Alfredo M. Bonanno

Die anarchistische Spannung

28. Januar 1995

Die anarchistische Spannung: das Gefühl, das mit dem Dualismus zwischen Theorie und Aktion, Praxis und Gedanken, brennt. Das konstant unsere Träume und unsere Gesten aufflammen lässt, die an eine radikale Veränderung der herrschenden Zustände gerichtet sind. Es ist die lustvolle Freude derer, die ruhelos kämpfen, um sich von allen Fesseln zu befreien. Es ist der Geistesblitz derer, die sich bewusst darüber werden, dass uns die Autorität unterdrückt, und nichts anderes machen können, als für immer den Nektar eines freien Lebens, das es wert ist gelebt zu werden, zu suchen und zu geniessen. Es ist, in letzter Analyse, eine extreme Liebes- und Wuterklärung…


Wenn ich zu sprechen beginne, komme ich immer schnell in Verlegenheit, zumindest am Anfang. Diese Verlegenheit steigert sich, wenn es sich um eine Veranstaltung handelt, die irrtümlich Konferenz genannt wird bzw. als Konferenz-Debatte getarnt ist. Schliesslich handelt es sich um einen Diskurs, der von jemandem gehalten wird, der von ausserhalb kommt, womöglich noch aus einer anderen Generation stammt und einem auf den Kopf regnet. Jemand, der auf dieses Pult steigt, eine Rede hält und somit auf komische und gefährliche Weise wirkt wie jemand, der für seine eigenen Zwecke auf euch einhämmert. Wenn ihr jedoch etwas aufpasst, liegt zwischen diesem äusseren Aspekt und den Konzepten, die nun folgen werden, ein bemerkenswerter Unterschied.

Das erste dieser Konzepte besteht aus der folgenden Frage: was ist der Anarchismus? Und da ich mit Gewissheit weiss, weil ich sie persönlich kenne, dass hier viele Anarchistinnen anwesend sind, ist es wohl komisch, dass ich in diesem Moment so ein Problem anspreche. Eigentlich sollten die Anarchistinnen ja wissen, was der Anarchismus ist. Trotzdem wäre es nötig, jeden Diskurs mit der Frage zu beginnen: was ist der Anarchismus? Warum? Normalerweise stellt sich diese Frage in anderen Lebensformen, anderen Aktivitäten, anderen Gedankenwegen nicht. Wer sich als etwas definiert, davon geht man zumindest aus, weiss auch, was diese Definition bedeutet.

Nun, die Anarchistinnen hingegen stellen sich immer das Problem: was ist der Anarchismus? Was bedeutet es, Anarchistinnen zu sein? Warum? Weil er keine Definition ist, die, wenn sie einmal gefunden wurde, in einem Tresor aufbewahrt werden kann, die beiseite gelegt werden und als Patrimonium betrachtet werden kann, aus dem sich nach und nach etwas schöpfen lässt. Anarchistinnen zu sein bedeutet nicht, eine Gewissheit erreicht zu haben und ein für allemal zu sagen: “Ja, ich besitze von diesem Moment an die Wahrheit, und somit bin ich zumindest von der Idee her eine Privilegierte oder ein Privilegierter”. Wer so denkt, ist nur mit den Worten Anarchistin. Anarchistinnen sind Individuen, die sich wirklich als solche in Frage stellen, also als Person, und sich fragen: was ist mein Leben in Funktion dessen, was ich mache, Und in Relation zu dem, was ich denke? Was für eine Beziehung habe ich alltäglich zu all den Sachen, die ich mache, was mache ich, um Anarchistin zu sein, also um mich im Alltag nicht auf Übereinkommen, kleine Kompromisse usw. einzulassen?

Der Anarchismus ist also kein Konzept, das mit einem Wort festgenagelt werden kann, wie die Tafel eines Grabsteines. Er ist keine politische Theorie. Er ist eine Weltanschauung, eine Lebensauffassung, und das Leben, egal wie jung oder alt wir sind, ist keine definitive Sache: es ist eine Wette, die wir Tag für Tag neu abschliessen müssen. Wenn wir in der Früh aufstehen, brauchen wir einen guten Grund, um aus dem Bett zu kommen, haben wir diesen nicht, egal ob wir Anarchistinnen sind oder nicht, hat es keinen Sinn aufzustehen. Also wäre es besser im Bett zu bleiben und weiterzuschlafen. Um einen guten Grund zu haben, müssen wir wissen, was wir tun, denn für den Anarchismus, für die Anarchistinnen gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was zu tun ist und dem, was man denkt, sondern es gibt ein ständiges Zusammenfliessen zwischen der Theorie und der Aktion und umgekehrt. Und das ist es, was die Anarchistinnen von anderen Personen unterscheidet, die eine andere Lebensauffassung haben und diese Lebensauffassung über den politischen Gedanken kristallisieren, daraus eine politische Praxis und eine politische Theorie machen.

Und dies wird normalerweise nicht gesagt, es ist in keiner Zeitung zu lesen, in keinem Buch und wird in jeder Schule verschwiegen. Denn dies ist das Geheimnis des Lebens: nie definitiv eine Trennung zwischen Gedanken und Aktion machen, zwischen den Sachen, die man weiss, und denen, die man versteht, den Sachen, die man tut, und den Sachen, über die wir agieren. Das ist der Unterschied zwischen einem politischen Menschen und einem revolutionären anarchistischen Menschen. Nicht die Wärter, die Konzepte, und gesteht es mir zu, unter einigen Aspekten nicht mal die Aktionen, nicht einmal die radikalsten Aktionen, die sich durch den Angriff äussern, drücken diesen Unterschied aus. Der Unterschied liegt auch nicht in der Richtigkeit des ausgewählten Angriffsziels, sondern es ist die Art und Weise, was die Genossinnen, die diese Aktionen verwirklichen, charakterisiert, was sie bedeuten, wie die Aktion mit dem Leben, dem Lebensgefühl, der Freude, dem Wunsch, der Schönheit der Genossinnen, die sie durchführen, in Verbindung steht. Also handelt es sich nicht um eine praktische Angelegenheit ihrer Verwirklichung, eine hartnäckige Durchführung eines Fakts, der sich auf tödliche Weise in sich selbst abschliesst und der dazu bringt sagen zu können: “ich habe heute diese Sache getan, weit weg von mir selbst, an der Peripherie meiner Existenz.”

Nun, dies ist ein Unterschied. Und aus diesem Unterschied entsteht ein anderer, der meiner Ansicht nach bemerkenswert ist. Wer denkt, dass die Sachen, die zu tun sind, ausserhalb seiner selbst stehen und sich in Erfolgen und Misserfolgen messen lassen – was soll’s, das Leben ist wie eine Leiter, man geht ein Stück aufwärts und ein Stück abwärts, es gibt Zeiten, da geht alles gut, in anderen alles schief – nun, es gibt Leute, die denken, dass das Leben aus solchen Sachen besteht: zum Beispiel die klassische Figur der demokratischen Politikerinnen (um Himmelswillen, eine Person mit der man diskutieren kann, die eine sympathische Art hat, tolerant ist, permissive Aspekte aufweist, die an den Fortschritt glaubt, an die Zukunft, an eine bessere Gesellschaft, an die Freiheit), so, diese Person, die sich so gibt, die keinen Anzug und keine Krawatte trägt sondern casual kleidet, eine Person, die aus der Nähe betrachtet eine Genossin sein könnte oder das gar von sich behauptet, diese Person könnte genausogut eine Polizistin sein, das ändert überhaupt nichts. Warum nicht? Es gibt demokratische Polizistinnen. Die Zeit der einheitlichen Repression ist vorbei, heute hat die Repression sympathische Aspekte, sie unterdrückt uns mit vielen glänzenden Ideen. Nun, diese Person, diese demokratische Person, wie können wir sie charakterisieren, sie individualisieren, wie können wir sie sehen? Und wenn sie uns ein Tuch vor die Augen hängen würden, um zu vermeiden, dass wir diese Person sehen könnten, wie können wir uns vor ihr schützen? In dem wir sie über den folgenden Fakt identifizieren: für diese Person ist das Leben von der Realisierung bestimmt, ihr Leben besteht aus Fakten, aus quantitativen Fakten, die sich vor ihren Augen abspulen, und aus nichts anderem.

Wenn wir mit jemanden sprechen, können wir nicht einen Mitgliedsausweis verlangen. Oft passiert es uns, dass uns die Ideen einer Person in ziemliche Verwirrung führen und wir gar nichts mehr verstehen, denn wir sind alle sympathische und progressive Rednerinnen, alle lobpreisen wir die Schönheit und Toleranz usw. Wie aber können wir bemerken, dass wir vor uns den schlimmsten Feind haben? Denn gegen den alten Faschisten konnten wir uns zumindest wehren, schlug er uns, so schlugen wir, wenn wir gut im Schlägern sind, noch heftiger zurück. Nun hat sich die Angelegenheit verändert, die ganze Situation hat sich verändert. Heute so einen richtigen faschistischen Schlägertypen zu finden, kann sogar schwierig werden (A.d.Ü. es muss immer bedacht werden, dass der Autor von Italien ausgeht und nicht von Deutschland!). Aber dieses Subjekt, das wir gerade versuchen zu beschreiben, diese Demokratinnen, die finden wir in allen Bereichen: in der Schule oder im Parlament, auf der Strasse oder in der Uniform eines Polizisten, als Richterin oder Ärztin. Dieses Subjekt ist unser Feind, denn es bewertet das Leben anders als wir, denn für es ist das Leben ein anderes Leben, es ist nicht unser Leben, denn wir stellen für dieses Subjekt eine Art Marsmenschen dar, und ich sehe keinen Grund dafür, dieses Subjekt so zu bewerten, dass es auf unserem Planeten leben könnte. Dies ist die Linie, die uns von ihm trennt, denn seine Lebensauffassung besteht aus quantitativer Natur, denn dieses Subjekt bemisst das Leben nach Erfolgen, oder wenn ihr wollt, auch nach Misserfolgen, aber auf alle Fälle immer aus einem quantitativen Blickpunkt, und wir bemessen es auf eine andere Art, und über das sollten wir nachdenken: auf welche Art hat für uns das Leben etwas anderes, etwas anderes im qualitativen Sinne?

Nun, diese Person die uns scheinbar wohlwollend gegenübersteht, überfällt uns jedoch mit einer Kritik und sagt: “ja, die Anarchistinnen sind sympathische Leute, sie sind jedoch unbeschlossen, was haben sie je in der Geschichte gemacht, welcher Staat war jemals anarchistisch? Haben sie jemals eine Regierung ohne Regierung realisiert? Ist denn eine freie Gesellschaft, eine anarchistische Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Macht, denn kein Widerspruch in sich?” Und diese Masse von Kritik, die auf uns geschleudert wird, hat sicherlich eine grosse Dimension, denn effektiv auch in den Fällen, in denen die Anarchistinnen sehr nahe an der Verwirklichung ihrer Utopien einer freien Gesellschaft waren, wie z.B. in Spanien oder in Russland, waren diese Verwirklichungen, wenn man sie genau prüft, ziemlich diskutierbar. Sicherlich, es waren Revolutionen, aber es waren keine libertären Revolutionen, es waren keine anarchistischen Revolutionen.

Also, wenn uns diese Damen und Herren sagen: “Ihr seid Utopisten, ihr Anarchisten macht euch Illusionen, euere Utopie lässt sich nicht realisieren”, dann müssen wir antworten: “Ja das stimmt, der Anarchismus ist eine Spannung und keine Realisierung, er ist kein konkreter Versuch, morgen vormittag die Anarchie zu realisieren”. Wir müssen aber auch fähig sein zu sagen: “Aber ihr geehrten demokratischen Damen und Herren, die ihr an der Regierung seid, in den Universitäten, in den Schulen usw., ihr Damen und Herren, was habt ihr denn realisiert? Ein Welt, die es wert wäre, in ihr zu leben? Oder eine Welt, geprägt von Tod, eine Welt, in der das Leben eine platte Tatsache ist, qualitätslos, bedeutungslos, eine Welt, in der, wenn man ein gewisses Alter erreicht, um in Rente zu gehen, sich fragt: “Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Was für einen Sinn hat es gehabt, diese vielen Jahre zu leben?”

Das ist es, was ihr realisiert habt, das ist eure Demokratie, aus was besteht euer Konzept des Volkes? Ihr regiert ein Volk, aber was soll “Volk” denn eigentlich heissen? Was ist dieses Volk? Ist es vielleicht der kleine Teil, der zum Wählen geht, der für euch wählt und eine Minderheit nominiert, diese Minderheit dann eine noch kleinere Minderheit wählt, die uns dann im Namen des Gesetzes regiert? Und diese Gesetzte, was sind die anderes, als der Ausdruck der Interessen einer Minderheit, die spezifisch daraus ausgerichtet ist, die eigenen Perspektiven der Bereicherung und der Verfestigung der Macht zu erreichen?

Ihr regiert im Namen einer Macht, einer Kraft, von woher kommt die denn? Von einem abstraktem Konzept. Ihr habe eine Struktur realisiert, von der ihr denkt, sie könnte verbessert werden … aber wie, auf welche Art wurde sie in der Geschichte verbessert? Dies ist die Kritik, die wir den UnterstützerInnen der Demokratie vorwerfen müssen. Wenn wir Anarchistinnen utopisch sind, dann sind wir es, weil wir eine qualitative Spannung haben; wenn die Demokratinnen utopisch sind, dann sind sie es weil sie einer Reduzierung folgen, die zur Quantität führt. Und dieser Reduzierung, der das Ziel des möglichst minimalen Schadens für sie und des grösstmöglichen Schadens für die Mehrheit, die dadurch ausgebeutet wird, innewohnt, dieser elenden Wirklichkeit stellen wir unsere Utopie entgegen. Diese ist zumindest eine Utopie der Qualität, eine Spannung, die auf eine andere Zukunft ausgerichtet ist, etwas radikal Anderes, als das, was wir heute erleben.

Also alle diese Diskurse, die irgendwer an euch richtet, der im Namen des politischen Realismus spricht, ob es die Staatsmänner sind, die Professorinnen, die Diener der Staatsmänner sind, die Theoretikerinnen, die Journalistinnen, alle Intellektuellen, die sich in Universitätsräumen wie diesem aufhalten, wenn sie kommen und mit ruhigen und toleranten Worten des realistischen Menschen reden und behaupten, dass man eh nichts ändern kann, dass die Wirklichkeit diese ist und man sich damit abfinden muss, dass Opfer gebracht werden müssen, nun, diese Leute betrügen euch. Sie betrügen euch, denn wahr ist, dass man was anderes machen kann, denn wahr ist, dass sich jede/r von uns auflehnen kann und dies im Namen ihrer/seiner eigenen verletzten Würde, denn es ist wahr, dass jedem Menschen bewusst werden kann, dass er betrogen wird und sich somit betrogen fühlt, denn endlich wird es ihm/ihr bewusst, was zu seinem Nachteil getrieben wird. Und durch die Auflehnung kann jeder Mensch, mit allen Begrenzungen, die auftreten können, nicht nur die Wirklichkeit verändern, sondern sie/er kann auch ihr/sein eigenes Leben verändern, sie/er kann sich ein würdiges Leben schaffen, sie/er kann morgens aufstehen, die Füsse auf den Boden stellen, in den Spiegel schauen und sagen: “Endlich habe ich es geschafft, die Dinge zu verändern, zumindest diejenigen, die mich betreffen”. Somit kann er sich als Mensch fühlen, der ein würdiges Leben lebt und nicht wie eine Marionette, deren Fäden von einem Marionettenspieler gezogen werden, der nicht sichtbar genug ist, um ihm ins Gesicht spucken zu können.

Das ist der Grund, warum die Anarchistinnen immer wieder darüber reden, was der Anarchismus ist. Denn der Anarchismus ist keine politische Bewegung. Er ist auch das, aber nur als zweitrangiger Aspekt. Die Tatsache, dass die anarchistische Bewegung sich historisch als politische Bewegung vorstellt, bedeutet nicht, dass der Anarchismus als politische Bewegung seine existierenden anarchistischen Potentiale damit erschöpft. Der Anarchismus besteht nicht nur aus den Gruppen aus Cuneo, Turin, London und vielen anderen Städten. Das ist nicht der Anarchismus. Sicherlich, dort befinden sich die anarchistischen Genossinnen, und dort, das würde ich mir zumindest wünschen oder zumindest davon ausgehen können, befindet sich auch die Genossin oder der Genosse, der schon mit seinem eigenen Aufstand begonnen hat. Also das Bewusstsein erreicht hat, in was für einem Zwangskontext er gezwungen ist zu leben. Der Anarchismus ist nicht nur eine politische Bewegung, sondern befindet sich auch innerhalb der Lebensspannung, der Qualität und der Kraft, die wir aus uns selbst herausziehen, um somit die Wirklichkeit, den Stand der Dinge verändern. Die Gesamtheit des Anarchismus ist ein Transformationsprojekt im Zusammenhang mit der Verwirklichung, die in unserem eigenen Innern stattfindet und somit unsere persönliche Veränderung fordert.

Es handelt sich also nicht um eine quantitativen Fakt, der sich geschichtlich zusammenfassen lässt, es ist kein Fakt, der sich einfach durch die Zeit abwickeln lässt und der sich über bestimmte Theorien zeigt, durch einige Personen, durch bestimmte Bewegungen und warum nicht, durch bestimmte revolutionäre Aktionen. In dieser Summe von Elementen befindet sich immer eine zusätzliche Sache, und es ist immer diese zusätzliche Sache, die den Anarchismus andauernd als Veränderung leben lässt.

Diese Spannung, die meiner Ansicht nach immer in uns vorhanden ist zwischen dem Anderen, dem Unvorstellbaren, und der Dimension, die wir verwirklichen müssen, auch wenn wir nicht genau wissen, wie wir das machen können, sollte erhalten bleiben, um eine Beziehung, einen bestimmte Verbindung der Veränderung und der Transformation beizubehalten.

Das erste Beispiel, das mir zu diesem Argument einfällt, ist ein weiteres widersprüchliches Element. Denkt mal an das Konzept Problem: “es gilt ein Problem zu lösen”, ein klassischer Satz. Alle haben wir Probleme zu lösen, das Leben ist ein Problem, jeglicher Aspekt der Wirklichkeit, der eigenen sozialen Umstände, den Kreis, der uns umgibt brechen zu müssen, die einfachsten Kleinigkeiten, die uns im Alltag treffen, all dies bezeichnen wir als Problem. Sind Probleme jedoch lösbar?

Und hier besteht ein grosses Missverständnis, warum? Die Struktur, die uns unterdrückt, sagt uns, dass die Probleme lösbar sind und dass sie von ihr gelöst werden. Noch mehr, diese Struktur empfiehlt uns das Beispiel (ich glaube hier sind mehrere Studentinnen anwesend) als Lösung der Probleme in Geometrie, in Mathematik, usw. Jedoch ist dieses Problem der Mathematik, das als Beispiel für Problemlösung gilt, nichts anderes als ein falsches Problem, daher ist die Möglichkeit es zu lösen, wie ein mathematisches Problem: die Antwort auf das Problem ist im Vorsatz des Problems selbst vorhanden, also die Antwort ist eine Wiederholung des Problems, nur in anderer Form, die technisch als Tautologie bezeichnet wird. Man sagt eine Sache, und antwortet mit der Sache selbst, daher gibt es im Grossen und Ganzen keine Lösung des Problems, sondern es gibt eine Wiederholung des Problems in anderer Form.

Nun, wenn die Rede davon ist, ein Problem zu lösen, das sich auf das unser aller Leben bezieht, auf unsere Existenz im Alltag, dann ist die Rede von Problemen, die einer Komplexität angehören und sich nicht innerhalb einer einfachen Wiederholung des Problems selbst einsperren lassen. Wenn wir z.B. sagen: “das Problem der Polizei”, die Existenz der Polizei, stellt für viele von uns ein Problem dar. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Polizei ein Instrument der Unterdrückung ist, über die uns der Staat daran hindert, gewisse Dinge zu tun. Wie aber kann so ein Problem gelöst werden? Gibt es eine Möglichkeit, das Problem der Polizei zu lösen? Die Frage an sich zeigt sich inkonsistent. Es gibt keine Möglichkeit, das Problem der Polizei zu lösen. Aus einem Blickpunkt des demokratischen Gedankenweges existiert ein Problem, dass, sich damit beschäftigt, einige Aspekte des Problems Polizei zu lösen. Demokratisierung der Strukturen, Transformation der Mentalität der Polizistinnen und so fort. Nun, zu denken, dass dies eine Lösung des Problems der Kontrolle und der Repression ist, ist nicht nur dumm, sondern auch unlogisch. Tatsächlich ist es nichts anderes als die Repression so hinzubiegen, dass sie den Interessen der Macht entspricht. Wenn heute eine demokratische Polizei benötigt wird, kann schon morgen eine Kontroll- und Repressionsstruktur benötigt werden, die wesentlich undemokratischer ist und die Polizei würde, wie schon in der Vergangenheit, sagen: “ich gehorche”, und würde womöglich auch in ihrem eigenen Inneren die am Rande stehende Minderheit, die anders denkt, eliminieren.

Wenn ich Polizei sage, dann meine ich jegliche repressive Struktur, angefangen von den Carabinieres bis hin zur Magistratur, jeglichen Ausdruck des Staates, der als Kontrolle und Repression dient. Wie ihr also sehen könnt, sind die sozialen Probleme nicht lösbar. Der Betrug, seitens der demokratischen Strukturen den Anspruch zu haben, die Probleme lösen zu können, ist ein Betrug, der zeigt, dass es keine Behauptung des demokratischen politischen Gedankens gibt, der sich in minimalster Weise auf die Wirklichkeit und die Konkretheit stützt. Alles fundiert auf der Möglichkeit, mit dem Missverständnis spielen zu können, das zeigen soll, dass sich mit der Zeit alles wieder einrenken lässt, dass sich alles bessern wird, dass sich alles regeln lässt. Und auf dieser Regelung basiert die ganze Kraft der Macht, auf diese Regelung stützen sich die Herrscherinnen, mittel- und langfristig. Sie wechseln die Karten, wechseln die Beziehungen, und wir warten darauf, dass das passiert, was sie uns versprochen haben und nie passieren wird, denn diese Verbesserung werden nie stattfinden, denn die Macht bleibt, sie ändert und transformiert sich in der Geschichte, bleibt aber trotzdem, sie bleibt immer: eine Handvoll Frauen und Männer, eine privilegierte Minderheit, die den Hebel der Herrschaft verwaltet, die in ihrem eigenen Interesse handelt und die Bedingungen der Oberhoheit und derer, die am Kommando sitzen, beschützt, derer, die fortfahren zu herrschen.

Nun, was haben wir für ein Instrument, um diesem Stand der Dinge etwas entgegenzusetzen? Wollen sie uns kontrollieren? Wir verweigern die Kontrolle. Sicher, das können wir tun, zweifelsfrei tun wir das auch, wir versuchen den Schaden soweit es geht zu reduzieren. In einem sozialen Kontext jedoch hat die Verweigerung der Kontrolle begrenzten Wert. Wir können gewisse Aspekte umschreiben, wir können schreien, wenn wir zu Unrecht getroffen werden, es ist jedoch klar, dass es bestimmte Orte der Herrschaft gibt, wo Regeln existieren, die Gesetze heissen, Schilder, die Zäune heissen, Menschen, die Polizistinnen heissen, und uns daran hindern, einzutreten. Daran gibt es keinen Zweifel, versucht doch einmal ins Parlament zu gehen und ihr werdet sehen, was euch passiert, keine Ahnung. Gewisse Bereiche können nicht überschritten werden, gewissen Kontrollen kann nicht entgangen werden.

Was können wir so einer Situation entgegensetzen? Einfach nur einen Traum? Eine hypothetische Freiheit, die obendrein auch noch ziemlich korrekt formuliert werden muss, da wir nicht sagen können: “die Freiheit der Anarchistinnen besteht nur in der Reduzierung der Kontrolle”. In diesem Fall würden wir uns in einem Missverständnis befinden: “Wo hört denn diese Reduzierung der Kontrolle auf? Vielleicht bei einer minimalen Kontrolle?” Würde dann z.B. für uns Anarchistinnen der Staat als solcher legitimiert werden, wenn er anstatt in der heutigen Form der Unterdrückung, nehmen wir mal an, der ideale Minimalstaat der Liberalen wäre? Gewiss nicht. Also kann dieser Überlegung nicht gefolgt werden. Das, was wir versuchen zu erreichen, kann nicht eine Begrenzung der Kontrolle sein, sondern die Abschaffung der Kontrolle. Wir sind nicht für eine grössere Freiheit, denn eine grössere Freiheit gibt man dem Sklaven, wenn man ihm seine Kette verlängert, wir möchten die Abschaffung der Kette und daher möchten wir die Freiheit und nicht eine grössere Freiheit. Und Freiheit bedeutet das überhaupt keine Ketten vorhanden sind, sie bedeutet Grenzenlosigkeit und all das, was unter dieser Behauptung zu verstehen ist.

Das Konzept der Freiheit ist nicht nur schwierig und unbekannt, es ist auch ein schmerzhaftes Konzept. Es wird uns jedoch immer als eines der schönsten Konzepte verkauft. Als ein zartes und erholsames Konzept, das wie ein Traum ist, der soweit entfernt ist, und wie alle entfernten Sachen eine Hoffnung und einen Glauben darstellt. Mit anderen Worten, etwas Unantastbares, das alle heutigen Probleme löst, dies aber nicht, weil sie es tatsächlich tut, sondern nur weil sie eine deutliche Erkennung unseres heutigen Unglücks vertuscht, deckt und modifiziert. Na gut, eines Tages werden wir frei sein, na gut, wir stehen im Unglück, aber innerhalb dieses Unglücks gibt es eine unterirdische Kraft, eine ungewollte Ordnung, die von niemanden von uns abhängt, die an unserer Stelle arbeitet und nach und nach die Umstände des Leidens, in dem wir leben, modifiziert, um uns in eine Dimension der Freiheit zu bringen, in der wir dann alle glücklich leben werden. Nein, die Freiheit ist nicht so eine Sache, das ist ein Betrug und dieser Betrug ist auf tragischer Weise dem Betrug der alten Idee des Gottes ähnlich. Die Idee des Gottes, der uns oft geholfen hat und auch heute noch den Personen hilft, die leiden, denn diese sagen sich: “Nun ja, heute leiden wir, aber in der anderen Welt wird es uns gut gehen”. Und hört man auf das Evangelium, so sagt dieses, dass die letzten die ersten sein werden, Schlussfolgerung ist also, dass diese Umkehrung die letzten von heute ermutigt, denn sie werden die ersten von morgen sein.

Wenn wir uns dieses Konzept der Freiheit als zutreffendes vorgaukeln würden, dann würden wir das Leiden von heute betreuen, wir würden ein kleines Pflaster auf die sozialen Wunden von heute kleben, genauso wie es der Pfarrer mit seinen Predigen und seinen Gedankenwegen macht. Er klebt ein kleines Pflaster auf die Wunden der Armen, die ihm zuhören, die der Illusion folgen, dass sie im Reich Gottes von Leid und Schmerz befreit werden. Es ist klar, dass die Anarchistinnen nicht die selben Überlegungen machen können. Die Freiheit ist ein zerstörerisches Konzept, die Freiheit ist ein Konzept, dass die absolute Vernichtung jeglicher Grenzen beinhaltet. Nun, die Freiheit ist eine Hypothese, die in unseren Herzen bleiben muss, zum selben Zeitpunkt jedoch muss sie uns zu verstehen geben, dass, wenn wir diese Freiheit wollen, wir auch dazu bereit sein müssen, alle Risiken der Zerstörung einzugehen, d.h. alle Risiken eingehen müssen, die zur Zerstörung der festgesetzten Ordnung, in der wir leben, führt. Die Freiheit ist kein Konzept, in dem wir uns schaukeln können, in der Erwartung, dass sich etwas Besseres entwickelt, und das unabhängig davon, ob wir die tatsächliche Fähigkeit besitzen, um dagegen eingreifen zu können.

Um uns im klaren zu sein über Konzepte dieser Art, um uns darüber klar zu werden, welche Risiken man eingeht, wenn man mit so gefährlichen Konzepten umgeht wie diesen, dann müssen wir fähig sein, in uns selbst Ideen zu konkretisieren, und diese Ideen erstmal haben.

Auch was diesen Punkt betrifft, gibt es bemerkenswerte Missverständnisse. Es ist üblich, jegliches Konzept, das wir im Sinne haben, als Idee zu bewerten. Jemand sagt: “ich habe eine Idee”, und auf diese Weise wird versucht zu identifizieren, was eine Idee ist. Diese ist die kartesianische Hypothese der Idee, die sich der platonischen Idee gegenüberstellte, die als abstrakter, entfernter Bezugspunkt gilt usw. Es ist jedoch nicht dieses Konzept, auf das wir uns berufen, wenn wir von Ideen sprechen. Die Idee ist ein Anhaltspunkt, sie ist ein Element, das die Stärke hat, das Leben umzuwandeln. Es ist ein Konzept, das mit Werten beladen ist, es ist ein Konzept der Werte, das dann zum Konzept der Stärke wird. Es ist etwas, das die Fähigkeit besitzt, unsere Beziehung zu den Anderen auf andere Weise zu entwickeln, all dies ist die Idee. Welche ist jedoch tatsächlich die Quelle, über die wir an die Elemente gelangen, um Ideen dieser Art ausarbeiten zu können? Die Schule, die Akademie, die Universität, die Zeitungen, die Bücher, die Professorinnen, die Technikerinnen, das Fernsehen usw. Was aber kommt über diese Informationsinstrumente und diese kulturelle Ausarbeitung auf uns zu? Ein mehr oder weniger bemerkenswertes Bündel von Informationen, die wie ein Wasserfall auf uns klatschen, wie in einem Kochtopf in uns aufkochen und Meinungen produzieren. Wir haben keine Ideen, wir haben Meinungen.

Das ist die tragische Schlussfolgerung. Was aber ist die Meinung? Es ist eine plattgemachte Idee, die uniformiert, gleichgeschaltet wurde, um sie vielen Personen anzupassen. Die Ideen der Masse oder die massifizierten Ideen sind Meinungen. Diese Meinungen zu erhalten ist für die Macht sehr wichtig, denn über die Meinung, die Verwaltung der Meinung werden bestimmte Resultate erzielt, nicht zuletzt z.B. der Mechanismus der Propaganda über die grossen Informationsmittel, der Realisierung der Wahlvorgänge usw. Die Zusammenstellung der neuen Machtelite entsteht nicht durch Ideen, sondern über die Meinungen.

Sich der Zusammenstellung der Meinung entgegenzusetzen, was bedeutet das? Heisst das vielleicht mehr Informationen zu erringen? Sich also der Information mit einer Gegeninformation entgegenzusetzen? Nein, das ist nicht möglich, denn in welche Richtung auch das Problem gedreht wird, wir haben nicht die Fähigkeit, den enormen Informationen, mit denen wir alttäglich bombardiert werden, eine Gegeninformation entgegenzusetzen, die fähig ist, über den Prozess der dietrologia (A.d.Ü. Zurückführung ?), die Realität, die von dem informativen Getratsche “ausgetauscht” wird, “aufzudecken”. Wir können nicht in diesem Sinne vorgehen. Wenn wir diese Art von Arbeit machen, dann sehen wir ganz schnell ein, dass sie unnötig ist, wir schaffen es nicht, die Menschen zu überzeugen.

Das ist der Grund, warum die Anarchistinnen dem Problem der Propaganda kritisch gegenüberstehen. Ja sicherlich, wie ihr sehen könnt, steht da ein Tischlein, das mit vielem Lesematerial ausgestattet ist, wie das halt so üblich ist auf Veranstaltungen und Konferenzen dieser Art. Da gibt es immer unsere Broschüren, unsere Bücher. Wir sind überladen mit Zeitungen und sind sehr gut darin, diese Art Publizistik zu machen. Es ist aber nicht nur diese Art von Arbeit, der wir nachgehen sollten, und wenn wir dies tun, dann sollte sie nicht auf den Elementen der Gegeninformation beruhen, und wenn sie es tut, dann beziehen sie sich auf Zufallsfakten. Diese Art von Arbeit besteht im Essentiellen, oder sollte zumindest darin bestehen, eine Idee oder einige wenige Grundideen aufzuhauen, einige starke Ideen.

Machen wir ein einziges Beispiel. In den letzten drei oder vier Jahren hat sich in Italien eine Angelegenheit entwickelt, die von der Presse mit dem horrenden Wort “tangentopoli” oder “saubere Hände” usw. genannt wird. Nun, was hat dieser Vorgang in den Menschen bewirkt? Er hat bewirkt, dass die Meinung aufgebaut wurde, dass die Richter die Fähigkeit besitzen, alles in den Griff zu bekommen, Politikerinnen verurteilen zu lassen, Umstände zu ändern, also uns von der alten typischen Auffassungen der ersten italienischen Republik zu der neuen einer zweiten italienischen Republik zu führen. Es ist klar, dass dieser Prozess, diese Meinung sehr nützlich ist, sie hat es z.B. ermöglicht, dass eine “neue” Machtelite herangewachsen ist, die dann die alte abgelöst hat. Sozusagen neu, neu ist sie bis zu einem gewissen Punkt, sie weist zwar einige neue Charakteristiken auf, diese sind jedoch mit der traurigen Wiederholung alter Angewohnheiten und alter Persönlichkeiten verbunden. Auf diese Weise funktioniert die Meinung. Nun, wenn ihr denkt, diesen Aufbauprozess einer Meinung, die bemerkenswerte Nutzbarkeiten nur für die Mächtigen gebracht hat, mit dem Aufbau einer starken Idee, welche eine tiefgründige Analyse des Konzeptes Justiz sein könnte, vergleichen zu können, dann werdet ihr auf einen abgrundtiefen Unterschied stossen. Was ist denn richtig? Z.B. viele Leute und auch wir haben es für richtig gehalten, dass Craxi[1] dazu gezwungen wurde, sich in seine Villa in Tunesien einzusperren. Die Sache war sympathisch, wir konnten sogar drüber lachen, sie hat uns gut getan, denn wenn Dreckstypen dieser Stufen auf die Seite gebracht werden, dann ist es eine sympathische Sache. Aber ist dies denn die wahre Justiz? Z.B. Andreotti[2] befindet sich in Schwierigkeiten, es scheint so, als hätte er Riina[3] (A.d.Ü. einer der bekanntesten Mafiabosse) auf die Wangen geküsst. Notizen wie diese wirken auf uns mit Sympathie, wir fühlen uns besser dabei, denn ein Dreckskerl wie Andreotti störte uns schon auf körperlicher Ebene, wenn wir ihn auch nur im Fernsehen sahen. Aber ist dies das Konzept von Justiz? Schaut mal, was mit der Geschichte Di Pietro und Borelli (A.d.Ü. Antimafiarichter) passiert ist, ein Jubel wie im Fussballstadion. Was bedeutet ein Jubel im Fussballstadion? Es bedeutet dass Millionen von Leuten in den Prozess der Gleichschaltung der Meinung miteinbezogen wurden.

Das Konzept der Justiz, über das wir nachdenken sollten, ist hingegen ganz anders. Zu was sollte uns das Konzept der Justiz bringen? Es sollte uns dahin bringen zu gestehen, dass wenn Craxi oder Andreotti verantwortlich sind, Leute wie Borelli und Di Pietro der selben Verantwortung gleichgestellt sind. Denn wenn die ersten Politiker sind, so sind die anderen Richter. Das Konzept Justiz bedeutet eine Demarkationslinie zwischen denjenigen, die für die Macht Unterstützung, Alibi und Stärke bedeuten, und denjenigen, die sich dem entgegensetzen. Wenn die Macht ungerecht ist, da alleine ihre Existenz schon ungerecht ist, und all ihre Versuche von denen wir vorhin schon sprachen, sich als Betrügereien herausstellen mit denen sie sich selbst rechtfertigt, so kann ein mehr oder weniger demokratischer Mensch der diese Macht nützt, nur auf der Seite der Justiz stehen, egal was er tut.

Die Konstruktion des Konzeptes Justiz dieser Art ist die offensichtliche Formatierung einer Idee, einer Idee, die sich nicht in den Zeitungen finden lässt, einer Idee, die nicht in den Hallen der Schulen oder der Universitäten ergründet wird, die kein Meinungselement darstellen kann, die nicht dazu da ist, um die Leute zum Wählen zu verführen. Im Gegenteil, diese Idee bringt die Leute in Gegensatz mit sich selbst. Denn vor dem Gericht vor sich selbst fragt sich jeder Mensch: “Ja und ich, mit meiner Idee der Justiz, die mich dazu bringt zu denken, dass das toll ist, was Di Pietro macht, auf welche Art gebe ich mich, lasse auch ich mich in den Sack stecken, bin auch ich ein Instrument der Meinung, bin auch ich ein Endpunkt eines enormen Formationprozesses der Macht und werde somit auch ich nicht nur zum Sklaven der Macht, sondern auch ihr Komplize?”.

Endlich sind wir angekommen, wir sind an unsere Verantwortung gelangt. Denn wenn das Konzept, von dem wir ausgehen, dass es für ein anarchistisches Individuum keinen Unterschied zwischen Theorie und Aktion gibt, der Wahrheit entspricht, dann kann in dem Moment, in dem diese Idee auch nur einen Moment unser Gehirn illuminiert, dieses Licht nie wieder ausgehen, denn würde es so sein, dann würden wir uns in jedem Augenblick, egal was wir denken, schuldig fühlen. Wir würden uns als Komplizinnen fühlen, als Komplizinnen eines Prozesses der Diskriminierung, der Repression, des Völkermordes, des Todes. Wir könnten uns nie ausgeschlossen fühlen von diesem Prozess. Wie könnten wir dazu kommen, uns als Revolutionärinnen, als Anarchistinnen zu definieren? Wie kommen wir dazu, uns als UnterstützerInnen der Freiheit zu definierend Von welcher Freiheit reden wir denn, wenn wir unsere Komplizenschaft den Mördern, die an der Macht stehen, gegeben haben?

Seht ihr, wie anders und kritisch die Situation für diejenigen ist, die es schaffen, durch eine tiefgründige Analyse der Realität oder aus reinem Zufall oder Pech, eine so klare Idee wie die Idee der Justiz in ihr Hirn eindringen zu lassen. Ideen dieser Art gibt es nicht viele. Die Idee der Freiheit z.B. ist die selbe Sache. Wer auch nur einen Moment darüber nachdenkt, was die Freiheit ist, kann sich nicht damit begnügen und irgendwas machen, um etwas mehr Freiheit zu haben in der Situation in der sie/er lebt. Von dem Moment an wird sie/er sich schuldig fühlen und wird versuchen, etwas zu tun, um sein Leiden zu lindern. Sie/er wird sich schuldig fühlen, nicht schon vorher was gemacht zu haben, und von dem Moment an wird sie/er in die Umstände einer anderen Lebensauffassung eintreten.

Was will der Staat im Grunde erreichen mit der Meinungsformatierung? Was wollen die Mächtigem Sicherlich, sie wollen eine durchschnittliche Meinung schaffen, um aus dieser dann gewisse Vorteile für ihre Wahlergebnisse zu schöpfen, um die Formatierung von Machtminderheiten usw. gewährleisten zu können. Aber sie wollen nicht nur das, sie wollen unseren Konsens, sie wollen unsere Übereinstimmung, und der Konsens wird über gewisse Instrumente herbeigeführt, hauptsächlich Instrumente kultureller Natur. Zum Beispiel ist die Schule ein Behälter, über den der Konsens herbeigeführt wird. Damit wird dann die zukünftige Arbeitskraft intellektueller Natur aufgebaut, und nicht nur die Intellektuellen.

Die Transformation der Produkte des heutigen Kapitals benötigen einen Typ von Menschen, der anders ist als in der Vergangenheit. Bis vor kurzer Zeit wurden Menschen benötigt, die eine gewisse professionelle Fähigkeit aufwiesen, einen gewissen Stolz in diese Fähigkeit besassen, und eine professionelle Qualifikation. Heute braucht der Arbeitsmarkt eine mittlere Qualifikation, eine ziemlich herabgesetzte Qualifikation, und fordert Fähigkeiten die früher nicht nur nicht vorhanden, sondern nicht mal denkbar waren, wie z.B. die Flexibilität, die Anpassung, die Toleranz, die Fähigkeit auch auf Versammlungsbeschlussebene einzugreifen.

Früher, um ein spezifisches Beispiel zu machen, fundierte die Produktion der grossen Unternehmen auf der Realisierung der grossen Produktionslinien am Fliessband, jetzt gibt es andere Strukturen, die robotisiert sind oder auf Basis der Inseln (A.d.Ü. Team) aufgebaut sind, der kleinen Gruppen, die zusammen arbeiten, die sich kennen und sich gegenseitig kontrollieren usw. Diese Art von Mentalität ist nicht nur eine Mentalität der Fabrik, es ist nicht der “neue Fabrikarbeiter”, den sie konstruieren, sondern es ist “der neue Mensch”, den sie konstruieren: ein flexibler Mensch, mit mittelmässigen Ideen, trüb in seinen Wünschen, mit einer grossen Reduzierung im kulturellen Bereich, mit einem verarmten Wortschatz, mit standardisierter Lektüre, die immer dieselbe ist, immer dieselbe, einer Überlegungsfähigkeit, die begrenzt ist, und einer hohen Fähigkeit, in schnellsten Zeitraum zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden, also ob auf den roten oder gelben, den schwarzen oder weissen Knopf zu drücken. Nun, diese Art von Mentalität konstruieren sie gerade. Und wo konstruieren sie sie? In den Schulen, aber auch in unserem alltäglichem Leben.

Was haben sie von so einer Art Mensch? Sie brauchen ihn, um alle wichtigen Modifizierungen, die sie für die Restrukturierung des Kapitals benötigen, realisieren zu können. Sie brauchen eine solche Art Mensch, um die Umstände und Beziehungen von morgen besser verwalten zu können. Wie werden diese Beziehungen aussehen? Sie fundieren auf den immer schnelleren Modifizierungen, auf dem Apell der Befriedigung von nichtexistierenden Wünschen, die jedoch auf eine bestimmte Weise innerhalb der kleinen Gruppen immer konsistenter werden. Diese Art von neuen Menschen, der genau das Gegenteil darstellt von dem, was wir denken und uns wünschen. Er ist das Gegenteil der Qualität, das Gegenteil der Kreativität, das Gegenteil der realen Wünsche, der Lebensfreude, er ist das Gegenteil von all dem. Wie aber können wir gegen die Verwirklichung dieses technologischen Menschen ankämpfen? Wie können wir gegen diese Situation ankämpfen? Können wir darauf warten, dass ein Tag kommt, ein schöner Tag, um die Welt umzukrempeln, der Tag den die Anarchistinnen aus dem vergangenen Jahrhundert “la grande soirée” oder “le grand jour”, also den grossen Abend, oder den grossen Tag nannten und in dem die Kräfte, die niemand vorhersehen kann, es schaffen, den sozialen Konflikt explodieren zu lassen, auf den wir alle warten und der sich Revolution nennt, mit der sich alles ändern wird und es eine perfekte Welt des Glückes geben wird?

Diese Hypothese ist eine Hypothese dieses Jahrtausends. Jetzt, am Ende des Jahrtausends, könnte sie auch wieder Fuss fassen. Die Bedingungen sind jedoch anders, es ist nicht das, was der Realität entspricht, und es ist nicht die Wartehaltung, die uns interessieren kann. Uns interessiert eine andere Art von Eingriff, ein viel kleinerer Eingriff, der zwar bescheidener ist, aber etwas bringen kann. Wir, als Anarchistinnen, sind dazu aufgefordert, etwas zu machen, wir sind von unserer Eigenverantwortung aufgefordert, so wie wir das vorher erklärt haben.In dem Moment, in dem sich diese Idee in unserem Hirn aufmacht, nicht die Idee des Anarchismus, sondern die Idee der Justiz, der Freiheit, wenn sich diese Ideen aufmachen und wir über diese Ideen begreifen, was für einen Betrug wir vor uns haben, den wir heute mehr als je als demokratischen Betrug bezeichnen können, was machen wir dann? Wir müssen uns bewegen, und dieses Bewegen bedeutet auch, uns zu organisieren, es bedeutet, die Bedingungen zu schaffen, die eine Auseinandersetzung und Anhaltspunkte unter uns Anarchistinnen ergeben, die jedoch anders sind als in der Vergangenheit.

Heute schaut die Wirklichkeit anders aus. Wie wir vorhin sagten, sie sind dabei einen anderen Menschen zu konstruieren, einen disqualifizierten Menschen und dies, weil sie es nötig haben, eine disqualifizierte Gesellschaft zu schaffen. Einmal den Menschen disqualifiziert, haben sie aus dem Mittelpunkt, aus dem gestern die politische Gesellschaft konzeptioniert wurde, das entfernt, was die Figur der Arbeiterinnen darstellte.

Die Arbeiterinnen von gestern hielten die schlimmsten Ausbeutungsumstände aus. Aus diesem Grunde dachte man sich, dass sie als soziale Figuren den Anfang der Revolution machen würden. Man denke nur an die marxistischen Analysen. Im Grunde ist das ganze Kapital von Marx der “Befreiung der Arbeiterinnen” gewidmet. Wenn Marx von Menschen spricht, meint er damit die Arbeiterinnen, wenn er seine Analysen bezüglich der Werte entwickelt, so redet er von der Arbeitszeit; wenn er seine Analysen bzgl. der Entfremdung entwickelt, so redet er von der Arbeit. Es gibt nichts, was nicht die Arbeit betrifft. Dies aus dem Grunde, weil zu den Zeiten, in denen die marxistischen Analysen entwickelt wurden, die Arbeiterinnenklasse der zentrale Punkt war. Die Arbeiterinnenklasse konnte als Mittelpunkt der sozialen Struktur hypothetisiert werden.

Wenn auch mit anderen Analysen, so kamen auch die AnarchistInnen zu einem ähnlichen Schluss, was die Stellung der Arbeiterinnen als Mittelpunkt einer sozialen Struktur betrifft. Man denke an die Analysen der AnarchosyndikalistInnen. Für die AnarchosyndikalistInnen ging es nur darum, die Gewerkschaftskämpfe zu den extremsten Konsequenzen zu bringen, sie dann aus der begrenzten Dimension des Syndikalismus zu lösen, um sie dann, über den Generalstreik, einen revolutionären Fakt zu erreichen. Also die Gesellschaft von morgen, die befreite und anarchistische Gesellschaft, wäre nach Ansicht der AnarchosyndikalistInnen nichts anderes als eine Gesellschaft, die von den Machtstrukturen befreit ist, mit den gleichen Produktionsstrukturen von heute. Diese wären dann nicht mehr in den Händen der Kapitalistinnen, sondern in den Händen der Gesellschaft, die sie kollektiv verwalten würde.

Dieses Konzept ist heute aus unterschiedlichen Gründen absolut nicht mehr praktizierbar. An erster Stelle, weil die technologischen Veränderungen, die heute schon realisiert wurden, einen einfachen und linearen Übergang von einer vorherigen Gesellschaft, der aktuellen Gesellschaft, in der wir heute leben, in eine zukünftige Gesellschaft, in der wir leben möchten, nicht mehr zulassen. Dieser direkte Übergang ist unmöglich aus einem einfachen Grund: z.B. könnte die telematisierte Technologie nicht in einer befreienden Form benutzt werden. Die Technologie und die telematischen Implikationen haben sich nicht darauf beschränkt, nur bestimmte Veränderungen innerhalb gewisser Instrumente zu verwirklichen, sondern haben auch die anderen Technologien verändert. Nehmen wir die Fabrik, es ist nicht mehr die Fabrik von gestern, der ein telematisches Mittel hinzugefügt wurde, sondern es ist eine telematisierte Fabrik, und das ist eine ganz andere Sache. Nehmen wir bitte zur Kenntnis, dass diese Konzepte aus verständlichen Gründen nur sehr generalisiert angerissen werden können, denn sie würden sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, wenn wir sie vertiefen würden. Nun, die Unmöglichkeit dieses Patrimoniums zu benutzen, und also auch diesen Übergang, läuft parallel mit dem Ende des Mythos vom Zentralismus der Arbeiterinnenklasse.

Jetzt, in einer Situation in der sich die Arbeiterinnenklasse praktisch in Staub aufgelöst hat, gibt es keine Möglichkeit für den Gebrauch von sogenannten Produktionsmitteln, die enteignet werden müssten. Tja und, aus was besteht die Lösung? Es gibt keine andere Lösung, als dass diese Masse von Produktionsmitteln, die wir vor uns haben, zerstört wird. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist der Weg über die dramatische Wirklichkeit der Zerstörung. Die Revolution, die wir hypothetisieren können, und von der wir auch sicher sind, dass sie kommt, ist nicht die Revolution von gestern, die man sich als einfachen Fakt vorstellen konnte, der tatsächlich eines schönes Abends oder Tages kommen konnte. Nein diese Revolution wird eine lange, tragische, blutige Angelegenheit, die über unvorstellbare gewalttätige Prozesse erreicht wird, unvorstellbar tragische Prozesse.

Es ist dieser Art von Realität, der wir näher kommen. Nicht weil diese unser Wunsch ist, nicht weil uns die Gewalt, das Blut, die Zerstörung oder der Bürgerkrieg, die Toten, die Vergewaltigungen und die Barbareien gefallen, um das geht es nicht, sondern weil es der einzige plausible Weg ist. Die HerscherInnen, die diese Veränderungen wollten, haben diesen Weg nötig gemacht. Sie sind es, die diesen Weg eingeschlagen haben. Wir können nun nicht mit nur einem einfachen Flügelschlag unserer Wünsche, unserer Vorstellungen etwas ändern. Also, wenn mit der Hypothese der Vergangenheit, in der noch eine starke Arbeiterinnenklasse existierte, es noch möglich war, eine Illusion des Überganges zu hegen, so organisierte man sich danach. Zum Beispiel sahen die organisatorischen Hypothesen des Anarchosyndikalismus eine grosse syndikalistische Bewegung vor, die, einmal ins Innere der Arbeiterinnenklasse und Organisationen eingedrungen, diese Enteignung und diesen Übergang verwirklichen sollte. Fällt dieses kollektive Subjekt, das wahrscheinlich von Geburt an ein Mythos war und heute nicht einmal in einer mythischen Vision besteht, aus, welchen Sinn hätte eine gewerkschaftliche Bewegung revolutionärer Natur? Was für einen Sinn hätte oder hat eine gewerkschaftliche oder anarchosyndikalistische Bewegung? Keinen.

Also muss der Kampf von wo anders ausgehen, er muss von anderen Ideen kommen und mit anderen Methoden gemacht werden. Das ist der Grund, warum wir seit fast fünfzehn Jahren eine Kritik an den Gewerkschaften und dem Anarchosyndikalismus entwickelt haben, und deshalb verstehen wir uns als aufständische Anarchistinnen. Und nicht weil wir denken, dass die Barrikaden die Lösung sind. Die Barrikaden sind höchstens eine tragische Konsequenz von Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben, wir sind Aufständische, weil wir denken, dass die Aktion des Anarchismus sich gezwungenermassen mit gravierenden Problemen auseinandersetzen muss, die nicht vom Anarchismus gewollt sind, sondern von der Realität, die von den Herrschenden geschaffen wurde, und die wir nicht mit einem einfachen Flügelschlag unserer Wünsche verschwinden lassen können.

Eine anarchistische Organisation, die sich in die Zukunft projiziert, müsste also schlanker sein. Sie kann sich nicht mit schweren, quantitativ schweren Charaktereigenschaften der Vergangenheit vorstellen. Sie kann sich nicht über die Dimension der Synthese geben, wie es z.B. bei Organisationen der Vergangenheit war, in der die anarchistische organisatorische Struktur den Anspruch hatte, die Realität innerhalb ihrer selbst über bestimmte “Kommissionen” die sich um die unterschiedlichsten Probleme kümmerten, zusammenfassen zu können. Kommissionen, die ihre Entscheidungen innerhalb eines periodischen jährlichen Kongresses trafen und sich dabei auf Thesen beriefen, die aus dem vorigen Jahrhundert stammten. All das hat seine Zeit gehabt, nicht weil ein Jahrhundert dazwischen liegt, sondern weil die Realität verändert ist.

Aus diesem Grund heraus denken wir an die Notwendigkeit der Gründung von kleinen Gruppen, die auf der Affinität beruhen. Gruppen, die auch ganz winzig sind und aus wenigen Genossinnen bestehen, die sich gut kennen und dieses Sich-Kennen immer weiter vertiefen, denn es kann keine Affinität bestehen, wenn man sich nicht kennt. Die Affinitäten können nur dann erkannt werden, wenn Elemente bestehen, um zu verstehen, wo die Unterschiede liegen, und das kann man nur machen, wenn man miteinander umgeht. Dieses Sich-Kennen besteht aus persönlichen Fakten, aber auch aus Ideen, Debatten und Diskussionen. Aber im Sinne der Anfangsdebatte, die wir heute abend geführt haben, wenn ihr euch erinnert, dann gibt es keine Ergründung der Ideen, die nicht auch mit der Praxis zusammenhängt, also den Aktionen, der Verwirklichung von Fakten. Also zwischen der Ergründung der Ideen und der Verwirklichung der Fakten besteht ein kontinuierlicher gegenseitiger Übergang.

Eine kleine Gruppe, die aus Genossinnen besteht, die sich kennen und sich über die Affinität identifizieren, eine kleine Gruppe, die sich nur dann zusammenfindet, um am Abend am Biertisch zu sitzen, wäre keine Affinitätsgruppe, sondern eine Gruppe von sympathischen Kumpeln, die sich am Abend treffen, um über eine x-beliebige Sache zu reden. Umgekehrt, eine Gruppe, die sich trifft, um zu diskutieren, die aber über ihre Diskussionen dazu beiträgt, die Diskussion zu entwickeln, die sie vorantreibt, um sich in anderen Moment in Praxis zu verwandeln, das ist der Mechanismus der Affintitätsgruppen. Wie aber kann dann die eine Affinitätsgruppe in Kontakt mit anderen Affinitätsgruppen treten, bei denen die Vertiefung des Sich-Kennens nicht nötig ist, Sache, die aber unverzichtbar intern der einzelnen Affinitätsgruppe ist? Diesen Kontakt kann die informelle Organisation garantieren.

Was aber ist eine informelle Organisation? Unter den verschiedenen Affinitätsgruppen, die unter sich in Kontakt treten, um Ideen auszutauschen und etwas zusammen zu tun, kann eine Beziehung informeller Natur bestehen und somit der Aufbau einer Organisation, die auf territorialer Ebene sehr breit sein kann, also auch aus Dutzenden, oder sogar Hunderten von Organisationen, Strukturen und Gruppen bestehen kann, die alle eine informelle Eigenschaft haben, die eben immer aus der Diskussion, der periodischen Vertiefung der Probleme und den Sachen, die zu tun sind, besteht. Diese organisatorische Struktur des aufständischen Anarchismus ist sehr verschieden von der Anarchosyndikalistischen Organisation, von der vorhin die Rede war.

Die Analyse der Organisationsformen, die hier nur angerissen wurde, wäre eine Ergründung wert, eine Sache, die ich jedoch nicht hier innerhalb einer Konferenz machen kann. Eine derartige Organisation würde meiner Ansicht nach nur eine interne Sache der Bewegung bleiben, wenn sie nicht auch Beziehungen ausserhalb der Bewegung aufbauen würde, also über die Schaffung der Anlaufstellen nach aussen, der Basisgruppen, die auch eine informelle Eigenschaft haben müssen. Es ist nicht nötig, dass diese Basisgruppen nur aus Anarchistinnen bestehen: innerhalb der Basisgruppen können auch Leute teilnehmen, die gegen ein bestimmtes Ziel kämpfen wollen, auch wenn dieses begrenzt ist, die sich aber nach einigen essentiellen Bedingungen richten. Als erstes “die permanente Konfliktualität”. Das bedeutet, dass die Gruppen von der Eigenschaft des Angriffes der Realität, die sie leben, geprägt sind und nicht nur auf die Befehle von irgendwem warten. Dann kommt die Eigenschaft der Unabhängigkeit, also weder von Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen abzuhängen, noch Beziehungen zu diesen zu haben. Letztendlich die Eigenschaft zu besitzen, die Probleme einzeln zu bewältigen und nicht generelle gewerkschaftliche Plattformen vorzuschlagen, die sich unvermeidbar in die Verwaltung einer Mini-Partei oder einem kleinen alternativen Syndikat verwandeln würden. Die Zusammenfassung dieser These kann auch etwas abstrakt scheinen, und aus diesem Grunde möchte ich, bevor ich sie abschliesse, ein Beispiel geben, da man über die praktischen Vorgänge einige Sachen besser begreifen kann.

In den 80er Jahren wurde ein Versuch gestartet, um den Bau einer amerikanischen Raketenbasis in Comiso zu verhindern. Bei dieser Gelegenheit wurde ein theoretisches Modell dieser Art angelegt. Die anarchistischen Gruppen, die für zwei Jahre vor Ort waren haben die “selbstverwalteten Ligas” geschaffen. Diese selbstverwalteten Ligas waren eben nicht anarchistische Gruppen, die auf dem Territorium vorgingen und als einziges Ziel hatten, den Bau der Basis zu verhindern und das laufende Projekt in seiner Verwirklichung zu zerstören.

Die Ligas waren also unabhängige Zellen mit den folgenden Eigenschaften: ihr einziger Zweck war, die Basis anzugreifen und zu zerstören. Also hatten sie bestimmte Probleme nicht, denn hätten sie diese gehabt, dann wären sie zu syndikalistischen Gruppen geworden, die sich das Problem der Arbeit stellten, also diese zu finden oder den Arbeitsplatz zu verteidigen, oder sonstige immanente Probleme zu lösen. Die Ligas hatten nur den Zweck diese Basis zu zerstören.

Die zweite Eigenschaft war die permanente Konfliktualität. Also vom ersten Moment an, in dem diese Gruppen geschaffen waren (es waren keine anarchistischen Gruppen, sondern Gruppen in denen sich auch Anarchistinnen befanden), traten diese Gruppen in Konflikt mit all den Kräften, die diese Basis bauen wollten, ohne dass diese Konfliktualität von Organismen vertreten wurde oder es eine Verantwortung gab, die sich auf die Gruppe als solche bezog.

Die dritte Eigenschaft war die Unabhängigkeit dieser Gruppen. Das bedeutet, dass diese Gruppen weder von Parteien noch von Gewerkschaften usw. abhängig waren. Die Angelegenheit des Kampfes gegen den Bau der Basis sind teils bekannt und teils unbekannt. Und ich glaube nicht, dass es hier der richtige Moment ist, um diese Geschichte aufzurollen, ich wollte sie nur im Titel des Beispiels erwähnen.

Also der aufständische Anarchismus muss ein essentielles Problem bewältigen; um als solcher zu gelten, muss er eine Grenze überwinden, ansonsten würde er nur eine Hypothese des aufständischen Anarchismus bleiben. Also, die Genossinnen, die Teil einer Affinitätsgruppe sind und daher den vorhin erwähnten Prozess des eigenen Aufstandes überwunden haben, also diese Illumination hatten, die in uns die Konsequenz einer starken Idee bewirkt, die sich dem Geschwätz der Meinungen entgegensetzt, diese Genossinnen treten in Verbindung mit anderen Genossinnen, die sich auch an anderen Orten befinden, um somit eine informelle Struktur zu bilden, bis zu diesem Punkt jedoch nur einen Teil ihrer Arbeit getan haben. Sie müssen sich an einem gewissen Punkt dafür entscheiden, sie müssen diese markierte Linie überspringen, sie müssen einen Schritt tun, der nicht leicht rückgängig zu machen ist. Sie müssen Beziehungen mit Leuten aufbauen, die nicht anarchistisch sind, und das in Funktion eines Problems, das im Zwischenbereich liegt, das begrenzt ist (so phantastisch, interessant und sympathisch die Idee der Zerstörung der Basis auch gewesen sein mag, so ging es jedoch nicht um die Anarchie, um die Verwirklichung der Anarchie). Was wäre passiert, wenn man es geschafft hätte tatsächlich in die Basis einzudringen und diese zu zerstören? Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich nichts, wahrscheinlich alles mögliche. Ich weiss es nicht, das kann man nicht wissen, niemand kann das wissen. Aber die Schönheit in der Verwirklichung dieses zerstörerischen Aktes kann nicht in ihren möglichen Konsequenzen gefunden werden.

Die Anarchistinnen garantieren für nichts von den Dingen, die sie tun, aber sie identifizieren die verantwortlichen Personen und Strukturen, auf Basis einer Entscheidung bestimmen sie ihre Aktionen und von dem Moment an fühlen sie sich selbstsicher, denn die Idee der Justiz, die sich in ihnen befindet, führt sie zur Aktion, um die Verantwortung von Personen und Strukturen, von vielen Strukturen zu zeigen und die Konsequenzen, die daraus entstehen und verantwortlich sind. Genau hier setzt sich die Selbstbestimmung und das Handeln der Anarchistinnen fest.

Wenn sie manchmal gemeinsam mit anderen Personen handeln, so müssen sie versuchen, Organismen auf dem Territorium zu schaffen. Also Organismen, die die Fähigkeit besitzen, fortzubestehen und Konsequenzen im Kampf gegen die Herrschaft zu erzeugen. Wir dürfen nie vergessen, und diese Überlegung ist wichtig, dass sich die Herrschaft konkret, also auch über Räumlichkeiten, realisiert; sie besteht nicht aus einer abstrakten Idee. Die Kontrolle wäre nicht möglich, würde es keine Polizeikasernen und Gefängnisse geben. Die legislative Herrschaft wäre unmöglich, wenn es nicht die regionalen Parlamentchen geben würde. Die kulturelle Macht, die uns unterdrückt, die Meinungen konstruiert, wäre nicht möglich, wenn es keine Schulen und Universitäten geben würde.

Nun, die Schulen, die Universitäten, die Kasernen, die Gefängnisse, die Industrien, die Fabriken sind Orte die auf dem Territorium verwirklicht werden. Es sind begrenzte Zonen, innerhalb derer wir uns nur bewegen können, wenn wir bestimmte Bedingungen akzeptieren bzw. wenn wir uns an die Spielregeln halten. Wir befinden uns hier in diesem Raum, weil wir die Spielregeln akzeptiert haben, ansonsten hätten wir nicht hier eintreten können. Dies ist interessant. Wir können auch Strukturen dieser Art benützen, aber in dem Moment, in dem wir angreifen, sind uns diese Orte verboten. Wenn wir hier reinkommen würden, und vorhätten diese Struktur anzugreifen, so würde uns die Polizei daran hindern, das scheint mir klar.

Nun, da sich die Herrschaft über Räumlichkeiten realisiert, ist für die Anarchistinnen der Bezug zu den Räumlichkeiten sehr wichtig. Sicherlich ist der Aufstand ein individueller Fakt und daher, wenn wir am Abend mit uns alleine sind, bevor wir einschlafen, denken wir: “… Naja gut, letztendlich laufen die Dinge gar nicht so schlecht” denn man fühlt sich in Frieden mit sich selbst und schläft ein. In diesem besonderen Bereich, der keine Räumlichkeit darstellt, bewegen wir uns wie wir wollen. Dann aber müssen wir uns in die Räumlichkeit der Wirklichkeit transferieren, und die Räumlichkeit, wenn ihr mal gut darüber nachdenkt, ist fast exklusiv in der Hand der Mächtigen. Nun, wenn wir uns in der Räumlichkeit bewegen, bringen wir diese Werte des Aufstandes, diese Werte der Revolution, der Anarchie mit ein, und messen sie in einem Gefecht, in dem es nicht nur uns gibt.

Wir müssen daher die bedeutungsvollen Ziele identifizieren und ob es die gibt, und schau mal einer an, diese Ziele gibt es immer und überall. Wir müssen dazu beitragen, die Bedingungen und Objekte zu finden, die es ermöglichen, dass die Leute die ausgebeutet und unterdrückt werden, versuchen selbst etwas dagegen zu tun, um dies zu verhindern. Meiner Ansicht nach ist dieser revolutionäre Prozess von aufständischer Natur. Er hat keinen Zweck (das ist sehr wichtig) im quantitativen Sinne, denn die Zerstörung des Objektives oder die Verhinderung von Projekten, kann nicht im Sinne der Menge bewertet werden. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: “Ja aber was für Resultate haben wir erreicht?”. Auch wenn etwas realisiert wurde, so erinnern sich die Leute im Nachhinein nicht mehr an die Anarchistinnen. “Die Anarchistinnen? Ja wer sind denn diese Anarchistinnen, etwa Monarchen? Vielleicht die, die den König wollen.” Die Leute erinnern sich schlecht. Was aber hat dies für eine Wichtigkeit. Es sind nicht wir, an die sie sich erinnern sollen, sondern sie sollen sich an ihren eigenen Kampf erinnern, denn der Kampf ist der ihre. Wir sind nur eine Gelegenheit im Kampf selbst, nichts mehr.

In einer befreiten Gesellschaft, in der abgeschlossenen Anarchie, also in einer vollkommenen idealen Dimension, hätten die Anarchistinnen – die heute für den sozialen Kampf auf jeder Ebene unverzichtbar sind – nur die Rolle, die Kämpfe immer weiter voranzutreiben, bis auch die letzte Spur der Macht verschwunden ist, um die Spannung zur Anarchie immer weiter perfektionieren zu können. Die Anarchistinnen sind diejenigen, die auf alle Fälle einen unbequemen Planeten bewohnen, denn läuft der Kampf gut, so werden sie vergessen, läuft er schlecht, so zieht man sie zur Rechenschaft und wirft ihnen vor, einen schlechten Kampf geführt zu haben. Deswegen sollten wir uns nie Illusionen machen was die möglichen, quantitativen Ergebnisse betrifft: wenn der Kampf, der verwirklicht wird, im Sinne des Aufstandes korrekt ist, dann ist das gut so, und die Ergebnisse, falls es welche gibt, können für die Leute, die sie realisiert haben, von Nutzen sein, nicht aber für die Anarchistinnen. Man darf nicht in das Missverständnis fallen, in das leider genügend Genossinnen immer wieder verfallen sind, zu denken, dass das positive Ergebnis des Kampfes sich in ein Wachstum unserer Gruppen verwandeln kann, denn dies entspricht nicht der Wahrheit und führt systematisch zu Delusionen. Das Wachstum unserer Gruppen und das Wachstum der Genossinnen aus einem quantitativen Blickpunkt betrachtet ist eine wichtige Sache, die aber nicht über die erreichten Ergebnisse stattfinden kann, sondern über den Aufbau, die Formatierung der starken Ideen, der Klarstellungen, von denen wir vorhin sprachen. Die positiven Ergebnisse des Kampfes und das quantitative Wachstum unserer Gruppen sind zwei Sachen, die nicht von einem Prozess des Ursprungs und des Effektes verbunden werden können. Sie können in Verbindung stehen, oder auch nicht.

Bevor ich abschliesse würde ich gerne noch ein paar Worte sagen. Ich habe davon geredet, was der Anarchismus ist, was die Demokratie ist, welche die Missverständnisse sind, die uns immer wieder vorgehalten werden, die Art auf welche sich die Machtstruktur verändert, die wir modernen Kapitalismus, post-industriellen Kapitalismus nennen, von einigen anarchistischen Kampfstrukturen, die heute nicht mehr akzeptierbar sind, von der Weise, wie man sich heute gegen die Verwirklichungen der Mächtigen entgegensetzen kann, und letztendlich habe ich von dem Unterschied gesprochen, der zwischen dem traditionellen und dem aufständischen Anarchismus von heute besteht.

Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit.

Cúneo, 28.Januar 1995 (Konferenz zum Thema „Anarchie und Demokratie“)

Alfredo Maria Bonanno

 

[1] Craxi, Bettino: ehemaliger Generalsekretär der PSI (Sozialistische Partei Italiens), ehemaliger Ministerpräsident. Stand öfter vor Gericht wegen verbotener Finanzierung der Partei, Korruption, etc. Die italienische Justiz verurteilte ihn zu 8 Jahren Arrest. Er stand mehrmals auf der Fahndungsliste und verstarb im Januar 2000, nachdem er mehrere Jahre im Exil, in seiner Luxusvilla von Hammamet (Tunesien) gelebt hatte.

[2] Andreotti, Giulio: italienischer Politiker, Mitglied der DC (Christdemokratischen Partei). Er war an insgesamt 33 Regierungen beteiligt und dabei siebenmal italienischer Ministerpräsident. 1992 wurde er vom italienischen Präsidenten zum Seantor auf Lebenszeit ernannt. Immer wieder wurde er in Verbindung mit dunklen Machenschaften (Korruption, Mord, mafiöse Vereinigung und der Versuch eines Putsches) gebracht. Die Justiz ließ ihn immer wieder laufen. Während dieses Vortrags stand er wieder vor Gericht, diesmal wurde er beschuldigt, den Mord an dem Journalisten Pecorelli angeordnet zu haben und wieder einmal wegen mafiöser Vereinigung.

[3] Riina, Salvatore: Den Medien und Richtern als Mafiaboss der Cosa Nostra (sizilianische Mafia) bekannt. Seit Anfang der 1970er Jahre per Haftbefehl gesucht, 1993 verhaftet. Er genoss lange Zeit die Protektion durch die DC (Christdemokratische Partei). Er soll mit Andreotti gesehen worden sein, als sie sich gegenseitig auf die Wangen küssten, Ritual der Mafia, welches für Brüderlichkeit und gegenseitige Hilfe unter Anführern steht.


Referat das von Alfredo M. Bonanno gehalten wurde, bei einer Konferenz zu "Anarchie und Demokratie" in Cúneo am 28. Januar 1995.