Alexej Borowoj
Die Sozialphilosophie des revolutionären Syndikalismus
Bekam der Rationalismus auf dem Feld der abstrakten Arbeit heute den stärksten Schlag von Philosophie Bergsons, so wurde im Praktischen der Syndikalismus zu seinem erbittertesten Feind. Dieser hat die dogmatischen Fesseln der Parteien und Programme abgestreift und ist von der Symbolik der Repräsentation zur selbstständigen Arbeit übergegangen.
In der Bestimmung der Charakteristik des revolutionären Syndikalismus sollte mensch [aber] vorsichtig sein.
Um die Natur [des Syndikalismus] richtig einzuschätzen, muss mensch sich die tiefe Kluft zwischen dem Syndikalismus als eine Form der Arbeiterbewegung, die über eine proletarische Klassenorganisation verfügt, und dem [Syndikalismus] als der (einer?) “neuen Schule” des Sozialismus, dem “Neomarxismus”, welcher eine theoretische Weltanschauung darstellt, die auf den Fundament der kritischen Reflexion über den Arbeitersyndikalismus gewachsen ist, unterscheiden.
Das sind zwei verschiedene Welten, die voneinander unabhängig existieren; dieser Umstand wird allerdings von Forschern und Kritikern des Syndikalismus immer noch nicht ausreichend beachtet.
An dieser Stelle soll uns nur der “proletarische Syndikalismus” interessieren.
Seine Entwicklung baute auf folgenden Hauptprinzipien auf:
a) der Primat der Bewegung vor der Ideologie;
b) Freiheit der schöpferischen Selbstbehauptung der Klasse;
c) Autonomie des Individuums in der Klassenorganisation.
Alle Gedankengebäude des Marxismus fußten auf der Überzeugung, dass es möglich sei, allgemeine, d.h. abstrakte Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen und daraus folgernd soziologische Prognosen aufstellen.
Der Syndikalismus ist gemäß seiner Natur der vollkommene Verzicht auf jegliches soziologische Rezept. Der Syndikalismus ist eine unendlich fließende Schöpfung, die sich nicht im Rahmen einer absoluten Theorie oder einer vorbestimmten Methode einengen lässt. Der Syndikalismus ist eine Bewegung, die seine weitere Entwicklung bestimmenden und seine Richtung diktierende Stimuli in sich selbst sucht und findet; nicht die Theorie beherrscht die Bewegung, sondern Theorien werden in ihm geboren und sterben auch ebenda.
Der Syndikalismus ist ein Prozess unaufhörlicher Entfaltung proletarischen Selbstbewusstseins. Er zwingt seinen Anhängern keine unveränderlichen Losungen auf, vielmehr lässt er ihnen einen genauso großen Spielraum für freie positive Schöpfung ebenso wie für freie zerstörerische Kritik. Er kennt keine “verba magistri“, auf die zumindest proletarische politische Parteien schwören. Im Gegensatz zum genanntem Parteikatechismus, der, “zuvorkommend” wie er ist, auf jede Frage, die bei seinen Gläubigen auch nur entstehen könnten, bereits eine Antwort parat hält, pulsiert im Syndikalismus wütende Lebensfreude, die bereit ist, mit allen Waffen jede Frage zu beantworten, es dabei jedoch vermeidet, sich in schwerfällige dogmatische Rüstung[en] zu kleiden. In einer politischen Partei ist der Proletarier ein Ausführender, der an parteiliche Formalitäten, Berechnungen, Intrigen gebunden ist; im Syndikalismus ist er ein Schöpfer, dessen Wille von niemandem bestritten wird.
Die schwächste Stelle des “orthodoxen” Marxismus besteht in dem schreienden Widerspruch zwischen dem “revolutionärem” in Bezug auf seine Endziele und dem friedlichen, reformistischen Charakter seiner “Bewegung”, zwischen strengen Forderungen eines unversöhnliches “Klassenkampfes” und dessen praktische Unterordnung unter parlamentarischer Parteipolitik.
Diesen leidlichen, den eigentlichen Sinn der Bewegung in Verruf bringenden Widerspruch gibt es im Syndikalismus nicht, es kann ihn nicht geben. Denn dieser wird in der proletarischen Umgebung – unter den Produzenten – gebrochen; Bewegung und Ziel fließen zusammen, weil sie von derselben Natur sind. Die “Bewegung” ist genauso revolutionär wie das “Ziel”. Letzterer bedeutet die Zerstörung der aktuellen Klassengesellschaft mit ihrem System der Lohnarbeit, die mit allen Formen des staatlich-kapitalistischen Parasitismus den Geist der Klassenfeindschaft diktiert. So ist das Endziel des Syndikalismus gleichzeitig auch die wirkliche Losung eines jeden getrennten Moments seiner Bewegung.
Von Standpunkt des Syndikalismus aus gesehen, ist die Zukunft ein Produkt einer Schöpfung, eines komplexen, für Berechnungen unzugänglichen Prozesses, welcher durch einschließende Faktoren modifiziert wird, und dies in einer Art und Weise tut, die manchmal radikal die Umwelt verändert, in der gerade ein Schöpfungsakt stattfindet. Diese Zukunft zu kennen, wie es orthodoxe Konsumenten von Parteimanifesten es meinen zu tun, ist unmöglich. Umgekehrt verbirgt sich unter der angeblich realistischen Oberfläche parteiischer und parlamentarischer Weisheit des Reformismus, ein uferloser Utopismus, ein Glaube, dass es mit wörtlichen Überzeugungen und partiellen Experimenten möglich sei, ein komplexes, tief in unserer Psyche wurzelndes System zu überwinden.
Aber es ist möglich, zu wünschen, die Gegenwart zu verändern und die Zukunft entsprechend dem Willen aufzubauen, der unmittelbar in realen, lebendigen Formen der Produzentenorganisation zusammenfließt – in den Klassenorganisationen.
Der Wille des Proletariats, sein Klassenbewusstsein, seine schöpferischen Möglichkeiten, die Stufe seiner kulturellen Reife, seine persönliche Stärke – Initiative, Heldentum, Verantwortungsbewusstsein – das sind revolutionäre Faktoren der Geschichte!
Der Wille des Produzenten ist das geistige Zentrum der proletarischen Bewegung.
Ein Syndikat ist aus diesem Grund eine Arena für die breiteste, umfassendste Entwicklung des Individuums. Ein Mitglied eines Syndikats gibt seine religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen, politischen Überzeugungen nicht auf. Nach einer treffenden Aussage eines Propagandisten des Syndikalismus, sei das Syndikat “eine sich stets ändernde Verlängerung der Individuen, aus denen er besteht”; das Syndikat “wird vom Typus der geistigen Ansprüche seiner Mitglieder geprägt”.
Der Wille des Produzierenden, dieses, wie wir schon sagten, geistigen Zentrums der Bewegung, ist weder Ideologenphantasie, noch etwas sich selbst erzeugendes. Dieser Wille ist eine „objektive Tatsache“, ein Produkt von bestimmten techno-ökonomischen Bedingungen.
Syndikalismus ist die Frucht jener Zersplitterung im Proletariat, die sich unter dem Einfluss des technischen Fortschritts und steigender Anforderungen an den Arbeiter ereignete.
Orthodoxer Marxismus stützte sich in seinen Konstrukten auf die ursprüngliche kapitalistische Fabrik mit dem “de-spezialisierten” Arbeiter – dem ungelernten und bis zur Rolle eines bloßen Arbeitsmittel erniedrigten Arbeiter. Die Fabrik war ein eigenartiges Mikrokosmos, in dem der Wille des unmittelbaren Produzenten dem Willen des Besitzers, eines kontrollierenden Organs, untergeordnet war, und in dem vom Arbeiter – nach der allgemeinen Regel – keine bewusste Initiative, sondern ein blinder Gehorsam gefordert wurde.
Syndikalismus entspricht einen neuen Stadium der kapitalistischen Entwicklung. An modernen Arbeiter werden dank der technisch gesteigerten Arbeitsbedingungen Intelligenzanforderungen gestellt. Die Intellektualisierung der Arbeit schreitet überall schnell voran. Ungelernter Arbeiter macht Platz für den qualifizierten und extra-qualifizierten Arbeiter, wie technisch unterentwickelte Panzerkreuzer zu ihrer Zeit für Dreadnoughts und Superdreadnoughts Platz machen mussten.
Der moderne Arbeiter muss aktiv und selbstbewusst sein, Initiative, Flexibilität und Schnelligkeit bei der Lösung von technischen Problemen zeigen. Neben dem technischen Fortschritt wird der moderne Arbeiter durch den Anstieg des Klassenbewusstsein mit erzogen. Die Epoche des Arbeitsautomatismus ist zu Ende.
Moderne Arbeitsstätten sollen einen selbständigen Arbeiter mit der bewussten Unterordnung unter die Kollektivdisziplin vereinbaren, die von der Natur des kollektiven Arbeitens gefordert wird.
Nach all dem Gesagten ist klar, wie falsch die Anmerkungen von einzelnen Syndikalismuskritikern sind. Wenn er [der Syndikalismus] überhaupt etwas vom Marxismus geerbt hat, dann nur dessen utopische Elemente. Derartige Anmerkungen sind nur möglich, wenn mensch den “proletarischen” Syndikalismus mit den mythologischen Konzeptionen Sorels durcheinander bringt.[1]
Der proletarische Syndikalismus aus seiner eigensten Natur heraus schließt das “Utopische” aus.
Im Zentrum des syndikalistischen Bewegung steht das Individuum, die einzig echte Realität der sozialen Welt. Individuen schließen sich nach Merkmalen, die ihre Positionen im Arbeitsprozess kennzeichnen, in bestimmten örtlichen und beruflichen Gruppen zusammen, die Syndikate heißen. Dieser Zusammenschluss stellt sich ganz konkrete reale Ziele: den Schutz von alltäglichen, ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder. Das Syndikat ist ein Mittel, eine Waffe in den Händen der Arbeiter, aus denen es besteht – und nicht mehr als das. Ein Zusammenschluss von Syndikaten stellt eine Organisation der „Klasse“, eine „proletarische Organisation“ dar. Die Klasse an sich ist natürlich eine Abstraktion, in der Welt der Dinge ist sie eine künstliche Gruppierung mit dem Zweck des Selbstschutzes einer bestimmten Gruppe von Individuen. Wenn wir vom „Willen“, der „Psychologie“, „Politik der Klasse“ sprechen, meinen wir offensichtlich keine außerhalb der Individuen selbständig lebende Substanz, sondern einen Zusammenschluss von Individuen, die durch dieselbe Stellung in der Produktion, dem Bedürfnis, die gleichen Interessen zu schützen, und die daraus resultierende Notwendigkeit des gleichartigen Handelns verbunden sind. Weil Individuen, die eine Klasse bilden, ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen, vollbringen sie Handlungsakte, die zum Bereich der individuellen Psychologie und des individuellen Handelns gehören. Weil sie solidarisch handeln, um ein für sie alle gemeinsames Interesse zu schützen, weil sie nicht als Menschen, sondern als Proletarier handeln, vollbringen sie Handlungsakte, die zum Bereich der Klassenpsychologie und der Klassenaktion gehören. Ein Mensch mit seinen individuellen Handlungen natürlich macht nichts klassenbezogenes, obwohl er schon nicht nur erraten, sondern auch sicher wissen könnte, wie sich seine Genossen im Arbeitsprozess verhalten würden; folglich auch, wie sich die Klasse verhält. Dass eine einzelne Person etwas „klassenhaftes“ in sich trägt, würde die Annahme von irgendwelchen abstrakten, „mittleren“ Individuen bedeuten, von der Unmöglichkeit dessen haben wir doch schon genug gesprochen. Aber das Individuum kann auch als Mitglied einer Klasse auftreten, wenn es als Mitglied der Gruppe auftritt, indem es bewusst gewordene Interessen der Gruppe verteidigt.
Einer der hervorragendsten praktischen Anhänger des Syndikalismus charakterisiert den allgemeinen Plan syndikalistischer Organisation in folgenden Worten: „Hier (in der Allgemeinen Konföderation der Arbeit) ist Zusammenschluss, aber keine Zentralisation, von hier aus geht der Impuls aus, aber keine Regierung. Überall ist das föderalistische Prinzip: auf jeder Stufe, jede Organisationseinheit ist selbständig – Individuum, Syndikat, Föderation oder Arbeitsbörse… Der Impuls zu Handeln kommt nicht von oben, sondern aus jedem beliebigen Punkt und die Vibration greift, sich immer ausweitend, auf die ganze Masse der Konföderation über“.
Syndikalistische Absage an Rationalismus, Wissenschaft und wissenschaftliche Voraussage als Anführer seiner alltäglichen Politik, Absage an die repräsentative Demokratie und Parlamentarismus als die Vorherrschaft der Ideologen, ist in erster Linie ein Produkt der „Massenpsychologie“, die den Utopismus eigentlich gar nicht mag.
Und tatsächlich: Im Vermischen das Syndikalismus mit dem “Individualismus” oder mit “Gewalt” als Methode des Klassenkampfes ist nichts Utopisches.
Absoluter Individualismus und revolutionärer Syndikalismus sind direkt antinomisch. Derjenige „inbrünstige“ und „angespannte“ Individualismus, über den einige Syndikalisten schreiben, der tatsächlich dem Syndikalismus innewohnt und ohne den der derselbe Syndikalismus als selbständige – ohne parteiliche Führung – Form der proletarischen Bewegung nicht möglich wäre, wurde niemals und nirgendwo in Sinne einer Absage an „Gesellschaftlichkeit“ oder sogar deren bedeutenden Einschränkung zugunsten der Willkür des einzelnen Individuums proklamiert. Die eigentliche Möglichkeit solcher Behauptungen fußt einerseits auf der Überschätzung der Rolle des Anarchismus im Syndikalismus, andererseits auf einer veralteten Vorstellung des Anarchismus als einer absolut individualistischen Lehre. Aber so ein Anarchismus existiert heute gar nicht und diejenigen Anarchisten, die in den Syndikalismus eingingen und da eine bedeutende Rolle spielten, waren am wenigsten absolute Individualisten gewesen. Selbst der Redakteur des offiziellen Presseorgans der Konföderation (La voix du Peuple), der Anarchist Emile Pouget, der in all seinen Schriften die fruchtbare Rolle der schöpferischen Initiative des Individuums betonte und die Rolle der „bewussten“ Mehrheit gut verstand, war niemals in irgendeiner Beziehung Stirnerianer oder Nietzscheaner.
Ebenso falsch wäre, den “Utopismus” in der “Gewalt” des Syndikalismus erkennen zu wollen. Die Mehrheit der Forscher versteht diese Gewalt normalerweise in einem absichtlich “materialistischen” Sinne, im Sinne eines unmittelbaren Zwangs zu einer bestimmten Handlung oder einer unmittelbarer Zerstörung von etwas.
Aber die “Gewalt” des Syndikalismus ist kein Terror.
Der Terror, der in den Rahmen des traditionellen anarchistischen Rechts passt, ist aus den Kampfmethoden des revolutionären Syndikalismus völlig ausgeschlossen.
Das, was in der Sprache „theoretischer Syndikalisten“ als „Gewalt“ bezeichnet wird, ist im Grunde anti-politische, außerparlamentarische Kampfmethodik oder öffentliche Auftritte des Proletariats, die so genannte „action directe“ (direkte Aktion). Das letztere kann von vorne bis hinten legal sein und dabei nichts desto weniger revolutionär bleiben, weil sie immer die Fundamente des kapitalistischen Systems angreift; der revolutionäre Syndikalismus – wie ihn Puoget wunderbar bestimmte – hat keine Angst vor „Reformen“. Aber er kämpft gegen ein System, das „Einigungen“ mit den Bossen (dem Patronat) zum Prinzip macht und nicht über gemischte Kommissionen, Arbeitsgerichte, Streiksregulierungen, „Räte der Arbeit“ mit ihrer Krönung in der Form von eines „Oberrates der Arbeit“ hinauskommt.
Der Syndikalismus geht davon aus, dass “Gewalt”, die Folge jedweden “Rechts”, die unumgängliche Begleiterin jeder Zwangssanktion ist. Es gibt kein organisiertes “Recht” ohne Gewalt.
Aber neben dem Recht – dem öffentlichen und dem bürgerlichen, dem vom Staat sanktionierten – gibt es noch ein anderes ungeschriebenes Recht, das auf dem kollektiven Glauben, der auf der kollektiv hervorgebrachten Überzeugung beruht, dass die Ansprüche berechtigt sind – sowohl die Ansprüche des Individuums als auch der gesellschaftlichen Klasse auf das volle Produkt ihrer Schöpfung.
Jede gesellschaftliche Klasse hat das Bewusstsein von diesem Recht. Und das „proletarische“ Recht ist dem „kapitalistischen“ zutiefst feindlich. Die Anwesenheit eines solchen Rechtsbewusstseins und sein prinzipieller Inhalt, durch den Bruch mit allen anderen Klassen geformt, bestimmt die geistige Geburt der Klasse. Und der Bruch zwischen den Klassen ist umso vollkommener, je schärfer, je heller ihr Rechtsbewusstsein. „Je kapitalistischer die Bourgoisie – schrieb treffend Sorel – desto kriegerischer wird das Proletariat sein, desto mehr gewinnt die Bewegung“. Und weil das „Recht“ einer Klasse es für gewünscht oder gerechtfertigt hält, das „Recht“ einer anderen Klasse zu beschränken oder abzuschaffen, und die Klasse ihr „Recht“ zu verwirklichen versucht, greift sie zur „Gewalt“.
„Jede gesellschaftliche Klasse – schreibt italienischer Syndikalist Olivetti – jede politische Gruppe versucht, Gewalt gegen andere [Gruppen] anzuwenden und Gewalt gegen sich selbst zu unterbinden, die eigene Gewalt zu verrechtlichen und gegen die Gewalt der anderen zu kämpfen. Keiner Gruppe von Menschen gelang es jemals, anders zu siegen, als mit Hilfe der Gewalt“.
Deswegen ist die „Gewalt“ des revolutionären Syndikalismus nicht nur ein organisierter Angriff auf das kapitalistische Regime, sondern gleichzeitig auch notwendiger Selbstschutz, eine Antwort auf die Angriffe des „bourgeoisen“ Rechts auf das „proletarische“. Diese „Gewalt“ – im wahren Sinne des Wortes – ist der Kampf ums Überleben; und der Inhalt des syndikalistischen „Rechts“ ist nicht das Ausrufen der „Diktatur“ des Proletariats, sondern die Herstellung der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit.
Das hier ist, wenn es darauf ankommt – eine vorläufige Charakteristik der Philosophie des revolutionären Syndikalismus. Sie erlaubt es immerhin, zu behaupten, dass der Arbeitersyndikalismus, der selbständig wuchs und sich entwickelte, der jegliche “theoretische” Phantasien mied, in seiner Bewegung einige Momente geschaffen hat, die erstaunlicherweise die ihm, so scheint es, so ferne philosophische Lehre Bergsons beinhalteten. Einer der einflussreichsten Vertreter des theoretischen Syndikalismus, Lagardelle, protestierte einmal dagegen, dass viele in der „anti-intellektualistischen Philosophie Bergsons philosophische Grundsätze des Syndikalismus “ zu erkennen versuchen. „Das ist falsch, – schrieb er – eine Analogie ist da, ein Zufall, Ähnlichkeit in gewissen wichtigen Punkten. Aber das ist alles“.
Diese Anmerkung ist für uns äußerst wertvoll. Umso bezeichnender und wichtiger wird dieser „Zufall“, diese „Ähnlichkeit in einigen gewissen wichtigen Punkten“, wenn die Grundsätze sich, ohne jeglichen Einfluss seitens des französischen Philosophen, selbständig formierten. Das heißt, dass philosophische Bewegung gegen die „Vernunft“ als die einzige Quelle der Erkenntnis nicht alleine ist, dass neben ihr, aber von ihr unabhängig, die vielleicht ideell mächtigste Bewegung der Gegenwart sich in die selbe Richtung geht.
Wir wissen bereits, dass alle Gedanken Bergsons aus seiner allgemeiner Vorstellung vom Leben als von einem endlosen, geschlossenen, unteilbaren und ununterbrochenen Fluss resultieren. Jegliche Zerstückelung des Flusses durch die Vernunft, d.h. jede wissenschaftliche Arbeit gibt uns nur eine abstrakte, beschränkte Vorstellung vom Leben und seinen Erscheinungen. Nur das intuitive Wissen erlaubt es uns, in das Objekt hinein zu gelangen, das Leben und seine Erscheinungen in ihrem inneren und tiefsten Wesen zu begreifen.
Und der Syndikalismus, diese praktische Arbeiterbewegung, wird von denselben Ideen beflügelt. Bergsons Lehre vom Leben ist den Ansichten von Syndikalisten über den Syndikalismus sehr nahe. Sie stellen sich den Syndikalismus vor nicht wie eine erstarrte Form, die alle ihre Worte ausgesprochen, ihr Programm und ihre Taktik ein für alle Mal ausgearbeitet hat, sondern wie unendliche Klassenschöpfung, einen eigenartigen Arbeitsfluss, der sich weder im Rahmen von irgendwelchen absoluten Theorien noch im Rahmen ein für alle Mal stehender Methoden.
Wie bei Bergson, neben dem oberflächlichen, äußerlichen Vernunfts-Ich, das zur Befriedigung seiner praktischen Bedürfnisse Sprache und wissenschaftliche Methoden erfunden hat, existiert noch ein tiefes, innerliches Lebens-Ich, dass sein Bewusstsein durch Intuition öffnet. So lebt in der sozialen Philosophie des Syndikalismus derselbe Gegensatz bezüglich der sozialen Umwelt.
In der Wirtschaft ist es der Gegensatz zwischen dem Tausch, einer vorübergehenden Form, die die äußerlichen Bedürfnisse der Gesellschaft bedient, und dem Produktionsprozess – einem tief liegenden inneren Mechanismus, der von der bloßen Existenz der Gesellschaft nicht zu trennen ist.[2]
Auf der politischen Ebene stellt der Syndikalismus den Gegensatz dar zwischen dem legalen Reformismus, der den Kult kleiner Taten propagiert und dem revolutionären Syndikalismus, der in seinen Siegen sein wahres Wesen, sein „Recht“ behauptet.
Der Syndikalismus hat eine neue Epoche in der Entwicklung des proletarischen Selbstbewusstseins eröffnet.
Am Anfang spontan, unmittelbar aus dem Leben gewachsen, wird der Syndikalismus in unserer Zeit zum bewussten Klassenprotest gegen Rationalismus – gegen des blinden Glaubens an die Unfehlbarkeit der theoretischen Vernunft, die sich überall durchsetzt kraft ihrer abstrakten Spekulationen.
Der Syndikalismus behauptet die Autonomie des Individuums, behauptet den Willen der schöpferischen und deswegen revolutionären Klasse.
Im Syndikalisten leben nebeneinander „leidenschaftlicher Individualismus“, der eifersüchtig über seine Freiheit wacht, und das spannende Gefühl des „proletarischen Rechts“. Der Syndikalist führt keine fremden Meinungen aus, ist aber ein unversöhnlicher und heroischer Kämpfer, der durch seine Befreiung die Anderen befreit.
Und der Streit zwischen eifrigen Befürwortern des Rationalismus und seinen Feinden – so denke ich – ist nicht nur ein Zusammenprall zweier sich bekämpfender geistiger Strömungen, ist keine Kontroverse philosophischer Schulen, kein Wettstreit politischer Meinungen, sondern ein Kampf zweier Typen menschlichen Geistes.
[1] Es ist aber notwendig, zwischen der „Utopie“ und dem „sozialen Mythos“ bei Sorel zu unterscheiden. Eine Utopie ist eine vernünftige Konstruktion, eine Frucht der Phantasie, der Inspiration eines Stubengelehrten. Und desto lebloser und entrückter wird die Utopie, je mehr Beweise der Autor zu ihrem Schutz anführt. Die witzigsten und schlauesten Schemata können das Leben in seiner Vielfältigkeit nicht umfassen. Und das Leben lacht immer über kraftlose Phantasien des menschlichen Verstandes. Der soziale Mythos ist keine vernünftige Konstruktion, er ist ein einheitliches, lebendiges, unteilbares Bild, das intuitiv geschaffen wurde und subjektiv wahrhaftig ist, aber durch logische Argumentation ist er nicht beweisbar. Der soziale Mythos kann nicht in wissenschaftlichen Begriffen dargestellt werden. So ist z.B. der Mythos vom Gottesreich auf Erden, so ist der populärste und mächtigste Mythos vom „Generalstreik“, von der Revolution bei Sorel. Der Mythos flimmert von der Fülle des wahren und ganzen Lebens, er kann nicht in rationalistische Zellen zerlegt werden, aber selbst ist er eine Quelle der Schöpfung. Der einen Revolutionären beflügelnder Mythos ist mit dem religiösen Feuer identisch, der die ersten Christen beherrschte. Er entzieht sich der Kontrolle durch die Vernunft, denn – so Sorel – er ist „keine Beschreibung der Dinge, er ist der Ausdruck des Willens“.
[2] Dieser Gegensatz ist für die gegenwärtige Wirtschaftsform wesentlich. Handelskapitalismus, der seiner Zeit den Weg dem industriellen Kapitalismus bereitete, damals ein unbestrittener und mächtiger Marktherr, wird heute auf die bescheidene Rolle eines Agenten des industriellen Kapitals, der modernen Produktion reduziert.