Titel: Die Logik des Aufstands
Datum: Oktober 1985
Quelle: Entnommen aus: Alfredo M. Bonanno: "Anarchismus und Aufstand", Edition Irreversibel in Zusammenarbeit mit Konterband Editionen, ohne Ort, August 2014, S. 49-53.
Bemerkungen: Original auf Italienisch, Originaltitel: "La logica dell’insurrezione", in dem Buch “Teoria e pratica dell’insurrezione”, Edizioni Anarchismo, Catania, Oktober 1985.
Ursprünglich publiziert als freie Übersetzung in “Insurrection”, Nr. 1, London, 1984, S. 3 .

Wenn wir von Aufstand sprechen, halten wir uns selbstverständlich eine “Logik” bewusst, worauf sich das aufständische Verhalten stützt, das heisst, wir sprechen von einer Methode zur Intervention in die Realität der Kämpfe. Damit ist klar, dass wir uns nicht auf dieses oder jenes Modell aus der Vergangenheit beziehen.

Aufstände sind nicht die Barrikaden auf den Strassen und das Volk in Waffen. Oder zumindest sind sie nicht nur das.

Wenn sich das Volk spontan auflehnt, weil es die Grenze der Unerträglichkeit der Ausbeutungssituation erreicht hat, ereignen sich sichtbare Tatsachen: Konfrontationen auf den Strassen, Angriffe gegen die Polizei, Zerstörung von Symbolen des Kapitals (Banken, Juweliere, Läden, usw.). Aber in der Regel treffen diese spontanen Ausdrücke von volkstümlicher Gewalt die Anarchisten unvorbereitet, welche von der Tatsache überrascht bleiben, dass sich die Apathie von Gestern plötzlich in die Wut von heute verwandelt.

Wir beabsichtigen nicht, von dieser überraschenden Situation oder von der eventuellen Beteiligung der Anarchisten an einem solchen Ereignis zu sprechen.

Darum machen wir zwischen Krawall und Aufstand eine klare Unterscheidung.

Nehmen wir den Krawall von Brixton, in London, vor ein paar Jahren [1981]: die Anarchisten waren da, aber sie waren nicht, konnten nicht Protagonisten des Krawalls sein, geschweige denn davon, ihn in einen Aufstand in dem Sinne zu entwickeln, wie er in diesem Buch dargelegt wird. Die Ereignisse hatten sie überrumpelt. Die Schwarzen haben aus scheinbar simplen Gründen aufgelehnt, die jedoch schon seit langem unter der Oberfläche schwelten. Die Beteiligung der Anarchisten wurde daher zu einer schlichten Anpassung, sie waren “Gäste” einer potenziell aufständischen Situation, die keine Mündung in Richtung von konkreteren Entwicklungen fand. In anderen Worten: die Anarchisten fanden sich dabei, zu handeln, ohne in der Lage zu sein, einer aufständischen Logik zu folgen.

Bei Gelegenheit einen Stein gegen die Polizei zu werfen ist für einen bewussten Revolutionär sicher nicht die beste Art, sich an einem Aufstand zu beteiligen. In Praxis bedeutet dieser Stein sein Akzeptieren einer gegebenen Situation, die zu bestimmen er nicht beigetragen hat, und die es erfordert, ja auferlegt, dass Steine gegen die Polizei geworfen werden.

Die aufständische Logik kehrt die Intervention um. Die Gefährten, die sie anwenden, beschränken sich nicht darauf, die Situationen von sozialer Spannung zu ermitteln, und beschränken sich nicht darauf, die Leute generisch dazu anzutreiben, zu rebellieren, sie gehen weiter, sie schlagen eine Organisierung der Revolte vor.

Nun, was diesen Punkt betrifft, müssen wir uns gut verstehen.

Die vorgeschlagene Organisation muss von aggregativer Natur sein (Unterstützungs- und Anprangerungsgruppe, Bündnis gegen die Repression, Vereinigung für das Wohnrecht, Anti-Atomkraft-Gruppe, abstentionistisches Bündnis gegen die Wahlen, usw.), sie kann nicht eine spezifische anarchistische Gruppe sein. Aus welchem Grund, nämlich, sollten die Leute einer anarchistischen Gruppe beitreten, um einen Kampf zu organisieren und sich daran zu beteiligen?

Die Beteiligung der Ausgebeuteten an dieser Art von Struktur kann auch beachtlich sein und dies hängt von der Arbeit ab, die es den innerhalb der Strukturen präsenten anarchistischen Gefährten zu entwickeln gelingt: Flugblätter, Zeitungen, Plakate, Broschüren, Diskussionen, Vorträge, Treffen, usw.

Die Aktionen, welche eine so gebildete Organisation zu unternehmen beschliessen wird, werden nach und nach bedeutsamer sein, in Bezug auf sowohl den Verlauf des Kampfes, als auch auf das organisatorische Gewicht, das von der Struktur erreicht wird, sowohl auf die Anzahl der Beteiligten, als auch auf die Art von repressiver Reaktion, die sich in Gang setzen wird.

Die Wahl der verschiedenen Aktionen: Demonstration, autorisierter Umzug, nicht autorisierter Umzug, Sit-in, Besetzung eines öffentlichen Gebäudes, Blockierung einer Strasse oder eines Viertels, Besetzung einer Fabrik, Verteidigung des besetzten Territoriums, Angriff gegen die repressiven Interventionen, usw., diese Wahl hängt von den Entscheidungen ab, die in Versammlung – innerhalb der Organisation selbst – aber mit der aktiven Präsenz der Anarchisten, getroffen werden. So wird die Entwicklung des Kampfes in seinem Innern stets die Aktion einer aktiven spezifischen Minderheit sehen.

Natürlich ist man sich über nichts sicher. Es handelt sich nicht um eine politische Kontrolle, sondern um eine schlichte praktische Stimulierung. Die anarchistischen Gefährten werden in gleicher Weise wie die anderen im Kampf präsent sein und sie werden in den Entscheidungen, die es zu treffen gilt, kein besonderes Gewicht haben. Aber sie werden die praktischen Aspekte ihrer Ratschläge geltend machen können, die jedoch an die Realität der Konfrontation angemessen sein müssen.

Um eine Arbeit zu erhalten, die sich in die aufständische Logik einfügt, ist es erforderlich, dass der Antrieb zur Revolte präzise, und nicht abstrakt generisch ist, und muss sie auch möglich, das heisst, von den Leuten realisierbar sein.

Es ist also erforderlich, dass der Kampf gespürt wird und dass die Vorschläge der Gefährten, innerhalb der organisierten Struktur, an die Kampfbereitschaft der Leute angemessen und in der Lage sind, von Mal zu Mal, immer fortgeschrittenere Indikationen zu geben.

Eine Indikation, die aus Mangel unangemessen ist, da sie zu ängstlich oder zu rückständig ist, wird von den Leuten verworfen und als ein Hindernis für die Entwicklung des Kampfes und als Verrat an ihren Rebellionsgefühlen und an den eigenen Bedrängnissen betrachtet. Eine Indikation, die zu fortgeschritten, wunschtraumhaft und von der Realität der Konfrontation losgelöst ist, wird als unmöglich, gefährlich und kontraproduktiv betrachtet, woraufhin sich die Leute zurückziehen, aus Angst, in wer weiss was für Ränke hineingezogen zu werden.

So haben die anarchistischen Gefährten, die innerhalb der Struktur wirken, Gelegenheit, ihre Aktion selbst abmessen zu können, da sie gezwungen sind, den Indikationen zu folgen, die von den Leuten auskommen, während sie nur Aktionen wählen, die sich als möglich und verständlich erweisen.

Der Antrieb in Richtung des Aufstands geschieht also innerhalb der Grenzen der Rebellion, die sich am verbreiten ist, und ist nicht eine abstrakte Konstruktion von einer minoritären Gruppe.

Wenn wir von aufständischer Methode und Logik sprechen, meinen wir genau das. Wir meinen die Zurückweisung einer syndikalistischen Logik, einer Logik von Verteidigung von erlangten Rechten, von Suche nach einem quantitativen Wachstum, um dann etwas zu tun, später, in einem zweiten Moment.

Die Organisationssrukturen, die wir vorschlagen, entstehen nicht in der Widerstandslogik, typisch für den Syndikalismus von jeglicher Art. Sie sind keine korporativen Gruppen zur Verteidigung von Kategorieinteressen.

Es handelt sich um minimale Aggregationsstrukturen, um die Ausgebeuteten zu einem bestimmten Kampfziel hin zu geleiten. Kohäsionselemente, durch die man sich darüber einigen kann, was man tun will, um den Kampf besser zu organisieren, um den Rebellionsinstinkt der Leute besser zu stimulieren und ihn in einen möglichst bewussten Aufstand zu verwandeln.

Aus all diesen Gründen kann sich die Gruppe von anarchistischen Gefährten innerhalb der organisierten Struktur nicht in eine minoritäre Führungsgruppe oder in eine machthabende Minderheit verwandeln. Denn sie ist gezwungen, den Bedingungen der Konfrontation zu folgen, sie kann sich nicht auf das endlose quantitative Wachstum der Gruppe selbst basieren, sie hat nicht die Möglichkeit, schlicht defensivistische Aktionen vorzuschlagen, sie ist gezwungen, in Richtung von einer Reihe immer fortgeschrittenerer Aktionen zu treiben, die, wenn sie einerseits zum Aufstand und somit zu immer höheren Konfrontationslevels und nicht einfach vorhersehbaren Resultaten führen kann, auf der anderen Seite auch zur unvermeidlichen Zerstörung der organisatorischen Basisstruktur und deshalb zur Auflösung der Funktion führt, die von der Gruppe von Gefährten ausgeübt wurde, die somit zu ihrer vorherigen Tätigkeit zurückkehren.

Diese Vorschläge sind nicht leicht zu verstehen und können Raum für Missverständnisse geben. Deshalb halten wir die grösstmögliche theoretische Vertiefung für von grosser Wichtigkeit.