Albert Libertad

Die Freiheit

26. Dezember 1907

Viele denken, dass es eine schlichte Wortklauberei, eine Begriffsvorliebe ist, weswegen sich die einen als Libertäre und die anderen als Anarchisten bezeichnen. Ich bin da ganz anderer Ansicht.

Ich bin Anarchist und ich halte nicht aufgrund eines leeren Wortschmucks an diesem Etikett fest, sondern weil es eine Philosophie und eine Methode bedeutet, die sich von jenen des Libertären unterscheiden.

Der Libertäre, wie das Wort andeutet, ist ein Verehrer der Freiheit. Für ihn ist sie der Anfang und das Ende aller Dinge. Der Freiheit einen Kult zu erweisen, auf alle Mauern ihren Namen zu schreiben, ihr die Welt erleuchtende Statuen zu errichten, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit von ihr zu sprechen, sich als frei in seinen Bewegungen zu erklären, während euch der hereditäre, atavistische und alles umgebende Determinismus zu Sklaven macht... Darin besteht die Tat des Libertären.

Der Anarchist, wenn man sich schlicht auf die Etymologie bezieht, ist gegen die Autorität. Das ist exakt. Er macht aus der Freiheit nicht die Kausalität, sondern vielmehr die Finalität der Entwicklung seines Individuums. Er sagt nicht, selbst wenn es sich um die kleinste seiner Gesten handelt, „Ich bin frei“, sondern, „Ich will frei sein“. Für ihn ist die Freiheit nicht eine Entität, eine Qualität, ein Block, den er hat oder nicht hat, sondern ein Resultat, das er in dem Masse erwirbt, wie er Macht erwirbt. Er macht aus der Freiheit nicht ein Recht, das ihm vorausgeht, das den Menschen vorausgeht, sondern eine Wissenschaft, die er erwirbt, die die Menschen, Tag für Tag, erwerben, sich von der Unwissenheit befreiend, die Fesseln der Tyrannei und des Eigentums beseitigend.


Der Mensch ist nicht frei, zu tun oder zu lassen, aufgrund seines bloßen Willens. Er lernt, zu tun oder zu lassen, wenn er sein Urteil geübt, seine Unwissenheit geklärt oder die Hindernisse, die ihn einschränkten, zerstört hat. In diesem Sinne, wenn wir einen Libertären ohne musikalische Kenntnisse vor ein Piano setzen, ist er dann frei, darauf zu spielen? Nein! Er wird diese Freiheit erst haben, wenn er die Musik und den Fingersatz des Instruments erlernt hat. Dies ist, was der Anarchist sagt. Deswegen kämpft er gegen die Autorität, welche ihn daran hindert, seine musikalischen Fähigkeiten zu entwickeln – wenn er welche hat –, oder welche die Pianos besitzt. Um die Freiheit zu haben, zu spielen, muss er die Macht haben, es zu können, und die Macht, ein Piano zu seiner Verfügung zu haben.

Die Freiheit ist eine Kraft, die man in seinem Individuum zu entwickeln wissen muss; nichts und niemand kann sie einem gewähren.

Wenn die Republik die berühmte Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ annimmt, macht sie dann, dass wir frei sind? Dass wir gleich sind? Dass wir Brüder sind? Sie sagt uns: „Ihr seid frei“. Das sind leere Worte, denn wir haben nicht die Macht, frei zu sein. Und weshalb haben wir diese Macht nicht? Vor allem, weil wir nicht die exakte Kenntnis darüber zu erwerben wissen. Wir halten das Trugbild für die Realität.

Wir erwarten die Freiheit noch immer von einem Staat, von einem Erlöser, von einer Revolution, wir werden nie daran arbeiten, sie in jedem Individuum zu entwickeln. Was ist der Zauberstab, der die gegenwärtige Generation, geboren aus Jahrhunderten der Sklaverei und der Resignation, in eine Generation von Menschen verwandeln wird, welche die Freiheit verdienen, weil sie stark genug sind, um sie zu erobern?

Diese Verwandlung wird aus dem Bewusstsein hervorkommen, welches die Menschen darüber haben werden, keine Freiheit im Bewusstsein zu haben, dass die Freiheit nicht in ihnen ist, dass sie nicht das Recht haben, frei zu sein, dass sie nicht alle frei und gleich geboren werden... und dass es, dennoch, ohne die Freiheit unmöglich ist, glücklich zu sein. Von dem Tage an, wo sie dieses Bewusstsein haben werden, werden sie zu allem bereit sein, um die Freiheit zu erwerben. Dies ist der Grund, weshalb die Anarchisten so kraftvoll gegen die libertäre Strömung ankämpfen, welche den Schatten für die Beute hinstellt.

Um diese Macht zu erwerben, müssen wir gegen zwei Strömungen ankämpfen, die die Eroberung unserer Freiheit bedrohen: wir müssen sie gegen andere und gegen uns selbst verteidigen, gegen die äußeren Kräfte und gegen die inneren Kräfte.


Um in Richtung der Freiheit zu gehen, müssen wir unsere Individualität entwickeln. Wenn ich sage, in Richtung der Freiheit zu gehen, will ich damit sagen, in Richtung der vollständigsten Entwicklung unseres Individuums zu gehen. Wir sind also nicht frei, egal welchen Weg zu nehmen, wir müssen uns bemühen, den „richtigen Weg“ zu nehmen. Wir sind nicht frei, ungeregelten Leidenschaften nachzugeben, wir sind gezwungen, sie zu befriedigen. Wir sind nicht frei, uns in einen Trunkenheitszustand zu versetzen, unserer Persönlichkeit den Gebrauch ihres Willens raubend und sie unter alle Abhängigkeiten stellend; sagen wir eher, dass wir unter der Tyrannei einer Leidenschaft stehen, die das Elend oder der Luxus uns aufgegeben hat. Die wirkliche Freiheit wäre es, über diese Gewohnheit einen Autoritätsakt auszuüben, um sich von ihrer Tyrannei und ihren Nebeneffekten zu befreien.

Ja, ich habe Autoritätsakt gesagt, denn ich habe nicht die Leidenschaft für die a priori berücksichtigte Freiheit. Ich bin kein Libérâtre. Wenn ich die Freiheit erwerben will, so verehre ich sie nicht. Ich vergnüge mich nicht damit, mir den Autoritätsakt zu verweigern, der mich den Gegner, der mich angreift, besiegen lassen wird, und genauso wenig verweigere ich mir den Autoritätsakt, der mich den Gegner angreifen lassen wird. Ich weiß, dass jeder Gewaltakt ein Autoritätsakt ist. Ich würde mir wünschen, niemals Gewalt, Autorität gegen andere Menschen einsetzen zu müssen, doch ich lebe im 20. Jahrhundert und ich bin nicht frei in der Richtung meiner Bewegungen, um die Freiheit zu erwerben.

In diesem Sinne betrachte ich die Revolution als einen Autoritätsakt von einigen über einige andere, die individuelle Revolte als einen Autoritätsakt von einem über andere. Und trotzdem finde ich diese Mittel logisch, aber ihre Absicht will ich genau bestimmen. Ich finde sie logisch und ich bin bereit, daran mitzuwirken, wenn diese temporären Autoritätsakte zum Ziel haben, eine gefestigte Autorität zu zerstören, also mehr Freiheit zu geben; ich finde sie unlogisch und ich stelle mich ihnen in den Weg, wenn sie einzig zum Ziel haben, eine Autorität zu verschieben. Durch diese Akte gewinnt die Autorität an Macht: sie hat diejenige, die nur den Namen änderte, plus diejenige, die man anlässlich dieser Veränderung aufwendete.


Die Libertären machen aus der Freiheit ein Dogma; die Anarchisten machen daraus einen Begriff. Die Libertären denken, dass der Mensch frei geboren wird und dass die Gesellschaft ihn zum Sklaven macht. Die Anarchisten sind sich bewusst, dass der Mensch in der vollständigsten Abhängigkeit, in der größten Knechtschaft geboren wird, und dass die Zivilisation ihn auf den Weg der Freiheit führt.

Was die Anarchisten dem Verband der Menschen – der Gesellschaft – vorwerfen, ist, den Weg zu versperren, nachdem sie unsere ersten Schritte darauf führte. Die Gesellschaft befreit den Menschen vom Hunger, von den bösartigen Fiebern, von den reißenden Tieren – natürlich nicht in allen Fällen, aber in der Allgemeinheit –, doch sie macht ihn zur Beute des Elends, der Überbeanspruchung und der Regierenden. Sie bringt ihn von Charybdis zu Skylla. Sie lässt das Kind der Autorität der Natur entweichen, um es unter die Autorität der Menschen zu stellen.

Der Anarchist interveniert. Er verlangt nicht nach der Freiheit als ein Gut, das man ihm genommen hat, sondern als ein Gut, das man ihm verwehrt, zu erwerben. Er beobachtet die gegenwärtige Gesellschaft und er stellt fest, dass sie ein schlechtes Instrument, ein schlechtes Mittel ist, um die Individuen zu ihrer vollständigen Entwicklung aufzurufen.

Der Anarchist sieht, wie die Gesellschaft die Menschen mit einem Gitter aus Gesetzen, einem Netz aus Vorschriften, einer Atmosphäre aus Moral und Vorurteilen umgibt, ohne etwas zu tun, um sie aus der Nacht der Unwissenheit herauszuholen. Er hat nicht die libertäre – oder, man könnte sagen, liberale – Religion, sondern er will immer mehr Freiheit für sein Individuum, wie er eine reinere Luft für seine Lungen will. Er entscheidet sich also, mit allen Mitteln daran zu arbeiten, die Drähte des Gitters, die Maschen des Netzes zu durchtrennen, und er bemüht sich, die Buchten der freien Forschung groß zu öffnen.

Das Verlangen des Anarchisten ist es, seine Fähigkeiten mit der größt möglichen Intensität üben zu können. Je mehr er sich unterrichtet, je mehr er an Erfahrung gewinnt, je mehr Hindernisse – ebenso sehr intellektuelle und moralische, wie materielle – er umstößt, je weiter das Feld ist, das er einnimmt, desto mehr Ausdehnung erlaubt er seiner Individualität, desto freier wird er, sich zu entwickeln, und desto mehr geht er der Verwirklichung seines Verlangens entgegen.


Aber so möge ich mich nicht fortreißen lassen und wieder genauer auf das Thema zurückkommen: Der Libertäre, der nicht die Macht hat, eine Beobachtung, eine Kritik in die Realität umzusetzen, deren Begründetheit er anerkennt, oder der nicht einmal darüber diskutieren will, antwortet: „Ich bin völlig frei, so zu handeln.“ Der Anarchist sagt: „Ich glaube, dass ich Recht habe, so zu handeln, aber lasst uns sehen.“ Und wenn sich die geübte Kritik an eine Leidenschaft richtet, von der er sich nicht stark genug fühlt, sich zu befreien, wird er anfügen: „Ich stehe unter der Sklaverei des Atavismus und der Gewohnheit.“ Diese einfache Feststellung wird nicht wohlwollend sein. Sie wird eine Kraft in sich tragen, vielleicht für das angegriffene Individuum, aber mit Sicherheit für das Individuum, das sie macht, und für jene, die anwesend sein werden, die weniger von der fraglichen Leidenschaft betroffen sind.

Der Anarchist macht sich keine Illusionen über den erworbenen Bereich. Er sagt nicht: „Ich bin ja frei, mein Mädchen zu heiraten, wenn mir das gefällt!“; „Ich habe ja das Recht, einen Zylinder zu tragen, wenn mir das passt“, denn er weiß, dass diese Freiheit, dieses Recht ein Tribut sind, der der Moral der Umgebung, den Konventionen der Welt bezahlt wird; dass sie von außerhalb auferlegt werden, entgegen jedem Willen, jedem inneren Determinismus des jeweiligen Individuums.

Der Anarchist handelt nicht aus Bescheidenheit, aus Widerspruchsgeist so, sondern weil er von einer Auffassung ausgeht, die völlig anders ist als jene des Libertären. Er glaubt nicht an die angeborene Freiheit, sondern an die zu erwerbende Freiheit. Und aus der Tatsache, zu wissen, dass er nicht alle Freiheiten hat, hat er weit mehr Wille, um die Macht der Freiheit zu erwerben.

Die Worte haben keinen Wert in sich selbst. Sie haben einen Sinn, den man gut kennen, gut bestimmen muss, um sich nicht von ihrer Magie umgarnen zu lassen. Die große Revolution hat uns mit ihrer Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ genarrt; die Libertären, die Liberalen haben uns auf allen Tonstufen ihr laissez faire mit dem Refrain der Freiheit der Arbeit vorgesungen; die Libertären machen sich mit einem Glauben an eine im Voraus etablierte Freiheit etwas vor und üben Kritiken ihr zu Ehren... Die Anarchisten dürfen nicht das Wort, sondern müssen die Sache wollen. Sie sind gegen die Kommandierung, gegen die Regierung, gegen die ökonomische, religiöse und moralische Macht, in dem Wissen, dass die Freiheit umso mehr anwachsen wird, je mehr sie die Autorität verringern werden.

Es besteht ein Verhältnis zwischen der Macht der Umwelt und der Macht des Individuums. Je mehr sich der erste Term von diesem Verhältnis verringert, je geringer die Autorität wird, desto größer wird die Freiheit.


Was will der Anarchist? Es schaffen, dafür zu sorgen, dass diese beiden Mächte ins Gleichgewicht kommen, dass das Individuum in seinen Bewegungen wirkliche Freiheit hat, ohne jemals die Freiheit der Bewegungen anderer zu behindern. Der Anarchist will nicht das Verhältnis umkippen, um dafür zu sorgen, dass seine Freiheit durch die Sklaverei der anderen besteht, denn er weiß, dass die Autorität an sich schlecht ist, ebenso sehr für den, der sie erfährt, wie für den, der sie ausübt.

Um die Freiheit wirklich zu kennen, ist es notwendig, den Menschen so weit zu entwickeln, bis es keiner Autorität mehr möglich ist, zu bestehen.


Entnommen aus "Die Erstürmung des Horizonts", Nr. 1, ohne Ort, November 2014, S. 15-17.
Originaltitel: "La liberté", veröffentlicht in: L'Anarchie, 26. Dezember 1907.