rückschlag auslösen können, mit unvorstellbaren Folgen für die öffentliche Ordnung. Dies ist, weshalb sie am 12. Dezember diese Bombe legen, eine Bombe, die einen Haufen Tote und Verletzte verursachen soll, nicht eine demonstrative Bombe, sondern eine Bombe, die in der Lage ist, ein ganzes Land in die Angst zu stürzen.

Berücksichtigt, dass zu diesem Zeitpunkt der Innenminister ein Sozialist ist, berücksichtigt, dass die Tageszeitung der Sozialisten, die “Avanti!”, zwei Tage zuvor eine äusserst lange Rezension einer vernachlässigbaren Broschüre von mir mit dem Titel La distruzione necessaria [Die notwendige Zerstörung] publizierte, deren Abfassung Alberto Jacometti überantwortet wurde, welcher zu jenem Zeitpunkt der Theoretiker der sozialistischen Partei war. Weshalb wurde so viel Raum für eine anarchistische Broschüre vorbehalten in einer Zeitung, die gegenüber den Anarchisten sicherlich nicht wohltätig ist, und kaum zwei Tage vor der Bombe, welche sofort den Anarchisten zugewiesen werden wird? Diese Frage ist nicht meine – vielleicht bin ich, aufgrund meiner Art, die Dinge zu sehen, die Person, die weniger angezeigt ist, solcherlei Fragen zu nähren –, sondern sie gebührt einigen Militanten der PSIUP – einer Organisation von damals, an die sich vielleicht jemand erinnern wird –, welche diese Frage in ihrer Zeitung publizierten: Weshalb interessiert sich die sozialistische Partei zwei Tage vor dem Massaker für diese Broschüre? Weshalb lenkt sie die Aufmerksamkeit der grossen Öffentlichkeit auf die Anarchisten und auf eine besondere Interpretation des Anarchismus?

Der Staat hat die Notwendigkeit, das äusserste Mittel einzusetzen: die Bombe, die grosse Provokation, die Angst, und er hat auch die Notwendigkeit, einen Verantwortlichen zu finden, denn falls es vonseiten des Staates nicht möglich gewesen wäre, die Schuld für diese Monströsität unmittelbar den Anarchisten, und im Besonderen Valpreda zuzuschreiben, wäre es zu einem negativen Rückschlag gegen sich selber gekommen, da nicht in der Lage, die Verantwortlichen für jene Ungeheuerlichkeit zu identifizieren, welche zum ersten Mal den grossen Teil der italienischen und nicht nur italienischen Bevölkerung verstört und terrorisiert. Er schreibt also dieses monströse Massaker den Anarchisten zu. Die Anarchisten sind das Instrument, das es direkt als Sündenbock zu verwenden gilt. Um die Monströsität glaubwürdig zu machen, ist da das Monster, sind da die Monster.

Denkt an das, was diese Tage am geschehen ist [Dezember 2003], und was wir in allen Zeitungen lesen, denkt an die Sache mit dem Mineralwasser. Ich weiss nicht, was da dran ist an dieser Sache mit dem Mineralwasser, ich weiss nur, was ihr alle wisst, was wir alle in den Zeitungen lesen [mehrere Vergiftungsfälle wegen willkürlich in Flaschen gespritzter Ammoniaklösung]. Ich habe ein kleines Kind, und es ist klar, dass ich versuche, es zu vermeiden, ihm Leitungswasser zu geben, und damit anzufangen, die Wasserflasche von allen Seiten zu kontrollieren, verursacht Angstzustände, und in diesem Moment sind Millionen von Personen in Italien wie ich dabei, die Mineralwasserflasche zu wenden. Es könnte sein, dass sich da ein Projekt zur Verängstigung der Leute im Gange befindet. Ich weiss nicht, ob letzteres von einem besonders scharfsinnigen Verstand, von einem bedeutungsvollen, staatlichen Projekt, oder von irgendeiner Zentrale des Terrors verwaltet wird.

Persönlich glaube ich nicht, dass das Level heute, dass die organisatorischen Fähigkeiten der provokatorischen Levels seitens des Staats in der Lage sind, zu diesem Höhepunkt von delikater und äusserst raffinierter Realisierung zu gelangen. Ich will mir einbilden, dass die Sache wahrscheinlich irgendeinem wahnwitzigen Nachahmer von jemand anderem zu verschulden ist, der nicht nur wahnwitzig, sondern auch unfähig ist, seine destruktiven Triebe zu kontrollieren, sie auf etwas ausrichtend, was die Monotonie des Alltagslebens, womit alle konfrontiert sind, durchbricht. Ich bin für diese zweitere Interpretation, aber dabei handelt es sich stets um Mutmassungen, die eine Person wie ich, als ein Zeitungsleser wie ihr alle, anstellt, ohne konkrete Kenntnisse aus erster Hand zu haben.

Denkt an die realen Fähigkeiten, die der Staat hat, Provokationen zu entwickeln, um seine Ziele zu realisieren. Pinelli ist ein Bahnarbeitergefährte, von der Gruppe von Mailand, ein Anarchosyndikalist. Er hat eine Frau, er hat Kinder. Er ist ein Gefährte, der so sehr offen, so vertrauensselig ist, dass er ein gutes Verhältnis zu Calabresi hat. Sie kennen sich, sie haben sich sogar Bücher ausgeliehen, Pinelli hat ihm Bücher über die Anarchie gegeben. Er weiss nicht, der arme Pinelli, was für ein Monster er vor sich hat, denn Calabresi ist eine Maschine, die von der CIA in Amerika stumpfsinnig perfektioniert worden ist. Dieser Staatsfunktionär, von dem von Gian Maria Volonté in dem Film Un cittadino al di sopra di ongi sospetto [Ein über jeden Verdacht erhabener Bürger] eine treffliche, glänzende Karikatur erstellt worden ist, dieser Typ personifiziert die Macht, die Überheblichkeit, die Effizienz der Polizei. Im Grunde ist er ein Funktionär von bescheidenem Range, er ist ein Vize-Kommissar, dazu berufen, die politische Abteilung zu leiten, wie die DIGOS sich damals nannte, und doch hat dieser Vize-Kommissar etwas zu melden, denn er ist in Amerika gewesen, er war ein Zögling der CIA, er kann Karate, er hat die Gefährten verhört, gegen die ermittelt wurde, welche zu jener Zeit wegen der Bombe an der Messe in Mailand im Gefängnis waren, er hat den armen Braschi, einen von diesen Gefährten, in die via Fatebenefratelli gebracht und ihn auf jenem Fenstersims sitzen lassen, der erst später berühmt werden wird. Aus diesem Grund hatte Calabresi, schon vor dem Tod von Pinelli, in Mailand den Übernamen “Kommissar Fenster”.

Aber der arme Pinelli ist vertrauensselig, Calabresi fährt mit dem Auto vor und er folgt ihm mit dem Moped. Was passiert ist, wissen wir nicht. Ob es Calabresi gewesen ist, der den armen Pinelli aus dem Fenster geworfen hat, ist materiell nicht möglich zu wissen, aber er war da und ist mit Sicherheit verantwortlich gewesen für den Tod von unserem Gefährten.

Im Jahr 1972, am 17. Mai, in der via Cherubini, als er gerade dabei war, in sein Auto zu steigen, beendet der Kommissar Calabresi seine Tage, eine Kugel trifft ihn an der rechten Schulter und eine fegt ihm die Hälfte des Schädels weg. Er fällt hin und es hört nicht einmal jemand das Geräusch der Schüsse, denn es scheint, an jenem Montag, um 9:30 Uhr, waren nicht viele Leute auf der Strasse. Das Blut beginnt, eine riesige Lache zu bilden, eine vergebliche Fahrt mit dem Ambulanzwagen ins Spital, der Staatsfunktionär stirbt.

Mir ist es nie gelungen, den Abend, an welchem wir Pinellis Leichnam zum Friedhof begleiteten, von meinen Augen zu wischen. Die Ehefrau, die ihr in dem Filmchen gesehen habt, das hier vor kurzem übertragen wurde, so mürrisch, etwas eisern, eine arme Frau, aber eine etwas kalte arme Frau, zumindest auf mich hat sie immer diesen Eindruck gemacht, sie hatte gesagt keine Fahnen, keine Symbole. Aber jeder trug seine Fahne im Herzen mit sich und jeder, denke ich, wünschte sich an jenem Abend, dass dem Calabresi in Zukunft etwas nicht gerade Gutes zustossen soll.

Was wollt ihr, Rache ist kein unschickliches Gefühl, sicher wäre es schöner, wenn, was sich gegen diese Verwaltung der Macht, des Staates, der Geheimdienste, der Polizei, der Carabinieri bewegt, diese Helden, die sie uns ständig vor der Nase zur Schau stellen, die überall Gefahren eingehen, um unsere Ruhe zu beschützen, wäre es schöner, wenn jene, die diese Leute angreifen, tatsächlich die Gesamtheit aller rechtschaffenen Personen wäre, rechtschaffen im besten Sinne des Wortes, und nicht das einzelne Individuum von einem Pistolenschuss getroffen wird, der von einem Einzelnen abgefeuert wurde, welcher auf individuelle Weise eine effektive, konkrete Justiz umsetzt. Sicher, noch immer besser als nichts, noch immer besser, dass der Kommissar Calabresi dieses Ende gefunden hat und dass es, um an den Tod von Pinelli zu erinnern, da auch den Tod dieses Dieners des Staates, des Henkers, der ihn getötet hat, gibt.

In der Angelegenheiten der Repression und der Staatsprovokationen darf man nicht bei sporadischen Fällen stehen bleiben, denn während die Staatsform, worunter wir heute leben, das soziale In-Beziehung-Treten, in das wir alle eingetaucht sind, sich weiterentwickelt, während sich die traditionelle Macht des Staates, verstanden in seiner Form als Repression und Verwaltung, weiterentwickelt und stattdessen zu dem wird, was wir heute alle vor den Augen haben, eine Form, die essenziell auf der Meinungsverwaltung, auf der Meinungsbildung basiert, nehmen die Repression und die Provokationen allmählich andere Formen an. Effektiv basiert die Macht heute nicht direkt auf der Repression, sondern allem voran auf der Meinungsbildung, weshalb zuerst die Meinung konstruiert wird und dann, nur, wenn es Schmitze gibt, Dinge, die nicht laufen, wie sie laufen sollten, dann greift man zur Repression.

Der Staat stützt sich heute, zumindest so, wie es einem zu verstehen scheint, im Wesentlichen auf die Information, auf die Verwaltung der Information. Dieser neue Staat hat Bedarf an neuen korrektiven Fähigkeiten, dies ist die Richtung, in die neue Experimente von Seiten der Macht sich voranbewegen, und dies ist die Richtung, in der wahrscheinlich auch Geschichten wie jene des Mineralwassers gesehen werden können, wahrscheinlich, sage ich, denn die andere Hypothese, worin könnte sie bestehen?, darin, dass die Meinungskonstruktion selbst, die uns alle standardisiert macht, die uns allen das Gefühl gibt, in einer Zwangsjacke gefangen zu sein, welche Tag für Tag in allen kleinsten Einzelheiten ständig perfektioniert wird, selber das Durchbrechen vorschlägt, auch auf die schlimmste Weise, weil unkontrolliert und unkontrollierbar, das Durchbrechen ihres Zwangswerkes vorschlägt. Eine unannehmbare, aber vorstellbare Hypothese. Auch sie ist möglich. Dies schliesst nicht aus, dass jemand in diesem Moment dabei ist, eine globale Planung zu suchen, welche darauf ausgerichtet ist, uns für immer zum Schweigen zu bringen. Die Anarchisten sind ein Beispiel von einer kleinen irreduziblen Minderheit, die sich fortwährend auf die Notwendigkeit beruft, sich selbst zu organisieren, selber zu denken, zu versuchen, das eigene Leben auf andere Weise zu verwalten, Räume zu erobern, sie zu verteidigen, der Repression entgegenzutreten, wenn sie interveniert, um alles einzuebnen, um jegliche Möglichkeit auszulöschen, zu atmen, anders zu denken, dies und anderes mehr macht weiterhin Angst.

Die Anarchisten vom Ende der 60er-Jahre wurden als Verantwortliche für einen repressiven Prozess angeführt, der vom Staat und von den Faschisten konstruiert wurde, die Bombe der Piazza Fontana ist wohl das wichtigste und augenfälligste Exempel. Heute werden die Anarchisten, wenn ihr mit Aufmerksamkeit die Zeitungen lest, oft angeführt, ständig wird von diesen insurrektionalistischen Anarchisten gesprochen, ständig wird von den insurrektionalistischen Theorien gesprochen, welche von den Anarchisten verfochten werden. Heute spricht der Innenminister von der Gefahr dieser Theorien und dieser insurrektionalistischen Anarchisten, und wenn unsere Theorien und unsere Worte vom Mund eines toten Fisches gebrabbelt werden, eines Stockfischs, wie der Innenminister einer ist, läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken.

Heute wird ständig über die Gefahr der Anarchisten berichtet und dies ist der Aufgabe des Halsabschneiders sehr ähnlich, der am Abend vor seiner Arbeit aufmerksam an seinem Messer feilt, in Erwartung der Morgendämmerung, wann er zuschlagen wird. Und während er sein Werkzeug schleift, denkt dieser Mörder darüber nach, wie er morgen auf bestmögliche Weise zuschlagen kann, um seine Aufgabe zu Ende zu führen. Im Grunde ist es nicht schwierig, die Anarchisten anzugreifen, im Grunde sind sie wenige, sind sie desorganisiert, niemand verteidigt sie, selbst unter einander sind sie sich nicht immer einig. Der Staat weiss sehr wohl, dass die Verteidigung von Valpreda Ende der 60er-Jahre solange möglich war, wie dies der Kommunistischen Partei gelegen kam, als sich Valpreda, als wahnwitziger armer Kerl, der er war, an der Wahlkampagne des Manifesto beteiligte, nahm seine Verteidigung ein Ende. Also niemand verteidigt die Anarchisten, es sei denn auf instrumentelle Weise. Wir mögen in unseren Prozessen, in den diversen Situationen, in denen wir uns irgendeines Verbrechens angeklagt sehen, Anwälte finden, die uns verteidigen, ein paar Freunde, aber das sind persönliche, individuelle Bande. Ich denke, dass es da auch heute, wie damals, vonseiten der Macht die Absicht geben kann, die Anarchisten zu benutzen. Sicher, viele der Mittel, worüber wir heute verfügen, auch als Anarchisten, sind besser als diejenigen, worüber wir 1969 verfügten, zumindest die persönlichen Erfahrungen sind weitaus breiter und mühevoll ausgedehnt, aber die Sache ist noch immer möglich. Heute ist die Existenz einer Gruppe wie jener, welcher Valpreda angehörte, voll mit Infiltrierten und Faschisten, mit Sicherheit schwieriger, obschon wir unmöglich nicht einräumen können, dass gerade heute die Oberflächlichkeit und die Leichtfertigkeit von wenigstens einem Gefährten es einer Kollaborateurin der Carabinieri ermöglicht hat, dass zahlreiche Gefährten zu jahrzehntelanger Haft verurteilt wurden.

Im Jahr 1972 befand ich mich im Knast, mit einer Verurteilung zu zwei Jahren und zwei Monaten, die ich wegen eines Artikels abzusitzen hatte, der in der Zeitung “Sinistra libertaria” [“Libertäre Linke”] veröffentlicht wurde, und ich hatte keinerlei Möglichkeit, freigelassen zu werden, da ich eine Verurteilung hatte, die höher als zwei Jahre war, dennoch bin ich nach einigen Monaten rausgekommen, da in der Zwischenzeit ein Gesetz verabschiedet worden ist, welches das Valpreda-Gesetz genannt wurde, mit welchem es auch für diejenigen, die in erster Instanz Verurteilungen zu mehr als zwei Jahren erhielten, möglich wurde, in Erwartung der anderen Urteilsinstanzen freigelassen zu werden. Dabei handelte es sich um eine juristische Lösung, die vom Parlament verabschiedet wurde, um Valpreda und Gefährten rauszulassen, von deren Unbeteiligtheit an den Ereignissen der Piazza Fontana nunmehr alle überzeugt waren.

Heute hat sich die Situation stark verändert, was man heute zu begrenzen versucht, ist eine mögliche Entwicklung der Selbstorganisationsfähigkeit der Leute. Zwei Beispiele nur: die Streiks in Mailand der Strassenbahnfahrer und die Blockaden von Scanzano. Gegenüber diesen selbstorganisatorischen Phänomenen hat der Staat keine geprüften Mittel, hat er nicht die konkrete Möglichkeit, zu blockieren. Das Einzige, was er tun kann, ist, das Hindernis zu umgehen, falls ein Prozess der Generalisierung von dieser Art von Kampf einsetzen sollte, und, das Hindernis zu umgehen, bedeutet, die Aufmerksamkeit abzulenken, etwas zu kreieren, was die Leute dazu veranlasst, an etwas anderes zu denken, vor ein Ereignis gestellt, das so unverständlich, so überraschend, so aussergewöhnlich ist, dass es Angst macht. Und es besteht kein Zweifel daran, dass die Wahnwitzigen, von welchen wir vorhin sprachen, benutzt werden könnten. Bis zu welchem Punkt? Das weiss ich nicht.

Oder auch ein extrem raffiniertes, sehr fortgeschrittenes Projekt, unvergleichbar mit der Bombe von Mailand, das weiss ich nicht, darauf vermag ich keine Antwort zu geben. Was ich weiss, ist, dass die repressiven Projekte keine logischen Grenzen kennen.

Was möglich ist, zu wissen, ist, dass in den diversen Realisierungen, die der Staat voranbringt, zum Beispiel seiner Präsenz, seiner Intervention im Irakkrieg, seiner Beteiligung an den Eroberungsgeschicken der vorherrschenden Nation, Ereignisse geschehen können – um uns richtig zu verstehen – wie jenes von Nassirya. Mich jedenfalls hat eine marginale Frage, die auch vernachlässigbar erscheinen mag, zum Nachdenken angeregt. Zwei oder drei Tage vor dem Tod von so vielen Carabinieri in Nassirya hatte die Fernsehsendung “Striscia la notizia” ein paar Bilder übertragen, auf welchen einige Carabinieri dabei zu sehen waren, wie sie zu einem Angriff ansetzen, mit dem Griff der Schlagstöcke auf die Demonstranten einschlagend, etwas, was normal ist für einen Carabinieri, aber was viele Rechtschaffene unter dem Publikum verstört und vonseiten der Betreiber der Sendung eine Kritik hervorgerufen hat, die recht entrüstet darüber war, die Uniform des Carabinieri, mit so viel Dummheit, die darin steckt, auf eine solche die Regeln verachtende Weise zuschlagen zu sehen. Nach zwei Tagen, nach den Toten von Nassirya, war eben diese kritische Überlegung, jene bescheidene Verstörtheit, jenes Gefühl von Abscheu völlig verschwunden. Danach sind alle Patrioten geworden, alle einig, dass etwas getan werden muss, um “unsere Jungs” zu verteidigen. In Rovereto, wurde mir gesagt, hatten sie am 12. Dezember 2003 vorgeschlagen, jenen toten Carabinieri anstatt der Toten der Banca dell'Agricoltura zu gedenken. Dies ist eine, für den Staat recht geläufige Weise, die Meinung zu manipulieren und was auch immer für eine Situation sich präsentiert zu seinen Gunsten zu wenden. So wird die Verantwortung des Staates und der Faschisten bezüglich dem Blutbad der Piazza Fontana fortgewischt, indem über sie das Bild von Carabinieri gelegt wird, die in einem als Friedensoperation getarnten Krieg getötet wurden. Sicher, diese Operation ist extrem plump, und in gewisser Hinsicht kann sie als marginal und peripher betrachtet werden, aber sie ist dennoch Teil der gesamtheitlichen Meinungsverwaltung durch die Macht.

Dann gibt es da auch noch den fortgeschritteneren Teil des repressiven Prozesses, der neue Interventionsmodelle, neue Technologien studiert, der sich nicht auf Nachhut-Operationen oder eine Neubemalung von alten Grabmalen beschränkt. Als der Innenminister seine Rede vor der Kammer über die insurrektionalistischen Anarchisten und über die von ihnen dargestellte Gefahr hielt, hat er um Geld gefragt, hat er die Regierung um eine Erhöhung der Finanzierung der Ordnungskräfte gebeten, um ihre repressive Aufgabe besser realisieren zu können – repressive und präparative.

Schlussfolgernd: es ist jederzeit möglich, dass der Staat sich anders verhält, als wie es seine eigenen Gesetze ihm auferlegen. Oft sind jene, die verstört dastehen gegenüber diesen Verhaltensweisen, wir Anarchisten selber, da wir aufgrund von einer Art innerer Kohärenz unsererseits oft dazu verleitet sind, dem Feind eine Kohärenz im Verhalten anzurechnen, welche dieser nicht die geringste Absicht hat, einzuhalten. Es ist die Regel, dass der Staat, und seine verschiedenen Komponenten, die eigenen Regeln nicht befolgen. Das liegt daran, dass sich zwischen den Zielen, die sie erreichen wollen, und den Regeln, die es zu respektieren gilt, Kontraste ergeben können, die oft unbarmherzig sind. In diesem Falle haben stets die Ziele die Überhand, nie die moralischen Regeln. Es gibt unter den sogenannten Männern der Ordnung keine Seligen, die wie Heilige duften. Ich kann bekunden, da ich vielmals gefoltert worden bin, dass es keinen Sitz eines Präsidiums oder Posten der Carabinieri gibt, und selbst nicht das entlegenste Polizeikommissariat (ich habe keine Erfahrung von der Finanzpolizei oder der Gemeinde- und Forstpolizei), in dem es nicht ein Zimmer mit ein paar mehr oder weniger rudimentären Folterwerkzeugen gibt, und in dem nicht regelmässig dieser erhabene Dienst im Namen der demokratischen Tugenden der aus der Resistenza geborenen republikanischen Nation ausgeübt wird.

Wir müssen uns bewusst werden, dass der Staat all dies ist, er ist diese Bestie, jegliche Schandtat gilt es für den Staat bloss auf die Waage der Zweckdienlichkeit zu legen, und nicht auf diejenige eines inexistenten moralischen Verhaltenskodex.

Ich bedanke mich bei euch.

[Konferenz, die am 11. Dezember 2003 an der Fakultät für Soziologie der Universität von Trento gehalten wurde. Niederschrift der Tonbandaufnahme.]

«Ich habe schon immer eine starke Antipathie für diesen (im Übrigen, ich hoffe, ihr werdet übereinstimmen, ausgesprochen zweideutigen) Begriff der “proletarischen Justiz” empfunden, dessen Bedeutung mir stets entgangen ist. Oder besser, ich verstehe seine Bedeutung bestens aus dem Munde eines Kommunisten, weniger gut jedoch, wenn es ein Anarchist ist, der davon spricht.

Meiner bescheidenen Meinung nach bedeutet, das Verletzen von Mammoli als einen Akt der proletarischen Justiz zu bezeichnen, dieser Aktion eine Rationalisierung zu verleihen, derer sie nicht bedarf und die keinen Daseinsgrund hat. Dass Bullen einen Revolutionär töten und dass die “bürgerliche” Justiz sie nicht “bestraft”, sind Dinge, die uns nicht überraschen, noch uns vor Empörung überschäumen lassen sollten: wir wissen sehr wohl, welche Risiken ein Revolutionär eingeht. Es dürfte auch niemanden überraschen, dass Gefährten darauf antworten, indem sie Polizisten umlegen oder, wie im Falle von Serantini, Mammoli verletzen [der Arzt des Gefängnisses von Pisa, welcher verantwortlich dafür war, den Anarchisten Serantini sterben zu lassen, nachdem letzterer auf der Arnopromenade von der Polizei zu Tode geprügelt wurde]. In all dem gelingt es mir nirgends, die proletarische Justiz zu sehen, sondern bloss Episoden des sozialen Krieges.

In einem Krieg kämpfen die beiden entgegenstehenden Kräfte, indem sie angreifen und sich verteidigen, ohne sich in subtilen Abhandlungen über die Justiz und ihre Natur zu verlieren.

Meine Befürchtung ist, dass der Gebrauch des Begriffs der proletarischen Justiz vor allem als (im Übrigen, nicht notwendige) Rechtfertigung und als Versuch dient, das Schreckgespenst der Rache auszutreiben, ein Gefühl, das von allen verabscheut wird, da es für “unedel” gehalten wird (aber sehr menschlich, würde ich anfügen). Ist es etwa so, dass, in die Beine von Mammoli (oder in den Kopf von Calabresi) zu schiessen, eine Aktion ist, die gutgeheissen werden muss, wenn sie im Namen der proletarischen Justiz ausgeübt wird, und zurückgewiesen werden muss, wenn sie einem niederen Racheinstinkt folgend begangen wurde? Oder ergibt sich die proletarische Justiz etwa dann, wenn ein erlittenes “Unrecht” wieder berichtigt wird? Und worin würde dann das Unrecht bestehen, darin, dass Serantini “unschuldig” war?

Ist es etwa so, dass, gesetzt den Fall, dass Serantini noch am Leben wäre, Mammoli sich nicht ein Loch im Bein “verdient” hätte? Und Calabresi, verabscheuen wir ihn bloss, weil er für Pinellis Tod verantwortlich ist? Ansonsten wäre er bloss ein normaler Polizeikommissar gewesen...

Ich könnte noch ein gutes Stück so weitermachen, aber ich würde stets mit demselben Fragezeichen bleiben: was zum Teufel hat das mit “proletarischer Justiz” zu tun?».

[1] Hier der wesentliche Abschnitt aus dem Artikel: “Un atto di guerra sociale non abbisogna di giustificazione”, der auf S. 13 der zitierten Nummer von “Provocazione”, unterzeichnet mit: Un compagno [Ein Gefährte], veröffentlicht wurde.